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vorigen Jahrhunderts geboren und würde sonach
heute ein Alter von neunzig und einigen Jahren
erreicht haben.
B e s ch w e r d e über einen Schulmeister
aus dem Jahre 1605. Unter den Sentenzen
des Stadtgerichts von Felsberg findet sich unter dem
Jahre 1605 die nachstehende interessante Klagesache:
„Bürgermeister Herman Henckell klaget: hat seinen
Sohn aufm Sontag Morgens in die Schull geschickt,
daraus mit in die Kirche zu gehen und Singen
helfen, und sobald er hineinkommen, hab der Schul
meister bestalt gethan, Ihm solches anzumelden, wie
durch Jost Hombergs Jnngenn beschehenn, sey der
Schulmeister herunter gelaufen, und shabe) Rutenn
gefordert, wie aber keine fürhenden, hab er Ihn
dermaaßen xunotirt, das es eine Schande mag sein.
Schulmeister Salomon Scharf saget: er sey von
Rüene (Rhünda) komen, habenn die Knaben in der
Schull überm Haussen gelegenn und sich geschlagenn,
hab er Sie von einander bracht und dem Knaben
ein Maulschell geben, hoft nicht, daß er darin Zu-
viell gethan, denn sie triebenn großen Uebermuth,
hab Ihm darzu trotzige Wort gebenn.
Bescheidt der Herren.
Das will Sich nicht gepüeren (gebühren), die
Knaben als Bürgers Kind außer Schull zu schmeißen,
Solt Sie viellmehr zu Sich fordernn, darmit der
Gesang in der Kirchen desto beßer volnführet könte
werdenn, Zudem spüret mann großem: Unvleiß bey
den Knaben, ihrer wehren (wären) so nicht viell, er
solt beßernn Vleiß anwendenn, oder die Herrenn
werden veruhrsachet, darüeber Zu klagen, Und um
Abschaffunge beym Hrn. Superintendenten Sich zu
beschweren.
Schulmeister
Saget: er wende allenn Vleiß an, die Elter
hieltenn die Kind nicht zur Schull, giengenn
kaum die halbe Zeit in die Schull.
Bürgermeister Herman Henckell sagt: er halte
Seinen Knaben Vleißig zur Schull, woltenn dennoch
nicht fordt, darzu hedten Sie vor dieser Zeilt beßer
können betenn denn Jetzund, derowegen Spürt man
wenig Vleiß." —
Der Schulmeister hatte sein Fett; wie konnte er
auch wagen, des hochmögenden Bürgermeisters Sohn
zu „Punktiren" !
Dr. 3t.
Aus Anmuth und Fremde.
Der 10. Mai ist in der Geschichte unseres Hessen
landes ein Tag von großer Bedeutung. An ihm
wurden vor 600 Jahren dem ersten Landgraf von
Hessen aus dem Hause Brabant, Heinrich dem Kinde,
vom Kaiser Adolf von Nassau zu Frankfurt die
Reichslehen Burg Boyneburg und Stadt Eschwege
verliehen und dadurch die r e ichs fü r st l i ch e
Selbständigkeit von Hessen rechtlich be
gründet. Der Geheime Regierungsrath Dr. F.
Münscher hatte dieses historische Ereigniß zum
Gegenstände eines am Dienstag in der vorig n
Woche in dem hessischen G esch ichtsv er ein
zu Marburg gehaltenen Vortrages gewählt, in
dem er einen Rückblick auf unsere hessische Geschichte
vom ältesten Auftreten der Chatten an bis auf die
Neuzeit warf und am Schlüsse mit warmen Werten
den Wunsch aussprach, daß hessischer guter Brauch
und Sitte noch recht lange erhalten bleiben möchten.
Das „Hoch", welches er auf den hessischen Volks-
stamm ausbrachte, fand bei den Zuhörern ungetheilte
Zustimmung.
In der Nummer 209 der „Münchener Neuesten
Nachrichten" vom 7. Mai d. I. begegnen wir unter
den „Vermischten Nachrichten" einem „Worte mit
und ohne Flügel" betitelten Artikel, ijt welchem
sich der Einsender u. A. auch eine Erklärung der
Bezeichnung „blinder Hesse" leistet, die wir unsern
Lesern nicht vorenthalten wollen, so ungeheuerlich
und albern sie auch ist. Daselbst heißt es: „Als
im vorigen Jahrhundert die hessischen Landesväter
ihre Unterthaneu nach Hunderten an England und
Holland zum Militärdienst verkauften, wurden von
diesen armen Teufeln in den Kolonien sehr viele
blind, wahrscheinlich durch die egyptische Augen
krankheit. Diese wurden dann nach Deutschland
zurückbefördert und waren darauf angewiesen, sich
ihr Brod zu erbetteln. Sie gingen von Thür zu
Thür mit dem Rufe: ,Ein blinder Hesse bittet um
eine Gabe^ und waren derselben da auch sicher."
Daß der Ausdruck „blinder Hesse" mythologisch zu
nehmen und auf die Stammessage zurückzuführen
ist, wonach der Stammesahnherr für ein weif, das
blindgeborene Junge eines Hundes oder einer Katze
ausgegeben worden ist, daher man auch die Hessen
„blinde Hunde" und „blinde Hundehessen" genannt
hat, scheint dem Gelehrten der „Münchener Neuesten
Nachrichten" unbekannt zu sein. Derselbe hätte sich
in Jakob Grimm's deutscher Mythologie und in
dessen Geschichte der deutschen Sprache sowie in
Vilmar's Idiotikon aus Kurhessen vorher ein wenig
umsehen sollen, es würde ihm dann wohl erspart
geblieben sein, solches ungereimte Zeug wie das obige
in die Welt hinauszusenden. — Es ist zu bedauern,
daß sich auch hier, in einem so geachteten und viel
verbreiteten Blatte wie die „Münchener Neuesten
Nachrichten", wieder die hundertmal widerlegte und
gebrandmarkte historische Unwahrheit von dem Ver
kaufe hessischer Unterthanen durch ihren Landesfürsten
an England und Holland vorfindet. Man ist in
der That versucht, zu fragen: ist es Unverstand, ist
es böswillige Absichtlichkeit, daß dieselbe immer und
immer wieder auftaucht?