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derselbe ein ächter Dichter sei, merke man
am meisten daran, wie er Naturgegenstände be
handle. Er beschreibe nicht, suche auch nicht
lange nach gewählten Worten, aber er belebe
das Kleinste durch seine schlichte und doch kraft
volle Darstellung. Auch wisse er den einfachsten
Dingen seelische Vertiefung zu geben und, wenn
auch einmal die Form nicht ganz vollendet sei,
durch ungesuchte Ursprünglichkeit zu wirken.
Nur eins hatte Frau Doktor Justi än dem
Und des Dichters Lieblingsbäume streu'n darauf die
Blüthenflocken
Und dazu das Festgeläute läuten schöne Blumenglocken. —
Wenn im Herbst die Blumen welken, gelb sich färben Hain
und Hecke,
Deckt Natur den stillen Hügel freundlich zu mit weißer
Decke.
Wenn die goldne Abendsonne hier im Westen ist versunken,
Streut der Mond auf diesen Hügel seine hellen Silber
funken.
Durch das grüne Laubgeflechte strahlen dann die ew'gen
Sterne,
O, in diesem schönen Haine weil ich an dem Abend gerne!
Stille herrscht dann um den Hügel, ihn umlagert süßer
Friede,
Wenn des Mondes Silberschimmer glänzt um's Grab der
Pyramide.
Fernher hör' ich Glockentöne, die zur Abendruh' erschallen,
Freunde, nach dem schönen Haine laßt uns oft noch heiter
wallen.
poetischen Lohgerber auszusetzen. Sie meinte, er
müsse sich durch die kleinbürgerlichen Verhältnisse
nicht von einem höheren Aufschwung seines
Talentes abhalten lassen, dürfe auch nicht so viel
Gelegenheitsgedichte schreiben und „seinen guten
Wein nicht schoppenweise an Leute verzapfen,
die den Werth davon gar nicht zu schätzen
wüßten". Dieser Ausspruch machte einen so
großen Eindruck auf mich, daß sich jedes Wort
der geistvollen Frau unverwischbar meinem Ge
dächtnisse einprägte.
(Schluß folgt.)
Das Grab befindet sich im sogenannten Forstgarten
am Cappeler Berge bei Marburg. Der hier bestattete
Sänger ist der 1822 verstorbene Dr. Karl Ludwig Eber
hard Heinrich Friedrich von Wildungen. Er war Kurhess.
Oberforstmeister und nach seiner Biographie in „Strieders
Hess. Gelehrten-Gesch." B. 17, S. 53 und B. 18, S. 515
auch ein poetisch hochbegabter Mann. Wildungen war
innig befreundet mit dem Professor der Rechte Eduard
Platner (geb. 30. August 1786), welcher nach dem Tode
des Oberforstmeisters täglich dessen Grab besuchte. Bei
diesen im Sommer und Winter regelmäßig gemachten
Gängen pflegte Professor Platner in der liebenswürdigsten
Weise alle Kinder zu begrüßen, die ihm begegneten oder
vor den Thüren der Häuser saßen. Die freundliche Er
scheinung dieses in meiner Kindheit bereits schneeweißen
Mannes ist mir unvergeßlich und ebenso unvergeßlich die
herzliche Art, die er oft bei kurzen Gesprächen mit anderen
Kindern und mir an den Tag legte.
Aus dem allen Waffel.
I. Der Altstädter Marktplatz zur Zeit der Regierung Wilhelms II. 1821—1831.
Von W. Dogge-Tu öwig.
(Schluß.)
Seit der Zeit haben gar viele Sitten und
Gebräuche, die man auf dem Platze beobachten
konnte, längst ihr Ende gefunden, namentlich
solche der Juden. Eine eigenthümliche Erschei
nung boten noch viele von ihnen in ihrer aus
lange verschwundener Zeit beibehaltenen Kleider
tracht auf ihrem Wege nach der damals am
Töpfenmarkt gelegenen Synagoge. Da sah man
noch alte ehrwürdige Gestalten in Kniehosen,
weißen Strümpfen und Schnallenschuhen, den
Kopf bedeckt mit einem mächtigen, tief hinten
in den Nacken quer gesetzten Dreimaster. Wäh
rend die Männer bei den verschiedensten Ver
anlassungen, z. B. beim Essen, ihr Haupt nach
beibehaltener orientalischer Sitte nicht unbedeckt
lassen durften, war den Frauen streng geboten,
nichts von ihrem Haupthaar sehen zu lassen.
Da es ihnen bei der Trauung abgeschnitten wurde,
trugen sie alsdann beim Gottesdienst eine große
mit Gold und Silber durchwirkte und mit Spitzen
besetzte Haube, die um den ganzen Kopf herum
einen steifen Besatz von gefaltetem Battist hatte.
Das jetzt wieder aus der Mode gekommene
Haubentragen nach ihrer Verheirathung hatte
auch bei den Christenfrauen Eingang gefunden.
Daher die Redensart: „unter die Haube kommen".
Das Herannahen einer Judeuleiche wurde immer
schon vorher dadurch angekündigt, daß sich eine
größere Anzahl Judenfrauen auf dem Markte
einfand, um sie da zu erwarten. Wenn sie
vorüber war, gingen sie an den dort befindlichen
Brunnen, um sich die Hände zu waschen, weil
der Todte als etwas Unreines betrachtet wurde. Die
Leichenbegängnisse der Juden zeichneten sich schon
damals gegenüber denen der Christen durch ihre
große Einfachheit aus; die des Reichen unter
schied sich von der des Armen nur durch das
größere Gefolge. Bei diesem herrschte aber so