DER STERN
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ERLÖSUNG
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DER STERN
DER ERLÖSUNG
VON
FRANZ ROSENZWEIG
hon in 221
IM JAHRE DER SCHÖPFUNG 5681
J. KAUFFMANN VERLAG, FRANKFURT A. M. 1921
Copyright 1921 by J. Kauilmann Verlag, Frankfurt a.M.
Alle Rechte Vorbehalten
-landesbifrliothefc /
und Mtrhardsche Bibljom»*
^ ri«r St»dt Kassel
Gedruckt bei M. Lehrberger <6 Co. in Frankfurt a. M.
INHALT
ERSTER TEIL
DIE ELEMENTE ODER DIE IMMERWÄHRENDE VORWELT
EINLEITUNG :
Über die Möglichkeit, das All zu erkennen... 7
ERSTES BUCH:
Gott und sein Sein oder Metaphysik ......... 32
ZWEITES BUCH :
Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik ....... 54
DRITTES BUCH:
Der Mensch und sein Selbst oder Metaethik... 80
ÜBERGANG ..................... 107
ZWEITER TEIL
DIE BAHN ODER DIE ALLZEITERNEUER TE WELT
EINLEITUNG :
Über die Möglichkeit, das Wunder zu erleben. 119
ERSTESBUCH:
Schöpfung oder der immerwährende Grund der Dinge .. ' 143
ZWEITES BUCH:
Offenbarung oder die allzeiterneuerte Geburt der Seele 199
DRITTES BUCH :
Erlösung oder die ewige Zukunft des Reichs.. 262
SCHWELLE ..................... 322
DRITTER TEIL
DIE GESTALT ODER DIE EWIGE ÜBERWELT
EINLEITUNG :
Uber die Möglichkeit, das Reich zu erbeten.. 335
ERSTES BUCH:
Das Feuer oder das ewige Leben ............. 375
ZWEITES BUCH:
Die Strahlen oder der ewige Weg............. 422
DRITTES BUCH:
Der Stern oder die ewige Wahrheit .... •• 477
EINLEITUNG
ÜBER DIE MÖGLICHKEIT
DAS ALL ZU ERKENNEN
in philosophosJ
VOM TODE, von der Furcht des Todes, hebt alles Er-
kennen des All an. Die Angst des Irdischen abzu-
werfen, dem Tod seinen Giftstachel, dem Hades seinen
Pesthauch zu nehmen, des vermißt sich die Philosophie. Alles
Sterbliche lebt in dieser Angst des Todes, jede neue Geburt
mehrt die Angst um einen neuen Grund, denn sie mehrt das
Sterbliche. Ohne Aufhören gebiert Neues der Schoß der un-
ermüdlichen Erde, und ein jedes ist dem Tode verfallen, jedes
wartet mit Furcht und Zittern auf den Tag seiner Fahrt ins
Dunkel. Aber die Philosophie leugnet diese Ängste der Erde.
Sie reißt über das Grab, das sich dem Fuß vor jedem Schritt
auftut. Sie läßt den Leib dem Abgrund verfallen sein, aber die
freie Seele flattert darüber hinweg. Daß die Angst des Todes
von solcher Scheidung in Leib und Seele nichts weiß, daß sie
Ich Ich Ich brüllt und von Ableitung der Angst auf einen bloßen
»Leib« nichts hören will — was schert das die Philosophie. Mag
der Mensch sich wie ein Wurm in die Falten der nackten Erde
verkriechen vor den herzischenden Geschossen des blind
unerbittlichen Tods, mag er es da gewaltsam unausweichlich
verspüren, was er sonst nie verspürt: daß sein Ich nur ein Es
wäre, wenn es stürbe, und mag er deshalb mit jedem Schrei,
der noch in seiner Kehle ist, sein Ich ausschreien gegen den
Unerbittlichen, von dem ihm solch unausdenkbare Vernich-
tung droht — die Philosophie lächelt zu all dieser Not ihr
leeres Lächeln und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger das
Geschöpf, dem die Glieder in Angst um sein Diesseits schlot-
tern, auf ein Jenseits hin, von dem es gar nichts wissen will.
Denn der Mensch will ja gar nicht irgend welchen Fesseln
entfliehen; er will bleiben, er will — leben. Die Philosophie,
8
ERSTER TEIL: EINLEITUNG
die ihm den Tod als ihren besonderen Schützling und als die
großartige Gelegenheit anpreist, der Enge des Lebens zu ent-
rinnen, scheint ihm nur zu höhnen. Der Mensch fühlt eben gar
zu gut, daß er zwar zum Tode, aber nicht zum Selbstmord
verurteilt ist. Und nur den Selbstmord vermöchte jene philo-
sophische Empfehlung wahrhaft zu empfehlen, nicht den ver-
hängten Tod Aller. Der Selbstmord ist nicht der natürliche
Tod, sondern der widernatürliche schlechtweg. Die grauen-
hafte Fähigkeit zum Selbstmord unterscheidet den Menschen
von allen Wesen, die wir kennen und die wir nicht kennen.
Sie bezeichnet geradezu diesen Heraustritt aus allem Natür-
lichen. Es ist wohl nötig, daß der Mensch einmal in seinem
Leben heraustrete; er muß einmal die kostbare Phiole voll
Andacht herunterholen; er muß sich einmal in seiner furcht-
baren Armut, Einsamkeit und Losgerissenheit von aller Welt
gefühlt haben und eine Nacht lang Aug in Auge mit dem Nichts
gestanden sein. Aber die Erde verlangt ihn wieder. Er darf
den braunen Saft in jener Nacht nicht austrinken. Ihm ist ein
anderer Ausweg aus dem Engpaß des Nichts bestimmt, als
dieser Sturz in das Gähnen des Abgrunds. Der Mensch soll
die Angst des Irdischen nicht von sich werfen; er soll in der
Furcht des Todes — bleiben.
