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Le industriellen Verhältnisse Hessens im Ansang dieses
Aahrhunöerts.
Von F. Swenoer.
Es liegt uns ein altes wenig bekanntes Werk
vor: „Tagebuch einer der Kultur und
Industrie gewidmeten Reise" 8 Bdchen.,
Tübingen bei I. G. Cotta, 1809, welches den
Licenciaten der Rechte Philipp Andreas
Nemnich von Hamburg zum Verfasser hat.
Derselbe war ein grundgelehrter Schriftsteller,
der sich viel mit Volkswirthschaft beschäftigte und
sich eine sehr gesunde Auffassung und einen scharfen
Blick für industrielle Verhältnisse bewahrt hat.
Er war 1764 zu Dillenburg geboren, hatte sich
in Hamburg als Licentiat der Rechte niedergelassen,
wo er im Jahre 1822 verstarb. Von seinen
Werken wollen wir nur außer dem oben an
geführten „Tagebuche" sein „Allgemeines Poly-
glotten-Lexikon der Naturgeschichte" 4. Bde. Ham
burg 1793—1795; sein „Waren-Lexikon in 12
Sprachen", 1797, sein „Kanzlei-Lexikon" in 9
Sprachen, 1803, neue Ausgabe in 12 Sprachen,
1820; das „Universal-Lexikon der englischen und
deutschen Handels-Korrespondenz", 1816; das
„Neue Waren-Lexikon in 12 Sprachen", 1820,
nennen. Am 26. Mai 1808 trat Ph. A. Nem
nich seine der Kultur und Industrie gewidmeten
Reise durch Deutschland u. s. w. an. Eine Frucht
derselben ist das erwähnte von ihm herausgegebene
„Tagebuch". Auf seiner Reise kam Nemnich auch
durch Hessen. Er schildert ausführlich die in
dustriellen Zustände der Residenzstadt Kassel, so
wie der Städte Fulda, das freilich damals noch
nicht zu Hessen gehörte, und Hanau. Seine Mit
theilungen können immerhin als ein werthvoller
Beitrag zu der Geschichte der hessischen Industrie
betrachtet werden und aus diesem Grunde geben
wir hier zunächst den Abschnitt aus dem ersten
Bändchen seines Werkes wieder, welcher die in
dustriellen Verhältnisse der Residenzstadt Kassel
im Jahre 1808 behandelt:
Kassel, vom 2. bis zum 5. Juni 1808.
Mein Erstes, nachdem ich in Kassel eingetroffen,
war, die zu Agathof, in der Nähe von Kassel,
etablirte Kattundruckerei in Augenschein zu nehmen,
und mir an der Quelle selbst die Notizen zu
sammeln. Die Anlage von Agathof existirt schon
seit vielen Jahren, und war ursprünglich zum
Agatschleifen bestimmt. In der Folge verpachtete
die Herrschaft das Wesen an einen Branntwein
brenner. Nicht lange darauf erhielt es ein Schweizer,
um Leinwand zu bleichen, wozu die Herrschaft
ihn mit einem Vorschuß unterstützte. Diesem
Manne fehlte es nicht an Industrie, wohl aber
an Kräften, seine Pläne auszuführen. Als er
daher mit jener Bleiche eine Kattundruckerei
etabliren wollte, so stürzte das Ganze, und er
starb, ohne den landesherrlichen Vorschuß abtragen
zu können.
Die Gebäude blieben einige Jahre unbenutzt,
als 1785 die wegen ihrer seltsamen Lebensweise
bekannten Brüder Ahnesorge, den Einfall bekamen,
ihre bisherige Kattunfabrik in Ältona nach Agat
hof zu verpflanzen. Die Landeshoheit überließ
ihnen das Wesen auf sechs Jahre unentgeltlich.
Nach Ablauf derselben übernahm Herr I. C. H.
Spindler, die Fabrik der Gebrüder Ahnesorge,
mit Beibehaltung der Firma, auf Erblehn. Ge
dachter Herr Spindler, aus der berühmten Schüler-
schen Fabrik in Augsburg, war schon in Ham
burg Affociä jener Gebrüder. Unter seiner Lei
tung hat sich die Kattunfabrik auf Agathof seit
dem im besten Flor und Kredit erhalten.
Es liefert diese Fabrik: Feine Glanz-Zitze,
oder appretirte Zitze, in allen Gründen und Far
ben, gestreift und geblümt, und mit stets ab
wechselnden Dessins. Inzwischen werden fort
dauernd viele alte Muster für verschiedene Märkte,
die davon nicht abgehen wollen, gedruckt. Ordi
näre Kattune werden gar nicht, oder nur dann
und wann kleine Partiecn auf besondere Be
stellung bearbeitet.
Zum Drucken hat man hier bisher gemeinig
lich Baftas und Cossas gebraucht. Seit ungefähr
zehn Jahren hat die Fabrik angefangen, aus
fremdem Garn Kattune in der Stadt Kassel und
in den umliegenden Oertern weben zu lassen.
Dieser Erwerb hat allmählich zugenommen, sogar
in einem Jahre bis auf 3000 Stück, wozu an
12,000 Pf. Garn gehören.