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strebte. Sie konnten nur ans Versehen an ihre
Stelle gelangt sein.
Wenn Dr. Naso irgend einer mit zu langen
Beinen versehenen Pcisönlichkcil begegnete, ver
fehlte er selten, seinen Lieblingswitz anzubringen,
„Heda, Sie Dieb, Sie sind ja mit nieinen Unter
thanen durchgegangen."
Das berühmteste an dem Manne aber war
seine Nase. Sie war lang, dick, „Kladeradatsch"-
ühnlich gebogen und von einer Röche, welche an
den weit geöffneten Nasenflügeln eine Färbung
des intensivsten Violetts annahm. Fügen wir
hinzu, daß seine runden, wässerigen Augen durch
eine Hornbrille ältester Herkunft geschützt wurden,
daß seine mächtige Glatze ohne Unterschied der
Saison von einer tief über die Ohren nieder
gehenden Pelzmütze verhüllt ward, daß sein
Körper seit mehr als zwölf Jahren in demselben
Habit steckte, dessen Farbe aus begreiflichen
Gründen unbestimmt geworden, und daß ein auf
dem Rücken geknoteter, blau und grün gestreifter
Shawl die Toillcte vervollständigte, — so haben
wir ein ungefähres Bild des Mannes, dessen
Namen an der Spitze unserer Erzählung steht.
Doch wir dürfen bei seiner Charakterisirung ein
besonderes Merkmal unmöglich vergessen, sein
Verhältniß zu seinem kleinen Wachtelhunde und
zu seiner Stummelpfeife. Wir glauben nicht, daß
Dr. Naso sich zur Zeit, da wir seine Bekannt
schaft machten, schon jemals darüber Rechenschaft
abgelegt, welcher von beiden Gegenständen ihm
der unentbehrlichste sei, seine „Alte" oder sein
„Ami".
Dr. Naso's Wohnung war im Grunde ge
nommen die einzige Umgebung, welche geeignet
schien, die Eigenthümlichkeiten seiner Erscheinung
in's rechte Licht zu setzen; wenn er auf der
Straße ging, war er nur ein aus seinem Nahmen
getretenes Bild.
Was der „Kleinen Stadt" ihre besondere Phy
siognomie verleiht, ist der Umstand, daß sie
keine fashionabelu Theile hat. Die Kastenabstuf
ung, wie llnangenehm sie sich auch in den engen
Verhältnissen kleinstädtischer Gesellschaftskreise >
geltend macht, hat Nichts zu schaffen mit der
Vertheilung des Raumes; die Lebenslust bleibt
Allen gleich zugemessen. Da gibt es nicht
Straßen, in welchen nur die elegante Welt sich
bewegt; alle Schichten sind gleichmäßig vertheilt,
überall finden sich ebenjoviele und mehr Gestal
ten aus den mittleren und untersten Klassen wie
Schablonen-Figuren der „guten Gesellschaft."
Man hat gesagt, daß unser Jahrhundert das
des Charakters sei, und doch scheint es, als
ginge eine gleichmachende, verflachende Walze
über unser Geschlecht. Eine mächtige Stimme,
welche man „guten Ton" nennt, ruft uns
warnend zu: „Charakter-Eigenschaften gehören zu
den unberechtigten Eigenthümlichkeiten." Diese
mächtig hallende, das Geräusch des Lebens in
der guten Gesellschaft zum Geflüster herabdrückende
Stimme aber dringt nicht in die bergumschlossene
Einsamkeit der Kleinstadt. Dort gedeihen noch
die Menschen in ihrer Eigenart, unveredelt,
knorrig, mit starrer Zähigkeit an der Scholle
haftend, eigensinnig das Nene als verderblich be
trachtend, alle Verbesserungen mißtrauisch ab
weisend.
Die Wände der Häuser in der kleinen Stadt
haben eine gewisse Durchsichtigkeit und ob auch
hier wie überall sonst die Menschenherzen Ab
gründe und unentdeckte Strecken bieten, liegt doch
das äußere Schicksal klar vor Jedermanns Auge.
Wenn der Kleinstädter neugierig ist und scharf
im Urtheil, wenn er sich mit Vorliebe anmaßt,
über Dinge zu richten, von denen er nichts ver
steht, so treibt doch auch wieder bei ihm die
thätige Barmherzigkeit, welche persöhnlich ihre,
schönsten Blüthen, die helfende Hand ausstreckt.
Die Noth seiner Nachbarn ist ihm nahegerückt;
die Häuser hocken enge aufeinander, haben selten
mehr als drei Stockwerke; der Schrei des Elendes
aus dem dritten kann nicht ungehört bleiben
Auch schleppt der Mittelstock seinen Jammer nicht
auf den Hintertreppen empor; dieselbe Stufe
dient oft ihm und dem gesegneteren Bruder.
Die Hütten der Aermsten sind nicht meilenweit
von den Häusern der Wohlhabenden entfernt.
Nur freiwillig Blinde können von seiner Noth
kein Bild in sich aufnehmen. Aus den Häusern
drängt das Familienleben sich auf die Straße ;
inan sieht den Schneider, den Schuster, den
Sattler in der offenen Thüre seinem Handwerk
obliege», inan erblickt die Waschfrauen am Becken
des großen altinodischen Stadtbrunnens, und die
Töchter der Bürger sitzen auf dein steinernen
Brückengeländer oder auf den Stufeii vor der
väterlichen Hausthür und stricken, sticke», flicken.
Die Tagesneuigkeiten fliegen von Hans zu Haus
über die enge Gasse hin; kein Fremder kommt
znm Thor herein, ohne bemerkt und besprochen
zu werden. Man sieht die Tugenden und Laster
der Leute in nächster Nähe und wird ihre Sonder
lichkeiten gewahr, fast ohne daß man sie beobachtet.
Dieses mag als Entschuldigung dienen, wenn
Jemand behaupten wollte, wir Hütten uns in das
prosaische Dasein eines plebejischen und nicht
ganz nach der Etiquette gekleideten Mannes, wie
es Dr. Naso nun einmal war, allzusehr vertieft.
(Fortsetzung folgt.)