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Ehe wir aber das Gedicht wiedergeben, dürfte es
sich empfehlen, zum näheren Verständniß und um
etwaigen Mißdeutungen, namentlich des fünften
Verses, vorzubeugen, einige erläuternde Bemerkungen
vorausgehen zu lassen. Wir setzen dabei die Leidens
geschichte Sylvester Jordan's im Allgemeinen als
bekannt voraus.
Das Gedicht „Osterwort" war Sylvester Jordan
in seinem Kerker bekannt geworden. Er richtete am
18. Juni 1840 an Franz Dingelstedt als Erwiderung
ein längeres Gedicht*) und ersuchte den Unter-
juchungsrichter, dasselbe an seine Familie zur Be
förderung an Franz Dingelstedt verabfolgen zu lassen.
Hierauf verfügte der Untersuchungsrichter, dem über
haupt viel willkürliche Härten in der Behandlung
Sylvester Jordans während dessen Haft auf dem
Marburger Schloß vorgeworfen wurden: „Geht an
den Verfasser, als zur Abgabe gänzlich ungeeignet,
zurück." Hierauf bezieht sich nun der fünfte Vers
des nachstehenden Gedichtes Dingelstcdt's und die
daselbst gebrauchten scharfen Ausdrücke sind gegen
den Untersuchungsrichter gerichtet. Jordan wurde
bekanntlich vom Obergericht zu Marburg am 14.
Juli 1843 wegen Beihülfe zum versuchten Hoch
verrath, begangen durch Nichthinderung hochver-
rätherischer Unternehmungen unter Anrechnung eines
Theiles der Untersuchungshaft, zu fünfjähriger
Festungsstrafe, Dienstentsetzung, Verlust der National
kokarde und in die Kosten verurtheilt. Das Ober
appellationsgericht in Kassel als letzte Instanz
hob jedoch zwei Jahre später, am 5. November
1845, jenes obergerichtliche Urtheil auf und ver-
urtheilte den Angeklagten nur wegen unpassender
Schreibart an einer Stelle seiner Vertheidigungs
schrift zu einer Strafe von — fünf Thalern.
So wurde Jordan nach 6jähriger Festungshaft seiner
Familie wiedergegeben. Und nun gelangte denn auch
jenes von ihm an Franz Dingelstedt in Stuttgart
gerichtete, im Kerker verfaßte Gedicht richtig an
seine Adresse. — Das Jahr 1848 brachte Jordan
wieder zu hohen Ehren. Er, der einst verfolgte und
verfehmte Demagoge, wurde als Geheimer Legations
rath zum Bundestagsgesandten Kurhessens in Frank
furt a. M. ernannt, der hessische Wahlkreis Fritzlar
wählte ihn in das deutsche Parlament. Im Jahre
1850 zog sich Sylvester Jordan von dem politischen
Leben zurück. Er verblieb noch einige Zeit in
Frankfurt a. M. und siedelte dann nach Kassel über,
wo er bis zu seinem Lebensende verblieb.
*) Dieses Gedicht Jordans findet sich abgedruckt am
Schlüsse der Schrift „Wanderungen aus meinem Gefäng
nisse am Ende des Sommers und im Herbst 1839" von
Dr. Sylvester Jordan, Professor in Marburg, Frankfurt
a. M. bei I. V. Meidinger 1841.
Und nun das Gedicht:
An Sylvester Jordan ln Mardnrg.
Lapidem, quem reprobaverunt
aedificantes, ille factus est in
caput anguli. Psalm.
Sieben Jahre — ist's nicht also? — oder wenig
drüber schwanden,
Daß ich mit dem Sailenspiele schon einmal vor Dir
gestanden;
Damals sang ich als der Erste Deine Schmach und
sang allein,
Laß nlich heut' im Chor der Ehren Deiner Freunde
Letzter sein!
Zürnest Du der lieben Mahnung? Sieh Dein
Blondel naht sich wieder,
Aber so wie Du verwandelt: auf der Lippe Sieges
lieder
Und im Auge Freudenthränen, ruft zum zweiten
Mal er aus:
„£) der Wandlung! Sonst ein Kerker, — jetzt das
deutsche Bundeshaus!
Was mein Flehen nicht vermocht hat, — und wo
sprangen eherne Pforten,
Seit dem alten Orpheus-Märchen wiederum vor
Dichterworten? —
Das gelingt dem Flügelschlage einer märchenhaften
Zeit.
Welche Kerkermeister fesselt und Gefangene befreit.
Ja, du stehst auf alter Höhe! Hinter Dir, in
Nacht versunken,
Liegt der lange Traum der Knechtschaft, den Du
tropfenweis getrunken,
Liegen Tage, Monden, Jahre, ach! voll namenloser
Qual,
Frische Gräber mitten drunter, frische Narben ohne
Zahl.
Jenes Märtyrthums ein Zeichen wahr' ich in dem
theuern Blatte,
Das von Deiner Hand beschrieben, Dein Tyrann
versiegelt hatte;
Weißt Du noch? Von ihm gestempelt, und vergibt
im Aktenstaub,
Zeugt es mit beredter Zunge den an Dir verübten
Raub!
Aber nein, nicht rückwärts blicken! Nicht auf das,
was dagewesen!
Sieben magere Jahre waren, wie wir in Aegypten
lesen;
Sei es drum! Sie sind vorüber und die fetten heben an:
Du warst krank, Du bist genesen, warst ein Greis
und bist ein Mann!