Er soll bleiben. Er soll also nichts andres, als was er
schon will: bleiben. Die Angst des Irdischen soll von ihm ge-
nommen werden nur mit dem Irdischen selbst. Aber solang
er auf der Erde lebt, soll er auch in der Angst des Irdischen
bleiben. Und die Philosophie betrügt ihn um dieses Soll,
indem sie den blauen Dunst ihres Allgedankens um das Irdische
webt. Denn freilich: ein All würde nicht sterben und im All
stürbe nichts. Sterben kann nur das Einzelne, und alles Sterb-
liche ist einsam. Dies, daß die Philosophie das Einzelne aus
der Welt schaffen muß, diese Abschaffung des Etwas ist auch
der Grund, weshalb sie idealistisch sein muß. Denn der »Idea-
lismus« mit seiner Verleugnung alles dessen, was das Einzelne
vom All scheidet, ist das Handwerkszeug, mit dem sich die
Philosophie den widerspenstigen Stoff so lange bearbeitet, bis
VOM ALL
er der Umnebelung mit derrrEin- und Allbegriff keinen Wider-
stand mehr entgegensetzt. Einmal in diesen Nebel alles ein-
gesponnen, wäre freilich der Tod verschlungen, wenn auch
nicht in den ewigen Sieg, so doch in die eine und allgemeine
Nacht des Nichts. Und es ist der. letzte Schluß dieser Weis-
heit: der Tod sei — Nichts. Aber in Wahrheit ist das kein
letzter Schluß, sondern ein erster Anfang, und der Tod ist
wahrhaftig nicht, was er scheint, nicht Nichts, sondern ein un-
erbittliches, nicht wegzuschaffendes Etwas. Auch aus dem
Nebel, mit dem ihn die Philosophie umhüllt, tönt ungebrochen
sein harter Ruf; in die Nacht des Nichts mochte sie ihn wohl
verschlingen, aber seinen Giftstachel konnte sie ihm nicht
ausbrechen, und die Angst des vor dem Stich dieses Stachels
zitternden Menschen straft allezeit die mitleidige Lüge der
Philosophie grausam Lügen.
Indem aber die Philosophie die dunkle Voraussetzung alles
Lebens leugnet, indem sie nämlich den Tod nicht für Etwas
gelten läßt, sondern ihn zum Nichts macht, erregt sie für sich
selbst den Schein der Voraussetzungslosigkeit. Denn nun hat
alles Erkennen des All zu seiner Voraussetzung — nichts. Vor
dem einen und allgemeinen Erkennen des All gilt nur noch das
eine und allgemeine Nichts. Wollte die Philosophie sich nicht
vor dem Schrei der geängsteten Menschheit die Ohren ver-
stopfen, so müßte sie davon ausgehen — und mit Bewußtsein
ausgehen —: daß das Nichts des Todes ein Etwas, jedes neue
Todesnichts ein neues, immer neu furchtbares, nicht weg-
zuredendes, nicht wegzuschweigendes Etwas ist. Und an Stelle
des einen und allgemeinen, vor dem Schrei der Todesangst
den Kopf in den Sand steckenden Nichts, das sie dem einen
und allgemeinen Erkennen einzig vorangehen lassen will,
müßte sie den Mut haben, jenem Schrei zu horchen und ihre
Augen vor der grauenhaften Wirklichkeit nicht zu verschließen.
Das Nichts ist nicht Nichts, es ist Etwas. Im dunkeln Hinter-
grund der Welt stehen als ihre unerschöpfliche Voraussetzung
tausend Tode, statt des einen Nichts, das wirklich Nichts wäre.
10
ERSTER TEIL: EINLEITUNG
tausend Nichtse, die, eben weil viele, Etwas sind. Die Vielheit
des Nichts, das von der Philosophie vorausgesetzt wird, die
nicht aus der Welt zu bannende Wirklichkeit des Todes, die
sich in dem nicht zu schweigenden Schrei seiner Opfer
verkündet, sie macht den Grundgedanken der Philosophie,
den Gedanken des einen und allgemeinen Erkennens des
All zur Lüge, noch ehe er gedacht ist. Das dritthalb-
tausendjährige Geheimnis der Philosophie, das Schopenhauer
an ihrem Sarg ausgeplaudert hat, daß der Tod ihr Musaget
gewesen sei, verliert über uns seine Macht. Wir wollen keine
Philosophie, die sich in die Gefolgschaft des Todes begibt und
über seine währende Herrschaft uns durch den All- und Ein-
klang ihres Tanzes hinwegtäuscht. Wir wollen überhaupt keine
Täuschung. Wenn der Tod Etwas ist, so soll uns fortan keine
Philosophie mit ihrer Behauptung, sie setze Nichts voraus,
den Blick davon abwenden. Schauen wir doch jener Behaup-
tung näher ins Auge.
