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des Wohlwollens. Es gewann den Anschein, als
wäre alles im alten Geleise, weil ein jeder sein
Leid vor dem andern verheimlichte. Tankmar
saß wieder viel über den Büchern, seine Ge
sundheit litt ersichtlich unter dem verborgenen
Gram. Frau von Münikervdc sah ihn mit Leid
wesen dem alten Trübsinn verfallen.
Die Urheberin all' dieses Leids, Agnese von
Loßberg empfand für den Augenblick nicht minder
den Druck dieser Verhältnisse. Sie aber wähnte,
Hinausblicken zu dürfen in eine freudige Zukunft.
Durch Eckebrecht's letzten Brief mit der Friedens
botschaft, der im Frühling 1783 eintraf, wehte
ein warmer Hauch, ihn umschmeichelte gleichsam
Heimathluft. Aus ihm sprach des jugendlichen
Eckebrecht leicht erregtes, überströmendes Gefühl.
Nach seinen Lieben in Welsen breitete er die
Arme aus und äußerte unverhohlen seine Freude,
auch Agnese dort zu finden. Weitere Mittheilungen
verschob er auf das „will's Gott, nahe Wieder
sehen".
Diese dem jungen Oberst in greifbarer Nähe
vorschwebende Rückkehr sollte indessen noch uin
ein volles Jahr verzögert werden, eine Zeit voll
Harrens und Bangens, ohne die Erleichterung
gegenseitiger Mittheilung.
Endlich, als wieder die Staare auf den
blühenden Obstbäumen die schillernden Flügel im
Sonnenlicht bewegten, kam ein Bote, von Herrn
von Loßberg entsandt. Er brachte die Mittheilung:
„Ich habe Schwager Eckebrecht auf dem Durch
marsch nach Marburg frisch und gesund hier
gesprochen. Sobald er es irgend ermöglichen
kann, wird er heim kommen."
Freudig, jedoch mit Seelenruhe sahe« Mutter
und Bruder dem Wiedersehen nach langer
Trennung entgegen, alle Gefahren lagen ja nun
hinter dem Zurückgekehrten. Gott hatte Flügel
über ihn gebreitet. Agnese hingegen dehnten sich
diese letzten Tage des Wartens zu unerträglicher
Länge aus. Voll Ungeduld, hoffte sie auf einen
Zufall, welcher der Berechnung des Ohmes zum
Trotz den heißersehnten Onkel früher herführen
sollte, als die andern es erwarteten. Von rast
loser Unruhe getrieben, ging das Mädchen oft
mals den Weg hinunter, den er kommen mußte,
aber immer blickte sie vergeblich die Straße ent
lang, sie blieb verödet.
Der Juni war bereits in's Land gekommen
und hatte Berg und Thal mit seinem frischesten
Grün geschmückt. Wiederum war sie hinaus ge
gangen und schickte sich eben an, unverrichteter
Sache heimzukehren, als ein Knabe des Weges
daher kam und ihr mit einer Art Heimlichkeit
ein Briefchen in die Hand steckte, worauf er
schleunig verschwand. Verwundert betrachtete Agnese
das Billet, ihr Herzschlag stockte, und ihre Hand
zitterte, dasselbe trug Eckebrecht's Schriftzüge.
„Liebe kleine Agnese!" lautete der Inhalt,
„Du bist immer gut und liebevoll gegen mich
gewesen, so wirst Du mir auch meine erste Bitte
nach der Rückkehr nicht abschlagen. Ich muß Dich
ohne Zeugen sprechen, bevor ich in den Familien
kreis trete. Auf dein wohlbekannten Ruheplätzchen
in der Schlucht wartet Deiner in Devotion Onkel
Eckebrecht."
Tausendmal hatte sich das Mädchen den Augen
blick des Wiedersehens ausgemalt und immer
gewünscht, dem über alles Geliebten allein zu
begegnen. Bevor seine Angehörigen ihre Rechte
an ihn geltend machten, wollte sie das Geständnis;
seiner Liebe und Treue empfangen. Wie be
schwingt eilte sie den Waldweg zur Schlucht
hinab. Jetzt bog sie die verschlungenen Zweige
auseinander, ihr junges, liebliches Gesicht strahlte
von Glück und Erregung, doch stockte der Fuß iu
banger, jungfräulicher Scheu, die auch den Freuden
schrei ihrer halbgeöffneten Lippen zurückdrängte.
Vor ihr auf der Rasenbank saß die hohe Ge
stalt des Onkels. Er hatte den Kops in die
Hand gestützt und erhob erst beim Knacken eines
Astes das gebräunte, männlich schöne Antlitz.
Im nächsten Augenblick stand er neben dem
bebenden Mädchen, das vermeinte, er müsse es
wortlos an sein Herz ziehen. Eckebrecht aber
ergriff nur ihre beiden Häude und sagte, sie
anschauend: „Wie groß und schön Du geworden
bist, Agnese." Sein Wesen war beherrscht von
einer Befangenheit, welche es ihm schwer machte
das rechte Wort zu finden. Daß dieses aber keine
Liebeserklärung enthalten würde, fühlte die Nichte
schon beim Freigeben ihrer Hände.
Sie schüttelte denn auch den Bann ab, der
ihre Zunge gefesselt hielt und sagte innig: „Du
hast ein Anliegen, Onkel Eckebrecht; fordere, was
Du willst, wenn ich Deinen Wunsch erfüllen kann,
ist er gewährt."
„Siehst Du, darauf rechnete ich bei meinem
treuen Kameraden. Setze Dich zu mir, liebe
Agnese, es ist nicht in zwei Worten gesagt."
Sie folgte willenlos und blickte erwartungsvoll
zu ihm auf.
„Du kennst Mama," begann er, „sie will
auch bei den flügge gewordenen Kindern das erste
Wort mitreden. Im Augenblicke des Wiedersehens
möchte ich keine Verstimmung bei ihr hervorrufen,
darum ..."
„Wenn Du Geld brauchst," unterbrach ihn
Agnese liebevoll, „ich kann über mein mütterliches
Erbtheil verfügen."