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Gefreiter mit zwei Mann seine Wachtstube auf
geschlagen. Ich brachte ihnen zu essen und Wodki
und der Gefreite, welcher etwas Deutsch radebrechte,
erzählte mir dafür in dankbarer Anerkennung
die Geschichte seiner Feldzüge und wie viel
Schweden, Türken und Franzosen er schon „kaput"
gemacht habe. Als er mir eine Zahl von Tausenden
von Franzosen nannte, die beim Uebergang über
die Elbe ertrunken sein sollten und doch zweifel
haft zu sein schien, ob ich die Größe dieser Zahl
richtig verstanden habe, nahm ich, um ihn zu
beruhigen, Kreide und schrieb die Zahl in arabischen
Ziffern auf den Tisch. Er war hoch erfreut, daß
wir dieselben Ziffern kannten, nahm die Erzählung
der Schlachten, denen er beigewohnt oder auch wohl
nicht beigewohnt, wieder auf und, die Kreide in
der Hand, schrieb er nun die vielen Tausende von
Feinden aus den Tisch, die er in den Schlachten
umkommen ließ. Hatte er dann so an zwanzig,
dreißig Tausend Türken oder Franzosen nieder
geschrieben , so feuchtete er die Hand mit den
Lippen, fuhr über die Zahlen hin und wenn sie
verschwunden waren, sahermich mit triumphirendem
Lächeln an, als ob er fragen wollte, wo sind sie
geblieben?
Dieser brave Kosack zeigte mir sein Georgskreuz
und zwei Medaillen, die er als Belohnung seiner
Tapferkeit trug. Sein religiöser Eifer trat be
sonders hervor, denn Türken ließ er in übermäßiger
Zahl umkommen und seine Erbitterung gegen die
Franzosen beruhte hauptsächlich auf dem Umstande,
daß sie in russischen Kirchen Christus- und Heiligen
bilder zerschlagen haben sollten. Sein Frauzosen-
haß war so groß, daß während er im Stall
mehrere Pferde liebkosend streichelte, er nie bei
einem Beutepferd vorüber ging, ohne ihm unter
heftigen Schimpfworten einen Stoß zu geben/ —
Am anderen Morgen erfuhren wir die Neber-
gabe von Kassel. Unser verwundeter Offtzier
wurde sorgfältig in Betten verpackt auf einen
Wagen gehoben und fuhr nach Kassel, nachdem
er meinen Onkel hatte rufen lassen und ihm mit
Zeichen für die Ausnahme gedankt hatte. .
VI.
Von den Nachrichten, die wir aus Kassel er
hielten, war mir die interessanteste, daßein Bataillon
Freiwilliger errichtet wurde, dessen Formirung
schon bei Melsungen begonnen hatte, und in das
ich schon auf dem Forst gern eingetreten wäre,
um den Angriff auf Kassel mitzumachen.
Jetzt wollte ich dorthin gehen und mich zum
Eintritt melden; doch war ich mir sehr wohl
bewußt, daß ich bei meiner Jugend — ich war
noch nicht sechszehn Jahre alt, — bei meinen
nicht bedeutenden Körperkräften die Einwilligung
meiner Eltern, Soldat zu werden, nicht erhalten
würde, am wenigsten in einem Truppentheil
unter dem Befehl eines russischen Parteigängers.
In jener Zeit aber war die Aufregung in
Deutschland, das Verlangen, die Waffen gegen
die Franzosen zu ergreifen, so groß, so allgemein
verbreitet, daß alle Familienrücksichten sich dieser
leidenschaftlichen Begeisterung unterordnen mußten.
Die größte mir vorschwebende Besorgniß war
die, daß man mich nicht nehmen möchte.
An einem Donnerstage war der zweite Angriff
Tschernitscheff's auf Kassel erfolgt. Freitag und
Sonnabend trug ich mich mit meiner Absicht
ohne zum Entschluß zu kommen, am Sonntag aber
führte ich sie aus. Nach Tisch »ahm ich meine
Mütze, that als ob ich spazieren gehen wollte
und schlug den Weg nach Kassel ein. So groß
war meine Unbekanntschaft mit den Verhältnissen
des Lebens, daß ich nicht einmal das Taschengeld,
welches ich besaß, zu mir steckte. Wie hätte ich
auch glauben können, daß ich Geld bedürfen
würde, da ich im Begriff war, in ein Korps
einzutreten, das alle königlichen Kassen in Beschlag
genommen hatte. So leichtsinnig ich aber auch
war, vor dem Dorf überfiel mich doch ein Gefühl
der Wehmuth. Ich sah nach dem Kirchthurm
zurück, den ich von Kindheit an so oft freudig
begrüßt hatte, wenn ich zum Besuch der Groß
eltern eilte — in meiner Erinnerung die schönsten
Tage meines Lebens. Ich gedachte meiner Eltern
und Geschwister, meiner Großeltern und Ver
wandten, die ich alle nun verließ und Thränen
stürzten mir unwillkürlich aus den Augen. Wann
würde ich diesen Kirchthurm wieder erblicken?
Aber ich kämpfte die Bangigkeit nieder und setzte
meinen Weg fvrt.
Bald nach 2 Uhr Mittags traf ich in Kassel
ein. Doch wie groß war mein Erstaunen und
meine Bestürzung, als ich nirgends mehr Russen
und Kosackcn sah. Tschernitscheff und sein Korps
hatten Kassel verlassen und die Stadt zeigte ein
Bild der Unordnung. Auf offener Straße lagen
Waffen und Militaireffekten aus den geplünderten
königlichen Magazinen. Kosacken hatten Arme
voll Karabiner, Säcke voll Schuhwerk, große
Ballen Tuch für wenige Groschen an die Vorüber
gehenden verkauft, sie auch mit Gewalt zum
Ankauf gezwungen; da aber der nächste Kosack
sie dem Käufer wieder abnahm, um sie für seine
Rechnung von Neuem zu verkaufen, so waren
diese Gegenstände schließlich unbeachtet ans der
Straße liegen geblieben.
Wo waren nun meine stolzen Hoffnungen,
schon heute einen Czako aufsetzen, ein Gewehr
mein nennen zu können! Ich ging durch die
Straßen bis zum Königsplatz, sah hier die
verstümmelte Statue Kaiser Napoleons; aber
dieser Racheakt konnte mir keine Befriedigung