War die Philosophie denn nicht schon durch jene ihre
»einzige« Voraussetzung, sie setze nichts voraus, selbst ganz
voller Voraussetzung, ja selber ganz Voraussetzung? Immer
wieder lief doch das Denken den Abhang der gleichen Frage,
was die Welt sei, hinan; immer wieder ward an diese Frage
alles andere etwa noch Fragwürdige angeschlossen; immer
wieder endlich wurde die Antwort auf die Frage im Denken
gesucht. Es ist, als ob diese an sich großartige Voraussetzung
des denkbaren All den ganzen Kreis sonstiger Fragmöglich-
keiten verschattete. Materialismus und Idealismus, beide —
nicht bloß jener — »so alt wie die Philosophie«, haben gleichen
Teil an ihr. Was ihr gegenüber Selbständigkeit beanspruchte,
wurde entweder zum Schweigen gebracht oder überhört. Zum
Schweigen gebracht wurde die Stimme, welche in einer Offen-
barung die jenseits des Denkens entspringende Quelle gött-
lichen Wissens zu besitzen behauptete. Die philosophische Ar-
beit von Jahrhunderten ist dieser Auseinandersetzung des
Wissens mit dem Glauben gewidmet; sie kommt zum Ziel in
dem gleichen Augenblick, wo das Wissen vom All in sich
VOM ALL
11
selber zum Abschluß kommt. Denn als einen Abschluß muß
man es wohl bezeichnen, wenn dies Wissen nicht mehr bloß
seinen Gegenstand, das All, sondern auch sich selber restlos,
wenigstens nach seinen eigenen Ansprüchen und in seiner
selbsteigenen Weise restlos, umgreift. Das ist geschehen in
Hegels Einziehung der Philosophiegeschichte ins System.
Weiter scheint das Denken nicht mehr gehen zu können, als
daß es sich selber als die innerste Tatsache, die ihm bekannt
ist, nun als einen Teil des Systembaus, und natürlich als den
abschließenden Teil, sichtbar hinstellt. Und eben in diesem
Augenblick, wo die Philosophie ihre äußersten formellen Mög-
lichkeiten erschöpft und die durch ihre eigene Natur gesetzte
Grenze erreicht, scheint nun, wie schon bemerkt, auch die
große vom Gang der Weltgeschichte ihr aufgenötigte Frage
nach dem Verhältnis von Wissen und Glauben gelöst zu
werden.
Wohl schien auch bisher schon mehr als einmal der Friede
zwischen den beiden feindlichen Mächten geschlossen, sei es
auf Grund einer reinlichen Scheidung der beiderseitigen An-
sprüche, sei es in der Weise, daß die Philosophie in ihrem
Arsenal die Schlüssel zu besitzen meinte, vor denen die Ge-
heimnisse der Offenbarung sich auftaten. In beiden Fällen
ließ also die Philosophie die Offenbarung für Wahrheit gelten,
im einen für eine ihr unzugängliche, im andern für eine von
ihr bestätigte Wahrheit. Aber beide Lösungen genügten nie
für lange. Gegen die erste erhob sich stets sehr bald der Stolz
der Philosophie, der es nicht ertragen konnte, ein Tor als ver-
schlossen anzuerkennen; gegen die zweite Lösung aber mußte
umgekehrt der Glaube aufbegehren, dem es nicht genügen
konnte, so im Vorbeigehn von der Philosophie als eine Wahr-
heit unter andern erkannt zu werden. Etwas ganz andres
aber war es, was nun die Hegelsche Philosophie zu bringen
verhieß. Weder Scheidung noch bloße Übereinstimmung
wurde behauptet, sondern innerlichster Zusammenhang. Die
wißbare Welt wird wißbar durch das gleiche Denkgesetz, das
12
ERSTER TEIL: EINLEITUNG
auf der Höhe des Systems als oberstes Seinsgesetz wieder-
kehrt. Und dieses eine Denk- und Seinsgesetz ist in der Offen-
barung weltgeschichtlich zuerst verkündet, so daß die Philo-
sophie gewissermaßen nur die Erfüllerin des in der Offen-
barung Verheißenen ist. Und hinwiederum übt sie dies Amt
nicht gelegentlich bloß oder etwa nur im Höhepunkt ihrer
Bahn, sondern in jedem Augenblick, gewissermaßen mit jedem
Atemzug, den sie tut, bestätigt die Philosophie unwillkürlich
die Wahrheit dessen, was die Offenbarung ausgesagt hatte. So
scheint der alte Streit geschlichtet, Himmel und Erde versöhnt.
Doch es war nur Schein, die Lösung der Glaubensfrage so
gut wie die Selbstvollendung des Wissens. Ein sehr.schein-
barer Schein allerdings; denn wenn jene ersterwähnte Vor-
aussetzung gilt und alles Wissen auf das All geht, in ihm be-
schlossen, aber auch in ihm allmächtig ist, dann freilich war
jener Schein mehr als Schein, dann war er Wahrheit. Wer
hier noch Widerspruch erheben wollte, der mußte einen Archi-
medespunkt außerhalb jenes wißbaren All unter seinen Füßen
spüren. Von einem solchen Archimedespunkt aus bestritt ein
Kierkegard, und er nicht allein, die Hegelsche Einfügung der
Offenbarung ins All. Der Punkt war das eigene, SörenKierke-
gardsche oder sonst irgendwie mit Vor- und Zunamen ge-
zeichnete, Bewußtsein der eigenen Sünde und eigenen Er-
lösung, das einer Auflösung in den Kosmos weder bedürftig
noch zugänglich war; nicht zugänglich: denn mochte auch alles
an ihr ins Allgemeine zu übersetzen sein, — die Behaftetheit
mit Vor- und Zunamen, das Eigene im strengsten und engsten
Sinn des Worts blieb übrig, und gerade auf dies Eigene kam
es, wie die Träger solcher Erfahrungen behaupteten, an.
