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der Frau von Genibrall trat ich in die große
Welt ein. Ich unterrichtete mich bei verschiedenen
Personen, was meine Führerin für eine Frau
sei, man erwiderte mir, daß sie in ihren guten
Tagen galant gewesen sei, daß sie aber seit 15
oder 16 Jahren nichts mehr auf ihrem Kerbholz
habe, daß unter ihren fünf oder sechs Kindern
nicht zwei denselben Vater hätten, und was weiß
ich noch Alles. Ich weiß zu viel von dieser und
von vielen Andern, um meine alterthümlichen
Vorurtheile schweigen zu lassen, und bleibe lieber
zu Haus, als daß ich in schlechter Gesellschaft
bin. Gott behüte mich, daß ich allgemein den
Lebenswandel aller Frauen der großen Welt für
schlecht erkläre, es giebt darunter sehr viele achtungs-
werthe, ich habe drei oder vier davon besucht, lind
das genügt mir, denn ich will nicht alle Tage,
wie man es hier thut, vier bis fünf Besuche
machen und dann in den Sumpf gehen, von
dem sich die Spielerinnen schwer abhalten lassen.
Einige von ihnen halten sich Portechaisen, in
denen die Hühner oft genistet haben, ohne daß
sie gereinigt sind, und nehmen sich Träger dazu, von
denen etwa der Eine eine rothe, der Andere eine braune
Jackb oder auch einen leinenen Kittel hat. Diese
Träger werden für drei Monate zu einem sehr
billigen Lohn angenommen, weil sie drei oder
vier Personen zugleich bedienen. Miethträger
kennt man hier nicht. Man kleidet sich hier sehr
gut; während der Art von Winter, die es hier
giebt, sieht man Damenkleider nur von der schönsten
und glänzendsten Seite, Männeranzüge nur von
Sammet in allen Farben, goldbetreßt oder ein
fach. Die Männer der ersten Gesellschaftsklasse
unterscheiden sich von den Geschäftsleuten nur
dadurch, daß sie Degen tragen; denn dies ist
den letzteren nicht erlaubt. Die Damen lassen
sich alle Tage frisire». Zeitungen zu lesen ist
hier unmöglich, einige Vornehme lassen zwar
solche kommen, aber diese kennen wir nicht. Es
giebt auch eine Dame, zu der man geht, um sie
zu lesen, da muß inan sich aber mit 60 bis 80
Schlingeln zusammenfinden, von denen die Einen
singen, die Andern schwätzen, das paßt nicht Jedem.
Am 19. Dezember waren wir zuerst seit unserer
Ankunft zum Gottesdienst, ü t'asZsnidleo pastorako,
wie man hier sagt. Daß wir so lange zögerten
hinzugehen, kam daher, daß die Geistlichen seit
Michaelis mit den Visitationen und dem Alls
theilen des Abendmahls in den Dörfern und
Flecken der Umgegend beschäftigt waren, sie waren
also währenddem nicht hier und vernachlässigten
den hiesigen Gottesdienst. Daraus kann man
entnehmen, ob die Bewohner dieser Stadt von
Eifer für das Haus Gottes verzehrt werden.
Diese Versammlung wird in einer Kapelle am
äußersten Ende der Vorstadt abgehalten. Solche
Versammlungsorte giebt es in allen Vorstädten,
der, wo wir waren, vertritt die Stelle der Pfarr
kirche. Wir traten in ein kleines Häuschen mit
einer engen und niedrigen Thür; ein langer,
enger und dunkler Gang führte uns auf einen
Theil des Hofes, ivv ein Schlippen gebaut ist,
der Sonntags als Tempel lind außerdem gelegent
lich den Händlern mit Geflügel, Taubeil l>. dgl.
zum Lagerraum dient. Dies Gebällde von etwa
150 Fllß Länge lind 30 Fllß Breite war schon
sehr voll Menschen, meist kleinen Leuten und
wenigen von höherem Stand, lvelche meist Fremde
waren. Wir erhielten Platz in dem recht engen
Parket, bem einzigen Platz, wo man noch zwei
Stühle hinsetzen konnte, ich befaild mich am Fllß
des Predigtstuhls, der etwa 4 Fuß über dem
Fußboden war. Es war 1 llhr Nachmittags,
seit Mittag waren die meisten Plätze besetzt, und
es kamen jeden Augenblick noch inehr Leute.
Ich war entrüstet über das wenige Zartgefühl
welches hier herrschte, inan schwätzte ganz laut trotz
der Rügen von zwei oder drei Kirchenältesten.
(Fortsetzung folgt.)
—i'N'i-»-
Fünfzig Haussprüche ms der Umgegend Marburgs.
Von Dr. Paul Wigand.
A. Leöeirsiveisijeit und Levensregetn.
1. Wo Liebe, Friede, Einigkeit regieret,
Ta ist das ganze Halls gezieret.
Münchhausen.
2. Tie Mänller, die das Feld beban'n
Und alle Welt ernähren,
Tel! wackern Männern soll man trau'll
Und halten hoch in Ehren.
Fangenstein.