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„Das Spielzeug der Männer? Else ich bitte
Dich."
Dem blonden Herrn, welcher ans der äußersten
Ecke derselben Bank saß, war der Katalog längst
aus den Händen geglitten und er hatte sein
Ohr, während die Augen an dem Bilde des
Kanzlers hingen, dem Gespräche der beiden
jungen Damen geliehen. Bei den letzten Worten
Luciens, die so angstgejagt über ihre Lippen
geflogen, wandte er den Kopf und sah in ein
fremdes, bleiches Gesicht, das von zwei großen
Augen seltsam durchgeistigt wurde. Er hatte
das Gefühl, als sei ein so weiches und doch
selbstbewußtes Angesicht ihm bis jetzt nur in
Museen auf alten Bildern begegnet, der Aus
druck ihrer Züge war so traumhaft sinnig, als
habe eine ferne, stillere Zeit sie gemeiselt.
„Hast Du Ibsens „Nora" niemals auf der
Bühne gesehn?" tönte Else's etwas scharfe
Stimme in sein träumendes Sinnen hinein",
die dramatische Wirkung ist ja geradezu klassisch."
„Ich habe das Stück gelesen — ja —
antwortete Lucie langsam — jetzt wieder mit
gesenkten Lidern, „es hat mich gefesselt, aber
ich habe, ehrlich gestanden, nicht recht begriffen
— warum — —"
„Warum sie von ihrem Manne fortgeht?
Nicht begriffen? Ich bitte Dich, Lucie, hat es
Dich denn nicht indignirt, wie er so gar kein
Verständniß für ihr großes Opfer zeigt und wie
ihm das Urtheil der Welt mehr gilt als sein
Weib?"
„Er hat überhaupt keinen Charakter und ist
nicht maßgebend - mich jammern nur die
Kinder — aber ich glaube, ich bin nicht reif für
diese Fragen, Else, sie beängstigen mich."
„Nun ich meinentheils — ich würde gerade
handeln wie Nora", sagte Else ihren Kopf mit
einer selbstbewußten Miene nach links werfend,
wo der blonde Herr saß und wieder sorgfältig im
Kataloge blätterte, „ich würde mich, unter allen
Verhältnissen von meinem Manne trennen —
wenn — —
„Wenn?" fragte Lucie.
„Nun wenn — wenn — wenn er mir nicht
gleiche Rechte einräumen wollte." Lucie
lächelte, aber während Else ihren Platz behauptete
und die Toiletten der Damen musterte, die an
ihr vorüber schwebten, war sie aufgestanden und
durchwandelte den ernsten Raum. Das mit
Else geführte Gespräch beeinträchtigte ihren
Genuß und sie hätte mit sich selbst hadern mögen,
daß ihr Fühlen und Denken, durch einsames
Leben, eine so einseitige Anschauung gewonnen
hatte.
Was konnte das Schicksal ihrer novellistischen
Skizzen sein, die sie vor kaum Monatsfrist in
die Welt geschickt hatte? Sie schämte sich, mit
ihren einfachen, poetischen Bildern bis in die
tiefste Seele hinein und hätte Vieles darum ge
geben, wenn diese Blätter niemals aus ihren
Händen gegangen wären. Es überkam sie eine
seltsame Angst, bei allen den großen Gedanken,
die hier mit der Kunst vermählt waren, und
doch wieder fühlte sie ihr eigenes Verknüpftsein
mit denselben.
Hatte denn nicht schließlich Alles seine
Berechtigung — und konnte nicht Jeder die
Welt so malen und dichten, wie sie sich in
eigener Seele gab?
Sie wav wieder bis dicht vor Else angekommen,
und ohne auf den jungen Mann zu achten, der noch
immer auf demselben Platze saß — sagte sie:
„Weißt Du Else, daß ich, trotzdem ich gar
keiner Richtung angehöre und ihre Absichten nicht
verstehe, es doch gewagt habe einige poetische
Skizzen in die Welt zu schicken?
„Du Lucie?"
„Ja, ich." Was kann mir passiren?
Höchstens, daß man sie mir als ungenügend
zurückschickt und das wird mich gar nicht ab
schrecken, kein Bischen. Ich werde dann erst
recht studiren, prüfen und denken — auch wenn
ich niemals verstehen lerne, warum die neue
Richtung — so durchaus „Richtung" sein muß. —
„Und unter Deinem eigenen Namen läßt Du
etwas Wirkliches drucken?"
„Ja wohl — unter meinem eigenen Namen,
sagte jetzt Lucie, von ihrer eigenen Angst an
gefacht, "während ein seltsames Leuchten über
ihre Züge ging. „Skizzen von Lucie Florau"
— was weiter? Mein Bruder hat es über sich
genommen, den wilden Blättern, wie er sie
nennt, ein Unterkommen zu verschaffen."
„Aber man wird sie niemals drucken!"
„Das thut nichts, so habe ich wenigstens
alles empfunden und geschrieben."
Der junge Mann, der bis jetzt regungslos
gesessen hatte, erhob sich bei den letzten Worten
und maß das schlanke, schöne Mädchen, über
deren blasses Gesicht sich ein feines Roth ergossen,
vom Kopf bis zu den Füßen.
„Ach, da ist Lilli Perser" hörte er Elses
scharfe Stimme in seine Träume hinein —
„entschuldige mich ein paar Augenblicke, Lucie —
ich -"
„Und ich — ich gehe noch einmal zur Madonna
zurück — dort findest Du mich." Und während
Elses rothes Kleid in einem Knäuel ähnlicher
Farben verschwand, schritt Lucie, das Herz von
Schönheit und Kunst geschwellt, durch die Reihe
der Säle, bis zu dem schlichten Bilde der
Madonna von Gabriel Max.