Immerhin stand hier Behauptung gegen Behauptung. Die
Philosophie wurde einer Unfähigkeit, genauer einer Unzuläng-
lichkeit geziehen, die sie selber nicht zugeben, weil nicht er-
kennen konnte; denn falls hier wirklich ein ihr jenseitiger
Gegenstand vorlag, so hatte sie sich eben selbst, gerade in der
abschließenden Gestalt, die sie unter Hegel annahm, den Blick
in dieses wie in jedes Jenseits verschlossen; der Einwand be-
VOM ALL
stritt ihr Recht auf ein Gebiet, dessen Existenz sie leugnen
mußte; er griff nicht ihr eigenes Gebiet an. Das mußte auf
andere Weise geschehen. Und es geschah in dem philoso-
phischen Zeitalter, das mit Schopenhauer angeht, über Nietzsche
weiterführt und dessen Ende noch nicht gekommen ist.
Schopenhauer fragte als erster unter den großen Denkern
nicht nach dem Wesen, sondern nach dem Wert der Welt.
Eine höchst unwissenschaftliche Frage, wenn sie wirklich so
gemeint war, daß nicht nach dem objektiven Wert, dem Wert
für irgend »etwas«, dem »Sinn« oder »Zweck« der Welt, ge-
fragt sein sollte — was ja nur ein andrer Ausdruck für die
Frage nach dem Wesen wäre —, sondern wenn die Frage auf
den Wert für den Menschen, vielleicht gar für den Menschen
Arthur Schopenhauer ging. Und so war es gemeint. Bewußt
zwar wurde wohl nur nach dem Wert für den Menschen ge-
fragt, und selbst dieser Frage wurden die Giftzähne ausge-
brochen, indem sie schließlich doch ihre Lösung wieder in
einem System der Welt fand. System bedeutet ja ohne wei-
teres schon unabhängiges allgemeines Gelten. Und so fand die
Frage des vorsystematischen Menschen ihre Antwort durch
den systemerzeugten Heiligen des Schlußteils. Immerhin auch
dies schon etwas in der Philosophie Unerhörtes, daß ein
Menschentyp und nicht ein Begriff den Systembogen schloß,
wirklich als Schlußstein schloß, nicht etwa als ethisches
Schmuckstück oder Anhängsel ergänzte. Und vor allem, die
ungeheure Wirkung erklärt sich doch nur so, daß man fühlte,
was auch wirklich so war: hier stand ein Mensch am Anfang
des Systems, ein Mensch, der nicht mehr im Zusammenhang
der Philosophiegeschichte und gewissermaßen als ihr Beauf-
tragter, als Erbe des jeweiligen Standes ihrer Probleme philo-
sophierte, sondern der »sich vorgesetzt hatte, über das Leben
nachzudenken«, weil es — das Leben — »eine mißliche Sache
ist«. Dies stolze Wort des Jünglings im Gespräch mit Goethe
— schon daß er »Leben« sagt und nicht »Welt«, ist bezeich-
nend -- findet seine Ergänzung in dem Brief, mit dem er das
ü
ERSTER TEIL: EINLEITUNG
vollendete Werk dem Verleger anbot. Da erklärt er für
den Inhalt der Philosophie den Gedanken, mit dem ein indi-
vidueller Geist auf den Eindruck, den die Welt auf ihn ge-
macht, reagiere. »Ein individueller Geist« — es war eben
doch der Mensch Arthur Schopenhauer, der hier die Stelle
einnahm, die nach der geltenden Auffassung vom Philoso-
phieren das Problem hätte einnehmen müssen. Der Mensch,
das »Leben«, war das Problem geworden, und weil er es in
Form einer Philosophie zu lösen »sich vorgesetzt« hatte, so
mußte nun der Wert der Welt für den Menschen in Frage ge-
stellt werden — eine, wie schon zugegeben, höchst unwissen-
schaftliche Fragestellung, aber eine um so menschlichere. Um
das wißbare All hatte sich bisher alles philosophische Interesse
bewegt; auch der Mensch hatte nur in seinem Verhältnis zu
diesem All Gegenstand der Philosophie sein dürfen. Nun trat
dieser wißbaren Welt selbständig ein andres gegenüber, der
lebendige Mensch, dem All das jeder Allheit und Allgemein-
heit spottende Eins, der »Einzige und sein Eigentum«. Nicht in
dem so iiberschriebenen Buch, das eben doch nur Buch war,
sondern in der Tragödie des Nietzscheschen Lebens wurde dann
dies Neue unausreißbar in das Flußbett der Entwicklung des
bewußten Geistes eingerammt.
Denn nur hier war es ja etwas Neues. Die Dichter hatten
immer schon vom Leben gehandelt und von der eigenen Seele.
Aber die Philosophen nicht. Und die Heiligen hatten immer
schon das Leben gelebt und der eigenen Seele. Aber
wieder die Philosophen nicht. Hier aber kam einer, der von
seinem Leben und seiner Seele wußte, wie ein Dichter, und
ihrer Stimme gehorchte, wie ein Heiliger, und der dennoch
Philosoph war. Beinahe gleichgültig ist es schon heute, was
er erphilosophierte. Das Dionysische und der Übermensch, die
blonde Bestie, die ewige Wiederkunft — wo sind sie geblieben?
Aber er selber, der in den Wandlungen seiner Gedankenbilder
sich selber wandelte, er selber, dessen Seele keine Höhe
scheute, sondern dem tollkühnen Kletterer Geist nachkletterte
bis auf den steilen Gipfel des Wahnsinns, wo es kein Weiter
VOM ALL
11
mehr gab, er selber ist es, an dem nun keiner mehr von denen,
die philosophieren müssen, vorbei kann. Das furchtbare und
fordernde Bild des bedingungslosen Gefolgschaftsverhältnisses
der Seele zum Geist, das war nun nicht mehr auszulöschen.
