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Aus dem Leben Doktor Uujo s.
Kleinstädtisches Ccbcns
^Vetnc Praxis war eine sehr ausgedehnte, in
Anbetracht der Entfernung der kleinen
Dörfer von einander. Freilich, wenn er
des Morgens auf seinem baufällige»,
regenverwaschenen Berner Wägelchen die
Chaussee entlang gerumpelt kam, sah man ihm
nicht an, daß seine Minuten einen besonderen
Werth für die Mitwelt hatten. Uebrigens hätte
sein altes „Heupferd" auf keinen Fall einer
schnelleren Art der Fortbewegung sich anbequemt.
Nichts destoweniger setzte Dr. Balthasar
Kroll vulgo Dr. Naso — (manche Leute werden
ihre „Studentennamen" durch ein Leben nicht
losi — großen Stolz ans seine „Equipage."
Irgend ein Fußgänger, elegant oder schäbig,
männlichen oder weiblichen Geschlechtes brauchte
ihm auf seinem Wege in eines der Dörfer nur
zu begegnen, dann hielt er an und rief in seiner
breiten, näselnden Manier: „Hören Sie, wollen
Sie hinten aufsitzen? Ich hab' noch eine Pferde
decke. M'r fährt drauf wie en Kurfürscht."
Manches Kind moderner Kultur, daran gewöhnt,
allzu herzliche Einladungen als Zudringlichkeiten
zu ignoriren, hatte ihn schon erstaunt angesehen und >
war achselzuckend weitergegangen, damit den
besten Theil erwählend, denn mit dem „Fahren
wie ein Kurfürscht" hatte es seine eigene Be-
wandtniß. Dr. Naso's Wagen wiegte sich nicht
in Federn, der stolperte schlecht und recht über
Stock und Stein und an der Pferdedecke war
im Laufe der Jahre nur noch wenig Wolle ge
blieben, so daß sie das rohe Tannenbrett nicht
mit schwellenden Polstern versah. Wenn der
von Dr. Naso so liebenswürdig eingeladene
Fahrgast auf seinem Sitze hoch emporschnellte
und ebenso rücksichtslos wieder niedergeschlendert
ward, dann sagte er, sein rothes Gesicht vom
Kutschersitz nach dem Wagen hinwendend: „Das z
stärkt die Rückenmarksnerve»! „Dabei legte er
den Peitschenstiel an denjenigen Theil seines
Gesichtes, welcher ihm seinen Spitznamen zu
gezogen hatte, eine Pantomine, die, mehr noch
mit dem Zeigefinger ausgeführt, eigentlich »och
an Ausdruck gewinnt und vdn Alters her ge
eignet schien, den Philosophen und Denkern zu
dienen.
Die kleine hessische Kreisstadt, in welcher
Dr. Naso praktizirte, besaß außer ihm noch zwei
Aerzte, welche einer neuen Aera angehörten und
durch ihre Ansiedelung den alten auf längst verjährtem
Standpunkt fußenden Amtsgenossen in den
bild von M. Herbert.
aufgeklärteil Regionen des Ortes gänzlich un
möglich geiiiacht hatten.
„Seine Mittel", so sagte man, „sind im besten
Falle unschädlich." Dr. Naso jedoch bewies sich
selbst ans der Statistik, daß die Sterblichkeit
seit dem Aufgang der neuen Lichter weder ab-
uoch zugenommen. Er gab zu, daß man Wege
gefunden, einzelne Operationen mit geringeren
Schmerzen für den Patienten abzumachen; aber
er sah die Nützlichkeit dieser Erfindungen nicht
ein. Mit souverainer Verachtung blickte er nieder
aus ein Geschlecht, das nicht mehr stark genug
war, feine eigenen natürlichen oder über es
verhängten Schmerzen ganz nnd gar auszukosten,
welches sein Vergessen in Chloroform suchte, den
Schlaf seiner Nächte von Morphium erbettelte
und den Frieden seiner Tage mit Brom-Kali
erkaufte. Der Doktor hatte kein Opium gebraucht,
die überflüssige Wissenschaft zu vergessen, welche
man ihm auf der Universität eingetrichtert.
„Naturgemäß" war seine Parole; was er nicht
mit kalten oder heißen Umschlägen, mit Kamillen
thee oder den traditionellen „gewärmten Küchen
schürzen" heilen konnte, stand ihm fremd und
unheimlich gegenüber. Mit den Apothekern lebte
er seit frühester Jugend auf gespanntem Fuße,
aber wen» er jemals Arzeneien verordnete, dann
zeigten die Medicinflaschen jenen ungeheueren
Umfang, der dem Bedürfniß des gewöhnlichen
Mannes, der mehr auf Quantität als auf Qua
lität vertraut, angepaßt ist. Man erzählte sich
Wunderdinge von der Ursprünglichkeit, mit welcher
er seine Kuren ausführte. Man sprach davon,
daß er einem Bauern einen Finger mit der
Rosenscheere amputirt habe und das Küchenge-
räth seiner Iunggesellenwirthschafl zu den un
glaublichsten Dingen verwende. Leider war
Fama hier vollständig in ihrem Rechte.
Dr. N.iso's äußere Erscheinung schien keines
wegs geeignet, diesen philisterhaft in's Einzelne
gehenden Gerüchten die Spitze abzubrechen. Er
war klein, mit entschiedener Anlage zur Korpu
lenz, die nicht gerade mit gerechtem Maße über
den ganzen Körper vertheilt worden war. Mutter
Natur hatte offenbar andere Absichten mit ihm
gehabt; denn sein starker, wohl entwickelter Ober
körper saß auf kurzen, dünnen Beinen, deren
Richtung auch noch in sofern auseinander ging,
als das eine sich bemühte, ein „O" zu bilden,
während das andere der Hälfte eines „X" zu-