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wahrhaftig noch, um diese Kleinigkeit! Seufzend
strich er den lang herabwallenden Bart, und
schritt dem Kinderzimmer zu; auf dem Wege
dahin murmelte er in sich hinein:
„Es ist gut, daß heute Mittwoch ist, und ich
mich mit Max treffe, sonst wäre es nicht zum
Aushalten!"
Mit raschem Griff öffnete Richard Löpel dann
eine der auf den breiten Flur mündenden
Thüren, und trat bei den Kindern ein, wo ihn
Heller Jubel empfing.
Franz, Greil,? und der kleine Otto, alle
waren gleich entzückt den Papa zu sehen. Es
gab eine Menge Streit zu schlichten, Verbesserungen
an Spielsachen zu bewundern, und auch Straf
predigten zu halten.
Schnell verflog dem Vater bei dem jungen
Völkchen die eine Stunde, über welche er vor
dem Ausgang noch verfügte; dann griff er wieder
um nach Ueberzieher und Hut, öffnete die Wohn
zimmerthür und rief hinein:
„Adieu Anna! Ich treffe mich heute, wie du
weist, mit Max, bei Howald."
Die Hausfrau saß am Tisch über ein Haus
haltsbuch gebeugt; sie hob den Blondkopf. Die
Hängelampe beleuchtete voll den Ausdruck ihres
zarten Gesichtes; er deutete — auf sieben Tage
Regenwetter.
„Ach heute ist Mittwoch." Das war Alles,
was sie mit gleichgültigem Ton erwiderte;
sie hob kaum die Lippen auseinander, und die
braunen Augen sahen theilnahmslos in's Leere.
„Na, dann Adieu!"
Heftig machte der Bankbeamte Kehrt, und eilte
zur Thüre und zum Vorgang hinaus; draußen
auf der Treppe lüpfte er noch einmal den weichen
Schlapphut und murmelte:
„Das verdammte Gebrumme!"
Nachdem der Enteilende mehrere Straßen durch
wandert war, auch für einen Theil des Weges
Pferdebahn benutzte; machte er Halt vor einem
mittelgroßen' Hause. An diesem Hause machten
sich hauptsächlich die Parterre-Fenster bemerkbar;
zwar wurden sie von dichten, gelben Vorhängen ver
hüllt ; aber sie trugen mit großen, weißen, weithin
lesbaren Buchstaben, Inschriften, wie: Kaffee,
Wein, Warme Speisen, u. s. w. Einigen Scheiben
hafteten außerdem noch papperne Lockvögel mit
den Worten: „Echt Pilsener Bier!" an.
In diese Schlemmer-Höhle von Howald drang
der Bank-Kassierer so sorglos ein, als ob er sich
darin ziemlich heimisch fühle. Es war nun aller
dings auch sehr behaglich dort.
Beim Eintritt kam er in einen großen Raum,
in welchem erst einzelne Gäste vorhanden. Dem
zufolge herrschte noch musterhafte Ordnung vor,
und befrackte Kellner drückten sich unbeschäftigt
darin herum.
Zur unteren Hälfte waren die Wände desselben
mit Holztäfelung versehen, die obere schmückten
Wandmalereien. Kleine Tische init rothen Decken
und Untersätzen für die Bierglüser versehen, waren
im Raum vertheilt. Am Büffet harrte eine
junge Dame auf die etwaigen zu erwartenden
Befehle der zukünftigen Gäste; kokett blickte sie
unter ihren braunen Simpelfranzen auf die statt
liche Gestalt des eintretenden Beamten.
Achtlos ging dieser jedoch an allen Herrlichkeiten
vorüber, und auf ein kleines Eckzimmer zu, welches
durch eine tief geraffte Portiere, vor den Blicken,
der im großen Restaurationsranme Anwesenden,
fast ganz verborgen blieb.
„Kommst du endlich, Richard!" so tönte es
dein Kassirer in urkräftigem Baß entgegen.
Ein Mann in den besten Jahren hob das
Antlitz von einem Band „Fliegender Blätter",
mit welchem er sich wartend unterhalten.
„Schon lange hier, Max?" fragte der Ein
tretende und entledigte sich der für's Zimmer
überzähligen Kleidungsstücke.
„Verteufelt lange, wenn man allein sitzt!"
„Wie kommt es denn, daß du heut' so früh
hier bist, Amtsrichterchen?"
„Habe den Neunuhr-Zug benutzt und meine
Geschäfte rascher erledigt."
„Nun sage mal: wäre cs denn nicht viel ge-
scheidter, du verlebtest den Mittwoch- und Sainstag-
Abend lieber bei uns in aller Gemüthlichkeit?"
„Nee, nee, nee, nee! Erstens wohnt ihr zu
weit vom Bahnhof, und dann will ich meine
Freiheit behalten!"
Der Amtsrichter sprang vom Ecksopha empor,
warf das Journal auf den Tisch, und streckte
seine untersetzte Gestalt, wie jemand, der vom
langen Sitzen steif geworden; er faßte den Freund
dabei etwas schärfer in's Ange, trat plötzlich
rasch zu ihm und sagte ironisch und anknüpfend
an des Freundes Aufforderung:
„Und übrigens alter Junge, siehst du mir
verdammt wenig nach Gemüthlichkeit bei euch
aus! Ich habe cs dir gleich angemerkt, kenne
das Gesicht; habe etz schon öfters an dir beob
achtet, und verlange Beichte. „Halt!" rief er,
als der Freund etwas erwidern wollte. „Erst
essen und trinken, dann Cigarren anrauchen,
und dann schwatzen!"
„Was essen wir?" fragte Löpel.
„Ja, siehst du Richard, wenn du nicht einen
so verständigen, praktischen Freund hättest, mäßest
du dich noch lange gedulden; aber so: gieb Acht!"
Der Amtsrichter drückte auf den Telegraphen,
und sofort kam ein schwalbenbeschwänzter Kellner
gesprungen.