Bei den großen Denkern der Vergangenheit hatte die Seele
etwa die Amme und allenfalls die Erzieherin des Geistes
spielen dürfen; eines Tags aber war der Zögling erwachsen
und ging seine eigenen Wege und freute sich der Freiheit und
unbegrenzten Aussicht; nur mit Grauen gedachte er noch der
engen vier Wände, in denen er groß geworden war. So genoß
der Geist gerade sein Freisein von der seelenhaften Dumpf-
heit, in welcher der Ungeist seine Tage verbringt; die Philo-
sophie war dem Philosophen die kühle Höhe, auf die er vor
den Dünsten der Niederung entwichen war. Für Nietzsche gab
es diese Scheidung zwischen Höhe und Niederung im eigenen
Selbst nicht; ganz ging er seinen Weg, Seele und Geist,
Mensch und Denker eine Einheit bis ans Letzte.
So wurde der Mensch — nein, nicht der Mensch, sondern
ein Mensch, ein ganz bestimmter Mensch, zu einer Macht
über die — nein, über seine Philosophie. Der Philosoph hörte
auf, quantite negligeable für seine Philosophie zu sein. Der
Ersatz, den die Philosophie dem, der ihr seine Seele verkaufte,
in Form von Geist zu geben versprach, wurde nicht mehr für
voll genommen. Der Mensch, nicht der ins Geistige umge-
setzte, sondern der beseelte, dem sein Geist nur erstarrter
Hauch seiner lebendigen Seele war, — er als Philosophierender
war der Philosophie mächtig geworden; sie mußte ihn an-
erkennen, ihn anerkennen als etwas, was sie nicht begreifen,
dennoch, weil mächtig gegen sie selbst, nicht leugnen konnte.
Der Mensch in der schlechthinnigen Einzelheit seines Eigen-
wesens, in seinem durch Vor- und Zunamen festgelegten Sein,
trat aus der Welt, die sich als die denkbare wußte, dem All
der Philosophie heraus.
Die Philosophie hatte den Menschen, auch den Menschen
als »Persönlichkeit«, in der Ethik zu fassen gemeint. Aber das
war ein unmögliches Bestreben. Denn indem sie ihn faßte,
ERSTER TEIL: EINLEITUNG
mußte er ihr zerrinnen. Die Ethik, mochte sie noch so sehr
grundsätzlich der Tat eine Sonderstellung allem Sein gegen-
über geben wollen, riß in der Ausführung gleichwohl mit Not-
wendigkeit die Tat wieder hinein in den Kreis des wißbaren
All; jede Ethik mündete schließlich wieder in eine Lehre von
der Gemeinschaft als einem Stück Sein. Offenbar bot es nicht
genügend Gewähr gegen dieses Einmünden, wenn man bloß
die Besonderheit des Handelns gegenüber dem Sein auszeich-
nete; man hätte einen Schritt weiter zurück tun müssen und
das Handeln in der seinshaften Grundlage eines dennoch von
allem Sein abgetrennten »Charakters« verankern; so allein
wäre es als eine eigene Welt gegenüber der Welt zu sichern
gewesen. Aber von dem einzigen Kant abgesehn ist das nie-
mals geschehen, und gerade bei Kant hat durch die Formulie-
rung des Sittengesetzes als der allgemeingültigen Tat wieder
der Begriff des All über das Eins des Menschen den Sieg da-
vongetragen; so versank das — wie er den Freiheitsbegriff
genial bezeichnete — »Wunder in der Erscheinungswelt« mit
einer gewissen historischen Folgerichtigkeit bei den Nach-
kantianern wieder in dem Wunder der Erscheinungswelt;
Kant selbst steht bei Hegels Weltgeschichtsbegriff Pate, nicht
bloß in seinen staats- und geschichtsphilosophischen Ansätzen,
sondern schon in den ethischen Grundbegriffen. Und Schopen-
hauer hat zwar Kants Lehre vom intelligibeln Charakter in
seiner Lehre vom Willen aufgenommen, aber ihren Wert, und
in entgegengesetzter Richtung wie die großen Idealisten, ent-
wertet. Indem er den Willen zum Wesen der Welt machte,
ließ er zwar nicht den Willen in die Welt, aber die Welt in
den Willen aufgehen und vernichtete so die in ihm selbst
lebendige Unterscheidung zwischen dem Sein des Menschen
und dem Sein der Welt.
Jenseits also des Kreises, den die Ethik beschrieb, mußte
das von Nietzsche dem Denken erschlossene Neuland liegen.
Gerade wenn man nicht in blinder Zerstörungsfreude die gei-
stige Arbeit der Vergangenheit zerstören, sondern sie viel-
mehr in dem, was sie geleistet hat, voll gelten lassen will,
VOM ALL
*7
muß diese Jenseitigkeit der neuen Frage allem gegenüber, was
unter dem Begriff Ethik bisher allein verstanden war und
allein verstanden werden durfte, anerkannt werden. Der
Weltanschauung tritt gegenüber die Lebensanschauung. Ein
Teil der Weltanschauung ist und bleibt die Ethik. Das beson-
dere Verhältnis der Lebensanschauung zur Ethik ist nur das
des besonders intimen Gegensatzes, gerade weil sich beide
zu berühren scheinen, ja gegenseitig immer wieder den An-
spruch erheben, die Fragen der andren mitzulösen. In
welchem Sinn das wirklich der Fall ist, wird sich noch zeigen.
Aber der Gegensatz der Lebensanschauung zur Weltan-
schauung jedenfalls spitzt sich so scharf auf den Gegensatz
zum ethischen Teil der Weltanschauung zu, daß man die
Fragen der Lebensanschauung geradezu als metaethische be-
zeichnen möchte.
