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gelahrtheit verließ und den Hirtenstab mit dem
Pinsel vertauschte."
Der Pfarrer lächelte. „Nein, lieber Ludwig,"
sagte er, „jedem das Seine. Du bist ohne
Zweifel ein großer Maler, aber das Hüten wäre
ganz gewiß nicht Deine Sache gewesen. Im
übrigen freut es mich, daß Du in Dich gehst;
nun wird die schöne, junge Frau gewiß in aller
nächster Zeit erscheinen."
„Jedenfalls dort oben auf den Lahnbergen in
der verfallenen Kapelle!"
„Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Es ist
zwar recht einsam auf der Höhe, aber hat Dir
meine Frau nicht vorhin die kürzlich in der
ganzen Gegend wieder neu aufgetauchte Sage
von St. Elisabeths Rosen erzählt?"
„Gewiß, sie sagte mir, daß die steinerne Hei
lige in ihrem schürzenartig aufgerafften Gewand
an jeden» Morgen frische Rosen trage. In alten
Zeiten, als noch die Nonnen des nahen Klosters
die Statue schmückten, habe man geglaubt, dies
werde in der Morgendämmerung von einem Engel
besorgt. Da nun seit einiger Zeit das Steinbild
in jeder Frühe wieder im einstigen Schmuck
prange, und man gar nicht wisse, wer ihm in
der protestantischen Gegend diesen Liebesdienst
erweisen könne, denkt das abergläubische Volk
natürlich an das Wunder der alten Zeiten."
„So ist's; aber die Hauptsache kommt noch,"
erwiderte der Pfarrer. „Der Bursche oder das
Mädchen, welche die Rosen zuerst erblicken und
zum Zeichen dessen eine derselben auf das Posta
ment zu den Füßen der Heiligen legen, werden
bald eine glückliche Ehe schließen. Hoffen wir
deshalb, lieber Ludwig, daß Du an einem der
nächsten Tage zuerst St. Elisabeths Rosen siehst."
Darauf stießen sie fröhlich an, als die schöne
Pfarrerin mit dem Weine zurückgekehrt war.
Dann plauderten sie im Mondschein noch lange
zusammen und gaben dem Maler für seinen
Aufenthalt in dem kleinen, hochgelegenen Dorfe
allerlei Rathschläge. Auf seine Frage, ob denn
kein einziger Mensch dort oben wohne, an den
man sich anschließen könne, erklärte der Pfarrer,
daß nur ein alter Oberförster nicht weit von der
Kapelle einsam im Walde hause, der aber durch
den Verlust des einzigen Sohnes sehr unzugäng
lich geworden sei. Seit einiger Zeit wäre auch
eine verwaiste Verwandte des alten Herrn im
Forsthause eingekehrt, die aber noch niemand be
sucht habe und nur erst von wenigen Leuten ge
sehen worden sei.
* -j-
*
Am andern Morgen, als die Sonne die schöne
Landschaft in ihren ersten, goldenen Strahlen
badete, machte sich Ludwig Brandes auf den Weg
nach der kleinen Kapelle. Von einem Mitgliede
des hessischen Fürstenhauses hatte er den Auftrag
erhalten, dies alte, der Stammmutter geweihte
Gotteshaus auf irgend einem Gemälde anzu
bringen. Bis gestern war er noch im Unklaren
über den Gegenstand des Bildes gewesen, aber
vor dem Einschlafen war ihm ein glücklicher Ge
danke gekommen. Das Bild sollte den Titel
führen „St. Elisabeths Rosen" und den Moment
darstellen, in dem ein Ritter in die Kirche tritt
und staunend sieht, wie ein junges, schönes Burg
fräulein das alte Standbild der Heiligen mit
Rosen schmückt.
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Bereits seit acht Tagen zeichnete und malte
Brandes ttt dem alten, etwas verfallenen Kirch
lein und in dem herrlichen Walde ringsum, doch
noch immer war es ihm nicht gelungen, St.
Elisabeths Rosen zuerst zu erblicken. Andere,
die gewiß auch fromme Wünsche auf dem Herzen
trugen, waren ihm immer zuvorgekommen. Da
erfaßte ihn etwas wie Groll gegen sich selbst, er
nahm sich fest vor, am nächsten Morgen auf
das Klopfen seines Wirthes zu hören und bei
Tagesgrauen sein Lager zu verlassen. Diesen
Entschluß führte er auch aus. Als die nächtlichen
Wolken vom rosigen Schimmer des Frühroths
überstrahlt wurden, als die Vögel im Gezweige
die ersten Strophen ihres Morgenliedes sangen,
wanderte Brandes schon durch den dämmrigcn
Wald seinem Ziele entgegen.
Inmitten eines Halbkreises alter Eichen lag
das Kirchlein auf mäßiger Bodenerhebung. Ueppig
rankender Ephen suchte wieder gutzumachen, was
Wetter und Sturm im Laufe der Jahrhunderte
an den Rosetten der Spitzbogenfenster und den
an den Pfeilern angebrachten Statuen der zwölf
Apostel verbrochen hatten und manch durchsichti
ges Spinnengewebe bestrebte sich, eine zerbrochene,
längst blind gewordene Butzenscheibe zu ersetzen.
Alles schien auf die in Aussicht genommene Wie
derherstellung zu warten. Die Glocke in dem
schlanken Thürmchen hing schief, der Hahn auf
der Spitze machte eine bedenkliche Verbeugung,
verschiedene Gliedmaßen der Madonna und der
Engelgruppe im Spitzbogenfelde des Portals
waren herabgefallen. Und doch besaß das Kirch
lein gerade in seinem jetzigen Zustande für ein
Künstlerauge einen eigenen Reiz. Brandes trat
auch nie in dasselbe, ohne seinem Aeußcren vor
her einige Augenblicke der Betrachtung gewidmet
zu haben. Nur heute that er dies nicht, es be
rührte ihn seltsam, daß das Portal nicht zu,
sondern nur angelehnt war, er fürchtete, wieder
zu spät gekommen zu sein. Rasch überschritt er
ein paar Stiegen und trat in die Kapelle. Doch
wie angewurzelt blieb er nach seinem Eintritt
stehen. War es eine Erscheinung, war es Wirk