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oder wurde , falls der Delinquent sich gar nicht
besserte, des Landes verwiesen; so erging es
z. B. im Jahre 1643 einer Weibsperson
in Kassel, Marx Zeisen's, eines Kleibers aus
Fambach Ehefrau, von der es in dein betreffen
den Protokoll heißt, daß sich nicht nur die
Nachbarschaft, sondern ihr eigener Mann über
ihr gotteslästerliches Fluchen entsetzte. Auf ge
schehene Klage wurde sie bedeutet, sich hier ab
zuschaffen, und auch ihr Gatte, der doch eigentlich
ganz unschuldig war, mußte ihr zur Gesellschaft
mitwandern. —
Daß auch gegen das übermäßige Trinken sehr
geeifert wurde, habe ich bereits gesagt. Merk
würdiger Weise aber verzieh man dies in unseren
Augen weit schwerere Vergehen damals leichter
als das ebengenannte Fluchen und Schwören, wie
z. B. die von Robert von Mohl veröffentlichten
Protokolle des akademischen Senats der Universität
Tübingen aus dem 16. Jahrhundert beweisen.
So wird u. a. ein Student, der einem Manne
die Hand abgehauen, auf Fürbitte des Hofrichters
aus dem Carcer entlassen; ein anderer, der
einen Kommilitonen gestochen, daß ihm die Ge
därme bis auf die Erde gehangen, mit kurzer
Carcerstrafe belegt. Ein Student aber, weil er
um Mitternacht auf der Straße „gräulich Gott
gelästert", zuerst mit Carcer belegt; darauf wird
ihm eröffnet, daß, ob man zwar Ursache hätte,
strengen Weg mit ihm zu verhandeln, man
seiner Eltern und Jugend schonen und ihn nur
sogleich aus der Stadt wegschicken wolle. Ver
gebens, daß der Unglückliche unter Thränen um
acht Tage Aufschub bittet. Und das Alles, weil
er „Hunderttausend-Donner-Sakrament" und
„das Feuer soll vom Himmel fallen" geflucht
hatte.
Dagegen kann die Nachwelt der Regierung
wie der Geistlichkeit nicht dankbar genug sein
für die Strenge, mit der beide die fleischlichen
Vergehungen ahndeten. Der unheilvolle Krieg
hatte gerade in dieser Hinsicht der Moral des
Volkes die allertiefsten Wunden geschlagen. Die
Vorstellung von der Heiligkeit der Ehe war in der
Wurzel erschüttert, und bei der mächtigen Lebens
lust, die regelmäßig nach furchtbaren Krisen, wie
Kriegs- und Pestzeiten, in der zurückgebliebenen
Menschheit zu erwachen pflegt, war es zu be
fürchten, daß Zucht und Sittlichkeitsbegriffe für
immer verloren gingen.
Nur die strenge Handhabung der Kirchenbuße,
abgesehen davon, daß auch der Staat die Kon
travenienten bestrafte, vermochte auf dem Lande
den physischen Trieben zu gebieten, während in
den Städten die Mode und die Etiquette, so
zusagen die Anstandsgesetze, vielfach an die Stelle
der fehlenden Moral traten.
Ehen brauchte der Staat, die furchtbar dezi-
mirte Volkszahl zu ergänzen, weshalb zumal die
Ehebrecherinnen die furchtbare Strafe der Ent
hauptung mit dem Schwerte traf; indes die
losen Weiber an den Schandpfahl, den sog. Gag,
gestellt, dann des Landes verwiesen wurde».
Dieselbe Strafe traf unter Umstünden auch die
Männer, wie es z. B. dein Bettelvogt Barthel
Zinn in Kassel erging.
Sv arbeiteten also Regierung und Geistlichkeit
zusammen an der Hebung der Sittlichkeit des
Volkes.
Sein Werk zu krönen und seinem Lande eine
dauernde und gleichmäßige kirchliche Verfassung
zu geben, ließ Landgraf Wilhelm VI. sodann
die Kirchenordnung ausarbeiten, welche alle im
Vorhergehenden angeführten Bestiinmungen 511=
sammenfaßt und zugleich den der hessischen Kirche
zu Grunde liegende Lehrbegriff enthält. Sie
verfällt in die Reformations-, Presbhterial-
oder Acltesten-, Konsistorial- und endlich die
eigentliche Kirchenordnung und erschien sämmtlich
im Jahre 1657.
Ohne auf ihre immerhin interessante Ent
stehungsgeschichte hier weiter einzugehen, will ich
nur bemerken, daß die Kirchenordnung, die ja
bis auf den heutigen Tag in der hessischen Kirche
zu Recht besteht, ein unvergängliches Denkmal
Landgraf Wilhelm's VI. ist, insofern dieser
wahrhaft humane Fürst durch sic die unheilvolle
Spaltung, welche in dem Bekenntnißstande des
hessischen Volkes die beklagenswerthe Einführung
der Verbesserungspunkte und des reformirten
Bekenntnisses durch Landgraf Moritz hervor
gerufen hatte, nach Kräften wieder auszugleichen
bemüht war. Ja, das reformirte Bekenntniß
kommt darin so wenig zum Ausdruck, daß die
Veröffentlichung der neuen Kirchenordnung eine
geharnischte Gegenenerklärung der damaligen
Kasseler Geistlichkeit hervorrief, deren Widerstand
nur durch einen Machtspruch des Landesherr»
als summus episcopus niedergeschlagen wurde.
Eben dem Wunsche, wenigstens. unter den
Bewohnern seines Landes Eintracht und gegen
seitige brüderliche Duldung in Religioyssachen
herbeizuführen, entsprang später auch die Ein
ladung, welche Landgraf Wilhelm VI. iin Jahre
1661 an die Professoren der beiden Landes-
universitüten Marburg und Rinteln ergehen ließ,
in Kassel zu einem Religionsgesprüche zusammen
zutreten.
Reformirterseits erschienen die Marburger
Professoren Hein, ein geborener Gudensberger,
und Curtius; von Seiten der Rinteler lutherischen
Professoren Musäus und Henichen (Henichius).
Unter dem Vorsitze der landesherrlichen Kommissare
Johann Kaspar von Dörnberg, Johann Heinrich