„Bitte, Herr Doktor cs thut mir leid —
allem ich ersuche Sie, mein Lokal augenblicklich
zu verlassen."
Der Doktor fuhr auf, schnitt eine fürchterliche
Grimasse, sah sich den Rentmeister abschied-
uehmend noch einmal voller Bcrachtnng von
oben bis unten an »nd verliest dann das Zimmer,
um es nie wieder zu betreten.
Wohl erhoben sich spater Stimmen, welche
von dem herzlosen Wesen des Rentmeisters gegen
die Mutter erziiblten itnd des Doktors Betragen
zu rechtfertigen suchten. Allein man konnte das
Gewöhnliche jener Scene nicht überwinden, und
der Rentmeister war zu sehr |»<-r*<>»<> «'rat», als
daß man ihn um seiner intimsten Privatan
gelegenheiten willen fallen gelassen hätte.
Selbst bis in diese kleinen Kreise hinein,
macht sich die Erfahrung geltend, daß die „öffent
liche Meinung" einen Berstvst gegen die äußere
Form weit strenger ahndet, als ein wirkliches
Bergehen gegen Gesetze der Religion nnd des
Herzens. Ein Mann, der ein vertrauendes
Mädchen ruinirte, ist vor wie nach ein gern ge
sehener Gesellschafter: ein Bruder, der mit
seinem Bruder in tödtlicher Feindschaft lebt, ist
deshalb doch vollständig salonfähig; eine Frau,
welche als schlechte Gattin und Mutter bekannt
ist, wird gefeiert — aber cm Mensch, welcher
die Wahrheit sagt, macht sim unmöglich, streicht
von unten herauf über das Gesicht der Leute! —
Reden ist nicht, wie Schiller naiv behauptet,
Silber, — nein, es ist Dynamit.
Der Doktor trug leicht an der Bcrachtnug
seiner früheren Tischgeuosscn. Fm Grunde that
ihm der Berlust des guten Tisches mehr leid, als
der der Tischgenossen, denn er war gastronomischen
Genüssen durchaus nicht abhold. Aber es ist
für einen Menschen niemals gut, wenn er auf
irgend eine Weise Einlaß verliert zu den Kreisen,
in welche er nach Geburt und Lebensstellung
eigentlich gehört. Wäre er auch der llnbc-
küminertste: eine leise Bitterkeit schleicht sich bei
ihm ein, eine wenn auch unbewußte Empfindung
des Berlassenseins.
Bei dem Doktor freilich fand dieses Gefühl,
wenn cs sich auch regte, wenig Zeit zur Aus
bildung. Denn seine Landpraxis war in der
That eine ausgebreitete; und wenn er Abends
heim kam, blies er das Waldhorn.
Der Rentmeister war einige Wochen nach dem
oben beschriebenen Borfalle ausgezogen: sonder
bar, selbst das stumme Fenster des Doktors
gegenüber war ihm unangenehm, selbst der kleine
Ami, der gewöhnlich auf dem Blumenbrettc saß,
schien höhnisch zu fragen: „Wer war doch die
alte Bauersfrau?" Man hatte im Anfang davon
geredet, daß er sich nothwendig mit dein Doktor
dnelliren müsse; allein dieser Skandal blieb den
Bewohnern des Städtchens vorenthalten. Der
Rentmeister sagte mit wichtiger, überlcgsamer
Miene: „Ein Duell läuft meinen Grundsätzen
zuwider, nnd daun, meine Herren, würde cs ent
schieden ein ungleicher Kampf sein. Ich hätte
der Ratnr der Sache gemäß den ersten Schuß
und würde den armen, dicken Doktor iu>I<>n8
volejis niederstrecken."
Es ist seltsain, wie wenig die Welt an die
Möglichkeit glaubt, daß gewisse Leute sterben
könnten. Besonders Figuren, welche gewisser
maßen Wahrzeichen der Stadt sind, deren Karrikatnr
jeder Schuljunge auf die Tafel zeichnet, traut
man eine derartige Extravaganz nicht zu ; man
erwartet unwillkürlich, daß sie schon bei Lebzeiten
die Unvergänglichkeit des Driginelten erweisen.
So kümmerte man sich auch wenig daruin,
als es nach Fahr und Tag hieß, Doktor Naso
liege schwer krank. Das Erstaunen war nicht
gering, als die Nachricht von seinem Tode sich
verbreitete. Es trauerte Niemand um ihn, als
der gehätschelte „Ami" und der „kleine Kourad",
welcher inzwischen zu einer ganz ansehnlichen
Länge emporgeschossen war und soviel von de»
„schönen Gefühlen" besaß, daß er eine ganze
Stunde lang heulend neben der leblosen Hülle
des Doktors blieb.
Wenn Dr. Nasv's Leben reich gewesen an
beabsichtigter und iinfreiwilligcr Komik, so war
sein letzter Willen ein passender Abschluß des
Stückes. Das gerichtlich beglaubigte Testament
lautete wie folgt:
„lieber mein Berniögcn kann ich frei ver
fügen wie ein Kurfürscht; denn meine Anver
wandten sind alle reiche Leute nnd wollen Nichts
von mir. Ich vermache Alles dem Ami, den
Ami aber dem Kvnrad und für das Geld soll
der Konrad ein ordentliches Handwerk lernen
nnd den Ami in Ehren hallen, als wenn er ein
Kurfürscht wär', und übrigens soll der Kvnrad das
Blasen auf dem Waldhorn nicht liegen lassen.
Denn ein Bißchen Musik gehört zn einem
ordentlichen Kerl. Für meine Seele wird er
schon von selbst beten. Der Rentiiicistcr soll zn
meinem Begräbnis; nicht zugelassen werden.
Amen. Dr. Balthasar Kroll."