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Zweifel, er tastete unsicher umher, eine kleine,
unbedeutende Existenz, welche unbewußt den
gewaltigen Kampf aufgenommen hatte, in welchem
die größten Geister zerschellt sind.
Zwischen Ulrich und Lene bestand eine lang
jährige Freundschaft. Obgleich der Junge lahm
war, hatte es ihm doch nie an Muth gefehlt.
Einmal hatte er die Lene gegen einen Haufen
sie angreifender Buben geschützt und ein Loch
im Kopfe und einen wunden Arm davongetragen.
Als Belohnung für diese Heldenthat hatte die
Frau Wirthin ihm das Amt des Stiefelwichsers
in ihrem Gasthause angetragen — eine Ehrenstelle,
mit deren Würde das Recht des Mittagsessens
in der Küche zum goldenen Schwan verbunden
war. Von da ab war Lene unzertrennlich
geworden von dem blassen, verwachsenen Jungen,
den alle Rohheit seiner Umgebung innerlich zu
verrohen nicht vermocht hatte. Die Beiden
führten mit einander theologische Gespräche.
Beider Naturen konnten das Konkrete und
Abstrakte, das ihrer Beobachtung geboten wurde,
nicht in Einklang bringen. Eines Tages wohnten
sie miteinander dem Begräbniß einer Schul
kameradin der Lene bei. Sie standen auf
dem alten banmbewachsenen, mauerumfriedeten
Gottesacker, zwischen den halbeingesunkenen, ver-
rasten Gräbern jenes Theils, der bereits wieder
zu Ruhestätten neuer Gäste verwendet ward.
Plötzlich schrie Lene auf, sie hatte mit dem Fuß
an einen harten Gegenstand gestoßen. Ulrich
bückte sich und fand den oberen Theil eines'ver
morschten Menschenschädels, der aus der Erde
aufgewühlt, unbeachtet liegen geblieben war.
Ulrich betrachtete das zerfaserte, braune Knochen
gewebe und warf es dann weit von dem zurück
schauernden Mädchen fort.
„Und da glaube noch einer an das Wort:
Auferstehung des Fleisches!" murmelte er. Lene
sah ihn scheu an und legte die Hand auf seinen
Arm: „Horch!" sagte sie. Mit seiner tönenden
Stimme kündete eben der Geistliche: „Bei Gott
ist kein Ding unmöglich".
„Unser Lehrer sagt", fuhr das Mädchen fort
„man darf Gott nicht verstehen wollen, sonst
kann man leicht wahnsinnig werden." Ulrich
nickte. Er wußte, warum der Lehrer so sprach.
Der Lehrer hatte eine sterbenskranke Frau und
sieben hungernde Kinder. So rüttelten diese
beiden jungen Menschen mit Kindersingern an
den großen Problemen des Lebens; sie rüttelten
an dem Dache des Glaubens, dessen Einsturz
die Schwachen begräbt. Aber das Gemüth,
welches niemals gezweifelt hat, hat wohl auch
niemals wirklich geliebt. Wir fragen in Angst
und Besorgniß nur um jene Dinge, die uns
wirklich am Herzen liegen.
Also Ulrich Kothe, der nun ein Zimmer in
dem Wirtshaus zahlen und seinerseits dem
kleinen Stiefelwichser ein Trinkgeld geben konnte,
stand auf und hielt den fertigen Kranz prüfend
in die Höhe.
„Mir ist gar nicht zu Muth, als wäre das
Alles für mich", sagte Lene — „mir ist gerade
— als hielte eine Fremde Hochzeit und doch
bin ich's selbst." Ulrich sah nieder auf ihren
krolligen Scheitel und schwieg. Ihm war es
nicht, als hielte eine Fremde Hochzeit — er
wußte ganz genau, daß es sein Liebstes war,
das morgen in den Besitz eines anderen über
ging. Er gehörte zu den Leuten, welchen nichts
ferner liegt, als unbescheiden zu verlangen, was
ihnen nicht werden kann — und doch — man
kann seine Seele auch verspielen, ohne es zu
wollen. Die ganze Seele des armen, jungen
Menschen gehörte der reichen, schönen Wirths-
tochter aus dem goldenen Schwan. Er hätte
alles für sie gethan, wäre für sie gestorben,
hätte sich wie ein Teppich unter ihre Füße
geschmiegt — aber die armen Menschen wissen
in der Blindheit ihrer Vorurtheile nicht. daß
die Fähigkeit zu lieben der größte Reichthum
eines Menschen ist.
(Fortsetzung folgt.)
Erinnerung nn Wilhelm Mnnscher,
weiland Direktor des Gymnasiums in Hersfeld, gestorben im Jahr 1872 in Kassel.
Ihr Musen laßt mich singen, laßt mich sagen
Von einem Manne, der gewirkt, gestrebt,
In Lieb' und Treu', von Pflichtgefühl getragen
Der Jugend Bildung segensreich gelebt!
Sein freundlich Bild aus meinen Jugendtagen
Steigt wieder auf, das lieblich hat umschwebt
Mich schon so oft in ernsten, heitern Stunden,
Die mir in spätern Jahren hingeschwunden.
Du nah'st mir wieder jetzt, geliebter Schatten,
Führst mich zurück in die Vergangenheit,
Als Du in Hersfeld, dort im Land der Chatten,
Die Jugend hast gelehrt so lange Zeit;
Und ich, im Alter schon, dem lebensmatten,
Gedenke wieder Dein in Dankbarkeit,
Ich Deines Schaffens, Unterrichts auf's neue,
Ich Deiner großen Liebe, Deiner Treue.