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lief) nach dem Einzuge der Bundestruppen in Kassel
am 1. November 1813 alle seine verdächtigenden
und herabwürdigenden Angaben gegen den nun
mehrigen General Dörnberg wiederrief, ein solcher
Mensch ist durch seine gänzliche Charakterlosigkeit
genügend gekennzeichnet."
Ich finde mich veranlaßt, hierauf folgendes zu er
klären :
1. Die von den Herren Göcke und Ilgen
als „Schmähschrift gegen das hessische Heer" citierte
bekannte Broschüre („Hessen vor dem 1. Novenlber
1806", Leipzig 1807) hat mein Bater gar
nicht geschrieben. Auch würde schon seine
damalige wie spätere Politische Gesinnung die
Möglichkeit dieser Autorschaft völlig ausgeschlossen
haben. Der wirkliche Verfasser ist zwar niemals mit
voller Evidenz ermittelt worden. Doch hat schon die
vormalige „Hessenzeitung“ (1864 Nr. 98) referiert,
daß „von anderer Seite" — als derjenigen eines
Theiles der entlassenen vormaligen hessischen Offiziere
— der vorhinnige Fähndrich im kurhessischen Regimente
Landgraf Karl, Franz Hundeshagen, seiner Zeit
„aus guten Gründen" als Verfasser benannt worden
sei; wie denn der anonyme Autor der Broschüre auf
dem Titelblatte der letzter» sich selbst als ehemaligen
hessischen Offizier bezeichnet hat. —
2. Die Herren Göcke und Ilgen beschuldigen
meinen Vater des „ehrgeizigen Streberthums". Gewiß
ist die edle Zunft der „Streber", d. h. diejenige
Menschengatlung, deren ausschließliches, mit allen,
gleichviel wie beschaffenen Mitteln angestrebtes Ge
dankenziel es ist, etwas zu werden, bezw. mehr als
man bisher war, zu werden, eine weitverbreitete, und
zumal in unseren Tagen zu üppigster Blüthe entwickelt.
Indessen hat es zu allen Zeilen auch ehrenwerthe
Ausnahmen gegeben, und zu diesen gehörte mein
seliger Vater.
3. Wahr ist, daß mein Vater in einem, im 19.
Hefte der „Anekdoten und Charakterzüge aus den
Kriegen von 1805 bis 1809", Leipzig bei Baum
gärtner, abgedruckten, „historische Nachrichten über die
hessische Insurrektion" betitelten kleinen Aufsatze vom
1. Oktober 1809 zwar nicht „die Verdienste
Dörnberg's in der gehässigsten Weise herabgesetzt",
allerdings aber die Leistungen v. Dörnberg's als
Hauptanführers jener Insurrektion einer abfälligen
Kritik unterzogen hat; und ebenso ist wahr, daß
mein Vater in einer spätern Erklärung vom 1. Nov.
1813 jene nachtheiligen Aussagen als auf Mißver
ständnissen beruhend wieder zurückgenommen, und mit
dem Bekenntnisse, durch die frühere Veröffentlichung
gefehlt zu haben, unter Anerkennung der fleckenlosen
Persönlichkeit v. Dörnberg's, der Ehre desselben genug
gethan hat. Aber weder das Eine noch das Andere
ist auch nur entfernt geeignet, auf den sittlichen
Charakter meines Vaters einen Schatten fallen zu
lassen. Wenn ein junger 28 jähriger Mann
wie es letzterer int Jahre 1809 war — so bald
nach dein unerwartet unglücklichen Ansgange eines
alle Seele nkräfte aufregenden Insurrektionsunter
nehmens, kaum dem .Tode entronnen, flüchtig im
Exile lebend, und von den unmittelbaren Eindrücken
dieser Erlebnisse noch ganz hingenommen, in Be
ziehung auf Veranlassung und Schuld des Mißlingens
ein, dem Hauptleiter des Unternehmens zu nahe
tretendes Urtheil gefällt und diesem Urtheil bei ge
gebener Veranlassung auch öffentlich Ausdruck ge
geben hat, so kann das, denke ich, nicht allzuschwer
ins Gewicht fallen. Daß aber mein Vater dies
Urtheil nachträglich als ein solches, durch welches
dem Obersten v. Dörnberg Unrecht geschehen, erkannt
und vier Jahre später offen vor den Zeitgenossen
wieder zurück genommen hat, kann, wie selbst Lynker
(a. a. O. S. 196) anerkennt, ihm doch wohl nur,
zur Ehre gereichen.
4. Im Uebrigen läuft die Sachdarstellung des
Herren Archivare im Wesentlichen darauf hinaus, und
zwar weniger mittelst greifbarer, thatsächlich suln
stanziierter itnb unter Beweis gestellter Behauptungen
als durch vage und übelwollende Bemerkungen meinen
seligen Vater dahin zu verdächtigen, daß derselbe dem
damaligen westphälischen Gesunden, Baron von der
Linden in Berlin „seine Dienste angeboten" und
durch „stompromittierende" Mittheilungen „über an
gebliche Theilnehmer des Aufstandes in Hessen die
Begnadigung König Jerome's zu erlangen gewußt"
habe.
Die Wahrheit ist folgende:
Nach dem Mißlingen des Jnsurrektionsversuches
vom 22. April 1809 blieb selbstverständlich meinem
Vater, ebenso wie dem Obersten v. Dörnberg und
andern Theilnehmern, nur die Flucht übrig. Es ge
lang ihm, nach einigen Wochen verborgenen Aufent
haltes an verschiedenen hessischen Orten, über Halle
nach Berlin zu entkommen und dort ein weiter nicht
angefochtenes, bis zum 22. Februar 181t) fortdauerndes
Asyl zu finden. Verlangen nach dein Heimatslande
und die Hoffnung, im Falle der Rückkehr seine
nächsten Familienangehörigen weitern Verfolgungen
enthoben zu sehen, *) hatten ihn schon im Oktober
*) Sein hochbetagter Vater, Metropolitan Martin in
Homberg war, obwohl bei der Insurrektion vollkommen
unbetheiligt — die Angabe Lynker's S. 118, er habe
„versucht, in einer begeisternden Rede die Nechtwäßigkeit
des Aufstai'des darzulegen", ist absolut falsch — ward am
29. April 1809 verhaftet, im Kastell in Kassel, dann in der
Festung Mainz gefangen gehalten, unter Sequestrirung
seines Vermögens seiner Stelle beraubt und erst später als
Pfarrer in Wolssanger wieder angestellt. Im Wesentlichen
gleiches Schicksal theilte der Schwiegervater meines Vaters,
Provisor Rommel in Homberg.