169
wenig Ordnung, daß man von einem feierlichen
Aufzug irgend welcher Art, der nicht gehörig
geordnet daher kam, zu sagen pflegte, es ging
dabei her, wie bei einer Judenleiche. Die Leichen
folge war nach jüdischem Begriff eine Gott
wohlgefällige Handlung und hatte jeder Jude
die Pflicht, wenn ihm die Leiche eines Glaubens
genossen begegnete , sie eine Strecke weit zu be
gleiten. Auch die christlichen Beerdigungen
waren noch weit entfernt von dem jetzt dabei
getriebenen Aufwand. Bei bürgerlichen waren
bei Meidung polizeilicher Strafe außer dem
Wagen für den Pfarrer nur zwei Wagen für das
Gefolge gestattet und Blumen und Kränze wur
den nur bei Jungfrauen und unverheirathet ge
storbenen jungen Männern verwendet. Die jetzt
übliche Verwendung einer großen Anzahl Wagen
war schon durch die damals sehr geringe Anzahl
von Miethkutschen ausgeschlossen. Bei der Nähe
des Todtenhofs waren die Leichen in der Regel
Fußleichen, bei denen auch der Pfarrer dem von
den sogen. Leichenkandidaten getragenen Sarg
voranschritt.
Zur Erheiterung der Marktbewohner und der
sich da aufhaltenden Personen dienten die sehr
oft hier erscheinenden Stadtoriginale, die noch
in stattlicher Anzahl vorhanden waren, nament
lich das am Platze wohnende Ludemünnchen,
ein kleines, in einem seinen Jahren nicht ent
sprechenden Aufputz gar komisch auftretendes altes
Jüngferchen. Der Darsteller des Papageno
hatte sie auch einmal bei einer Aufführung der
Zauberflöte auf die Bühne gebracht, indem er
beim Anblick der als altes Weib auftretenden
Papagena ausrief: „Ei, da ist ja das Lude
männchen" , mußte dafür aber 24 Stunden
Arrest auf der sog. Goldkammer, dem im Rath
hause beflndlichen Bürgergefängniß, verbüßen.
Zu diesen Stadtoriginalen gehörte ferner der
tolle Girdel (Kördel), der täglich beim Aufziehen
der Wachtparade barhäuptig, den Hals wegen
eines starken Kropfes mit einem dicken Wolltuch
bedeckt, neben dem Tambourmajor einherschritt
und häufig in der Aue die Bäume der Affen
allee, als wären es eine Reihe aufmarschirter
Soldaten, zu Fuß abgaloppirte.
Nicht minder originelle Persönlichkeiten waren
der Bruder Kördel's, der Willewommbombomm,
der Schuder, der Kalmen, stets einen Pack
Bücher zum Verkauf vor sich auf der Brust
tragend und wegen seiner Schnupftabaksnase
von den Jungen mit dem Rufe „Kalmen, gieb
mir 'ne Prise" verfolgt, sodann der eben so
brave und ehrliche, als komische Kaufunger Bote,
der Linsenschmecker, der seinen Namen davon
hatte, daß er einmal in den an die Wiese vor
dem Leipziger Thore befindlichen Wassertümpel,
den sog. Linsenteich, gefallen war.
Eines hochachtbaren, in seiner Art leider
längst ausgestorbenen Originals des Marktplatzes,
des länger als 50 Jahre im Geschäft des
Bilderkrämers Mangold thätig gewesenen Com
mis Wiemer, habe ich bei anderer Gelegenheit
in diesen Blättern (Jahrgang 1887 S. 317)
ausführlicher gedacht.
Viele Jahre sind seitdem vorübergegangen und
noch sind es sehr wenige, die sich dieser Persön
lichkeiten zu erinnern vermögen, größer ist aber
die Anzahl derer, die noch den letzten Repräsen
tanten dieser Stadtoriginale, den nun auch seit
einem Menschenalter im Grabe ruhenden
„Kohlenkeßler" gekannt haben. Von ihm ist
ein wohlgetroffenes Abbild seiner schlauen, etwas
zigeunerartigen Physiognomie in dem Bilde,
„der Spatenstich der Friedrich Wilhelms Nord
bahn bei Guxhagen" der Nachwelt erhalten
geblieben. Auch er hatte den Hauptsitz seiner
Thätigkeit, Vermittlung des Verkaufs der von
Helsa und Kaufungen eingefahrenen Kohlen,
auf dem Marktplatze. Als dessen Bewohner
erfreute ich mich seiner genaueren Bekanntschaft
und habe ihm auf sein Begehren manchen
Groschen auf Nimmerwiedersehen geborgt. Von
seinem Bruder, einem sehr achtbaren Dorfschul
lehrer, wußte er sich häufig Geld durch die
Drohung zu verschaffen, er sage sonst, daß er
sein Bruder sei. Von seinen schlauen Streichen
bei den Kohlenhändeln wußte man viel zu er
zählen. Eines Tages erschien er mit einem
Guckkasten auf dem Rücken und kündigte an,
daß gegen.Zahlung von zwei Hellern darin ein
Kohlenbergwerk und Paris bei Nacht zu sehen
sei. Die Jungen, die daraus hineinfielen, sahen
dann eine Glanzkohle und ein Stück schwarzes
Papier. Großes Erstaunen erregte einst an
einem ersten Pfingsttag Nachmittag sein Erschei
nen unter der Menschenmenge in der Restau
ration der Karlsaue. Stolz schritt er da im
Cylinder und feinen Anzug, den ihm ein als
Humorist bekannter Maler verschafft hatte, aber
barfuß einher. — Die Zeit ist ernster geworden
und gehören solche Originale ebenso, wie die mit
ihnen getriebenen Späße für immer der Ver
gangenheit an.
Für die Marktbewohner war in der hier in
Rede stehenden Zeit an den Pfingsttagen schon
der Festsonnabend ein großer Festtag, da an
keinem anderen Tage des Jahres hier ein so
reges Leben herrschte und der Schaulust soviel
geboten wurde. Mit dem frühesten Morgen
bedeckte sich der Platz , der mit dem am West
ende der Stadt gelegenen Königsplatz darin noch
keinen wesentlichen Konkurrenten hatte, mit den