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Kehüt' dich Gott!
Die Brunnen strömen noch in's mächt'ge Becken
Von grauem Stein. Das Anno domini
Ist fast verlöscht vom ungeduld'geu Strudel.
Er rauscht und schäumt. Nun stößt der Hirt'
in's Horn.
Des Glückes Schwalbe klebt annoch ihr Nestchen
An's braune Fach. Der Baumwuchs strebt
empor
Im Gras des Kirchhofs, und es dehnt die Linde
Die hohe Krone, die am Schulhaus steht.
Wie damals schleicht der blinde Leiermann
Von Hof zu Hof und beut die schmutz'ge Mütze
Mit stummem Flehn und allzuoft umsonst.
Sich windend zieht Venedig's „Carnevale"
In müden Tönen über Gaß' und Platz.
Und langsam dreht im altgewohnten Kreise
Wie damals sich das bunte Karoussell.
Und so wie damals stiegt von Thür zu Thüre
Der Nachbarn Gruß, wohl auch ein Lästerwort,
So wie es kommt. Hier ist die Welt im Kleinen
Und was das Leben schafft im großen Rund':
Gewaltig Streben, Sieg und Niedergehen,
Und Lieb' und Neid und Opfer und Gewalt,
Und Schmerz und Tod. Es zeigt's im engen
Spiegel
Nur deutlicher und nackter, kurz gedrängt.
Es giebt dem Leichten wichtige Bedeutung
Und feilt das Einzelne weit kräft'ger aus,
Denn zögernd weilt die Zeit im engen Thal
Und streift wie schonend über Blatt und Blüthen.
Verleiht dem armen, schnellen Menschendasein
Ein größer Recht für seine Eigenheit.
Uralte Hessenstadt! dein Mauerfrieden,
An dessen Thores Schwelle, rückwärts schau'nd
Mein Aug' sich feuchtet, — schließt nun bald
mich aus!
Da fluthen um mich der Erinn'rung Schaaren,
Die eingeführt mich in des Lebens Tiefe
Und mich geleitet auf des Lebens Höh'.
Von den Gestalten, die mich nickend grüßen —
Dorübergeh'nd, ist keine einz'ge fremd.
Die Jungen waren Kinder, Schulgesährten,
Die Männer werdend und die Frauen Mädchen,
Da ich hier weilte und die Alten, die
Tagtäglich grauer, stiller, blasser werden,
Ich sah sie mitten in des Lebens Kampf
Und weiß die Räder, welche Furchen zogen
Auf ihre Stirn. Hier steht kein einzig Haus,
In dessen Räumen nicht mein Kinderfuß
Einst heimisch war und all' die schmalen Fenster
Erzählen mir, was die Gardine hüllt.
Die Kreuze selbst am schatt'geu Gottesacker
Behüten Rainen, die ein lebend Bild
Empor mir zaubern und ringsum die Hügel,
Die waldbedeckt das enge Thal umfrieden,
Erscheinen mir wie treu geschloß'ne Arme
Um Kindheitsglück und Jugend, Lust und Leid.
Auch die Laterne, die am Kettenstrang
Altmodisch noch die engen Gassen lichtet,
Sie sah so träumerisch und schlecht geputzt
In unser Zimmer, wenn der Mutter Lippen
Grimm's Märchen zu lebend'gem Dasein brachte,
Mit flüsterndem und doch lebend'gem Wort
Zur Dämmerzeit — dann stieg manch glühend
Räthsel
In ihrem Schein und mag'schem Licht empor.
Und sie auch sah, wie in der Kinderseele
Zum ersten Mal das Kreuz auf Golgatha
Aufragte — mächtig — wenn auch unverstanden.
O stille Stadt! Wie wuchsen Traum und Leben
In deiner Hut mir aus des Herzens Tiefe!
An deiner altersgrauen Brücke stand
Ein werdend Weib ich, und der Wellen Fluth,
Geheimnißvoll vorüberrauschend, sang
Ein unbegrisfen Lied von Lust und Qualen
Und rauschte weiter in ein fernes Land,
Mir nicht erschlossen. Ja, sie rauschen noch!
Doch kommt für mich nicht Zeit zum Stillestehn,
Wie tief im Schatten liegt die Hessenstadt,
Des Herzens Heimat! Mein „Behüt dich Gott!"
Ist thrünenvoll und nie verklingt's im Wandern!
M. Kellner.
Die Gversbrrrg.
Was reckst du hoch zum Sternenrande
Den Riesenleib, bedeckt mit Moos?
Was schaust du ans in alle Lande
So traurig still und freudelos?
Wo sind sie hin, die hier einst wohnten,
Die Ritter mit dem Thatendrang,
Die Frauen, die dem Sänger lohnten
Mit holdem Blick, der sie besang?
Wo sind die Knappen, die geschäftig
Einst eilten durch das hohe Thor?
Wo weilt der Sänger, der einst kräftig
Hier sang vor aller Ritter Ohr?
„Sie gingen, wo sie hergekommen,
Ich blieb allein und trau're hier;
Und was du sahst, dir selbst zum Frommen
Beherzige es für und für!"
I. Kiek.