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wurde denn auch ausgeführt. Aber die Rath-
losigkeit und schwankenden Maßregeln des Führers
hatten den Truppen alles Vertrauen genommen
und bei dem Marsch auf engen, waldigen Wegen,
der auch in der Nacht fortgesetzt wurde, lösten
sich seine Truppen ebenso wie die des Königs
auf. Die beiden Geschütze wurden in die Fulda
versenkt, aus der die Kosacken sie wieder heraus
holten , die. Soldaten liefen auseinander und
Bastineller erreichte mit nur 80 Mann den König
in Wetzlar.
General Zandt, der mit seinem Corps in
Göttingen, zehn Stunden von Kassel stand, traf
am 28. nachmittags in Münden ein. Besorgt,
von hier aus auf der direkten Straße nach Kassel
vorzugehen, weil er hier auf die Russen stoßen
könnte, ließ er oberhalb Münden seine Infanterie
auf einer Fähre über die Fulda setzen, die Reiterei
durch eine Furt den Fluß passircn, und ver
suchte, gesichert durch Wald und nächtliches Dunkel,
Kassel zu erreichen. Aber der größte Theil seiner
Soldaten war noch vorsichtiger und benutzte
Wald und Dunkelheit, um in die sichere Heimath
zu gelangen, während Zandt am 29. mit sehr
zusammengeschmolzenem Corps in Kassel eintraf.
Tschernitscheff, der an diesem Tage bei Melsungen
ruhte und durch Patrouillen, wie durch die der
westfälischen Regierung abgeneigten Bewohner
des Landes, von diesen Vorgängen Kunde er
hielt , faßte von Neuem den Plan, Kassel zu
nehmen. Aus übergetretenen westfälischen Sol
daten und aus junger sich freiwillig stellender
Mannschaft wurde ein Bataillon gebildet und
am 30. brach Tschernitscheff, dessen Artillerie
durch die genommenen Geschütze ans zwölf ver
stärkt war, wieder gegen Kassel auf, woselbst der
General Allix seit dem Fortgange des Königs
den Oberbefehl hatte.
Die Nachricht von dem erneuten Anrücken
Tschernitscheffs, verbreitete sich in der Umgegend
wie ein Lauffeuer und kam, gegen Mittag, auch
zu uns. Ueber die Domainenkasse hatten die
Kosacken Decharge ertheilt, neue Zahlungen gingen
nicht ein, der Postverkehr war gänzlich unter
brochen, so hatten wir denn die beste Zeit. Nach
Tisch nahmen wir, der jüngere Bruder meines
Onkels und ich, unsere Mützen und machten uns
auf den Weg nach Kassel, um dem Angriff auf
die Stadt zuzusehen. Der Sohn des Predigers
im Ort, ein junger Kandidat der Theologie,
schloß sich uns an. Da wir so schnell trabten,
als Lungen und Füße es aushielten, trafen wir
auf dem Forst zu rechter Zeit ein.
Hier rückte eben von Waldau aus das Tscher
nitscheff 'sche Corps an und entwickelte sich. Dies
war für mich ein höchst ergötzliches Schauspiel;
es interessirten mich besonders die russischen
Geschütze, die auf dem sog. kleinen Forst, jenseits
der Nürnberger Straße, der Bellevue gegenüber
auffuhren; ich ließ meinen Begleitern keine Ruh,
bis wir der Batterie ganz nahe waren. In der
Stadt, auf der Höhe von Bellevue, fuhren west
fälische Geschütze auf und Infanterie nahm dort
Stellung.
Diese Schlachtordnung, wenn sie an sich auch
nur klein war, hatte nach meinen damaligen
Begriffen etwas höchst Großartiges. Der Reiz
der Neuheit rief in mir eine so kriegerische Be
geisterung hervor, daß ich den Augenblick nicht
erwarten konnte, wo die sich gegenüberstehenden
Geschütze das Feuer eröffnen würden. Von
meinen" Begleitern theilte mein Onkel meine Be
geisterung, aber dein Kandidaten fing an un
heimlich zu Muthe zu werden. Er ermahnte
uns, den Geschützen ja nicht zu nahe zu kommen,
da diese während des Feuers oft sprängen und
theilte uns, was er aus Büchern über die Ge
fahren bei Erstürmung von Städten gelesen
haben wollte, mit.
Aber mit all seinen Reden brachte uns der
angehende Prediger keinen Schritt von den rus
sischen Geschützen fort, denn ich hatte gesehen,
daß sie geladen und gerichtet worden waren, und
gleich mußte das Feuer eröffnet werden. Da
kommandirte der Offizier, die Mannschaft stand
still, die Lunde berührte das Zündloch, laut
brüllend spie die Kanone eine Fcuergarbe aus
ihrem Rachen und rauschend flog eine Granate
durch die Luft! Nun folgte Schuß auf Schuß
von der russischen Batterie.
Noch dauerte es eine Weile, dann wurde das
Feuer von der Batterie auf Bellevue beantwortet.
Bis dahin hatte unser Kandidat noch Stand
gehalten; als aber nun eine Kugel aus einem
westfälischen Geschütz über unsere Köpfe flog und
dicht hinter der russischen Batterie in den Boden
schlug, faßte er mich entsetzt am Arme und riß
mich als der Stärkere, mit sich fort. Nur mit
Mühe gelang es mir, ihn an der Leipziger Straße
noch einmal zum Stehen zu bringen, um das
Geschützfeuer wenigstens aus der Entfernung mit
anzusehen.
Jetzt rückte das neu formirte russische Bataillon
und einige abgesessene Reiterei, von zwei Ge
schützen begleitet, gegen die Straße vor, um
einen Angriff auf das Leipziger Thor zu machen.
Wie gern hätte ich einen Karabiner genommen
und wäre in dieses Bataillon, in dem wir auch
Männer in bürgerlicher Kleidung sahen, ein
getreten, um den Angriff mitzumachen. Aber
der Kandidat wollte nichts mehr davon wissen
und begann wieder seine grausigen Vorstellungen,
die bei Erstürmung von Städten vorkommen
und nahm auf der Leipziger Straße seinen Rück-