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K. Chr. Gottlieb Wiß und das Gym
nasium zu Rinteln. Am 17. April 1854
starb zu Fulda als Oberkonsistorialrath, Inspektor
und erster evangelischer Pfarrer daselbst, der rühm
lichst bekannte frühere Direktor des Gymnasiums zu
Rinteln Di*, theol. et phil. K. Chr. Gott-
lieb Wiß, geboren am 31. Januar 1764 zu
Brotterode. Als das Gymnasium zu Rinteln aus
dem Fonds der am 17. Juli 1621 von dem Grafen
Ernst von Schaumburg gestifteten und am 10. De
zember 1809 unter westfälischer Regierung aufge
hobenen Universität vom Kurfürsten Wilhelm er
richtet und am 31. Oktober 1817 eröffnet wurde,*)
berief die kurhessische Staatsregierung den Di*. Christoph
Gottlieb Wiß zum Direktor dieser Gelehrtenanstalt.
Es gelang demselben, unter der Mitwirkung aus
gezeichneter Lehrer, wie Dr. Eduard Jacobi, Dr. C.
Garthe (Mathematiker und Physiker, gestorben als
80 jähriger Greis am 21. Januar 1876), Dr. August
Schiek (Nachfolger von Wiß als Direktor des Gym
nasiums zu Rinteln), Dr. Heinrich Feußner, Dr. G.
H. L. Fulduer, Dr. Ludwig Boclo (Historiker), und
später Dr. Friedrich Franke, Dr. C. I. Weismann u. s. w.,
das Rinteler Gymnasium zu ausgezeichnetem Rufe,
sowohl was die wissenschaftlichen Leistungen, als auch
was die gesellschaftliche Bildung der Schüler anbelangt,
emporzubringen. Nicht nur Landeskinder aus allen
Theilen unseres engeren Vaterlandes wurden dem
selben anvertraut, auch viele Nichthessen, namentlich
Norddeutsche: aus Hannover, den freien Reichs
städten: Hamburg, Bremen und Lübeck, u. s. w. be
suchten dasselbe. Viele geistig hervorragende Männer
sind unter der Leitung des Direktors Dr. Miß aus
dem Gymnasium zu Rinteln hervorgegangen, der
berühmteste aber von allen ist Franz Dingelstedt, der
zu Ostern 1831, noch nicht 17 Jahre alt, und nach
dem er wegen seiner allzugroßen Jugend drei Jahre
in Prima verbracht hatte, nach vorzüglich bestandenem
Examen mit dem höchsten Grade der Reife, welcher
überhaupt gegeben wurde, abging.
Friedrich Oetker, -bekanntlich ein Mitschüler Dingel-
stedt's, schildert in seinen Lebenserinnerungen (Bd. I,
pag. 79, sqq.) den Direktor Wiß wie folgt:
„Wiß war eine starke, ansehnliche Erscheinung und
verstand es vortrefflich, Alles, namentlich die Schul
feierlichkeiten, mit einer gewissen stimmungsvollen
Würde zu umgeben. Sein Ansehen war unbestreitbar.
Wenn der Lehrer des Französischen sich nicht mehr
zu helfen wußte, und drohend ausrief: „ich gehe zum
Herrn Direktor*, so blieb das selten ohne Wirkung.
Dabei konnte der ernste Professor auch auf's heiterste
lachen, selbst in den Lehrstunden. Er führte bei den
*) Der erste Schüler, welcher in das neue Gymnasium
zu Rinteln aufgenommen wurde, war Karl Wilhelm
Wippermann, der nachmalige bekannte kurhessische Land
tagsabgeordnete und Staatsrath, geboren am 1. Dezember
1800 zu Rinteln, gestorben daselbst am 23. März 1857.
Schülern den Beinamen „Lips", auch wohl „Vater
Lips". Als er nun einst in der Erklärung des
Theokrit bei der gleichlautenden Bezeichnung des Süd
westwindes etwas verweilte, entstand schon allgemeines
Gekicher; als er aber dann schmunzelnd hinzufügte:
lips est eurus, vel potius africus; etiam professor
Marburgensis,*) und einige flüsterten: nee non
Rinteliensis — da brach das lauteste Gelächter-
aus, in welches der DintelienW allem Anscheine
nach ahnungslos, jedenfalls aber auf's heiterste mit-
einstimmte. —
Wiß sprach gern und fließend lateinisch; die rö
mische Ausdrucksweise war ihm so zur anderen Natur
geworden, daß manche Wendungen, z. 33. sicuti— sit,
selbst in seinen deutschen Reden fast auffällig hervor
traten, und er im Stande war, auch Nichtlateinern
gegenüber sich lateinisch auszudrücken. So rief er
einst dem Pedellen, der einen gekauften Schwamm
ablieferte, zur allgemeinen Erheiterung zu: quanti
constat?“
Im Jahre 1839 wurde Dr. Wiß zum Konsistorial-
rath und ersten Prediger der evangelischen Gemeinde
zu Fulda ernannt. Wiß war groß und kräftig ge
baut, an Gesicht und Gestalt dem Cranach'schen
Lutherbilde nicht unähnlich. Er war ein munterer
Gesellschafter, gastfreundlich, liebte die Musik und er
freute sich an literarischer und musikalischer Unter
haltung. Er war verträglicher Natur, kein Zelot,
mit der katholischen Geistlichkeit in Fulda lebte er in
Frieden und bei dem seligen Bischof Johann
Leonard Pfaff war er nicht minder eine gerngesehene
Persönlichkeit, wie er dies im evangelischen frei
adeligen Stifte Wallenstein war. — Als Schrift
steller hat i)r. Wiß eine sehr eifrige Thätigkeit so
wohl auf theologischem wie auf philologischem Gebiete
entfaltet. Groß ist die Zahl seiner lateinischen
Gelegenheitsschriften, die er als Direktor des Gym
nasiums zu Rinteln verfaßt hat. Auch in Fulda
hat er seine literarische Thätigkeit fortgesetzt, nament
lich hat er zu der Einweihungsfeier des Bonifatius-
denkmals am 17. August 1642 ein Bonifatius-
büchlein geschrieben und eine lateinische Ode ge
dichtet, welche beide beifällig aufgenommen worden
sind. —
Zu Anfang der 30 er Jahre war Dr. Wiß als
Vertreter Schmalkaldens Mitglied der kurhessischen
Ständeversammlung und war in dieser Stellung
hauptsächlich für die Reorganisation der hessischen
Gymnasien thätig, die dann auch nach dem Muster
des Rinteler Gymnasiums 1832 in Hersfeld, 183 3
in Marburg und Hanau und 1835 in Kassel und
Fulda erfolgte.
Wiß liegt auf dem städtischen Friedhofe zu Fulda
*) Der damalige Professor der Nationalökonomie und
Finanzwissenschaft Dr. M. Alex. Lips in Marburg ist
damit gemeint.