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Dann harrte sie aus neben ihm, bis er eingeschlafen
war.
In ihrem einsamen Stübchen blieb sie noch
lange wach. Die groben Hände um die Kniee
gefaltet, den grauen Kopf an die getünchte Wand
gelehnt, dachte sie an die Vergangenheit - zurück.
Sechszig heilige Abende lagen hinter ihr — manche
dunkel und öde, wie es die Dürre der Einsamkeit
mit sich bringt, andere lichterbeglänzt wie der
heutige. Die Erinnerung an die Weihnachts-
Abende, welche sie dem Knaben bereitet, der nun
zum Manne gereift, stieg in ihr auf. Da war
auch Jubel gewesen und Händeklatschen und
Freude. Da war Dank gewesen in ihrer Seele,
der Dank eines halbverschlossenen Herzens, dem
Gott Frühlingstage gibt im Spätherbst . . .
Und nun?
„Wenn er lebt, der Junge," dachte sie „ob er
sich heute daran erinnert? Er hat's freilich
nicht wissen können, wie er mir alles war . . .
Ach Gott, er wird ja wohl gestorben sein — liegt
irgend wo vergraben in der fremden Erde."
Die Thränen stürzen ihr plötzlich aus den
Augen. Hastig stand sie auf und löschte das
Licht. Es war ja nur ein halbes Flämmchen,
aber der Mensch findet sich besser wieder im
Dunkeln. Die alte Botenfrau weinte sich in den
Schlaf. Sie schlief lange in den ersten Feiertag
hinein; denn vom gestrigen Tagewerk her lag
es ihr noch wie Blei in den Gliedern.
Als fie erwachte, läuteten schon die Glocken
von dem Thurme zum ersten Gottesdienst. Drunten
vor der Hausthüre blies der Frieder in seine
Trompete, Bäckers Fritzchen rief seinem Stecken
pferde ein vernehmliches „Hü, hott!" zu und drüben
am Fenster, der Anna-Marte gerade gegenüber,
ließ Handschuhmachers Julchen die neue Puppe
die ersten Gehversuche auf dem Blumenbrett machen.
„Fröhliche Weihnachten!" tönte es hier und dort
von Leuten, die einander begrüßten.
Die Botenfrau stand auf, sich für den Kirch
gang anzukleiden. Eben holte sie den weiten
flanellgefütterten Kattunmantel mit den großen
Blumen aus dem Spinde und setzte vor dem
zersprungenen Spiegel die altmodische Spitzen
haube auf ihren grauen Scheitel, da tönte ein
polternder Schritt auf der Treppe. Knurrend
und scheltend tappte Jemand den dunkeln Vor
gang entlang. „Heda, Hollah! Aufgemacht,
Jungfer Anna-Marte!"
Schmunzelnd stand der Briefträger auf der
Schwelle und hielt ein Packetchen in die Höhe,
ein weitgereistes Packetchen, mit Schnüren um
wunden und mit ausländischen Stempeln bedeckt.
„FröhlicheWeihnachten, Jungfer! Daist etwas,
Euch den Kirchweg schön zu machen!"
Sie setzte sich auf die bunt bemalte Truhe
neben ihrem Bette hin. Einige Minuten lang
lag das Packetchen in ihrem Schooße, ehe fie sich
getraute, cs zu öffnen. Du lieber Heiland! Die
Adresse war ja von der Handschrift, welche sie
so lange gekannt und so oft auf der alten Schiefer
tafel gesehen, die nun vergessen in der Bodeu-
kammer lag. Das war die steife, große Knaben
schrift, auf welche sie stets so stolz gewesen. Sie
löste einen Knoten nach dem andern, damit nur
kein Stückchen Faden verloren gehe, faltete die
Papiere bedächtig aus einander — ja, und da
kam's, das Weihnachtsgeschenk, welches das Christ
kind für die alte Anna-Marte bestimmt: das
Bild eines großen, hübschen Menschen, der treu
herzig in das Gesicht seiner Pflegemutter hinein
lachte — und ein echter, wahrhaftiger Hundert
markschein. Und da war ein Brief dabei, darin
stand, daß er erst etwas Ordentliches habe werden
wollen, ehe er ein Lebenszeichen gegeben. Nun
aber wäre er in einer guten Stelle und werde
jetzt regelmäßig schreiben und der Pflegemutter
Geld schicken, damit sie sich nicht mehr zu plagen
brauche — denn er danke ihr doch alles, und es
sei nicht mehr als recht. Wer Kinder in Sorgen
und mit Noth großgezogen, der könne später
auch beanspruchen, daß sie ihm ein sorgenfreies
Alter schüfen, und wenn der Weihnachtsabend
käme, dann möge sie nur wissen, für sein Leben
gern wäre er bei ihr wie früher.
Die Anna-Marte faltete den Brief zusammen,
besah noch ein Mal den Hundertmarkschein, wie
Jemand, der's noch nicht recht glauben kann,
und blieb noch einen Augenblick sitzen, den Kopf
in die Hände stützend.
„Ach mein Gott, mein Gott! Gar zu gut hast
Du's mit mir altem, unnützen Weib gemacht.
Vergib' meine Ungeduld! Du weißt ja, daß ich
von jeher ein heftig Wesen gehabt hab'. Deine
Güte an mir aber soll dem Frieder auch seinen
Segen bringen. Herr Gott, laß' mich noch ein
Weilchen leben, damit ich Dir zeigen kann, wie
dankbar ich Dir sein will für all' Deine große
Lieb' und Gnad'."
Sie nahm das Gebetbuch, ging die Treppe
hinab und winkte dem Frieder zu: „Leg' deine
Trompete in die Ecke, Junge; wir gehen jetzt in
die Kirche, dem Christkind zu danken, daß es an
uns Beide gedacht hat. . . . Geh', sput' dich,
Frieder!"