Ein solches Heraustreten dessen, was man mehr oder
weniger deutlich als persönliches Leben, Persönlichkeit, Indi-
vidualität bezeichnet — lauter durch ihre Verwendung in der
Weltanschauungsphilosophie belastete und für uns also nicht
ohne weiteres brauchbare Begriffe — ein solches Heraustreten
also der »metaethischen« Fragen heraus aus dem Bereich des
Weltwissens kann auch an diesem selbst nicht spurlos vor-
übergehen. Mit dieser Befestigung einer, man möchte sagen,
unverdaulichen Tatsächlichkeit außerhalb der großen geistig
bewältigten Tatsachenfülle der wißbaren Welt ist ein, ja der
Grundbegriff dieser Welt entthront. Sie beanspruchte, das All
zu sein; »Alles« heißt das Subjekt des ersten Satzes, der bei
ihrer Geburt ausgesprochen wurde. Nun hat gegen diese All-
heit, die das All als Einheit umschließt, eine eingeschlossene
Einheit gemeutert und sich als eine Einzelheit, als Einzelleben
des Einzelmenschen, den Abzug ertrotzt. Das All kann also
nicht mehr behaupten, Alles zu sein; es ist seiner Einzigkeit
verlustig gegangen.
Worauf beruhte denn jene Allheit? Weshalb wurde denn
die Welt nicht etwa als Vielheit gedeutet? Warum gerade als
2
i8
ERSTER TEIL: EINLEITUNG
Allheit? Hier steckt offenbar eine Voraussetzung und wieder
jene ersterwähnte: die der Denkbarkeit der Welt. Es ist die
Einheit des Denkens, die hier gegen die Vielheit des Wissens
ihr Recht durchsetzt in der Behauptung der Allheit der Welt.
Die Einheit des Logos begründet die Einheit der Welt als einer
Allheit. Und hinwiederum bewährt jene Einheit ihren Wahr-
heitswert in dem Begründen dieser Allheit. Darum bedeutet
ein erfolgreicher Aufstand gegen die Allheit der Welt zugleich
eine Leugnung der Einheit des Denkens. In jenem ersten Satz
der Philosophie, dem »Alles ist Wasser«, steckt schon die Vor-
aussetzung der Denkbarkeit der Welt, wenn auch erst Par-
menides die Identität von Sein und Denken aussprach. Denn
es ist keine Selbstverständlichkeit, daß man mit Aussicht auf
eindeutige Antwort fragen kann: »was ist Alles?« Man kann
nicht fragen: »was ist Vieles?«; darauf wären nur mehrdeutige
Antworten zu erwarten; dagegen ist dem Subjekt Alles schon
ein eindeutiges Prädikat vorweggesichert. Die Einheit des
Denkens also leugnet, wer, wie es hier geschieht, dem Sein
die Allheit abspricht. Der ganzen ehrwürdigen Gesellschaft
der Philosophen von Jonien bis Jena wirft den Handschuh
hin, wer es tut.
Unsre Zeit hat es getan. Die »Kontingenz der Welt«, ihr
Nuneinmalsosein, hat man wohl immer gesehen. Aber diese
Kontingenz galt es eben zu bewältigen. Dies war ja gerade
die eigentlichste Aufgabe der Philosophie. Im Gedachtwerden
verwandelte sich das »Zufällige« in ein Notwendiges. Wieder
erst nach dem vollendeten Abschluß, den dieses Streben des
Denkens durch den deutschen Idealismus erreichte, kam mit
Schopenhauer und in der Schellingschen Spätphilosophie eine
entgegengesetzte Richtung auf. Der »Wille«, die »Freiheit«,
das »Unbewußte« konnte, was die Vernunft nicht gekonnt
hatte: über einer Welt von Zufall walten. So schienen gewisse
Richtungen des Mittelalters wieder aufzuleben, welche die
»contingentia mundi« behaupteten, um die verantwortungslose
Willkür des Schöpfers sicher zu stellen. Aber eben diese
geschichtliche Erinnerung führt auf das Bedenkliche jener
VOM ALL
22
Auffassung. Erklärt wird gerade das nicht, was erklärt werden
soll: wie die Welt zufällig sein kann, obwohl sie doch als not-
wendig gedacht werden muß. Diese, um es ganz kraß zu for-
mulieren, Nichtidentität von Sein und Denken muß am Sein
und am Denken selber hervortreten und nicht durch ein als
deus ex machina hinzukommendes Drittes, den Willen, der
weder Sein noch Denken ist, geschlichtet werden. Und da
der Grund der Einheit von Sein und Denken im Denken
gesucht wird, so müßte zunächst im Denken der Grund der
Nichtidentität aufgedeckt werden.
Die Überlegung, in der das geschieht, geht etwa diesen
Weg: Zugegeben, daß das Denken die ein und allgemeine
Form des Seins ist, so hat doch das Denken selber einen
Inhalt, ein Soundnichtanders, das dadurch, daß es rein gedacht
wird, um nichts weniger soundnichtanders ist. Gerade diese
seine »Spezifikation«, diese seine Verzweigung, gibt ihm die
Kraft, sich mit dem ebenfalls verzweigten Sein zu — iden-
tifizieren. Die Identität von Denken und Sein setzt also eine
innere Nichtidentität voraus. Das Denken, zwar durchweg
auf das Sein bezogen, ist, weil zugleich auch auf sich selber
bezogen, zugleich eine Mannigfaltigkeit in sich. Das Denken
also, selber die Einheit seiner eigenen inneren Vielheit, be-
gründet außerdem, und zwar nicht insofern es Einheit, sondern
insofern es Vielheit ist, die Einheit des Seins. Damit aber
fällt die Einheit des Denkens, als unmittelbar nur auf das
Denken, nicht auf das Sein gehend, aus dem Kosmos Sein»
Denken heraus. Dieser Kosmos selbst in seiner Verflochten-
heit von zwei Vielheiten hat also jetzt die Einheit ganz jen-
seits. In sich ist er nicht Einheit, sondern Vielheit, kein all-
umschließendes All, sondern ein eingeschlossenes Eins, das in
sich wohl unendlich, aber nicht abgeschlossen ist. Also, wenn
das Wort erlaubt ist, ein ausschließendes All. Man könnte
das Verhältnis, in das so die Einheit des Denkens und die
Einheit von Denken und Sein miteinander treten, etwa ver-
gleichen mit* einer Wand, auf der ein Gemälde hängt. Der
Vergleich ist sogar in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich.
