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liebliche Eilsen, das in dem tiefen Thalkessel mit
seinen rothen Dächern wie eine Schale frischer
Aepfel in grünen Blättern liegt, besuchte Char
lotte alljährlich mit ihren wohlhabenden Eltern.
Das beliebteste Sommervergnügen war aber eine
Reise nach dem damaligen stolzen Modebad Pyr
mont. Unter dem Lindendom der berühmten
Pyrmontcr Allee sollte das junge Mädchen den
Mann kennen lernen, durch den es eine berühmte
Frau wurde.
Auf einer der Bänke, welche durch die Nähe
der schönen kühlenden Fontaine besonders beliebt
sind, saß Charlotte eines Morgens mit ihrem
Bater. Beide knüpften alsbald ein Gespräch an
mit einem jungen Mann, der sich zutraulich neben
sie gesetzt hatte. Man wurde damals leichter
bekannt in Badeorten, weil man nicht mißtrauisch
war, wie man es jetzt leider sein muß; binnen
wenige» Minuten hatte das schöne junge Mäd
chen den unscheinbaren Nachbar in ein philoso
phisches Gespräch verwickelt. Sie bemerkte wohl,
daß er einen schlechten Rock hatte, aber seine
guten Manieren fiele» ihr dadurch nur noch
mehr auf, auch fand sie ihn häßlich, aber er sah
geistvoll aus, sie erkannte seine innere Schönheit
und lauschte auf seine Worte, als kämen sie aus
einer besseren, bisher nur von ihr geahnten
Welt. Auch der junge Mann empfand eine
sichtbare Freude, daß er ein so liebliches Ohr
und einen so holden Mund gefunden hatte, die ver-
ständnißvoll hören und anregend reden konnten.
Der Pfarrherr fand ebenfalls viel Gefallen an
dem jungen Manu, den er für einen Studenten
aus Göttingen hielt, er lud ihn mit herablassen
der Miene zum Mittagessen ein, und man ging
gemeinschaftlich in den Speisesaal. Dort ent
hüllte es sich denn bald, daß der interessante
Sprecher allerdings ein Student aus Göttingen
war, aber den vornehmen Namen Wilhelm von
Humboldt trug.
Es ist bekannt, daß er dainals und auch
später ein sehr unschönes Aeußere besaß, im
besten Frack sah er aus wie ein Schneiderlcin,
grau, klein, dünn und linkisch, wie mußte er erst
im schlechten Reiseanzug sich ausnehmen! Aber
er machte doch einen schönen Eindruck auf das
junge Mädchen durch die klare Ruhe seines
Wesens und die geistige Wirkung seiner Worte.
Nach einem halben Jahrhundert erinnerte sie
sich noch an die „geheiligten Empfindungen", die
er in ihr erregt hatte.
Drei glückliche Tage eines freien, unbeschäf
tigten Badelebens, in dem man stets die drei
doppelte Stundenzahl anderer Tage besitzt,
flössen den beiden jungen Leuten wie ein ange
nehmer Traum dahin. Humboldt schrieb nach
damaliger Sitt- eine pathetisch-sentimentale Sen
tenz in Charlottens Stammbuch, reiste aber ab,
ohne eine Wort von Liebe zu sagen, obwohl sein
ganzes Wesen durchglüht schien von ihrem seeli
schen Liebreiz. Sie selbst fühlte sich unendlich
bereichert und hing noch mehr als früher ihren
schwärmerischen Empfindungen nach; sie war zu
bescheiden, zu demüthig und ächt weiblich zurück
haltend, um Hoffnung auf eine nähere Verbind
ung mit dem vornehmen, geistig bedeutenden
Jüngling zu hegen, in welchem ihr liebevoller
Scharfblick schon den einst berühmten Mann er
kannt hatte. - Sie verschloß „die vorüber ge
gangene schöne Erscheinung in das Allerheiligste
ihres Innern und sprach nie darüber, sicherte
dieselbe auf diese Weise vor Entweihung durch
fremde Berührung", wie sie später geschrieben hat.
Diese Begegnung fand am 16. Juli 1788
statt. Humboldt hatte versprochen, im Herbst
das Heimathsdors von Charlotte Hildebrand zu
besuchen. Er kam aber nicht, sondern verweilte
länger, als er beabsichtigt hatte, in Pempelfort
bei Düsseldorf, wo Jacobi damals alle großen
Geister so gern festhielt.
Wie mag das junge Mädchen sehnsüchtig ans
den verheißenen Besuch geharrt habin: cinjni»
wandelte sie bei Mondenschein im Garten des
Pfarrhauses, wo Rosen und Kartoffeln idyllisch
zusammen blühten, dann las sie beim Schlafen
gehen wie ein Gebet ihr geliebtes Stammbuch-
blättchen durch, auf welches Wilhelm von Hum
boldt schrieb:
„Gefühl fürs Wahre, Gute und Schöne adelt
die Seele und beseligt das Herz, aber was ist
es selbst dieses Gefühl, ohne eine mitempfindende
Seele, mit der man es theilen kann!"
Aber diese „mitempfindende Seele" blieb aus;
statt dessen kam ein unwillkommener Freier.
Wie mancher Mädchentraum wird durch einen
solchen zerstört!
Sie hatte in Rinteln im Hause ihrer Jugend
freundin einen Doktor Diede aus Kassel kennen
gelernt und sich mit ihm verlobt, ohne die Zu
stimmung ihrer Eltern zu haben. Welche Be
weggründe sie, obwohl auch sie den Doctor nicht
liebte, zu der Heirath veranlaßt haben, ist nicht
zu ermitteln gewesen. Sie selbst spricht in
ihren Briefen an Humboldt in folgender melan
cholischer Weise von diesem Ereigniß:
„Ich wurde verheirathet im Frühling 1789,
lebte nur fünf Jahre in dieser kinderlosen Ehe
und ging keine zweite ein." Daß sie verheirachet
wurde, spricht doch nicht für ihren freien Ent-