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früher gesehenes Bild sich meinem Gedächtnis
fest eingeprägt hatte. Ob Jakob Grimm so
vergißmeinnichtblaue Augen wie Frau Dr. Claus
besaß, ob er in seinen jüngeren Jahren solch
glänzendes goldblondes Haar und eine so frische
Gesichtsfarbe, wie sie, hatte, weiß ich nicht, aber
ich muß gestehen, daß ich mir für einen echten
deutschen Gelehrten seiner Art eine passendere
Äußerlichkeit nicht denken konnte.
Frau Dr. Claus stand am Ende der Dreißig,
da sie als Pflegerin in das königliche Reserve-
lazareth zu Marburg eintrat. Wer aber ihr
Alter nicht wußte, Hütte sie unbedingt für viel
jünger halten müssen. Die ungewöhnliche Frische
ihres hübschen Gesichtes, ihre weichen Züge imb
die gewandten Bewegungen ihrer mittelgroßen
kräftigen Gestalt ließen sie wie eine Zwanzigerin
erscheinen. Nur manchmal trat eine tief ein
geschnittene Linie, die sich von der kräftig ge
bogenen Nase nach dem Munde zog, deutlich
hervor und gab ihrem Antlitz den Ausdruck der
itt harten Lebensschicksalen erworbenen Reife vor
geschrittener Jahre.
An jenem Frühmorgen, der uns einander
näher brachte und eine Freundschaft begründen
sollte, deren Bande erst der Tod gelöst hat,
fühlte ich mich ungewöhnlich matt und angegriffen.
Eine entsetzliche Nacht lag hinter mir, eine Nacht,
deren Schrecken heute noch so lebhaft vor mir
stehen, als ob ich sie eben durchlebt Hütte. Von
Abends 8 Uhr bis der Morgen anbrach hatte ich
bei dem schwerverwundeten Füsilier Röhr vom
ersten westpreußischen Grenadier-Regiment Nr. 6
gewacht und während der Fieberphantasien des
armen Soldaten, der außer einigen anderen
Verletzungen auch einen gefährlichen, durch die
linke Lunge bis nach dem Rücken gehenden Schuß
hatte, eine solche Angst ausgestanden, daß ich am
anderen Morgen wie ein Geist ausgesehen haben
soll. Wenigstens sagte mir dies Frau Dr. Claus,
die sich aufs liebevollste meiner annahm, als
endlich ein tiefer sanfter Schlaf meinen armen
Pflegling aus seinen Qualen erlöst und die
heftige Sehnsucht nach seiner alten Mutter ge
dämpft hatte. Da es mir wirklich sehr schwer
um's Herz war, gewährte es mir eine große
Wohlthat, mich bei Frau Dr. Claus aussprechen
zu können. Hatte ich doch die Sehnsucht nach
einem Menschen und das Heimweh noch nie in
so ergreifender Weise und in solcher Heftigkeit
auftreten sehen, wie in der letzten Nacht bei dem
schwer verwundeten Soldaten. Hub seine theils
klaren, theils verwirrten Äußerungen hatten mich
um so mehr erschüttert, als dieser Mensch sonst
ein Held im Ertragen war und mit heiterer
Miene die qualvollsten Schmerzen erduldete.
Dazu kam auch bei mir noch die Furcht, er
möge seiner schweren Wunde erliegen und der
alten armen Mutter, deren einzige Stütze er
war, nur allzubald entrissen werden. Erst acht
Tage zuvor hatte ich der Letzteren geschrieben,
daß die schwere Wunde zu heilen beginne und
alle Gefahr überstanden sei, jetzt schauderte mir
bei dem Gedanken, -der bedrängten Frau, deren
rührende Briefe heute noch zu meinen werth
vollsten Andenken aus jener bewegten Zeit ge
hören, bald etwas ganz Anderes mittheilen zu
müssen.
Frau Dr. Claus tröstete mich in meiner
traurigen Stimmung, sie erinnerte mich daran,
daß ein Mensch, der mit einer solchen Wunde
beinahe zwei Tage hinter einem Gebüsch auf dem
Schlachtfelde gelegen hatte, ohne seinen Geist
aufzugeben, eine seltene Fülle von Lebenskraft
besitzen müsse. Und während wir so über die
Leidensgeschichte des Füsilier Röhr sprachen und
uns auch über die edlen Anschauungen dieses
schlichten, bis zu seinem Eintritt in das Grenadier
regiment nicht über die Grenzen seines Heimat
dorfes hinausgekommenen Menschen unterhielten,
trafen wir uns in so viel gemeinschaftlichen An
schauungen, daß wir uns unwillkürlich beide zu
einander hingezogen fühlten. Ich als die be
deutend Jüngere, wagte cs freilich nicht, offen
auszusprechen, daß meine stille Vorliebe für die
wackere Kollegin durch dies Gespräch bedeutend
vertieft worden war, allein ich war sehr glücklich,
als sie mir sagte, daß sie mich schon lange in's
Herz geschlossen und nur auf eine Gelegenheit
gewartet habe, mir dies zu sagen.
Seit jenem Morgen verkehrten wir täglich in
herzlichster Weise miteinander. Da wir meist um
dieselbe Zeit frei wareil, machten wir oft zu
sammen einen Spaziergang und besuchten uns
auch gegenseitig. Freilich war ich mehr bei
Frau Dr. Claus als sie bei mir; denn in ihrer
stillen Wohnung ließ sich ungestörter plaudern
als in unserem lebhaften Geschäftshause. Um
dieselbe Zeit als ich Frau Dr. Claus näher
kennen lernte, schenkten mir auch zwei andere
würdige Damen ihre Zuneigung, die ich früher
nur vom Sehen gekannt hatte. Es war dies
die leider bereits schon vor Jahren verstorbene
Frau Justizrath Dr. Wolfs, eine Frau von
seltener Herzensgüte und weilblickendem Geiste,
und die älteste von uns Pflegerinnen, Fräulein
Eleonore Schester, deren unermüdliche und auf
opfernde Thätigkeit für die erkrankten und ver
wundeten Krieger man nicht genug bewundern
konnte. Und diesen drei Damen, von denen
leider nur die letztgenannte noch meine Er
innerungen an jene große Zeit theilt, las ich