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1871 tu die Hand nimmt, der samt zahllose
öffentliche Danksagungen der aus dem Mar-
burger Lazarethe scheidenden Soldaten darin
lesen. Ja, die Dankbarkeit erlosch sogar nicht
mit dem Verlassen des Lazarethes, sie lebte auch
später noch in der Heimath fort. Wie ich, so
werden wohl alle meine Kolleginnen von damals
noch über einen reichen Schatz von Dankesbriefen
verfügen, die von den ehemaligen Pfleglingen
aus allen Gauen des deutschen Reiches noch
Jahre nach der gemeinsam verlebten schweren Zeit
eintrafen. Das letzte Zeichen von Anhänglichkeit,
ivelches mir von einem damals verwundeten
Soldaten zu Theil, wurde, war ein Brief aus
Südamerika. Da der Schreiber vermuthete, daß
sich meine Adresse inzwischen verändert haben
könnte, hatte er den Brief an meinen verstor
benen Vater nach Marburg geschickt und den
selben um Vermittlung gebeten. Der Inhalt
dieses Schriftstücks ist ivvhl das edelste Zeugniß
idealer Dankbarkeit, was ich im Leben kennen
gelernt habe.
Und fest bin ich überzeugt, wenn mancher
Kranke und Verwundete von damals gewußt
Hütte, daß man kürzlich seine wackere Pflegerin
in Marburg zur ewigen Ruhe bettete, er würde
ihr entweder ein paar Blumen geschickt haben
oder sogar ihrem Sarge gefolgt sein. Vielleicht
ist cs auch geschehen; denn cs war mir ja nicht
vergönnt, dem Begräbniß beiwohnen und die
Ehrenbezeigungen bevbachteit zu können, die der
verdienstvollen Frau, eingedenk ihrer aufopfernden
Wirksamkeit in einer schweren Zeit, gewiß zu
Theil geworden sind. *)
Frau Dr. Lina Clans erreichte ein Alter von
55 Jahren. Sie war am 18. September 1832
zu Rosenthal in Hesfeit als die Tochter des
Metropolitan Friedrich Karl Sanner, eines sehr
gelehrten Theologen, geboren und starb zu Mar
burg am 24. Januar 1888.
Kaum achtzehnjährig verheirathete sich das da
mals, lute man mir sagte, bildhübsche blonde
Mädchen mit dem Kreisphhsikus Dr. Claus zu
Rosenthal, der aber schon nach sechsjähriger Ehe
am 2. Juni 1856 starb. Aus dieser Ehe stammte
eiu einziges Söhuchen, das aber sehr leidend war
und dem Vater schon nach einigen Jahren nach
folgte. Wenn Frau Dr. Claus von diesem
Kinde sprach, traten ihr immer die Thränen tu
die Augen. Es war das höchste Glück ihres
Lebeits gewesen und doch gönnte sie ihm seinen
frühen Tod, weil er es vor einem qualvollen
Martyrium bewahrt hatte. Es ist mir unver
*) Auf Wunsch der Verstorbenen fand ihr Begräbniß,
wie ich nachträglich höre, in aller Stille statt. Es war
eine Chaisenleiche, nur die nächsten Verwandten und
Freunde folgten ihr zum Grabe.
geßlich, daß mir die schwergeprüfte Frau bei der
Erwähnung ihres Kiitdes einmal sagte: „Wir
dürfen bei herben Verlusten nie selbstsüchtig seilt
und müssen lieber einen furchtbaren Schmerz
geduldig durch's Leben schleppen, als unseren
Theuren die Verlängerung eines qualvollen Da
seins wünschen."
Rach dein Tode ihres Kindes schloß sich Frau
Dr. Claus immer fester an ihre Mutter au, die
mit ihr gemeinsam in Marburg lebte. Aber
auch schon im Jahre 1864 sollte sie dieselbe
durch den Tod verlieren. Wie sie eine treffliche
Gattin und Mutter gewesen war, so war sie
auch eine aufopfernde Tochter. Tag und Nacht
wich sic nicht von dem Lager der schwer leidendcit
Frau und nutthete sich so viel zu, daß sie nach
dem Tode der Mutter selbst krank wurde. Mit
kaum 31 Jahren, lvo für viele Fraueit das Da
sein erst einen höhern Werth gewinnt, hatte sie
also fast Alles verloren, was eigentlich das Glück
des Lebens ausmacht. Nur der einzige Brtlder
lvar ihr geblieben, mit dem sie vvit frühester
Jugend an das herzlichste geschwisterliche Ver
hältniß verband. In den Kindern desselbeit er-
wuchs ihr im Laufe der Zeit ein süßer Trost
für manches Verlorene, während ihr in der immer
mehr beginnenden Leidenszeit Bruder und Schwä
gerin eine feste Stütze waren. Obgleich mau
schon längere Zeit auf den Tod vorbereitet war
und ihn sogar wie einen Erlöser aus peiuvvllcil
Qualen herbeisehnte, so schreibt mir doch Herr
Amtsrichter Sanner in Hanau, der einzige Bruder
der Verstorbenen, daß ihn das Eitde der guteit
Schwester itt nickt geahntem Grade ergriffen
habe. „Ich wußte ja, was ich an ihr hatte,"
fügt er hinzu, „und weiß wohl, was ich an ihr
verloren habe." Und ich glaube, in diese Worte
können alle einstimmen, denen die Verstorbene
theuer war ltitb einen Einblick in ihr reiches
Geistes- lind Gcmüthslebcn verstattete. Auch ich
thue es und mit tun so schmerzlicherer Wehmuth,
als es mir nicht vergönnt gewesen ist, die ver
ehrte Frau vor ihrem Ende noch einmal zu
sehen. Bei meinem letzten Aufenthalte tu Mar
burg im Herbste vorigen Jahres, wollte ich sie
besuchen, bürste aber nicht angenommen werden,
weil die Aerzte strengstens jeden Besuch verboten
hatten. So konnte ich ihr denn nur einen
Blumengruß senden und ihr einen Brief schreiben,
der ihr noch recht viel Freude gemacht haben soll.
Werfen wir nun noch einen überschauenden
Blick auf dies Frauenleben, so können wir uns
nicht verhehlen, daß mit Ausnahme einer glück
lichen Kindheit und ersten Jugend nur weitige
Stellen in dem späteren Leben der Verstorbenen
von hellem Sonnenschein überstrahlt gewesen sind.
Wahrhaft tragisch aber erscheint cs mir, daß sie,