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seither gesprochen mtb gethan, in einem ganz anderen
Lichte erscheinen. Zwar hatte die Künstlerin
Derwall's Geliebte mit keinem Worte vertheidigt,
allein die alte Dame wußte nun, daß diese nicht
so schuldig, vielmehr ein Opfer jenes dämonischen
Menschen war wie auch seine verstorbene Frau
und das harmlose Kind, das er jetzt an sich ge
fesselt hatte.
Obwohl sich die Generalin nicht das Geringste
merken ließ, nagte doch das Bewußtsein an ihrem
inneren Frieden, daß sie durch ihre Mittheilungen
und ihr hartes Urtheil dem ohnehin in tiefes
Leid versenkten Mädchen doppelt wehe gethan habe.
Sie suchte dies deshalb in anderer Form wieder
gut zu machen. Wann und wo es nur ging,
besonders bei ihrer Abreise, zeichnete sie Konstanze
durch allerlei zarte Aufmerksamkeiten ans. Trotz
dem sie sich nicht ganz wohl fühlte, brachte sie
ihr noch einen Strauß an die Bahn und gab
ihr im letzten Augenblick noch durch ein paar
Worte zu verstehen, daß sie ihr Geheimniß
durchschaut, doch nichts von dem Glauben an die
Reinheit ihres Wollens in Vergangenheit und
Zukllnft eingebüßt habe. Mit dem Wunsche,
ein großer künstlerischer Erfolg möge einigermaßen
ausgleichen, was das Leben an ihr gesündigt,
schied die alte Dame von Konstanze. Dann
warf sie beim Umwenden dem zufällig in ihrer
Nähe stehenden Schriftsteller Derwall einen offenen
Blick ehrlichen Widerwillens zu.
„Ach, sieh doch, welch' ein schönes Bild, lieber
Ernst", sagte Frau Doktor Derwall zu ihrem
Manne, als beide ein Jahr später die Kunst
ausstellung in Berlin durchwanderten.
Schon oft hatte sich der Letztere darüber
gefreut, daß seine schöne junge Frau als ächtes
Naturkind ein so feines Verständniß für land
schaftliche Darstellungen besaß. Auch während
er das fein ausgeführte, stimmungsvolle Bild
betrachtete, erkannte er dies unwillkürlich wieder
an. — lieber einer weiten, von fernen Höhen
begrenzten Landschaft sank die Sonne. Zwischen
den Wipfeln hoher Bäume flatterten bereits
neblige Dümmerschleier, da und dort lagen schon
ans den Aeckern und Rasen graue Schatten.
Ein kühles Lüftchen schien das Gras und die
Ranken wie mit Geisterhand zu bewegen. Ueber
den Wiesen schwebte feuchter Duft und der Himmel
zeigte jenes verschleierte tiefe Blau, hinter dem
sich die Sterne noch kurze Weile verbergen. Ein
eigener Zauber war über die Landschaft gebreitet,
deren Eindruck durch keine störende Staffage ge
schwächt wurde. Mit ungewöhnlicher poetischer
Kraft und Phantasie hatte der Maler stimmungs
voll an einem Stückchen Natur veranschaulicht, daß,
wenn das Licht der Sonne und mit ihm der Glanz
und die Farben verschwunden sind, die sanften Töne
des Abends und die noch verschleierten Sterne
allgemach Frieden und Ruhe verkündigen.
Die junge Frau schlug den Katalog auf,
machte ein erstauntes Gesicht und sagte zu ihrem
Manne: „Das Bild heißt ,Wenn die Sonne
sinkt'. Es ist mit der golduen Medaille gekrönt
worden."
„Das kann ich mir denken", erwiderte Derwall.
„Der Maler dieses Bildes ist auch wirklich ein
Meister ersten Ranges. Er besitzt nicht nur eine
ausgebildete künstlerische Technik, sondern auch
die feinste Naturempfindung. Es fehlt ihm dabei
nicht das Vermögen, einen Gedanken durch die
Wirkung landschaftlicher Poesie stimmungsvoll
zum Ausdruck zu bringen."
„Weißt Du, wer der Meister ist?"
„Nein, ich kann den Namen nicht lesen, er ist
zu sehr beschattet."
„Nun, so höre und staune", fuhr die junge
Frau lebhaft fort. „Der Schöpfer dieses Bildes
ist die interessante Malerin, die ich Dir voriges
Jahr bei unserer Verlobung in Dornheim vor
stellte. Weißt Du, die große schlanke Dame mit
dein feinen Gesicht und den wunderschönen ernsteil
Augen!"
»Ja, ja, ich erinnere iilich", erwiderte Derwall
etwas verwirrt. Die Worte seiner schönen jungen
Frau hatten ihn wieder einmal ganz in die Ver
gangenheit versetzt. Mit heimlicher Wonne und
doch nicht ohne bitteren Groll gegen sich selbst
dachte er daran, daß die große Seele, der diese
herrliche Kunstschöpfung entquoll, einmal ganz
sein eigen gewesen war. Er liebte seine un
muthige Gattin, er war unter ihrem mildeil
Einfluß nach allen Stürmen der Jugend ein
anderer Mensch geworden, aber Lilli blieb doch
nur für ihn der milde Abendstern, der über seinem
Leben aufging, als das glühende allbelebende Tages
gestirn hinter Wolken versank. Jenes Prüfungsjahr,
das Konstanze ihm nach dem Tode der Gattin auf
erlegte, war eine unselige Zeit für ihn gewesen.
Damals erschien ihm die Liebe eines kindlicheil
Wesens wie ein Rettungsanker aus inneren
Wirren. So weit war er gekommen, für einen
Wahn zu halten, was sein eigentliches Glück
ausmachte. Er konnte sich zufrieden geben, daß
er nicht schlimmer bestraft wurde und wenigstens
an ein edles Wesen gefesselt blieb. Aus tiefem
Sinnen weckten ihn verschiedene Vorübergehellde,
welche lobende Bemerkungen über das Bild fallen
ließen, aber auch die wunderschöne junge Frau