Cassel den 6
ten
Juni 1850
Geehrter Freund,
Ich habe die Beantwortung Ihres lieben Briefs
vom 16
ten
Mai nicht beeilt, weil es mir
nöthig schien, vorher die drohende Wolke
am politischen Horizont zu beobachten, die leicht,
wenn sie sich entladen hätte, mein Kommen nach
Breslau von neuem hätte in Frage stellen
können. Die Drohungen Östreichs und die
plötzlichen Rüstungen Preußens ließen einige
Tage lang wirklich einen Krieg im Innern
Deutschlands befürchten; doch scheint uns diese
ärgste Schmach noch glücklich durch russische
Vermittlung erspart werden zu sollen.
So wird denn hoffentlich unserer Reise
nichts hindernd entgegen treten und ich
kann daher meine Zusage wiederholen,
daß wir spätestens am 25
sten
dieses in
Breslau eintreffen werden. Von der Reise aus
melde ich Ihnen noch Tag und Stunde
damit wir schon auf dem dortigen
Bahnhof die Freude haben können, Sie
zu sehen.
Auch in Bezug auf die Wahl der Sin-
fonie gebe ich gern nach, obgleich mir
scheinen will, als müßte es Ihrem Publico
doch interessanter seyn, eine neue, dort
noch unbekannte Arbeit dieser Gattung
zu hören, als eine schon oft gehörte! Doch
ich bin gegen meine früheren Geisteskin-
der nicht stiefmütterlich gesinnt und so
ist mir auch die 3
te
Sinfonie recht,
um so mehr, da sich bey der hiesiegen
Probe gezeigt hat, daß die neue Sinfonie
sehr schwer ist und daher wahrscheinlich
nicht so gut gehen würde, als die 3
te
.
Aus der beabsichtigten Aufführung die-
ses neuen Werkes am Pfingsttage ist
nichts geworden, da uns der Kurfürst in
seiner üblen Laune über die Berliner Reise
die Erlaubniß zum Pfingstconcerte verweigert
und statt dessen eine Theatervorstellung ge-
ben ließ zum großen Ärger unserer Bet-
brüder und sonstigen Frommen.
Heute früh lernte ich Ihren Herrn Thea-
terdirector kennen, der von Herrn Meier
zu mir geführt wurde. Er erzählte mir
von den dortigen Vorbereitungen zu Zemi-
re und Azor und meinte, ich würde mit
der Besetzung zufrieden seyn können.
Doch genug der schriftlichen Mittheilungen
da wir nun bald mündlich zu Gebot stehen
werden. Leben Sie wohl bis dahin.
Von Herzen der Ihrige
Louis Spohr
Sr. Wohlgeb
Herrn Musikdirector und
Oberorganist
Adolph Hesse
Breslau.
Volltext von: Karl Traugott Goldbach, Spohr-Briefe
[www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1850060601](http://www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1850060601)