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der Herzschlag mit einem jähen Ruck aussetzte,
diese Angst war nun gewichen.
Er blickte wieder vollbewußt um sich, er athmete
leichter, er sprach dem Doktor seinen Dank aus.
Was aber wollte der Dank des alten Herrn be
deuten gegenüber den beredten Worten seines
lieblichen Kindes! Wie sie seine Hand erfaßte
und wie sie ihn anlächelte durch lichte Freuden-
thrünen! Er hätte sie fest in seiner starken Rechten
halten mögen, diese fleißigen, sorgsamen Händchen,
die, so zart sie schienen, doch io flink und eifrig
schaffen konnten. Er sagte, daß er sehr glücklich
sei, durch seine geringe Mühe den Anfall gehoben
zu sehen. Daß es seine größte Freude sein würde,
dürfe er die Genesung des Herrn Inspektors auch
ferner überwachen. Doch er sei ja leider nur ein
Gefangener, und nun bereit, in seine enge Klause
zurückzukehren.
Waren es nicht Thränen, die heiß auf seine
Hand gefallen, als er sie dem Mädchen zum Ab
schied gereicht? Und war es nicht ein inniger
Dankesblick, der ihm aus den grauen Augen des
alten Herrn entgegenleuchtete? —
Er hatte sich wieder erholt der Herr Inspektor.
Es war, als lebe er noch einmal auf, als erkenne
er erst jetzt voll und ganz das Gefühl zu leben,
die süße Gewohnheit des Daseins. Jetzt nachdem
er jahrelang das Leben fast als Bürde betrachtet,
jetzt da er so nahe der dunklen Pforte gestanden,
da sein Blick schon bang fragend hinüber gefchweist,
in jener Nacht, als die Maschinerie des Körpers
so jäh den Dienst versagte, jetzt sog er mit nie
gekanntem Behagen die frische, herbstlich kühle
Luft ein. Nun schritt er täglich durch die schon
recht öden Gartenbeete, wo nur noch bunte
Astern und einige Spütrosen blühten.
Nun schien er erst die rechte Schätzung ge
funden zu haben für alle Herrlichkeit der Gottes
welt.
Der Medizinalrath, — der gleich am Morgen
nach dem Krampfanfall gekommen, — fand nichts
zu tadeln an dem, was sein junger Kollege
angeordnet. Auch er hoffte mit dem Patienten,
es werde nun so weiter gut gehen, denn es
zeigten sich keine bedenklichen Symptome. — _
Paul hörte ab und an durch den Schließer,
daß sich der Inspektor wohl befinde. Unauf
gefordert sandte ihm derselbe Lektüre herauf und
mehr als einmal lag neben dem mehr als
frugalen Frühstück eine Blumenspende von
Lottens Hand.
Der sonst recht brummige, barsche Alte hatte
für diesen, seinen „Separatgefaugeuen" eine
merkwürdige Nachsicht. Wenn er's ihm auch
nie zeigen durfte, wie gern er ihm die Freiheit
gönnte, und wenn es ihm auch nimmermehr in
den ehrlichen Sinn gekommen wäre, ihm die
Pforten zur Freiheit zu öffnen, aber gut sein
durfte er dem jungen Herrn; das stand wahrlich
nicht in seinem Dienstreglement, daß er seine
Zellenbewohner hassen müsse.
Mit der Gesundheit des Inspektors war es
aber trotz aller guten Anzeigen doch nicht stich
haltig. "Die paar schönen Tage, die es im
Oktober noch gab, hatte er freilich zum Theil
im Freien verbracht; nun, da der November
sturm um die festen Mauren toste, nun kamen
sie wieder, die herzbeklemmenden Anfälle, wenn
auch nicht so heftig, denn Lotte war ja vorbe
reitet. Sie verfolgte mit unsäglicher Bangigkeit
jede Bewegung, jedes leiseste Zucken im Angesicht
des theuren Naters.
Und der Doktor? Er erlag wieder dem Banne
qualvollster Ungeduld. Er hätte hinab eilen
mögen in das trauliche Gemach, drinnen er den
Kranken wußte, in die Kissen des Lehnstuhls
gebettet, und um ihn bemüht das bleiche Mädchen,
mit den jetzt so „bitter traurigen Augen". So
sagte der Schließer, dem der Kummer des
Fräuleins sehr zu Herzen ging.
Auch einen Ersatz für den Inspektor hatte
man aus der Hauptstadt geschickt, zur Erledigilng
der Dienst-Angelegenheiten. Ein noch junger,
strammer Beamter, der strenge Kvntrole hielt.
Es kamen keine Bücher mehr, und Blumen, die
waren, so weit das Auge reichte, nicht zu sehen,
auch selbst kein Blatt mehr hing an den kahlen
Bäumen, denn der Sturm zauste herab, was
nicht schon durch den Nebel heruntergedrückt war.
So sah er oft in ohnmächtigem Grimm dem
Spiel der gelben Blätter zu, wie sie ruhelos
aufgewirbelt wurden. — Und dann wieder ein
paar Wochen und es waren Schneeflocken die
herunterfielen, dicht und dichter, bis alles
weithin ein einziges, großes Bahrtuch erschien,
darunter die Natur sich zu langem Schlummer
gebettet.
(Fortsetzung folgt.)