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suchen wollte, ließ sie ihn mit heimlichen Thränen
und Schmerzen ziehen. Sie machte zum ersten
Male in ihrem.Leben Schulden, um ihm die
Ueberfahrt zu bezahlen. Niemals war der alten
Botin das Wetter so rauh, der Sturm so hart
erschienen, als da sie den Jungen auf der See
wußte. Wie athmete sie auf, als die Nachricht
von der glücklichen Ankunst des Schiffes kam —
aber von dem Jungen brachte die Post kein Wort.
Hatte er sie vergessen, war er leichtsinnig und
schlecht geworden in dem Sodom und Gomorrha da
drüben? Hatte Gott zugelaffen, daß er starb?
Tage, Monate, ein Jahr, zwei Jahre vergingen.
Der Jude fragte nach seinem Gelde, und die
Anna-Marte mußte in ihren alten Tagen mehr
als je rennen und laufen, die Summe abzutragen,
damit sie. wie sie sagte, ihr Todtenhemd in Ehren
tragen könne.
„Man sieht, was dabei herauskommt!" zürnte
die Botenfrau. „Für alle Lieb', alles Wohl
meinen schwarzer Undank! .... Will wenigstens
noch schlau werden, eh's ausgeläutet hat. Daß
du mir keinen Heller ausgibst für den Frieder,
alte Anna-Marte!"
Aber nun führte der Heimweg sie über den
Christmarkt, und obwohl sie mit strammen Schritten
mitten durch das Gedränge ging und weder rechts
noch links auffchauen wollte, so hob's ihr doch
vor einer der letzten Buden die Augen in die
Höhe. Die Leute hatten beinahe ausverkauft;
aber in einer Ecke lehnte noch ein übrig gebliebenes
struppiges Bäumchen, ein einziges Bündelchen
Lichter lag daneben, und an dem gespannten
Bindfaden schaukelte noch eine letzte, blanke gelbe
Kindertrompete. Die Anna-Marte konnte nicht
vorbei — es war, als ob irgend etwas ihr zuriefe:
„In deiner letzten Noth wirst du es noch bereuen,
Anna-Marte, läffest du den Frieder vergeblich
auf sein Christkind warten!" Und da lagen auch
schon die blanken, neu verdienten Groschen vor
dem Verkäufer; die Botenftau hatte eigentlich
gegen ihre Ueberzeugung ein gutes Werk gethan.
Seufzend und über die eigeneSchwächeschimpfend,
belud sie sich mit den erstandenen Schätzen.
Wie sie aber durch die Straßen des Städtchens
nach Hause ging und hier und da den Festtags
jubel hörte und das Jauchzen glücklicher Kinder,
auch wohl das Singen eines Weihnachtsliedes
— da ward's ihr seltsam weich zu Sinn. Es
thut doch^ gut, wenn man im Begriffe ist,
Jemanden eine Freude zu machen . . .
Wie leicht der Alten die Füße wurden! Es
war fast, als hätten die Engel ihr Schwingen
an die Sohlen gebunden, als stände der liebe
Gott hinter ihr und spräche: „Will dir ja auch
barmherzig sein,^du alte, rauhe Seele; bist ja
oft gestolpert und in der Irre gewesen, hast gar
mir selbst zuweilen einen barschen Vorwurf ge
macht. Aber ich will dir's halt nicht zum
Schlimmsten rechnen. Geh' nur hin, Anna-Marte,
und sag' dem Frieder: „Das Christkind vergißt
Keinen! Keinen — hörst du!"
Die heftige, geräuschvolle Anna-Marte, zu
deren ganzem Thun eine Partie Poltern gehörte,
wurde plötzlich bedächtig. Sie schlich durch die
Hofthüre in das alte Haus hinein, ganz leise
— leise. Beim Schimmer der kleinen Laterne
befestigte sie mit ihren harten, groben Händen
Kerze für Kerze auf schwanken Zweigen des
Bäumchens; dann hing sie die Trompete an den
untersten Ast, steckte die Lichter an und schlich
schmunzelnd vor die Thüre des Frieders.
Der arme Junge stand noch immer mit ge
falteten Händen am Fenster; aber sein Köpfchen
war tief herabgesunken. Seine Augen leuchteten
nicht mehr. Er glaubte das Unerhörte sei doch
geschehen, das Christkind habe ihn vergessen! . . .
Da kam das Lichtergefunkel zur Thüre herein, da
stand das Bäumchen vor ihm und die Botin
sagte: „Da schau, Frieder; 's Christkind ist mir
unterwegs begeqnet. 's hat an dich gedacht.
Aber recht brav und fromm sollst du werden
und für deine Mutter beten, die gestorben ist
und die wohl auch heut' den lieben Herrgott ge
beten hat, daß Er dir Lichter bescheert."
Der Frieder fiel auf die Knie, hob seine
Hände auf und sagte: „Du liebes, gutes Christ
kind, ich danke dir auch viele Mal!" Dann
griff er nach der Trompete und begann zu tuten.
Es klang so schön, daß die Anna-Marte die
Augen mit der Schürze trocknete. Freilich bekam
sie kein Dankeswort vom Frieder; sie wartete
auch gar nicht darauf, denn sie hatte ja alles
in Christkindleins Namen gegeben. Sie ging in
ihr Kämmerchen, kochte einen tüchtigen Kaffee
und holte sich dann das bleiche Kind herauf,
das ganz glückselig, reich und freudestrahlend
neben ihr saß und nur von Zeit zu Zeit in die
.Trompete blies.
„Wie sieht denn das Christkind aus, Anna-
Marte?" fragte er zwischendurch.
Die Botin beschrieb's ihm, so gut sie konnte.
„Gerade, wie's in der Kirche auf dem Altar
steht. Es trägt ein weißes Kleidchen, ein goldenes
Krönchen und hat schon sein Kreuzlein im Arm."
Es war der Anna-Marte, als sei sie selbst
wieder ein Kind, dem der Lichterbaum in die
Seele glänzt.
Später als der Sandmann zum Frieder kam,
nahm sie den Kleinen an der Hand, und sanft,
wie eine Mutter es thut, zog sie ihm sein Röckchen
aus und brachte ihn zu Bette. Sie faltete ihm
noch die Hände und hing ihm die Trompete um
den Hals, weil er nicht davon lassen wollte.