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schon so Manchen dahinwelken sehen. So sah
er traurig, aber gefaßt demjenigen entgegen,
was da kommen mußte. Und heute am Weih
nachtsabend dachte er für sich, daß dies nun das
letzte Christfest für ihn sein werde. Zwei heiße
Thränen rollten auf seine magern Wangen, aber
er trocknete sie ab und zwang sich, fröhlich
dreinzuschau'n, um nicht der jüngeren Geschwister
harmlose Lust zu stören. Er bemühte sich,
Freude zu zeigen an den Geschenken, die auf
dem L-tnhle vor seinem Bette lagen: ein Honig
kuchen, Nüsse, ein Schreibzeug von einem Schul
freund.
Draußen klingelte es plötzlich. Es kam Je
mand. Auf dem Hausflur wurde eine Stimme
laut, bei deren Klang das Blut dem Kranken
in die hohlen Wangen stieg. Er richtete sich
halb im Bette auf und horchte, die Angen auf
die Thür geheftet. Alsbald öffnete sich diese
und die Mutter trat ein. „Sieh!" rief sie
eifrig, „Fräulein Maria ist gekommen, um sich
nach Dir umzusehen, Heinrich!" Und nun er
schien auch Maria, des Pfarres Töchterlein, in
der Thüre. Der dürftige Schein des Lichtes fiel
auf die schlanke Gestalt des liebreizenden Mäd
chens, das einen Korb trug und den armen
Kranken freundlich begrüßte.
„Wie geht es Ihnen, Heinrich", sagte Maria,
an das Bett tretend und ihm die Hand reichend.
„Hoffentlich besser?"
Der Kranke faßte mit seinen beiden mageren,
fieberheißen Händen Marias dargebotene Rechte:
„Ich danke, gut! Es ist so freundlich, daß Sie
gekommen sind."
„Ach, Heinrich, das ist doch meine Schuldigkeit,
daß ich einen alten Freund und Schulkameraden
nicht vergesse. Vater und Mutter lassen bestens
xrüßen und gute Besserung wünschen und bitten
Sie, diese Kleinigkeit anzunehmen." Dabei griff
sie in den Korb und brachte dessen Inhalt zum
Vorschein: ein Buch vom Herrn Pfarrer, ein
Flachchen guten Wein und Gebäck von der Frau
Pfarrer. „Und hier von mir!" sagte sie, und
eine jähe Röthe überlief ihre Wangen, indem
sic einm Blumentopf mit einer blühenden Monats
rose vo: Heinrich auf den Stuhl stellte.
Seine matten Augen glänzten; er preßte die
kleine weße Hand, die er immer noch nicht los
gelassen lütte und eine Thräne fiel auf sie.
„Ich danke Ihnen, Fräulein Maria. Ach, wenn
ich Ihnen de Freude vergelten könnte, die Sie
mir bereiten" Nur mühsam brachte er die
Worte hervor.
„Darum sorgen Sie sich nicht," sagte Maria
und versuchte, Hüter zu sein. „Wenn Sie gesund
werden, dann wird sich das schon finden." Ihre
Stimme stockte.
Heinrich sah sie lange und traurig an: „Ich
werde nicht gesund, Fräulein Maria."
„Sagen Sie so etwas nicht, bitte, bitte!" rief
das Mädchen und die dunklen Augen wurdeir
feucht.
„Was hilft es, wenn ich mich belüge? Ich
fühle, wie der Tod näher kommt. Er ist so
nah, ganz nah, Maria! Er steht zwischen uns
beiden."
Maria weinte leise und der Kranke fuhr mit
kaum vernehmlicher Stiinme fort: Ich fühle ihn
— am Herzen! Bald wird es aus sein, aus
mit den Wünschen und Hoffnungen. Was ich
gehofft und gewünscht, Maria, brauch' ich es zu
sagen? Du weißt es. Wir wollen nicht davon
reden, uns die Herzen nicht trauriger machen,
ist doch heute ein Festtag! Weihnachten!
Maria, als ich ein Kind war, da träumte ich
vom Weihnachtsengel und ich sehnte mich danach,
ihn zu sehen. Ich glaubte seinen Flügelschlag
zu hören und ich fühlte sein Wehen. Aber ge
sehen habe ich ihn nicht. Heute aber sehe ich
ihn, Maria, heute ist er zu mir gekommen, um
das letzte Weihnachtsfest mit mir zu feiern und
zu zeigen, daß die Engel Gottes noch zu den
Armen und Verlassenen kommen." Und er beugte
sich nieder und küßte die Hand des schluchzenden
Mädchens. Dann ließ er Maria los und sah
sie lange schweigend an; so nahm er Abschied
von dem Traum seiner Jugend.
„Lebewohl, Maria!"
„Lebewohl Heinrich!" schluchzte sie, neigte sich
zu ihm und küßte ihm Stirn und Lippen.
„Lebewohl !" Und sie schwankte hinaus.
Bald nach ihrem Weggang sagte Heinrich:
„Mutter, ich möchte schlafen. Gieb mir einen
Kuß zur guten Nacht und ihr auch, Mariechen
und Martin. Sv! Und nun kümmert euch nicht
um mich." Und er brach die blühende Rose
von dem Stocke und kehrte sein friedlich lächeln
des Gesicht der Wand zu.
Am andern Morgen, als die Lichterkirche eben
zu Ende gegangen war, kam die Mutter in's
Pfarrhaus und erzählte, daß ihr Heinrich Nachts
gestorben sei. Niemand habe es gemerkt. Stille
und friedlich sei er eingeschlafen, die halbwelke
Rose habe er in der erstarrten Hand gehabt.
~ Der Pfarrer und seine Frau spendeten der
Schwergeprüften Trost, so gut sie konnten. Als
sie aber traurig und gebeugt sich zum Gehen
wandte, da eilte Maria ihr nach und das holde
Mädchen warf sich der Frau still weinend an
die Brust.