182
Geschichte von Wilhelmshöhe.
Von K. Neuber.
Auf der Höhe der Civilisation angelangt hält
es schwer, sich in die Zeit ihrer Uranfänge hineinzu
versetzen. So ist es auch keineswegs leicht, sich
zu vergegenwärtigen, das; der herrliche Park in
unserer Nähe, welcher mit seinen schönen Anlagen
und Waldungen die ungetheilte Bewunderung
aller fremden wie einheimischen Besucher wach
ruft, vor einem Jahrtausend noch eine völlige
Einöde, entfernt von menschlichen Ansiedlungen,
war, in der zahlreiche Scharen von Wild der
verschiedensten Arten, von denen manche jetzt
ausgestorben sind, sich frei herumbewegen, und
die sich dorthin wagenden Menschen bedrohen
konnten.
Unsere Hauptstadt Kassel selbst war zur Zeit
der Kreuzzüge, also im 12. und 13. Jahrhundert,
noch ein kleines Geineinwesen von geringer Aus
dehnung und eingepfarrt zu dem größeren Orte
Dietmelle, dem heutigen Kirchditmold. Die
damalige religiöse Begeisterung, durch die Geist
lichkeit genährt und gefördert, trieb ihre Früchte
in den vielen geistlichen Orden, und so hatte
auch das kleine Kassel eine Reihe von Klöstern
aufzuweisen, theils innerhalb der Stadtmauern,
theils in der Umgegend, wie das Kloster
Weißen stein. Die Entstehung desselben wird
in folgender Weise mitgetheilt:
In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts
überließen die Einwohner von Dietmelle, ver
treten durch ihren Bogt, den Grafen Adalbert
von Scowenburg (Schauenburg), in dem ihnen
gehörigen Habichtswalde einen Platz in der Nähe
eines aus dem Waldesgrün sich erhebenden weißen
Felsens — an derselben Stelle, wo jetzt maje
stätisch das Schloß thront — wie es in der Ur
kunde heißt: »loourn iUnru in Witzenstein“ auf
Antrieb eines Fritzlarischen Geistlichen, des Ma
gisters Bovo oder Bonifacius, einer frommen
Brüderschaft zur Ansiedlung. Es war ein Ort,
wie selten einer, durch seine Abgeschiedenheit von
der Welt mitten im Waldesdickichte, geeignet sich
den irdischen Sorgen zu entziehen und ganz
religiösen Uebungen hinzugeben. Der Erzbischof
Heinrich I. von Mainz bestätigte diese Schenkung
in einer zu Geismar datirten Urkunde v. I. 1143.')
Die Brüderschaft lebte nach der Regel des heiligen
Augustinus, d. h. nach einer auf Grundlage von
Schriften desselben abgefaßten päpstlichen Satzung,
und erhielt große Schenkungen in bisher der Kirche
zu Dietmelle gehörigen Grundstücken, sowie ver
schiedene Berechtigungen: zu taufcu, zu begrabe»
und die Kranken zu besuchen (baptizare, sepelire
et infirmos visitare).
Auch war sie bald in der Lage, sich ein eigenes
Gotteshaus zu errichten, und auf Ersuchen ihres
ersten Prvbstes Bruno weihte 1145") der geuauute
Erzbischof Heinrich die der Jungfrau Maria zu
Ehren erbaute Kirche in Witzenstein (ecclesia
in wizenstein oder in lapide albo) ein und be
stätigte das Kloster als ein Augustiner Mönchs
kloster. Als solches erscheint es auch in einer
Urkunde von 1163, in welcher Heinrich der Löwe,
Herzog von Baiern und Sachsen, eine Schenkung
seiner Untergebenen au das Kloster Weißensteiu
bestätigt. 3 ) In einer späteren vom Erzbischöfe
Konrad vouMainz ausgestelltenSchenknngsurkunde
von 1184 wird jedoch mitgetheilt, daß daselbst ein
Convent von Brüdern und Schwestern sei,
welche Gott und der heiligen Jungfrau Maria
dienten:
,prediote 8. Marie ecclesie in wizinstein
in usum tarn fratrum quam sororum
ibidem deo et beate marie deservientium
perpetualiter contradidimus.“ 4 )
Diese Vereinigung der beiden Geschlechter hat
jedoch nicht lange bestanden. Denn eine Urkunde
von 1193 redet nur von heiligen Jungfrauen
von Weißenstcin und an anderer Stelle:
„Jungfrauen des Thales der heiligen Maria
bei Weißenstein." Z
') Zusti; Hessische Denkwürdigkeiten Th. IV. Abth. I.
S. 18. 81; vgl. Piderit, Geschichte v. Kassel S. 28 fg. —
Geismar ist Hofgeismar,
s) Zusti a. O. S. 34.
-) Justi S. 37.
4 ) Justi S. 39. — Aehnliche Erscheinungen finden sich
auch bei anderen Klöstern, z. B. dem Ahuaberger Kloster
zu Kassel.
9 Zusti S. 40 sg. -