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Nein, das durfte nicht sein. Sie müßte ja einen
Verrath an dem Vater begehen. Und wußte er,
ob sie überhaupt für ihn etwas wagen würde?
— Nein, es ging nicht an, er mußte hier aus
harren. Nach solchen Erwägungen überfiel ihn
eine grenzenlose Erbitterung. Er hätte die festen
Mauern durchbrechen, die ausgestellten Wachen
erwürgen mögen. Und schließlich saß er geduldig
hinter dem geöffneten Fensterchen und lauschte
gespannt jener weichen Stimme, die ihm süßer
klang als Musik.
III.
Sonntag früh war es. Der Glocken viel
stimmig Geläut drang durch die klare Sommer
luft getragen von der Stadt herauf, da sah er
die schlanke Mädchengestalt, den kleinen Kraus
kopf an der Hand, die Schloßtreppen hinab zur
Kirche eilen. Für wen ihre Gebete zum Himmel
aufsteigen mochten? Ob nur für den kränklichen
Vater und den kleinen Wildfang ihr zur Seite?
Ein heißes Verlangen, sie möchte auch seiner
gedenken, stieg in der Seele des jungen Doktors auf.
Bislang hatte er sich scheu zurückgehalten,
wenn je ihr Blick flüchtig zu der Höhe seiner
Zelle hinaufgeschweift. Jetzt mit einem Male
empfand er es als eine Pein, von ihr nicht ge
kannt zu sein.
Während aus der Kirche herauf, leise wie
Geistersang, durch die feierliche Sonntagsstille
gedämpfter Orgelklang und Gesang ertönte, saß
er an dem massiven Eichenholztische und schrieb
— Tinte und Feder hatte man ihm ja groß
müthig gestattet — folgende Strophen:
„Hast je Du schon empfunden
Was Freiheitsstrafe sei?
Wenn Geist und Körper schmachten
Im Bann der Tyrannei?
Wenn man in Kerkermauern
Den Körper eingezwängt,
Indeß mit Wahnsinnsschauern
Der Geist in's Freie drängt?
Du kennst nicht die Gefühle,
Die bitter mich durchtvbt,
Wenn Vögleins Lied am Abend,
Den Herrn der Schöpfung lobt.
Ich möchte dann zerbrechen
Den Riegel, der mich hält.
Möcht stiehen durch die Wälder,
Weit, weit, durch Flur und Feld.
Nur Eines sänftigt wieder
Das wild erregte Herz,
Es sind die süßen Lieder
Von Treue, Lieb' und Schmerz,
Die oft mit weicher Stimme
Dein Mund am Abend singt,
Wenn durch mein kleines Fenster
Manch gold'nes Sternlein blinkt.
Und eilst Du durch den Garten,
Mit frohem Kindersinn,
Jst's mir, als sollt' ich schauen.
Nur auf dies Fleckchen hin.
Doch sieh, das Herz ist störrig,
Ein Ding gar seltsamlich;
So sehnt das meine täglich
Nach einer Rose sich.
Drum üb' Erbarmen, spende
Mir solch ein duftend Reis
Von all' der Blüthenfülle. —
Mein Dank sei Dir der Preis.
Und darunter setzte er mit einem zierlichen
Schnörkel sein Or. insä. Paul Weber.
Das menschliche Herz ist ein Ding, über dessen
Ergründung sich schon die bedeutendsten Köpfe
abgemüht, ohne zu einem befriedigenden Ergebniß
zu kommen. Man sollte meinen, der Doktor
titel gelte dem jungen Manne nichts, da er ihn
in all' der Zeit, wo er berechtigt war ihn zu
führen, als lästigen Ballast bei Seite geschoben.
Und nun, diesem unerfahrenen Mädchen gegen
über, holte er sich den noch blitzblanken Titel
hervor. — Er hatte ihn seither gleichsam unter
Verschluß gehalten, weil, wie er in manch'
schneidiger Rede gesagt: Titel nur leerer Schall
seien.
Nun meinte er, es nehme sich doch recht voll
ständig aus, dieses vr. insä. vor dem Namen.
Sie wußte doch nun gleich, weß Geistes Kind
er war. Gestehen wir's, es war ein gut Theil
Eitelkeit im Spiel. Sie sollte nicht denken, er
sei ein Mensch der nichts gelernt, und der sich
schließlich so unnütz in der Welt gemacht habe,
daß man ihn einstweilen kalt stellte. -
Und dann harrte er mit fieberhafter Ungeduld
des Augenblicks, da sie den Garten betreten
werde. Es war eine schwere Geduldsprobe, aber
endlich kam sie. Doch Fritz kam mit ihr.
In diesem Moment haßte er fast den blonden
Krauskopf, der sich mit solch impertinenter
Sicherheit an den Arm der Schwester hing.
Wurfbereit lag der Papierknäuel, in dessen
Mittelpunkt sich ein Stückchen Fensterblei befand,
auf dem Fenstersims.
Endlich lief der kleine Bursche mit seinem
Schmetterlingsnetze einem schönen Admiral nach,
welcher über dem niederen Bosquet gaukelte.
Und jetzt kam auch das Mädchen, im lichtblauen
Kattunkleid, langsam näher.