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der er mich dabei anglitzcrte, hatte etwas merk
würdig Erweckliches. Es dauerte gar nicht lange,
da hatte ich die Geschichte vom Julian und der
Engclburg wieder vollständig im Sinn. Hier ist
sie, und wenn sie dem einen vder dem andern
lückenhaft, ungereimt oder unwahrscheinlich
vorkommt, so versetze er sich im Geist an ein ihm
wohlbekanntes fließendes Gewässer und lasse sich
von dem das beste Lied dazu singen, das er je
von ihm gehört hat. Dann werden alle Lücken
vergehen, alle Ungereimtheiten und Unwahr
scheinlichkeiten verschwinden, er wird hören, wie
ich hörte, glauben, wie ich glaubte und vielleicht
auch, und das wäre eine große Freude für mich,
wenn die Geschichte zu Ende ist, bewegt sein, wie
ich bewegt war, als ich durch die Wiesen des
Herrengrundes davon wanderte, weltwärts, der
Poststraße, dem Eisenbahugeleise, den Telegraphen
drähten zu. —
Der Julian und die Engelburg waren natürlich
ein Liebespaar. Aber sie waren nicht eins von
denen, die der Sturm zusammenwirbelt, ihn vom
hohen Norden herunter, sie von: sonnigen Süden
herauf, und auch nicht eins von denen, an welchen
die ganze Verwandtschaft, ja das ganze Dorf
seine Lust sieht, sie kannten sich vielmehr von
frühester Jugend auf, und weit und breit war
nicht ein Mensch, der ihnen Glück zu ihrem
Herzensbund gewünscht hätte. Das kam daher.
Der Julian war der älteste Sohn des tief
verschuldeten Herrenmüllers und als solcher moralisch
verpflichtet, ein reiches Mädchen zu heirathen, und
die Engelburg war die jüngste Schwester eines
armen Kleinbauern und hatte weniger Eigenes als
eine Magd. Denn eine Magd kann fordern und
wenn nicht anders mit gerichtlicher Hülfe zum
Lohn für ihre Arbeit kommen, sie kannte ihres
Bruders Geldnoth zu genau, uni ihm etwas ab
verlangen zu können, sie liebte seine Kinder zu
sehr, um sie noch ärmer zu machen als sie schon
waren. Und daß sie trotzdem nicht von dem
Julian ließ und daß trotzdem der Julian nach
keinem Mädchen fragte als nach ihr, das ärgerte
alle, die den Herrenmüller kannten und alle, die
es gut mit der schönen Eugelburg meinten. Aergerte
in Folge dessen die ganze Gegend, denn in der
ganzen Gegend war Niemand, der nicht ein Lied
von den Schulden des Herrenmüllers zu singen
gewußt, Niemand, der der schönen Engelburg etwas
Böses gegönnt hätte. Aber was half alles Aergern,
alles Warnen, alles Rathen? Der König selber
hätte kommen und sagen dürfen: Das Wohl des
Landes verlangt, daß ihr euch nicht länger gut
seid, es wäre ihnen nicht möglich gewesen, sich
anders als freundlich anzusehen. Es war ja auch
gar nicht anders denkbar, als daß sie sich lieb
hatten.
Als der Julian fein erstes Mühlrädchen ge
schnitzelt und in deu Bach gesetzt hatte, wer war
da mit ihm bemüht gewesen, einen kleinen Damm
zu errichten, damit das Wasser das kleine Machwerk
nicht fortreiße? Die kaum sechsjährige Engelburg.
Und als die Engelburg zum ersten Mal mit iu's
Kornschneiden mußte, wer war es da, der ihr
die Sichel kunstgerecht schürfte? Der Julian.
Solche erste Dienste vergessen sich nicht, auch wenn
der, welcher sie leistet, alles andere eher als
begehrenswerth ist; wie sollten sie da vergessen
werden, wenn sie ein schlankes Mädchen mit nuß
braunem, krausem Haar »ud lachenden blauen
Augen, vder wenn sie ein Jüngling erweist, der
alle andern Burschen des Dorfes an Körperkraft
und trotzigem Muth überragt? Auch waren diese
Dienste nicht die einzige Verbindung geblieben,
welche zwischen den beiden bestand, cs war kein
Fastnacht-, kein Kirmeßtanz gewesen, von der Zeit
an, wo Eugelburg tanzsähig war, an dem nicht
der eine oder andere Fremde die Frage gestellt
hätte: „Wer ist denn jenes Paar dort im Saal?
Das sieht ja aus wie aus einem Stück gedrechselt",
und ihm darauf der Bescheid geworden wäre:
„Das ist Herrenmüllers Julian und die Eugelburg
vom Mauerhof. Die zwei thun, als wäre Niemand
wie sie unter der Linde, aber heirathen können
sie sich in Ewigkeit nicht."
In Ewigkeit nicht! Warum begriffen die zwei
nur nicht, so lange es noch Zeit war, daß dies
Wort kein leerer Schall, daß es vielmehr von
bitterernster Bedeutung für sie war? Warum
drückten sie nur die Flamme ihrer Liebe nicht
aus, als sie noch auszudrücken war? Es wäre
ihnen vielleicht doch noch möglich gewesen, voll
einander zu lassen, damals, als der Herrenmüller
zum ersten Mal sagte: „Julian, bilde Dir nicht
ein, daß Du die Eugelburg zur Frau nehmen
könntest, die mit ihren drei Batzen kann uns nicht
aus der Noth reißen", und als der Mauerhofer
zum ersten Mal warnend den Finger erhob:
„Engclburg, Du bist doch sonst so gescheit, wie
bringst Du es fertig, den Julian zu Deinem
Schatz zu machen? Er inuß Dich ja sitzen lassen,
der lumpige Müllerssohn!"
Aber da lachten sie beide bloß: „Wir denken
ja gar nicht an's Heirathen!" und trafen sich
Abends am Mühlbach, eigentlich nur, um sich zu
sehen und ein wenig zu necken.
Nun hatte es keine rechte Art mehr mit dem
Scheiden. Nun mußten niit ihrem Liebesband
auch ihre Herzen in Stücke reißen. Denn der
Tag, welcher sie unerbittlich von einander trennte,