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sie mit Vergnügen bezahlt haben, ich, Daniel
Schröder, Wohlgeboren, hier! Nun weiß ich,
daß was passirt ist, und bin doch so klug wie
zuvor! O, der Esel! Der unverantwortliche
Esel!" Dora saß stumm über ihr Strickzeug
gebeugt, aber sie zitterte so, daß die Nadeln
klirrend aneinanderschlugen. Frau Hulda, welche
kreideweiß geworden war, nahm sich jedoch zu
sammen und sagte: „Wenn der Mann tele-
graphirt, daß der Brief, den er an dich ge
schrieben hat, schon hier eingetroffen sein muß,
so ist es am einfachsten, du gehst zum Herrn
Postmeister und bittest ihn, dir den Brief heraus
geben zu wollen, da die nächste Postausgabe
doch erst morgen erfolgt." — „Da hast du recht,
Hollerchen," sagte Daniel ein paar Mal, wäh
rend er seinen Hut holte und das von Frau
Hulda wieder glatt gestrichene Telegramm er
greifend, schritt er hinweg, dasselbe hin und her
schlenkernd, als ob es eines seiner seidenen
Taschentücher sei. Als Daniel gegangen war,
herrschte eine tiefe Stille in dem Zimmer, welche
hin und wieder nur durch die Seufzer Dora's un
terbrochen wurde. Nach einer Weile stand Frau
Hulda ans und sagte, dicht vor das Mädchen
hintretend, so scharf, als sie es vermochte: „Wes
halb seufzest du?" Erst auf die Wiederholung
dieser Frage erwiderte Dora, sich tiefer über ihre
Nadeln beugend: „Das Unglück, welches Franz
betroffen haben muß, läßt mir keine Ruhe."
Durch diese Aeußerung fand Frau Hulda die
willkommene Veranlassung, ihrem bedrängten
Herzen in etwas Luft zu machen, kam es ihr
doch nicht darauf an, den bisherigen Kränkungen,
die sie Dora hatte zu Theil werden lassen, noch
weitere hinzuzufügen. „Was brauchst du dich
um meinen Sohn zu kümmern?" fuhr sie in
schneidendem Tone fort. „Er soll für dich nichts
inehr und nichts weniger sein, als für das
andere Dienstpersonal auch: der Herr Schröder
junior — und wenn ihm etwas zugestoßen ist,
so trifft das seine Eltern einzig und allein, nie
mand sonst, hast du mich verstanden?" Dora
ließ das Strickzeug in den Schooß sinken und
schlug ihre thränenvollen Augen zu der Frau
ihres Wohlthäters empor. „Ich hatte mich da
ran gewöhnt, Franz als meinen Bruder zu be
trachten," kam es leise aber mit vorwurfsvollem
Ausdruck über ihre Lippen. Damit erhielt der
Jdeengang der Frau Hulda eine andere Rich
tung, sie ließ die Zugehörigkeit zum „Dienst
personal", durch welche sie Dora kränken wollte,
fallen und hakte an einem andern Ende ein:
„Wie einen Bruder hast du Franz seither be
trachtet," sagte die gestrenge Frau und es fuhr
recht höhnisch um ihren verbissenen Mund, „das
ist recht von dir gewesen, das solltest du auch,
denn das haben wir und der Franz um dich
verdient, daß du ihm mit Respect und Achtung
entgegenkommst, wie es so zu sagen einer jünge
ren, unbedeutenden Schwester dem älteren, an
gesehenen Bruder wohl zusteht, aber seit einiger
Zeit scheint es mir, hast du — scheint es mir,
daß du —" und Frau Hulda fing an, trotz
ihres geschliffenen Mundwerks, etwas in's
Stottern zu gerathen. Dora's Augen senkten
sich nicht nieder, sie sahen groß und fest in die
ihrer Pflegemutter, aber eine leise Röthe stieg
in ihren Wangen auf. „Ach was," stieß Frau
Schröder dann heftig hervor, als ob sie sich
über ihre augenblickliche Unentschlossenheit
ärgere, „was brauche ich bei dir lange hinter
dem Berge zu halten. Seit einiger Zeit scheint
es mir, daß du den Franz mit anderen Augen
ansiehst, als es sich für eine Schwester, mag es
nun eine leibliche oder eine angenommene sein,
schickt und das paßt mir nicht, verstehst du?
Oder willst du es etwa nicht Wort haben, und
dich aufs Leugnen verlegen? Höre, Dora, das
würde die Sache bei mir noch schlimmer machen,
als sie es ohne dies schon ist. Was hast du zu
deiner Vertheidigung anzugeben, rede, und keine
Ausflüchte, das bitte ich mir aus!"
Während der harten Worte Hulda's war Dora
von einem heftigen Zithern erfaßt worden, aber
mit dem ganzen Aufgebot ihrer Kräfte hatte
sie es unterdrückt und sagte nun mit fester
Stimme: „Wissentlich ist nie eine Unwahrheit
über meine Lippen gekommen und so sei denn
auch jetzt der Wahrheit die Ehre gegeben und
wenn es mich auch in Noth und Elend bringen
sollte. Mit was für Augen ich Franz angesehen
habe, weiß ich freilich nicht zu sagen und ich
glaube auch kaum, daß mir daraus ein Vorwurf
gemacht werden kann, aber daß ich dem Franz
so recht in innerster Seele zugethan bin, das
ist die Wahrheit und hier bete ich zu Gott, daß
er ihm möge nichts Böses haben widerfahren
lassen. Ach, das Herz bricht mir ja bei dem
Gedanken, daß er vielleicht längst unserer Hülfe
bedurfte und sie ihm nicht zu Theil werden
konnte!"
Dora stürzte mitten in dem Zimmer mit ge
falteten Händen auf die Kniee und verblieb so
mehrere Minuten. Wie es bei ursprünglich
sanften und duldsamen Charakteren nicht selten
geschieht, hatte die unablässige Verfolgung,
welcher Dora seit geraumer Zeit ausgesetzt war,
sie, anstatt zu schwächen, stärker gemacht und ihr
den Muth gegeben, für sich eintreten zu können.
Erstaunt blickte Hulda das Mädchen an, eine
solche Leidenschaftlichkeit hatte sie in dem zarten
Wesen nicht vermuthet, aber sie gab dem edleren
Gefühl, das sie beschleichen wollte, nicht Raum,