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An einem klaren Junimorgen saß Agnese in
der Halle, beschäftigt ein Hemdlein für Klein-
Tankmar zu nähen. Neben ihr im hochlehnigen
Armsessel schlief der kleine Mann, erschöpft vom
fröhlichen Herumtollen mit seinen beiden Schwestern,
welche jetzt, als gesittete kleine Burgfräulein, durch
Großmama den ersten Unterricht im Stricken
empfingen. Selbst in dem kühlen Raume machte
sich die drückende Wärme des Tages fühlbar.
Agnese nahm die schwere Wittwenhaube mit der
Schneppe vom Kopfe, weich legte sich ihr volles
dunkles Haar um die weiße Stirn. Sie erhob
das Haupt beim Eintritt ihres Schwagers, der
wie betroffen an der Thür stehen blieb.
Sie deutete schweigend auf das schlafende Kind,
Eckebrecht kam heran und setzte sich ihr gegenüber,
ein daliegendes Zeitungsblatt zur Hand nehmend.
Der Inhalt fesselte den Leser offenbar nicht, denn
wieder und wieder schweiften seine Blicke zu der
Frau hinüber, die ihm heute dem Leben zurück
gewonnen erschien.
„Agnese," sagte er plötzlich, „ich will das un
natürliche Band der Ehe, das mich an Alice
kettet, lösen."
Erschreckt fuhr die Angeredete empor, sich mit
der Hand auf den Tisch stützend, blickte sie ihr
Gegenüber mit großen, entsetzten Augen an.
„Das willst Du Dir, Deinen Kindern, Deiner
Mutter und Eurem tadellosen Namen anthun?"
„Ich gebe in dieser Frage nur einer Stimme
Gehör, Agnese, und diese redet durch Deinen
Mund."
„Wohl," entgegnete sie, schon gefaßter, „was
wolltest Du Deinen Kindern erwidern, wenn sie
nach ihrer Mutter fragen, welch' giftigen Zweifel
würdest Du in ihre jungen Herzen senken! In
der Reihe unserer Ahnen würde man auf das
Bild der schönen Frau im Goldhaar zeigen und
auf das Deine, und mit Achselzucken geschieden'
flüstern. Niminer würde Tankmar seine Zu
stimmung zu solchem Schritt gegeben haben, deß
bin ich gewiß."
„Aber Du, Agnese?"
„Ich? Du würdest mir damit den Wirkungs
kreis nehmen, der mich beglückt. Du mußt Dir
selbst sagen, daß meines Bleibens in Deinem
Hause nicht sein kann, sobald Du einen Schritt
zur Einleitung der Scheidung thust."
„Aber Du würdest dahin zurückkehren als
Herrin," forschte er, gespannt seinen Blick auf
den Ausdruck ihrer Züge richtend.
„Niemals", antwortete sie bestimmt und ruhig.
„Du beleidigst mich mit solcher Frage, wo noch
der Trauerschild für meinen Gatten über dem
Portal hängt."
„Die Verhandlungen werden eine gerauine
Zeit in Anspruch nehmen, die berechtigten Zeichen
äußerer Trauer werden längst von diesem Hause
herabgenommen sein, bis ich Dich fragen dürfte,
ob Du wieder hineinziehen willst. Kannst Du
denn nicht in Deinem Herzen die Erinnerung
an die Gefühle unserer Jugend auferwecken,
Agnese, liebe kleine Agnese?"
„Nein, Eckebrecht, sie sind zertreten, gestorben,
aus ihrem Grabe entstand die reine, unsterbliche
Liebe, die auch der Tod nicht scheiden kann. Und
wäre es anders, ich könnte doch nimmer gut
heißen, was gegen Gottes Gebot streitet."
„Das Gesetz giebt dem Manne die Freiheit
zurück, den seine Frau böswillig verläßt."
„Das Gesetz in unseren! Herzen, das Gewissen,
urtheilt anders. Was hast Du gethan, um
Deiner Frau Liebe zurückzugewinnen und ihr
den Weg zur Wiederkehr zu ebnen?"
„Alice hat, was sie wünschte, die Abwechselung
und die Genüsse einer großen Stadt, sie bedarf
unserer nicht zu ihrem Glücke."
„Du thust ihr Unrecht. Weil sie keinen anderen
Vertrauten hier fand, bat sie Jlsabe um Nach
richt von den Kindern. Du gehst in allen Dingen
von Dir selbst aus und beurtheilst auch Andere
so, wie es in Deinem Interesse liegt. Durch die
Raschheit und Ungleichmäßigkeit Deines Wesens
hast Du auch in Deiner Ehe viel verdorben,
suche es wieder gut zu machen. Wie Fingerzeige
Gottes kamen Euch die äußeren Umstände ent
gegen. O, wenn Tankmar's stummer Mund
reden könnte!"
Bei Nennung seines Namens erwachte Klein-
Tankmar. Noch schlaftrunken die Aermchen aus
streckend sagte er: „Tante Annete, Tankmar will
artig sein, damit die liebe Mama kommt, für
die ich alle Abend bete: Ich bin klein, mein
Herz ist rein."
Die Händchen in einander faltend, blickte der
Knabe zu seinem irdischen Vater auf, als stände
bei diesem die Erfüllung aller seiner Wünsche.
Eckebrecht schloß den Knaben stürmisch in seine
Arme; sein erregtes Gemüth bedurfte einer Ab
leitung. Liebkosend strich das Kind über des
Vaters Wange und frug: „Kommt sie bald, die
schöne Mama?" Agnese wartete Eckebrecht's
Antwort nicht ab, geräuschlos verließ sie den
Raum. —
Beim Mittagessen sagte die Wittwe: „Ich
habe mich entschlossen, nach Ablauf des Trauer
jahres Münikerode zu beziehen. Es ist verkehrt,
dort unter der Obhut fremder Menschen die
alten Unordnungen einreißen zu lassen,"
„Ich kann Dir nur Recht geben, meine Tochter,"