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Dora's Mutter war gestorben, als sie dem Kinde
das Leben gab, und ihr Vater, einer der tüchtigsten
ersten Arbeiter in der Fabrik, war, ohne sein
Verschulden in Ausübung seines Berufs verunglückt.
Unter diesen Verhältnissen hielt es Daniel Schröder-
für seinx Pflicht sich des verwaisten Kindes an
zunehmen und sogar mehr für dasselbe zu thun,
als man billig von ihin hätte verlangen können.
Dora wurde, als ob es sein eigenes Töchterchen wäre,
erzogen und suchte ihrerseits durch Liebe, Fleiß
und Gehorsam die ihr zu Theil gewordenen
Wohlthaten zu vergelten, sodaß selbst Frau Hulda
nach und nach sich mit dem Gedanken aussöhnte,
mit einer eigentlich unnöthigen Sorge belastet
worden zu sein. In der letzteren Zeit aber be
handelte sie Dora mit erneuter Kälte und zwar
aus dem Grunde, weil ihr scharfes Auge die
Entdeckung gemacht hatte, daß Franz für das
junge Mädchen wärmere Gefühle hegte, als sie
für seine ehemalige Spielgefährtin nöthig waren.
Als Franz wieder auf dem Festplatz anlangte,
war es bereits dämmrig geworden. Au den
Glücksbuden und in den Zelten wurden Lichter
angezündet und auch das Caroussel setzte seine
unermüdliche Bewegung bei Beleuchtung fort.
Am Glänzendsten aber strahlte selbstverständlich
der Tanzboden, auf welchem die Paare gerade
in einer Polka dahinflogen. Franz drängte sich
durch das Gewühl der lachenden und schreienden
Menschen nach dem Mittelpunkt des Platzes, er
ging an dem Honoratiorenzelt vorüber und warf
einen forschenden Blick über die in demselben
anwesenden Herrschaften; als er weder seine
Mutter, noch Dora unter ihnen fand, wandte
er sich den Tanzenden zu, ohne daß er jedoch
den Gegenstand, welchen er suchte, dort bemerkte.
„Sie werden schon nach Hause gegangen sein,"
dachte der junge Mann, als er sich langsam aus
dem Getümmel entfernte und einer Zeinsamen
Stelle zuschritt, wo er früher gern verweilt hatte.
Sie lag einige hundert Schritte von dem Fest
platz, an dem Rande des kleinen Plateaus. Eine
Buche breitete dort ihre Aeste über eine steinerne
Bank aus, wo er als Knabe oft mit Dora ge
sessen und ihr vorerzählt hatte, was er alles
thun wollte, wenn er erst einmal aus der Schule
wäre. Dort wollte er sich die vergangenen schöneren
Tage so recht lebhaft in das Gedächtniß zurück
rufen, um daraus Trost für die Zukunft zu
schöpfen. Als er sich der Stelle näherte, be
merkte er, daß sich zwei Gestalten unter der
Buche bewegten, deren Umrisse sich an dem
wolkenlosen Horizont noch scharf genug absetzte»,
um ihre Gebcrden erkennbar zu machen. Es
war ein Mann und ein weibliches Wesen. Zu
erst wollte Franz umkehren, dann aber setzte er
seinen Weg plötzlich mit schnelleren Schritten
fort, da er die weibliche Gestalt eine heftige,
abwehrende Bewegung machen sah und es zugleich
wie ein leiser Hülferuf an sein Ohr scklug. Er
hatte den Beiden sich bis auf eine kleine Ent
fernung genähert und hörte deutlich die Worte:
„Wenn Sie sich nicht sofort entfernen, werde ich
Herrn Schröder von Ihren Zudringlichkeiten in
Kenntniß setzen und ich bin überzeugt, daß er
mich vor Ihrer ferneren Verfolgung energisch
schützen wird!"
„Bei welchem Herrn Schröder wollen Sie
Schutz suchen, reizendes Mädchen?" fragte der
also Abgewiesene. „Bei dem alten oder vielleicht
bei dem jungen — ?"
Er hatte die letzten Worte noch nicht vollendet,
als er von hinten unsanft am Kragen gefaßt
und zu Boden geschleudert wurde. Franz hatte
Doras Stimme erkannt und befreite sie auf
diese ebenso einfache, als wirkungsvolle Weise
von ihrem Quäler, der niemand andres, als
Herr Wiesthaler, der Geschäftsführer seines Vaters,
war. In überwallendem Gefühl warf Dora sich
einen Augenblick an die Brust ihres Beschützers,
während das geschniegelte Herrchen auf der Erde
sitzend ganz unfreiwillig eine sehr komische Figur
bildete.
„Was ist hier vorgegangen, Dora?" fragte
Franz.
„Wenn wir allein sind, will ich dir Alles er
zählen," erwiderte das junge Mädchen, sich aus
Franzens Armen losmachend und auf die Seite
tretend.
„Nun ich hoffe, daß dies sofort der Fall sein
wird," rief Franz, Wiesthaler, welcher sich in
zwischen aufgerichtet hatte, mit einem drohenden
Blick messend. Der gedemüthigte Liebhaber hob,
ohne ein Wort zu erwidern, seinen auf die Erde
gerollten Hut auf, entfernte sich einige Schritte,
sah sich dann noch einmal mit einer drohenden
Pantomime nach dem Paare um und ver
schwand darauf in der immer mehr sich ausbrei
tenden Dämmerung. Franz zog die bebende
Dora neben sich auf die Bank unter die leise
im Winde rauschenden Zweige der Buche und
bestürmte sie mit einem Dutzend Fragen über
das Geschehene, bevor sie noch eine derselben
beantworten konnte.
„Du kannst dir ja wohl denken, wie es ge
kommen ist," sagte Dora, als sie endlich zu
Worte gelangte, „Wiesthaler, von welchem ich
schon während des Tanzens mehr hatte hören
müssen, als mir lieb war, verfolgte mich, nach
dem die Mutter mit der Frau Pfarrer nach
Hause gegangen war, auch hierher und —"
Dora stockte.
„Und belästigte dich mit seinen Commis-
voyageur-Manieren," ergänzte Franz. „Der