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zug gegen Kaufungen. Mein Onkel und ich
folgten ihm zögernd.
Bei dieser Gelegenheit that ich einen Rückblick
in mein Inneres. Von mehr schwächlichem als
starkem Körperbau, war ich als Knabe in Streit
und Balgereien mit meinen Kameraden unter
legen. Dagegen besaß ich jenen passiven Muth,
der die Gefahr uicht scheut. Das Einschlagen
einer Kanonenkugel hatte in mir eine freudige
Empfindung hervorgerufen und mit dem leb
haftesten Vergnügen hatte ich der Bedienung der
Geschütze zugesehn. Da ich schwächlich aussah
und man mich deshalb leicht hätte für furchtsam
halten können, mochte eine gewisse Eitelkeit dazu
beitragen mich bei einer Gelegenheit herzhaft zu
zeigen, die keinen körperlichen Kraftaufwand er
forderte.
Diese Eigenschaft meines Naturells, die ich
damals zum ersten Mal erkannte, habe ich in
späteren Lebensverhältnissen mehr und mehr in
mir befestigt und ausgebildet, so daß ich mit
Bewußtsein und Absicht dann am ruhigsten und
besonnensten war, wenn Gefahr mich bedrohte.
Selbst der Kandidat erkannte meine Herz
haftigkeit an, nannte mich einen unerschrockenen
Burschen und sagte: „Sie müssen Soldat werden!"
Diese Aeußerung und der Umstand, daß ich nun
schon im Feuer gestanden, ließen mich auf diesem
Rückweg von Kasfel den festen Entschluß fassen,
Soldat zu werden und diesen Vorsatz so bald
als möglich zur Ausführung zu bringen. —
In Kassel hatte General Allix die Thore be
setzen, die Fuldabrücke verbarrikadiren, durch ab
gesessene französische Husaren besetzen und daselbst
ein Geschütz aufstellen lassen. Als aber die russische
Abtheilung gegen das Leipziger Thor anrückte,
ging die westfälische Chasseur-Kompagnie, welche
das Thor vertheidigen sollte, zu den Russen über.
In der Stadt fielen die der Beschießung wegen
erbitterten Bürger über die französischen Husaren
her, welche die Barrikade der Fuldabrücke besetzt
hatten, entwaffneten sie, räumten die Barrikade
auf, warfen einen Munitionswagen in die Fulda,
bemächtigten sich des daselbst aufgestellten Ge
schützes und fuhren es im Triumph nach dem
Leipziger Thor, wo sie es den Russen übergaben.
Unterdessen hatte der General Allix, der von
diefem Vorgang Meldung erhielt, vom Friedrichs
platz aus eine Abtheilung Infanterie über die
Fuldabrücke vorgeschickt. Dieselbe gab auf die
das Leipziger Thor besetzt haltenden Russen
Feuer, griff mit dem Bajonett an und warf sie
zurück. Das Thor wurde durch die westfälischen
Truppen wieder geschlossen und verrbarrikadirt.
Aber die Russen stürmten und nahmen das Thor
von Neuem, während die westfälischen Truppen
sich bis hinter die Fuldabrücke zurückzogen.
General Allix, der nach diesem bedrohten Punkt
eilte, wurde vom Volk mit Insulten und Stein
würfen empfangen und war im Begriff, dem
Drängen der Bürger nachzugeben und zu kapi-
tuliren, als ein von Tschernitscheff abgesandter
Stabsoffizier anlangte und dem General eine
Kapitulation anbieten ließ. Dieselbe kam schnell
zu Stande; den westfälischen Truppen wurde
freier Abzug bewilligt, der noch an demselben
Abend angetreten wurde. Die Russen besetzten
die Stadt nur mit einzelnen Wachen und
bivouakirten die Nacht auf dem Forst. Am an
deren Tage, dem 1. Oktober, hielt Tschernitscheff
seinen Einzug in Kassel.
(Fortsetzung folgt.)
aöikalkur.
Erzählung von Wilhelm Dennecke.
(Fortsetzung.)
Franz war ein junger Mann von echtem Schrot
und Korn, er hatte eine gute Schulbildung ge
nossen, seiner Militairpslicht auf das Muster
hafteste genügt und sich alsdann hauptsächlich der
Landwirthschaft gewidmet, womit sein Vater völlig
einverstanden war, da er neben seiner Fabrik
auch ein nicht unbedeutendes Gut besaß. Nach
vollendeten Studien war es beschlossen, daß Franz
in das Geschäft eintreten sollte, um unter den
Augen feines erfahrenen Vaters die Leitung der
Fabrik mit zu übernehmen. Franz war zehn
Jahre alt gewesen, als die kleine Dora Köhler
von dem mildherzigen Herrn Daniel in seine
Familie aufgenommen wurde. Frau Hulda hatte
selbstverständlich zuerst nichts davon wissen wollen,
aber weder ihre schiefen Gesichter, noch ihre spitze
Zunge hatte etwas gegen den Willen ihres Mannes
ausrichten können, welcher sein einmal ausge
sprochenes Wort für das elternlose Kind wie für
sein eigenes zu sorgen, nicht wieder zurücknahm.