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täglichen Einerlei der Festungshaft. Er war ja
ein flügellahmer Adler, der den kühnen Flug
empor zur Freiheitssonne nur halb gethan, und
nun harren mußte, was eine wohllöbliche Justiz
über ihn beschließen werde. Geduld — er lernte
den Begriff des Wortes erst verstehen, seitdem
er hier gezwungen war, diese Tugend zu üben.
Früher wollte er nichts davon wissen: „Dem
Muthigen gehört die Welt", so war sein Losungs
wort gewesen.
Die einzigen Lichtstrahlen, die in dieser trüb
seligen Gedankenwelt fielen, gingen von dem
kindlich unmuthigen Wesen aus, welches er da
unten im engbegrenzten Raum des Burggärtchens
in all' seiner unbefangenen Natürlichkeit beob
achtete.
Er lächelte oft über sich selbst, wenn er mitten
in der Lektüre eines interessanten Buches — er
erhielt jetzt immer gute Bücher aus dem Vorrath
des Inspektors, sogar einige medizinische Werke
durfte ihm der Schließer aus der Stadt besorgen
— aufsprang, um an's Fenster zu eilen, wenn
er den Riegel der Gartenpforte klirren hörte.
Nicht eher verließ er dann seinen Lauscherposten,
bis das helle Kattunkleid wieder hinter der Thür
verschwunden. Auch den gestrengen Herrn Papa
sah er ab und zu durch den Garten schreiten.
Vom Schließer — welcher merklich zugänglicher
geworden — erfuhr er, daß die Frau Inspektor
schon ein Jahr nach Fritzchens Geburt gestorben.
Der Alte meinte: „Der Herr Inspektor müsse
wohl seine Frau über die Maßen geliebt haben,
denn er habe sich von da ab ganz von der Welt
zurückgezogen, und das arme Fräulein, die sei
nun schon nahe an die Zwanzig, aber mitgemacht
habe sie noch nichts. Da gäbe es doch das Jahr
hindurch drunten in der Stadt allerlei Lustbar
keit für junges Volk, aber sie komme nicht ein
mal dazu. Vergnügt bleibe sie dennoch und
hänge an dem wilden Jungen, als ob's ihr eigen
Kind sei."
Ob sie cs wußte, daß die Augen des Gefangenen
all' ihrem Thun mit schier andächtigen Blicken
folgten? Sie ahnte es wohl nicht. Wie würde
sie sonst so unbefangen heiter sich da unten be
wegt haben.
Einmal saßen sie auch vor der Laube. Lotte
mit einer Näharbeit, Fritz vor dem Garteutisch
stehend mit Blattwerk und Blüthen beschäftigt.
Vergeblich mühten sich die ungeschickten Finger
einen Kranz zu binden, es ging nicht. Da warf
er zornig Alles von sich und stampfte mit den
Füßen den Kies des Weges.
„Es wird nichts, ich sagte es Dir gleich."
„Aber Fritz! Schäme Dich so heftig zu sein.
Komm her mein Junge, lies Alles hübsch wieder
aus und dann, wenn Du mich recht schön bittest,
mache ich einen Kranz."
Der Groll des kleinen Burschen war schnell
verflogen vor der ruhigen sanften Stimme der
Schwester. Gehorsam sammelte er all' das
Grünzeug und geduldig reichte er ihr Blatt um
Blatt, bis ein zierlicher kleiner Kranz fertig
geworden.
Ganz verklärt betrachtete Fritz Lottens Werk,
dann mit einem schnellen Sprung stand er neben
ihr auf der Bank und drückte das grüne Gewinde
auf ihren Scheitel.
„Weißt Du wie Du nun aussiehst Lotte?
Gerade wie die Braut in meinem Märchenbuch,
die der Prinz heirathet." Fröhlich klatschte er
in die Hände und sprang jubelnd vor der plötz
lich heiß Erröthenden umher. Mit hastigem
Griff hatte das Mädchen den Kranz vom Haupte
genommen.
„Wie dumm, Fritzchen", lächelte sie. „Ich bin
doch keine Braut."
„Aber Du sollst nun gerade eine sein" beharrtc
Fritz mit kindlicher Hartnäckigkeit.
„So, Du möchtest mich also gern fort haben,
du undankbarer kleiner Mensch. Wenn ich eine
Braut wäre, so müßte ich doch heirathen und
ginge dann mit meinem Manne fort, weit —
weit, so weit er immer wollte."
Da schlangen sich die weichen Kinderarme
leidenschaftlich um ihren Nacken und er schluchzte
laut: „Nein, nein, wenn Dich der böse Mann
mitnehmen will, dann sollst Du ganz gewiß
keine Braut werde», ich leid's nicht." —
Lange noch, nachdem der Platz vor der Laube
leer geworden, vermeinte Paul die süße Stimme
zu hören, da sie sagte: „Ich ginge dann mit
meinem Manne weit, weit, so weit er immer
wollte."
Wie beneidenswerth der Mann, dem solch' ein
reines Kind in seligem Vertrauen folgen wollte!
Hätte sie ihm, dem Gefangenen, der all' sein
Denken und Handeln an eine Idee, ein Phantom
vergeudet hatte, hätte sic ihm folgen mögen?
Er lachte spöttisch, daß es scharf von dem kahlen
Gemäuer wiederhallte.
Nein, gewiß nicht! Sie kannte ihn ja gar
nicht einmal. Und wer war er denn? Ein Mann,
dem das erstrebte Ziel in unerreichbare Fernen
gerückt. Ein Mann, der nichts sein nannte, das
Wenige, was er noch besaß, kam einem Nichts
gleich. Aber besaß er nicht Kenntnisse? Ein
tüchtiger Arzt findet aller Orten lohnende Praxis.
Einmal war ihm schon der Gedanke gekommen,
ob nicht durch den Beistand dieses Mädchens
eine Flucht möglich sei? Wenn er ihr schriebe,
ihr das Papier hinab in den Garten würfe?
Doch er verwarf diesen Gedanken wieder.