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die frischen Christtagsstollen und bunten Weih
nachtsmänner auf einem weißen Tuche lagen,
und auf den Stein kletterte, von welchem aus
die Kunden ihre Waaren verlangten. Auf die
Zehen sich hebend, wollte er Einblick gewinnen
in die elterliche Wohnung, wo das Christkind
seine „Heimlichküche" hatte.
Fritzchen aber hing sich heulend an seine Rock
schöße und schrie: „Dann nimmt das Christkind
alles und trägt's direct in den Himmel hinein
. . . Nicht gucken! Nicht gucken!
Das weinerliche, blasse Julchen des Handschuh
machers, welches sonst vor lauter Zimperlichkeit
nicht bis drei zählen konnte und stets vor den
Gänsen und dem Lilliputhunde des Raseurs auf
der Flucht war, zog den Uebelthäter an seinem
defecten Höschen herab von dem usurpirten Steine
und hielt ihm resolut die beiden mageren Fäuste
entgegen. „Du darfst das Christkind nicht böse
machen, sonst fliegt's fort, auf und davon."
„Wohin denn?" fragte Karl überlegen.
„Aus der Welt —, nach Amerika — oder
zurück in den Himmel."
„Bringt das Christkind euch einen Baum?"
fragte Fritzchen.
Julchen nickte geheimnißvoll: „O, solch' einen
kleinen, wunderhübschen Baum! — cs hat ihn
droben in die Gang-Ecke hingestellt. Der Baum
ist noch nicht einmal so groß als ich — so nied
lich! Und eben jetzt putzt das Christkind ihn
aus. Nach Weihnachten legt es die Zuckersachen
wieder in das rothe Kästchen oben auf dem
Schranke — jetzt steht die Schachtel auf dem
Tisch, und die Engel fädeln die zerbrochenen
Dinge wieder zusammen. Mutter und Vater
dürfen zusehen." So sprach Handschuhmachers
Julchen mit verklärtem Gesicht und einem heiligen
Schauer im Herzen.
Plötzlich hatte Karlchen einen Einfall. Er
warf seine gestrickte Pudelmütze in die Luft und
schrie: „Das Christkind soll leben! Vivat hoch!"
„Vivat hoch!" rief die ganze Gesellschaft wie
aus einem Munde.
In den Jubel hinein tönte die Schelle aus
der Wohnung des Bäckers. Wie schnell Fritz und
Karl jetzt Kehrt machten! Sie rannten das
arme Julchen beinahe über den Haufen, sprangen,
troddelten, stolperten die Treppe hinauf. Aber
an der Thür des Wohnzimniers faßten sie ein
ander an der Hand, legten die kleinen Gesichter
in feierliche Falten und betraten gravitätisch die
Schwelle, über welche das Christkind geflogen.
Die klebrigen drängten in die Hausthür und
sahen ihnen nach. Das Licht des Bäumchens
fiel während eines Augenblickes auf die schwarzen
Dielen des Hausflurs; dann schloß sich der
Spalt.
Wir aber schauen durch das Fenster und sehen
sie Alle mit gefalteten Händen vor der papicrnen
Krippe stehen: den Bäcker und die Bäckerin, den
Lehrling, die schluchzende Magd und die Kinder.
Und wenn auch jeder von ihnen die Melodie des
Liedes anders auffaßt, es klingt doch schön:
Ach, seht in der Krippe
Auf Hm und auf Stroh,
Maria und Joseph betrachten es froh:
In reinlichen Windeln das himmlische Kind,
Viel reiner und holder, als Engel es find.
„Nun muß es bei uns auch bald bimmeln!"
meinte Schusters Trine, indem sie dem Josephchen
auf die wackeligen Beinchen half und es tröstend
bei der Hand nahm. Sie stellte sich in der
Hausthür in Positur; denn ihre Eltern wohnten
im ersten Stock, und die Kinder durften sich,
strenger Verhaltungsmaßregel zufolge, nur auf
gegebenes Zeichen droben blicken lassen.
Handschuhmachers Julchen aber stand unbeweg
lich mitten in der Straße und beobachtete mit
athemloserSpannungdieFenster„ganz am höchsten"
hinter denen ein wunderbares Funkeln und Flim
mern zu entstehen begann. Die kleine, ernsthafte
Person hoffte im Stillen, sie werde Zeugin sein,
wie das Christkind oben aus dem Fenster her
ausflöge mit all' seinen beschwingten Begleitern.
Trine und Josephchen waren schon gerufen —
da fiel ihr ein, auch die Nachbarhäuser zu be
trachten, und sie gewahrte, daß in dem gegen
überliegenden kein Licht brannte. Es war ja
auch natürlich; denn dort wohnte die „Botenfrau",
welche erst noch mit dem Zuge aus der nächsten
großen Stadt zurückkam, und der Straßenkehrer
Herbold, der niemals Abends zu Hause war.
Ob wohl zu dem Frieder des Straßenkehrers auch
das Christkind kam? — Gewiß doch — der
Frieder war ein ordentlicher Junge, treuherzig,
wenn auch schmutzig und verlumpt. Julchen
faltete im Stillen die Hände: „Liebes Christkind
vergiß doch den Frieder nicht!"
In diesem Augenblicke rief die Stimme des
Handschuhmachers von oben: „Julchen, Julchen,
der Christbaum brennt!" Mit einem jubelnden
Aufschrei stürzte das kleine Mädchen vorwärts.
Alles, was die Kinder einander vor der Thüre
erzählt, hatte des Straßenkehrers Frieder, der
am offenen Fenster der dunklen Stube saß, gehört.
Der Frieder war ein schmächtiger, blasser Junge
von acht Jahren, der keine Mutter mehr hatte
— nur einen groben, polternden Vater, welcher
Abends erst spät aus dem Wirthshause zu kommen
pflegte.
Keine Weihnachtsfreude für den Frieder? Er
war ein vergessener, kleiner Kerl, dem Niemand
ein„Huschepferd", noch einePeitsche kaufte oder irgend
etwas anderes. Und doch hätte der Frieder für