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besonders jenen richtigen Abschnitt in ihrem
Leben kurz schildern möchte, in dem wir, gemein
same ernste Pflichten ausübend, tagtäglich in herz
lichster Weise miteinander verkehrten.
Kaum waren die Schlachten von Weißenburg
und Wörth am 4. und 6. August 1870 ge
schlagen, als sich die zum Reservelazareth ein
gerichtete Kaserne iti Marburg von oben bis
nuten mit meist schwer verwundeten Soldaten
füllte. Bon diesem Augenblick an begann die
Thätigkeit der Marburger Damen, die sich, einer
Aufforderung des vaterländischen Frauenvereins
Folge leistend, entschlossen hatten, die verwundeten
und erkrankten Krieger während des deutsch-
französischen Feldzuges zu pflegen. Es war ein
bunt zusammengewürfelter Kreis von Pflegerinnen,
der sich an jenem denkwürdigen 6. August in
dem ehemaligen Speisesaal der Offiziere zusammen
fand, um von dem Leiter des Königlichen Reserve-
lazareths, dem nunmehr verstorbenen Sanitäts
rath, Professor vr. Horstmann, den verschiedenen
Stationen zuertheilt zu werden. Da sah man
ältere Damen mit bereits ergrautem Haar und
junge blühende Mädchen, Persönlichkeiten aus
den höheren Kreisen, soche aus den mittleren
Regionen der Gesellschaft und Angehörige aus
dem ehrbarem Bürgerstande. So weit ich mich
erinnern kann, fiel es mir damals auf, daß der
letztere hauptsächlich das jüngere Element dem
Vereine der Pflegerinnen zugeführt hatte. Aber
ob jung, ob alt, ob vornehm oder schlicht bürger
lich, das war damals ganz einerlei. Die ernste
Zeit hatte die sonst trennenden Standes- und
Altersunterschiede aufgehoben und uns Alle in
dem festen Vorhaben vereinigt, dem Vaterlande
in schweren Tagen unsere Kräfte widmen zu
wollen. Es herrschte eine begeisterte und ge
hobene Stimmung unter den Pflegerinnen, man
sehnte sich wahrhaft danach, auch etwas zu leisten
und ertrug gleichmüthig die spöttelnden Witze,
die da und dort besonders über uns jüngere
Mädchen fielen. Eine alte geistvolle Frau,
welche die Erhebung des deutschen Volkes in den
Jahren 1813 und 14 mit ganzer Seele begleitet
und auch noch die Stimmungen während des
deutsch-französischen Feldzuges in den Jahren
70 und 71 genau beobachtet hatte, sagte mir
einmal, man könne den gewalsigen Gefühls
aufschwung in jener Zeit, Körners und Schenken-
dorfs Lieder, Rückerts geharnischte Sonette und
Ficht's „Reden an die Deutsche Nation" nicht
in der vollen Bedeutung begreifen, wenn man
nicht mit eigenen Ohren gehört hätte, wie be
geistert die deutschen Soldaten während ihres
Transportes nach Frankreich „Die Wacht am
Rhein" sangen.
Vor 16 Jahren, als ich noch ganz unter der
Macht der empfangenen Eindrücke stand, kam
mir jener Ausspruch etwas gewagt vvr, weil ich
meinte, daß für solche Zeitstimmungen kein be
sonderes Verständnis nöthig sei. Aber heute,
wo ich ein gut Stück älter nnd etwas ärmer an
idealen Begriffen und Vorstellungen geworden
bin, heute muß ich selbst sagen, daß ich manche
enthusiastische Anschauung in jener Zeit nicht be
greifen würde, wenn ich sie nicht selbst voll und
ganz getheilt hätte. Große Zeiten erwecken eben
neue Kräfte im Menschen, und die Begeisterung
ist eine heilige Flamme, deren Wärme unsere
Leistungsfähigkeit weit über das gewöhnliche
Maaß ausdehnt. Nicht ohne Rührung kann ich
daran denken, wie aufopfernd und selbstlos viele
Marburger Pflegerinnen in den kalten Winter
nächten von 70 auf 71 ihr meist sehr schweres
Amt ausübten. Im Geiste sehe ich manche Dame
wieder mit überwachtem Gesichte über den zugigen
Gang von einem Zimmer ihrer Station in's
andere wandern oder für eine brennende Wunde
das selbst klein gehauene Eis in einen Beutel
füllen. Und das geschah Alles mit gehobenem
Pflichtgefühl und einer schwesterlichen Herzlichkeit,
die, wie viele Verwundete sich ausdrückten, sie
ganz vergessen . ließen, daß sie anstatt „bei
Muttern" in einen! fremden Lazareth wären. —
Freilich, manchmal gab es wohl verzagte angst
erfüllte Mienen, wenn es galt, bei einem heftig
Fiebernden oder gar bei einem Todeswunden zu
wachen. Dann suchte man wohl Trost und Rath
bei der Pflegerin der nächsten Station oder rief
sie zu sich, falls es ihre Pflicht erlaubte, die
Kollegin in bedrängter qualvoller Lage zu unter
stützen.
Am frühen Morgen nach einer solchen Nacht
lernte ich Frau vr. Lina Claus, geb. Sanner,
näher kennen. Da ihre Station im dritten Stock
des südwestlichen Flügels der Kaserne gelegen war
nnd dicht an die meinige grenzte, hatte ich schon
oft Gelegenheit gehabt, mit ihr in Berührung
zu kommen, aber dieser Verkehr war bis dahin
nicht über die Grenzen kollegialen Entgegen
kommens unb gesellschaftlicher Höflichkeit hinaus
geschritten. Freilich lag das nicht an mir, sondern
an Frau vr. Claus, die keine Ahnung davon
hatte, wie sehr ich mich zu ihr hingezogen fühlte.
Nicht nur die schlichte geräuschlose Weise, in der
sie ihre Pflicht erfüllte, sondern auch ihr liebens
würdiges lind doch streng zurückhaltendes Wesen
hatten längst einen tiefen Eindruck auf mich
gemacht. Auch ihre äußere Erscheinung konnte
ich nicht ohne ein gewisses inneres Behagen sehen.
Erinnerten mich doch ihre Züge lebhaft an den
wegen seinen Kinder- und Hausmärchen von mir
hochverehrten Jakob Grimm, dessen etliche Jahre