Betrachten \yr ihn näher.
20
ERSTER TEIL: EINLEITUNG
Jene übrigens leere Wand versinnbildlicht nicht übel, was
von dem Denken bleibt, wenn man seine weltbezogene Viel-
heit abtrennt. Durchaus kein Nichts, aber doch etwas ganz
Leeres, die nackte Einheit. Man könnte das Bild nicht auf-
hängen, wenn die Wand nicht da wäre, aber mit dem Bild
selber hat sie nicht das mindeste zu tun. Sie hätte nichts da-
gegen einzuwenden, wenn außer dem einen noch andre Bilder,
oder statt des einen ein andres Bild auf ihr hinge. Wenn
nach der von Parmenides bis Hegel herrschenden Vorstellung
die Wand gewissermaßen al fresco bemalt war, Wand und
Bild also eine Einheit ausmachten, so ist nun die Wand in sich
Einheit, das Bild in sich unendliche Vielheit, nach außen aus-
schließende Allheit, das heißt aber: nicht Einheit, sondern
Eins, — »ein« Bild.
Wo jene Einheit, auf der nun allein noch der alte Begriff
der Logik haftet, jene nichts außer sich kennende noch an-
erkennende Einheit hingehört, kann noch nicht erörtert
werden. Die Welt jedenfalls hat, gerade weil und insofern sie
die Welt »von Parmenides bis Hegel« ist, jene Einheit nicht
innerhalb, sondern außerhalb ihrer Mauern. Das Denken ist
in ihr heimatsberechtigt, sie selber aber ist nicht das All,
sondern eine Heimat; das Denken wiederum will und darf
seine vornehmere Herkunft, die es weiß, ohne sie doch im
einzelnen bestimmt nachweisen zu können, nicht vergessen, —
darf es nicht, sogar um der Welt willen; denn seine Leistungen
in ihr für das Sein beruhen auf der Kraft jener vornehmeren
Herkunft. So ist die Welt dem eigentlich Logischen, der Ein-
heit, gegenüber ein Jenseits. Die Welt ist nicht alogisch; im
Gegenteil, das Logische ist ein wesentlicher, ja recht eigent-
lich, wie wir sehen werden, ihr »wesentlicher« Bestandteil:
sie ist nicht alogisch, aber — mit dem von Ehrenberg auf-
gebrachten Wort — metalogisch.
Was das bedeutet, wird, soweit es in diesen vorbereitenden
Andeutungen überhaupt möglich und erforderlich ist, klarer
werden, wenn wir einen vergleichenden Blick rückwärts
werfen auf das, was wir beim Menschbegriff dasJVletaethische
VOM ALL
21
nannten. Auch metaethisch sollte ja mitnichten aethisch be-
deuten. Nicht die Abwesenheit des Ethos sollte darin aus-
gesprochen sein, sondern einzig seine ungewohnte Einordnung,
also jene passive statt der ihm sonst gewohnten impera-
tivischen Stellung. Das Gesetz ist dem Menschen, nicht der
Mensch dem Gesetz gegeben. Dieser durch den neuen Begriff
des Menschen geforderte Satz läuft dem Begriff des Gesetzes,
wie er im Bereiche der Welt als ethisches Denken und
ethische Ordnung auftritt, zuwider; und deswegen muß dieser
Menschbegriff als metaethisch bezeichnet werden. Ein ähn-
liches Verhältnis liegt nun auch bei dem neuen Begriff der
Welt vor. Auch hier soll die Welt nicht als alogisch be-
zeichnet werden. Im Gegenteil: die Stellung, die dem Denken
seit den Joniern in aller Philosophie, die den Namen verdient,
zukommt — je meprise Locke, fertigte Schelling Frau von Stael
ab, als sie ihm englisch kam —, diese Stellung wird von uns
unbedingt aufrecht erhalten. Aber am Denken selbst, insofern
es auf die Welt geht, wird ein Charakter entdeckt, der es
aus der geltenden zur seienden Form der Welt macht: die
Spezifikation, ja, man könnte sagen, die Kontingenz; das
Denken wird so — wir haben den krassen Ausdruck nicht
gescheut — ein »Bestandteil« der Welt, und zwar der wesent-
liche Bestandteil, genau wie zuvor das Ethos als wesent-
licher Bestandteil des Menschen erkannt war. Die Einheit des
Logischen, auf der, so lange man auch sie und gerade sie
notwendig in die Welt hineinziehen zu müssen glaubte, die
Auffassung der Logik als Form, Gesetz, Geltendes beruht
hatte, diese Einheit wird nur noch als bestimmend für die
Logik, und zwar nicht »logisch« bestimmend, angesehen.
