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nter dem
aöonnmbilöe.
Von H. Reller-Iorösn.
„Dieses ist der Lenbachsaal, Lucie, ich bitte
ihn mit der gehörigen Andacht zu überschreiten."
Die junge Blondine, mit dem modischrothen
Costüm, welche diese Worte gesprochen hatte,
wandte sich um und sah stolz, ob all' der Kunst-
K ihrer Vaterstadt, in das blasse Gesicht
Freundin, die ihr folgte.
„Gehört alles zur naturalistischen Schule,"
fuhr sie diktatorisch fort, „die sich freilich bei
Portraits nicht so entschieden ausprägen läßt."
„Zur naturalistischen Schule" — ging es
zagend über die Lippen der Anderen — während
ihre sanften braunen Augen langsam über den
halbdunkeln Raum glitten, der mit seinen
Teppichen, Gobelins und den bedeutenden
Köpfen an den Wänden, von einem mystischen
Zauber durchweht war. Sie wandelte, wie
im Traume, an den Bildern Moltke's, Bismarcks,
Kaiser Friedrichs vorüber, bis zu der letzten
ergreifenden Skizze Wilhelms L, die auf emer
Staffelei stand und die in ihre nLinien und
Furchen alle Sorgen und Kümmernisse der
letzten neunzig Jahre trug.
Ein Seufzer hob ihre Brust und in ihre
Augen drängten sich aus dem Herzen herauf
ein paar Thränen.
Die junge Blondine in Roth, welche mehr
mit den Menschen beschäftigt war, die den
Raum füllten, als mit den Kunstschätzen an den
Wänden, legte jetzt die Hand auf das schwarze
Spitzenkleid Luciens und sagte in ihrer gewohnten
Redseligkeit:
„Gelt', Du hättest Dir unsere Münchener
Kunstausstellung nicht so großartig vorgestellt,
Lucie?"
„Nein, gewiß nicht. Else — vor allen Dingen
nicht so überwältigend."
„Ueberwältigend? Wie meinst Du das?"
„Äeil ich mir diesen Eindrücken und Kunst
schätzen gegenüber so unwissend und klein vor
komme, daß ich mich schäme."
„Schäme?" fragte Else, während sie Lucie
auf den Divan neben einen blonden Herrn zog,
der im Studium seines Kataloges vertieft,
mechanisch bis zur äußersten Ecke rückte.
„Man hat eben", fuhr das blasse Mädchen
mit gesenkten Augen fort, „in einer kleinen
Stadt doch nur einen beschränkten Gesichtskreis
und ist hauptsächlich auf den engen Verkehr mit
der Natur angewiesen. Ich kann daher Vieles
nicht verstehn, Else, was mir hier entgegentritt."
„Das wirst Du lernen, sicherlich", sagte die
Münchnerin mit gutmüthiger Ueberlegenheit, in
dem sie die Hand tröstend auf Luciens Schulter
legte.
„Nicht alles. Ich glaube z. B. nicht, daß ich
es je begreifen lerne, warum es Maler giebt,
die so viel Talent, so viel Kunst und Farben
schönheit an so häßliche Gegenstände verschwenden.
Bedenke nur die entsetzliche Fischverkäuferin im
französischen Saale."
„Aber das ist ja gerade die Richtung der
neuen Zeit", sagte Else belehrend, während sie
mit einem Seitenblick auf den blonden Herrn,
ihr rothes Kleid an sich zog, „die moderne
Schule, die von Frankreich ausgeht und bei
uns schon so viele Vertreter hat. Du würdest
in den Gesellschaften anstoßen, wenn Du Dir
dieses Verständniß nicht aneignen wolltest."
Lucie richtete ihre sinnenden Augen auf das
edle Gesicht Kaiser Friedrichs, dessen Bild ihr
gegenüber hing und dachte darüber nach, warum
sie durchaus schön und gut finden sollte, was
ihrem Geschmacke widersprach.
„Du bist doch, wie man allgemein in der
Familie annimmt", fuhr Else fort, „poetisch be
gabt, wirst vielleicht gar einmal im Stande
sein, Selbstständiges zu schaffen —" - —
Bei den letzten Worten Else's hob Lucie ihr
ausdrucksvolles Gesicht und ihre Augen flogen
ängstlich über den künstlerisch ausgestatteten
Raum. „Man hat in der Literatur", fuhr Else
— verständnißlos gegen Luciens Zartgefühl —
fort, „ganz dieselbe Richtung, wie in der Malerei,
und es ist jedenfalls geschmackvoll und zeitgemäß
sich ihr anzuschließen."
„Du meinst doch nicht Zola?" ging es ge
haucht über des schönen Mädchens Lippen.
„Nicht gerade Zola — wir jungen Mädchen
sind ja — bis auf sein letztes Opus" „Le reve",
was beiläufig gesagt entzückend ist — von dieser
Lektüre ausgeschlossen."
„Wie Du belesen bist, Else — ich — ich bin
recht unwissend. Wer gehört sonst noch zur
realistischen Schule?"
„Ibsen — vor allen Dingen Ibsen — er ist
ja der Messias einer neuen Zeit, Lucie, ich bitte
Dich und Du wüßtest nichts von ihm?
„Doch, ich kenne ihn, habe auch seine nordischen
Bilder und seine Dramen hoch geschätzt — aber
ich wußte nicht, daß er" — —
„Um seine ganze Bedeutung zu' fassen, muß
man das Leben der großen Städte kennen,"
unterbrach sie Else weise, „die Klippen der Ehe,
in welchen die Frauen bis jetzt nur das Spiel
zeug der Männer waren."