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Unter diesen Umstünden wurde sofort ein neuer
Fluchtplan entworfen, der, unsere Einwilligung
vorausgesetzt, auch Hvrnfcck und mich umfassen
sollte. Wir beide aber lehnten ab, und zwar be
stimmte unS hierzu die Einrede der Verjährung,
die uns zur Seite stand, und die Erwägung, daß
wir im schlimmsten Falle doch wohl nur eine
solche Strafe zu gewärtigen haben möchten, die
man immer noch lieber trägt, als daß man sein
Vaterland aufgibt.
Anders stand, die Sache bei Kellner, bei dem
die Einrede der Verjährung höchst fraglich war
und welcher nach meiner Kalkulation immerhin
von Seite des Kriegsgerichtes, dessen verfassungs
widrige Einsetzung und Kompetenz wir vergeblich
anfochten, auf eine Gefängnißstrafe von 20 Jahren
zu rechnen hatte. Eine solche Strafe wäre für
Kellner gleich dem Tode gewesen. Er also mußte
fliehen.
Der Fluchtplan war schon im Herbste 1851
fertig. Die Ausführung verzögerte sich aber
durch die Jnhaftirung eines Militärarztes, der
nicht in's Vertrauen gezogen werden durfte und
leicht in der Lage gewesen wäre, den Plan zu
vereiteln. So kam es, daß Hornfeck und ich
trotz der Verjährung standrechtlich verurtheilt,
unser Prozeß auch in der Revisivnsinstanz durch
geführt und wir beide nach Spangenberg abge
führt wurden, Kellner aber immer noch seinem
Schicksal im Kastell zu Kassel entgegenharrte.
Sein dortiger Aufenthalt hatte sich auch gleich
in den ersten.Wochen arg verschlimmert. Der
Kastell-Kommandant Willius hatte die von mir
geschilderte Begrüßungsscene so gut bemerkt wie
ich und Kellners Frau wiederholte den Gruß auch
an den folgenden Tagen. Sie hatte dann um
die Erlaubniß gebeten, ihren Mann sprechen zu
dürfen, was ihr, wenigstens in den ersten Wochen
der Untersuchung, abgeschlagen wurde. Nicht ohne
stolzen Trotz kam sie dann, ihr Kind auf dem
Arme, in den Kastellhof. Allgemeine Bestürzung!
Die unglückliche Frau stand mitten im Hofe, der
Zelle ihre» Gatten gegenüber, und der kleine
Knabe winkte mit den Händchen und rief: Papa!
Papa! Man forderte sie auf, zu gehen, aber sie
blieb und wurdb schließlich mit Gewalt weggeführt.
Die Folge davon war, daß Kellners Fenster
tnit Blenden versehen wurde. Alles das wüßte
Ich, hatte es mit angesehen, und nun die fort
währende Verzögerung der Flucht! Kann sie
Noch gelingen? Wird sie gelingen?
Da endlich kommt die erste Botschaft zu mir
Auf die Festung. Der Gefreite Linz, der bei
Meinem Spaziergang auf dem Wall als mein
Wächter hinter mir her zu trotteln hatte, raunt:
sie mir am 15. Februar 1852.mit den leise gt*
flüsterten Worten zu: „Wissen Sie schon? Der
Kellner ist durchgegangen."
Einen oder zwei Tage später erhielt ich dann
auch einen Brief meiner Braut, den ich hier
wörtlich mittheilen will:
„Freuen wir uns! Dr. Kellner ist frei. In
der Nacht vom 13. auf den 14. Febr. ist er
mitsammt der Schildwache, mit dem Gardisten
Zinn, geflüchtet. Die Flucht war mit großer
Umsicht vorbereitet und wurde ebenso durchgeführt.
Sämmtliche Telegrapheulinien waren durchschnitten
und es dauerte bis 10 Uhr Vormittags, ehe das
erste Telegramm zu Kellners Verfolgung abgehe»
konnte. Das Abschneiden der Leitungen war
eine schwere Arbeit gewesen. Nach dem unter
irdischen Draht z. B., der nach Berlin geht, war
sieben Nächte lang vergeblich gesucht worden. Ich
hoffe, die Geflüchteten sind bereits in Sicherheit.
Aber trotz dieser Freudenbotschaft, die mir meinen
Geburtstag verherrlicht, sieht's in der Welt gar
schrecklich aus"
Ei» späterer Brief meiner Braut (natürlich
kamen alle diese Briefe nur auf verbotenem Wege
zu mir) erzählt weiter: „Das kriegsgerichtliche
Erkenntniß gegen Keller lautet auf 35 Jahre.
Warum nicht gleich auf 50, nicht gleich auf 100
Jahre? Die Anklage beschMdigt ihn der Ver
gehen schwerer Majestätsbeleidigung und des ver
suchten Hochverraths."
Ueber die Flucht wurde mir dann weiter be
richtet : „Kellner hat mit seinem Retter Zinn und
seinem Schwager glücklich das gastliche England
erreicht. Zur Ausführung der Flucht war eine
Nacht gewählt, in welcher sich Kommandant
WilliuS außerhalb des Kastells auf einem Offizicrs-
kränzchen befand. Gardist Zinn hatte damals
die Wache am Frankfurter Thor beziehen sollen,
war aber durch Tausch in's Kastell gekommen.
Dort zeigt er seinen Kameraden einen großen
Thaler, sagt, es sei sein Geburtstag heute und
er wolle Etwas drauf gehn lassen. Er läßt dann
Verschiedene- zum Essen holen und schafft einen
Krug voll Schnaps herbei, der mit einem starken
Schlaftrunk vermischt war. Es wird dann macker
drauf losgezecht. Bei der Ablösung um 10 Uhr
Abends kommt Zinn vor Kellner- Thüre. Diese
wird geöffnet, dem Gefangenen ein Soldaten
mantel angezogen und eine Pickelhaube aufgesetzt.
So führt ihn Zinn dem schlaftrunkenen Posten
vorbei, der im Kastellhof steht. Von da gehen
Beide auf den Wall. Dort wird an einem
Cirenenbusch ein Strick befestigt. An diesem
läßt sich Kellner in einen Kahn hinab, der hier
seiner auf der Fulda wartet. Am jenseitigen