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Dietrich Weintraut, der am 27. August 1798
geboren wurde, stammte aus kleinbürgerlichen
Verhältnissen und hatte eine so mangelhafte
Schulbildung genossen, daß es ihm schwer wurde,
orthographisch zu schreiben. Ob er bei seiner
bedeutenden Begabung in jungen Jahren den
Wunsch hegte, zu studieren, das kann ich, die
seinen Entwicklungsgang nicht miterlebte, den
letzten Theil seines Lebens nur von ferne
beobachtete, nicht sagen, allein die Vermuthung
liegt sehr nahe, daß solche Gedanken seinem
strebsamen Geiste nicht fern bleiben- konnten,
weil ja seine Vaterstadt zugleich die Landes-
universitüt war und ihm die beste Gelegenheit
zur wissenschaftlichen Ausbildung geboten hätte.
Es waren ja ohnedies, seit Landgraf Philipp
der Großmüthige die Universität Marburg 1527
gründete, so viele bedeutende Denker aus dem
hessischen Volke hervorgegangen, daß deren Bei
spiel einen ungemein befähigten Kopf wie Wein
traut schon zur Nacheiferung hätte anspornen
können. Allein er wurde Lohgerber, wie dies
seine Vorfahren gewesen waren, und betrieb dies
Geschäft, bis er in reiferen Jahren zum Quar
tiervorsteher und Verwalter der Marburger
Armenhäuser ernannt wurde. Hatte sich nun
Weintraut den Beruf als Lohgerber aus freien
Stücken gewählt oder mußte er, als er dies
that, auf andere Wünsche verzichten?*) — Da
er ein schlichter volksthümlicher Mann war, der
jedenfalls schon sehr früh wußte, daß man in
jedem Lebenskreise glücklich sein und auch das
Schöne pflegen kann, so darf man wohl an
nehmen, daß er nicht über seine Verhältnisse
hinaus strebte, anderntheils sprechen aber auch
viele Zeichen für sein heißes Bedürfniß nach
höherer Ausbildung. Wenn man Weintrauts
Gedichte, seine Fastnachtsscherze und Schwänke,
seine poetischen Beschreibungen von Marburg
und der Umgegend liest, dann muß man oft
über die Fülle des Wissens erstaunen, welche
dieser Mann trotz der lückenhaften Schulbildung
sich mit eisernem Fleiß im Jünglings- und
Mannesalter angeeignet hat. Ernstes, tiefer
gehendes Streben spricht sich darin aus, was
um so mehr zu bewundern ist^ weil Dietrich
Weintraut sich die Pfade zur L-elbstausbildung
mühevoll allein suchen mußte und in denkleinen
bürgerlichen Verhältnissen, in die ihn das Schick
*) Weintrauts Sohn, dem dieser Aufsatz vor der Ver
öffentlichung vorgelegen hat, therlt mir mit, daß sein
Vater sehr ungern Lohgerber wurde. Er mußte auf eine
höhere Ausbildung verzichten, weil die Verhältnisse ihn
zwangen, das Geschäft eines unverheiratheten Onkils,
dessen Erbe er war, zu übernehmen. Sehr frühe verlor
Weintraut seinen Vater, welche traurige Thatsache ferner
bestimmend aus seinen Lebensgang einwirkte.
sal gestellt hatte, zweifellos nur wenig Ver
ständniß und Förderung für sein geistiges Streben
fand.
Man muß sie kennen gelernt haben, diese
eigenthümliche Atmosphäre des Marburger
Bürgerlebens, um voll und ganz schätzen zu
können, wie ernst und tief Dietrich Weintraut
die ihm von der Natur verliehene Gabe aus
gebildet hat. Als er jung war und auch noch
in meiner Jugendzeit, galt es gerade nicht für
eine Empfehlung, etwas anderes zu thun und
zu denken, als es der ruhige Kreislauf des all
täglichen Lebens verlangte. Wer dennoch die
strenge Grenzlinie überflog, durfte sich vor der
Kritik nicht fürchten und mußte sich gefaßt
machen, oft den guten Rath zu hören, „immer
hibsch uff'm Gleiche zu bleiwe un sich nit mit Sache
einzelosse, die naut inbringe un ordentliche Leire
an ei'm err mache". Zur besseren Klarstellung
der Verhältnisse erwähne ich diesen Ausspruch,
den einst eine höchst ehrenwerthe Bürgersfrau
meiner Mutter gegenüber that, als sie gehört
hatte, daß mich dieselbe seit kurzem in die fran
zösische Stunde schickte. Die nämliche Fram
deren gutes Herz keinen Armen unbeschenkt
gehen lassen konnte, urtheilte einmal über
Dietrich Weintraut, als ich dem Wunsche un
vorsichtigen Ausdruck gegeben hatte, gerade so
begabt und unterrichtet sein zu mögen, wie er:
„Bei mir kannst so was sah, Du dummes Dink,
bei annere Leire nimm Dich zesamme, wann De
nit drunner dorch komme willst. — Was brauche
Bergersleire Gedichter, dai hun ihre Last mit
annere Sache. Merr kann gewiß dem Weintraut
sonst nix nachsah, awer däi Bosse hätt he nit
ze mache brauche. So Fissematente laßt merr
de Professor un de Advokate!"
Als ich der Frau darauf erwiderte, daß jeder
Mensch das Talent ausbilden könne, ja sogar
müsse, das ihm Gott gegeben habe und außer
dem den von mir hochverehrten Dichter noch zu
vertheidigen suchte, rief sie, die mir sonst von
Herzen gut war, ganz entrüstet: „Na, nu schweik
merr awer still! — Unser Herrgott mag de
Kochdippe gnärig sein, wann die Weibsleire och
noch anfange wolle.- Äch will die Zeire nit
erlewe, wo's annerscht werd wäi alleweil! —
Wo soll doch die Welt noch hin, wann die
Bergerschmährercher sogar Französch lerne wai
die Storrente!"
Die gute Frau hat die Wandlungen, die
Marburg seit den letzten Jahrzehnten durch
machte , nicht mehr erlebt. — Sie hat keine
Ahnung davon, daß es heute gar nicht auffällt,
wenn eine Bürgerstochter in die höhere Töchter
schule geht und sogar einen Schleier trägt wie
die Kinder vornehmer Leute. Der sogenannte