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auszuwandern. Man forschte dein Grunde dieser
Erscheinung nach und fand, daß von einigen
früher nach Berlin verzogenen Arbeitern Briefe an
gelangt, in den Hanauer Fabriken verlesen worden
wären und durch ihren Inhalt die Entlassungs-
gesuchc hervorgerufen hätten. Man kam auch den
Umtrieben eines gewissen in Frankfurt wohnhaften
Barons von Freytag auf die Spur, der, wie es
schien, im Auftrag des Königs von Preußen die
Arbeiter nach Berlin zu locken suchte.
Diese Dinge beeilte man sich der Regierung
mitzutheilen. Den Verdacht, Paß Friedrich der
Große seine Hand mit im Spiele haben könnte,
wies dieselbe vollständig zurück: einen solchen
Gedanken ließen die ausgezeichneten, herzlich
freundschaftlichen Beziehungen des Königs zu dem
Landgrafen nicht zu. Baron von Freytag, von
dem man überhaupt eine sehr wenig vortheilhafte
Meinung hatte, werde, meinte man, wohl im
eigenen Interesse derartig gegen das zehnte Gebot
handeln. Wie dem aber auch wäre, man beschloß,
die weiteren Auswanderungen von Arbeitern nach
Berlin zu verhiudern, zunächst dadurch, daß
man sie warnte, den ihnen vermuthlich von
dorther geniachten Versprechungen zu trauen.
Man verwies dabei auf ein frisch in der Er
innerung der Hanauer lebendes Beispiel, das in
mehr als einer Beziehung lehrreich ist: zeigt es
doch, daß man Menschenhandel auch damals
vcrurtheilte, und liefert so in seiner Art einen
Beweis dafür, daß nach der allgemeinen Vorstellung
die Soldatenvermiethungen an fremde Mächte
nicht unter diesen Namen fielen. Die warnenden
Worte der Regierung lauten:
„Das bekannte Exempel mit dem annoch hier
in Hast sitzenden Hamburgischcn Emissario, so
zu einem unerlaubten Menschenhandel nacher
Süd-Carolina gebraucht gewesen, giebt hiervon
ein klares Beispiel (nämlich von der Unzuver
lässigkeit derartiger lockender Versprechungen) und
zeiget das an dortige Regierung communicierte
in sämmtliche hessische Landen ergangene gedruckte
Ausschreiben, was hierunter für Betriegereien
vorgegangen, wie die verführten Unterthanen,
welche kein beträchtliches Vermögen mitgebracht,
die vorschießenden Transport- und Reisekosten in
einer langwürigen Sclaverei abverdienen müssen."
Den Auswanderern nach Berlin werde cs
nicht besser gehen. Die meisten seien gezwungen,
das angebotene Reisegeld, das ihnen unterwegs
in Leipzig ausgezahlt wurde, anzunehmen. Da- i
durch geriethen sie vollständig in die Hand der
Fabrikanten, müßten mit jedem ihnen gebotenen
Lohnsätze zufrieden sein und mühselig das Reise
geld abverdienen.
Außerdem, daß man diese Verwarnung in den
Fabriken mittheilen ließ, griff man zu dem ent- !
schieden kräftigeren und damals auch garnicht
ungewöhnlichen Mittel, die beunruhigenden Briese
einfach aufgreifen zu lassen.
Den Akten über diesen Vorfall liegen einige
solcher Briefe bei, die übrigens ohne jede Ge
waltmaßregel von dem Empfänger, einem alten
Hanauer Bürger, der nicht einmal selber lesen
noch schreiben konnte, abgeliefert worden sind.
Sie sind von Berliner Seidenarbeitern ge
schrieben, zum Theil überraschend durch Hand
schrift und Stil, zum Theil so, wie wir sie von
einem Arbeiter erwarten. Gerade der un
orthographischste der Briefe rührt aber durch
seinen Ton und giebt uns einen hübschen Einblick
in die Verhältnisse dieser einfachen Leute. Er
beginnt:
„Herrtz Bill geliebte Eltern.
Dero ihrr werthes schreiben habe den 14 8br.
(Oktober) richtig erhalten, und daraus ersehen,
das sie anoch bei gutter gesundheit sei», welches
mich hertzlich erfreut, habe auch ersehen, das sie
zwei schweine geschlagtet, daran ich vernehme,
das Sie gottlob noch gutte Nahrung haben,
ihm Haußstand, hertzliebe Elter», sie haben uns
vill fegen und vergnügen und alles Wohlsein
zum neuen Jahr gewünschet, wovor ich mich
kindlich bedange, Es hätte meine schuldigkeit
zuvor erfordert, aber ich war dazumal mit
meiner Frau im Unglück, das ich unmöglich
getönt habe."
Daran schließt sich nach einer ziemlich aus
führlichen Beschreibung der Krankheit seiner Frau
eine Aufforderung, ihm seinen jüngern Bruder
Ludwig zu schicken, auch sonst vielleicht Leute ans
Hanau auf Berlin hinzuweisen, ivv es Arbeit
genug, aber zu wenig Gesellen gebe. Letzteres
bestätigen auch die anderen Briefe: es lägen
so viele Bestellungen vor, daß man gern mehr
Webestühle aufstellen möchte, wenn man nur Ge
sellen bekäme.
Wie weit es den Maßnahmen der Regierung
gelungen ist, einer unbesonnenen Auswanderung
vorzubeugen, können wir nicht sagen. Schwerer
als diese aber schädigten die Jahre des sieben
jährigen Krieges die Seidenindustrie. Furcht
bar hausten die Franzosen im Lande. Die
Maulbeerbäume wurden niedergehauen oder ver
kamen aus Mangel an Pflege, unerschwinglich
waren die dem Lande auferlegten Kontributionen.
Abgesehen davon, daß es Jahre lang die fran
zösischen Truppen ernähren mußte, wurden
750 000 tivrss Kontribution von ihm gefordert,
und als bei Ankündigung des Todes des Land
grafen Wilhelm VIII. und des Uebergangs der
Regierung an seine Schwiegertochter Maria ein
Formversehen vorgefallen war, noch weitere
200000 Thaler „Strafe" diktirt. Verhängniß-