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Klauseln und Vorbehalte in der vorsichtigen Form
jener Zeit; es wird darin entsagt: „Allem dem,
was zur Schwächung und nicht Haltung dieses
Vertrags dienen, was die Menschen je erdacht
oder dawider erdenken möchten oder könnten".
Aber trotz aller dieser Vorsicht werden noch be
sondere Bürgschaftsurkunden seitens des Vaters
des Koadjutors, des Grafen von Henneberg, so
wie des Dekans und Kapitels angefertigt.
Der Hauptvertrag ist „Geben und geschehen
zu Mendorf an der Werra nach Christi Geburt
gezahlt 1526 Jahr am Abend Simonis et lluäae
^xostolorum (28. Oktober)."
(Schluß folgt.)
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Erinnerungen an den Uarburger WolksöLchler
Meirich Weintraul. * }
Von L. Mentzel.
Ist man eigentlich berechtigt, Erinnerungen an
einen Menschen niederzuschreiben, dem man im
Leben nie nahe gestanden hat? Ich glaube
wohl, wenn dieser Mensch eine Persönlichkeit
war, die aus irgend einem Grunde allgemeines
Interesse erregte uud durch ihr Wirken und
Streben, durch ihre geistige Begabung und Be
deutung nicht nur weit über ihren Lebenskreis
hinausragte, sondern auch auf Andere anregenden
und fördernden Einfluß gewann. Ein solcher
Mann war der am 8. Juli 1870 verstorbene
Marburger Volksdichter Dietrich Weintraut.
Da ich noch ein ziemlich kleines Mädchen
war — also vor mehr als einem Menschenalter
— las mir meine Mutter eines Abends Bürgers
schöne Ballade „Das Lied vom braven Mann"
vor. Die Verse machten einen tiefen Eindruck
auf mich, ich erlebte wahrhaft den geschilderten
Vorgang mit, sah den armen Zöllner mit Weib
und Kind inmitten der brausenden Wasserfluth
wie leibhaftig auf dem Dach seines bedrohten
Häuschens sitzen und hörte ihn durch den heu
lenden Sturm um Hülfe und Rettung rufen.
Die Wirkung dieses Gedichtes auf mein kind
liches Gemüth war eine so gewaltige, daß ich
mich heute noch ganz deutlich erinnern kann,
wie wohl es mir plötzlich zu Muthe wurde, als
in der größten Noth ° der Retter, ein schlichter
Bauersmann, erschien, dessen Äußerlichkeit
Bürger so schön und treffend mit den wenigen
Worten schildert:
„Mit grobem Kittel angethan,
An Wuchs und Haltung hoch und hehr".
Es gefiel mir gar sehr von dem braven Mann,
daß er den ausgesetzten Lohn des Grafen für
seine Heldenthat nicht annahm, aber ich dachte
auch unwillkürlich an den Andern, der sich im
letzten Verse des Liedes so sehr darüber freute,
das edle opferfreudige Thun des schlichten
Bauern rühmen und preisen zu können. —
Sehr leid that es mir, als ich gleich darauf von
meiner seligen Mutter erfuhr, daß dieser Mann
schon längst gestorben sei, aber ich konnte den
noch den Wunsch nicht unterdrücken, einmal
einen Dichter sehen zu mögen. Die Mutter
versprach, dies Begehren sehr bald zu erfüllen
und zeigte mir am anderen Morgen den Volks
dichter Dietrich Weintraut, der in Weidenhausen
wohnte und fast jeden Tag an unserem am
Lahnthor gelegenen Hause vorüber kam. Da
mals muß ich mir wohl höchst absonderliche
Vorstellungen von dem Aussehen eines Dichters
gemacht haben; denn ich war ganz erstaunt,
wenn nicht gar enttäuscht, daß der schlichte
Mann, der so still seines Weges ging und
gerade so aussah wie die anderen Bürger, nach
dem Urtheil der Mutter ein recht bedeutender
Dichter sein sollte.
Durch meine Freundschaft mit dem alten
Zeichenlehrer Michael Müller, der eine bedeu
tende Kupferstichsammlung besaß, hatte ich bereits
sehr früh Nachbildungen der berühmten Selbst
portraits von Rafael und Albrecht Dürer ge
sehen, die mir beide sehr gut gefielen. Wie ich da
zu kam, weiß ich nicht, aber ich meinte, ein
Dichter müsse unbedingt einem von beiden Bildern
ähnlich sehen. Dieser Vorstellung entsprach nun
Dietrich Weintraut allerdings nicht. Er hatte weder
Rafaels ideal schöne Züge, noch den Christus
kopf Albrecht Dürers, er war auch nicht
mehr jung wie die beiden berühmten Maler,
als sie sich selbst darstellten, und trug an jenem Tage
dazu noch eine recht unkleidsame Mütze. Trotz der
Enttäuschung wurde Dietrich Weintraut aber
doch immer mehr eine anziehende Persönlichkeit
für mich. Inzwischen hatte ich einige seiner
schönen Gedichte kennen gelernt und war von
meiner Mutter darüber aufgeklärt worden, wie
hoch es dem Manne anzurechnen sei, daß er es
dahin gebracht habe, so etwas Schönes zu leisten.
*) Nachdruck verboten.