365
Züge irren, die zu allen Zeiten ihrem Leben
Inhalt und Werth gegeben hatten. Sie war
unbesorgt wegen seines Unwohlseins, ja freute
sich beinahe ihn einmal wieder Pflegen zu dürfen
— und ihren stattlichen Rudi durch das Städt
chen zu führen — o, es sollte das eine Genug
thuung sein, nach manchen Jahren bitterer Kämpfe,
die seine eigenartige Natur herauf beschworen
hatte — und die man ihr und nur ihr allein
zu ewigem Vorwurfe gemacht.
Und wieder tropften die Thränen auf das
Blatt und sie dankte Gott für alles — auch da
für, daß sie ihren Rudi immer verstanden hatte
und sie es allein von allen Menschen wußte, daß
sein geheimstes Empfinden doch viel, viel größer
und bedeutender sei — als die kleinen Fehler,
welche der Menge in die Augen fielen. —
Es war Samstag Abend.
Die Glocken hatten nach altem Brauche den
Abendsegen geläutet und die Dämmerung sich in
stillem Frieden über die Gefilde gelegt.
Grete stand am Fenster und erwartete Frau
Ruppius und ihren Sohn. Sie hatte alle Vor
bereitungen zum Empfange beendet und während
die Tante zum Bahnhof ging, überließ sie sich
zum erstenmale ganz der Freude des Wiedersehens.
Rudolf Ruppius war inzwischen ein angesehener
Manns geworden — auch Gatte und Vater —
sie würde ihn verändert finden und sie gab sich
Mühe, sich ihn vorzustellen, wie er möglicherweise
gewordeNtsein könne. Aber das war nicht leicht
— denn die Bilder, wie sie ihn früher gekannt
hatte, den blonden, lustigen Burschenschafter, den
später stürmischen Kämpfer gegen unabänderliche
Mißbräuche der Gesellschaft — und dann, o diese
Bilder verdrängten alle Versuche der Vorstellung
und sie ließ die Augen über die Stoppelfelder
hinweg auf den Friedhof schweifen, wo die Kreuze
in schemenhaften Contouren mehr und mehr ver
blichen. Am unvergessensten lebte er dennoch in
ihr, wie er damals ausgesehen, als die Leiden
schaft für Erika seine Züge so ausdrucksvoll ge-
meiselt hatte, als sollten sie fortan die Inschrift
auf dem Grabe dieser Liebe sein.
Niemals war sie sich kleiner neben Rudi vor
gekommen, als in jener Zeit — sein titanenhaftes
Empfinden, das paßte nicht in ihre stille Welt
— sie wußte es — aber dennoch — sie wäre
damals für ihn gestorben, um ihn glücklich zu
machen! —
Inzwischen stand Frau Ruppius mit zitterndem
Herzen und schaute nach der schnaufenden Loko
motive, die eben pfeifend in den kleinen Bahnhof
von Neuhausen einfuhr. Es war beinahe dunkel
geworden und sie suchte bei der spärlichen Be
leuchtung der Laternen nach der hohen Gestalt
ihres Sohnes.
Sie entdeckte nichts.
Erst als der Zug, nach wenigen Minuten
Aufenthaltes, wieder von dannen brauste und
die Menschen sich verliefen, gewahrte sie an die
Mauer des Bahnhofsgebäudes gelehnt, eine mensch
liche Gestalt.
„Großer Gott, Rudi — Du?
„Ja ich, Mutter, liebe Mutter, — Du siehst,
die Reise ist mir schlecht bekommen — und ich
muß ein paar Augenblicke ruhen, bevor wir den
kleinen Weg nach Hause machen."
Und er legte seinen Arm so sanft und innig
um der Mutter Schulter, als habe er ihrer nie
mals so bedurft, sie niemals so geliebt, wie in
dieser Stunde.
Frau Ruppius hatte jetzt ihre eigene Kraft
wieder gefunden — ihr Sohn bedurfte ihrer
und das genügte, um sich selbst zu vergessen.
Sie streichelte sein Gesicht, das sie bei der schlechten
Beleuchtung mehr ahnen als sehen konnte, zog
den Kragen seines Ueberziehers fürsorglich um
seinen Hals und legte seinen Arm in den ihren.
Aber sprechen konnte sie nicht, es war zu Vieles,
das in ihr arbeitete.
Auch Rudi sagte kein Wort.mehr, sie fühlte
nur an der Art, wie er sich an ihre Schulter
schmiegte, daß er glücklich war, bei ihr zu sein
— und das Bewußtsein betäubte sie beinahe,
denn durch lange Jahre hindurch hatte sie ihm
nichts sein können — er ihrer nicht bedurft —
nur still für ihn gearbeitet hatte sie — das war
alles gewesen.
Sie geleitete ihn langsam an der Friedhofs
mauer vorüber, über den kleinen Steg des Baches,
der den Weg abschnitt und sie erreichten in
wenigen Minuten das kleine Haus, welches seit
lich von den knorrigen Aesten eines Apfelbaumes
umklannnert wurde. Die Fenster waren erleuchtet
und warfen ihren Schein über die Jelängerje
lieber-Laube, deren vereinzelte Spätblüthen die
Luft würzten.
Der große Mann, der sich wie ein hilfsbedürf
tiger Knabe auf die Schulter der Mutter stützte,
blieb hier ein paar Augenblicke stehen und be
trachtete das kleine Heim, das so viel Liebe in
sich trug. Und dann sah er auf die leicht ge
bückte Gestalt der Mutter an seiner Seite, deren
sanfte Züge er beinahe vergessen hatte.
„Das ist ja wohl Grete, die da an der Garten
pforte steht und ihr Tuch schwingt?" ging es
endlich mit bewegter Stimme über seine Lippen.
„Ja. Grete," sagte die Mutter leise.
„Willkommen, willkommen," rief das Mädchen
jetzt mit schneidender Stimme, in welcher sie ihre
Bewegung zu verbergen suchte, „willkommen auch
ohne Fran und Kind, wenn es denn nicht anders
sein kann, Rudi!" und sie öffnete die Garten-