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„Florschleier" war so recht eigentlich in meiner
Kindheit das Wahr- und Merkzeichen der höheren
Stände. Wer einen Florschleier tragen konnte, der
war vornehm oder hatte doch wenigstens das Recht
sich mit dem Schimmer der Vornehmheit zu umklei
den. — Wurde einmal an kalten Tagen unberechtigt
gegen diese goldne Regel verstoßen und fügte es
sich zufällig, daß irgend etwas Unangenehmes
oder Trauriges an die Schleierträgerin oder
ihre Familie herantrat, so kam natürlich der
Hochmuth vor dem Fall.
Ter Anschauungskreis im Marburger Bürger
leben war ein unglaublich enger und kleiner.
Mit dieser Behauptung will ich selbstverständlich
der Biederkeit, Ehrbarkeit und Rechtschaffenheit
des Standes, aus dem ich selbst hervorgegangen
bin, keineswegs zu nahe treten. Ein weiter
Abgrund gähnte zwischen den sogenannten
Vornehmen und den Bürgern, nur eine Ver
einigung von glücklichen Umständen und Zufällen
konnte dann und wann einmal eine Brücke
darüber schlagen. Die letzten Jahrzehnte sind
wie eine Windsbraut über das alte Marburg
hingebraust und haben viel Veraltetes zerstört,
manchen neuen Keim in offenen Boden gesenkt.
Wie die Physiognomie der Stadt sich mittler
weile ändert, wie diese längst die Züge des
traulich engen Bergnestes verloren hat, so wird
der fortschreitende Geist der Zeit auch wohl im
Innern manche hemmende Schranke, aber auch
manchen anheimelnden traulichen Zug des klein
bürgerlichen Lebens verwischt haben.
Dietrich Weintraut, der in geistiger Beziehung
wie eine Eiche über das Unterholz, über seine
Standesgenossen emporragte, konnte jedenfalls
den Kampf mit den Verhältnissen nicht auf
nehmen, als er sich entschloß, Gerber zu werden
und statt der Feder Zange und Schlichtmond
zu führen. So weit ich dies beurtheilen kann,
glaube ich nicht, daß er diese Wendung in seinem
Leben als etwas Bitteres oder gar als eine Un
gerechtigkeit des Geschicks aufgefaßt hat. Wein
trant war ein wahrhaft frommer gottergebener
Mensch, der jedenfalls das als das Beste für
sich hielt, was der Lenker alles Lebens für ihn
bestimmt hatte. Diese Frömmigkeit, dieser un
bedingte Glaube an eine höhere Fügung muß
schon frühe feste Wurzeln in seinem Gemüthe
geschlagen haben; denn sonst hätte er ja zweifel
los dem engen Kreise entfliehen und sein reiches
Talent zur höchsten Entwickelung bringen müssen.
Vor mir liegt ein Büchlein, in das Gedichte
aus dem Nachlasse Dietrich Weintrauts einge
tragen sind. Es liefert den Beweis, daß der
alte Volksdichter sich mit den politischen Wand
lungen im Jahre 1866 nicht aussöhnen konnte.
In der Neujahrsnacht, die das Hessenvolk zum
erstenmal als Zugehörige des preußischen Staates
erlebte, richtet Weintraut, dem „die Last der
Jahre den Nacken schon gebeugt hat und der
Schnee von vielen Wintern das dünne Haar
bleichte", ein tiefempfundenes Gedicht an den
verbannten Kurfürsten Friedrich Wilhelm, in
dem er diesen auffordert, den Muth nicht sinken
zu lassen und auf bessere Tage zu hoffen.
Viele, denen nach den großen politischen Ereignissen
der beiden letzten Jahrzehnte, besonders nach der
Gründung des deutschen Reiches ein derartiges
Gedicht schwer verständlich sein wird, werden diesen
Wunsch vielleicht belächeln, allein es spricht sich
in demselben nur die wandellose Treue eines
frommen Gemüthes aus, das mit zäher Aus
dauer an dem hing, was es einmal in Liebe
erfaßt und von jeher für heilig gehalten hatte.
Weintraut war ein Kind der alten Zeit, er ver
spürte nicht, wie wir Jungen das Flügelrauschen
einer neuen Aera, die nothgedrungen hinweg
räumen mußte, was ihrem von der Vorsehung
vorgezeichneten Zuge im Wege war. Als Knabe
hatte der alte Dichter die Westphälische Zeit in
Hessen mitgemacht, er war ohne Zweifel Augen
zeuge jener Festlichkeiten, die in Marburg ab
gehalten wurden, als Kurfürst Wilhelm nach
dem Sturze der Napoleonischen Herrschaft und
nach siebenjähriger Verbannung wieder in sein
Hessenland zurückkehrte. So war Weintrauts
Liebe zum angestammten Fürstenhause'im Feuer
der Trübsal gehärtet und durch nichts zu zer
brechen. Ohne Zweifel hielt er es für Hessen
treue, fest beim Alten zu beharren, und er that
es denn auch um so entschiedener, als er augen
scheinlich auf die Rückkehr der alten Verhältnisse
hoffte und nicht die Fähigkeit besaß, die poli
tischen Umwälzungen von einem freieren Stand
punkte aus zu betrachten. — — — v
Offen habe ich es bereits früher bekannt, daß
mir der erste Anblick Weintrauts eine Ent
täuschung bereitet habe, aber ich muß doch mitt
lerweile gestehen, daß dieselbe schon sehr bald da
nach einem stillen Wohlgefallen an des Dichters
äußerer Erscheinung wich. Zum erstenmal
empfand ich dasselbe, als ich Weintraut während
eines Begräbnisses auf dem Weidenhäuser Fried
hofe unausgesetzt beobachtete. Heute kann ich
mich nicht mehr erinnern, wen man auf dem
kleinen Gottesacker zur ewigen Ruhe bestattete,
aber ich weiß noch ganz genau, daß der ernste
Vorgang dem Dichter sehr nahe gehen mußte.
Er stand am offenen Grabe, das nicht weit von
dem kleinen Kirchlein und neben einer Hänge
weide gelegen war, und kämpfte augenscheinlich
mit vieler Mühe eine tiefinnerliche Bewegung
nieder. Ich sehe Weintraut noch, wie er plötz
lich in fast heftiger Weise die Arme auf dem