Wohin damit die ihrem Begriff gemäße Logik falle, wird hier
nun freilich dahingestellt gelassen; im Gegensatz zu vorhin,
wo der begriffsgemäße Platz für die Ethik wegen der ge-
schichtlichen Vollendung der Weltphilosophie leicht festzu-
legen war. Nur daß die Welt, die denkbare Welt, gerade in
ihrer Lenkbarkeit metalogisch ist, ergibt sich schon mit
Sicherheit aus diesem Heraustreten des Logischen aus ihr
22
ERSTER TEIL: EINLEITUNG
einerseits und dem sich Einordnen des Logischen in sie an-
drerseits. Die Wahrheit ist für die Welt nicht Gesetz, son-
dern Gehalt. Die Wahrheit bewährt nicht die Wirklichkeit,
sondern die Wirklichkeit bewahrt die Wahrheit. Das
Wesen der Welt ist diese Bewahrung (nicht Bewäh-
rung) der Wahrheit. Nach »außen« entbehrt die Welt
so des Schutzes, den die Wahrheit dem All von Par-
menides bis Hegel gewährt hatte; sie ist, da sie ihre Wahr-
heit in ihrem Schoße birgt, nach außen ohne diesen Gor*
gonenschild ihrer Unberiihrbarkeit; sie muß an ihrem Leibe
geschehen sein lassen, was daran geschehen sein mag, und
wäre es seine — Schöpfung. Ja, recht vollkommen würden
wir vielleicht den Begriff der Welt in diesem neuen, meta-
logischen Sinn fassen, wenn wir sie anzusprechen wagten als
Kreatur.
Aus dem All war die Einheit gewichen; dem Kunstwerk
vergleichbar war es nach außen ein einzelnes Eins und nur
nach innen noch All. So ließ es Platz neben sich. Das
Logische hatte mit dem Ethischen einst in, wie es schien, un-
aufhörlichem Kampf um die Vorherrschaft gestanden: das
Metalogische gab dem Metaethischen neben sich Raum. Die
zum einzelnen Eins geeinte Vielheit und der von Haus aus
einzelne Eine, als welche sich letzt Welt und Mensch gegen-
über standen, konnten nebeneinander atmen. So war die For-
derung, die wir zuvor im Interesse des Metaethischen stellen
mußten, erfüllt; das Gemälde hatte sein Desinteressement aus-
sprechen können für den Fall, daß etwa an die gleiche Wand
auch noch ein Relief gehängt werden sollte; das Fresko hätte
das nicht gekonnt; aber das Gemälde interessierte sich für
nichts, was außerhalb der vier Leisten seines Blendrahmens
lag. Dieser kühle Gleichmut des Gemäldes gegen die Wand,
ohne die es doch keinen Platz gefunden hätte, ist nun freilich
der Preis, um den die Miteinanderverträglichkeit von Bild und
Relief erkauft wird. Das Metalogische konnte nur deshalb
gegen das Metaethische duldsam sein, weil es dem Logischen
zuvor den Stuhl vor die Tür gesetzt hatte. Und zwar war
das Logische dabei zunächst in schlimmerer Lage als das
Ethische gegenüber dem Metaethischen. Denn während das
Ethische sofort wußte, wo es seine Unterkunft zu suchen
hatte, war das Logische zunächst heimats- und wohnungslos.
Die Welt hatte es, sofern es sich nicht ihr einfügte, also sofern
es »Absolutes«, schlechthinige Einheit zu sein beanspruchte,
seiner Dienste entlassen. Die Welt war schlechthin unabsolut
geworden. Nicht bloß der Mensch, nein auch Qott konnte
außer ihren Grenzen, wenn anders er wollte, Platz finden.
Diese metalogische Welt bot aber, gerade weil sie gottlos
war, keinen Schutz gegen Gott. Der Kosmos von Parmenides
bis Hegel war securus adversus deos gewesen. Er war es,
weil er selber das Absolute einschloß, wie ebenfalls schon
Thaies in seinem andern überlieferten Wort über das »Alles«,
es sei voller Götter, aussprach. Der nachhegelsche Kosmos
genoß diese Sekurität nicht. Die Kreaturhaftigkeit, die wir
für die Welt beansprucht hatten, um die Selbsthaftigkeit des
Menschen zu retten, läßt so auch Gott aus der Welt ent-
weichen. Der metaethische Mensch ist der Gärstoff, der die
logisch=physische Einheit des Kosmos zerfällt in die metalo-
gische Welt und den metaphysischen Gott.
Von Gott hat es längst eine Wissenschaft »Metaphysik«
gegeben. Unsre beiden Begriffe metalogisch und metaethisch
sind ja nach der Bedeutung gebildet, die jenes Wort im Laufe
der Geschichte angenommen hatte. Noch mehr als bisher
schon in dieser notwendigerweise nur andeutenden Einleitung
müssen wir also hier die Verwechslung mit den uralten philo-
sophischen Begriffen fürchten, und noch schwerer können wir
sie vermeiden. Schon bei den Bemerkungen über das meta-
ethische Selbst war es schwer gewesen, seine Verwechslung
mit dem Begriff der sittlichen Persönlichkeit zu vermeiden.
Wir hatten gleichnisweise auf den Lyriker und den Heiligen
hingewiesen; wir hätten etwa auch auf den Theaterbösewicht
mit seinem »So bin ich nun einmal, und so will ich denn auch
sein« hindeuten können, um die hier gemeinte völlige Befreit-
24
ERSTER TEIL: EINLEITUNG
heit von der Ordnung eines sittlichen Reichs der Zwecke an-
schaulich zu machen. Aber das. war, wie uns wohl bewußt
ist, auf die Gefahr der Unklarheit und selbst des Verdachts des
philosophischen ^Dilettantismus hin geschehen. Es war nicht
zu vermeiden, auch nicht durch den Versuch, die Fäden
zwischen unserm Begriff und der nachhegelschen Revolution
der Philosophie aufzuzeigen. Ebensowenig war es zu ver-
meiden, daß der metalogische Weltbegriff etwa der Ver-
wechslung mit dem Naturbegriff unterlag; ja diese zweite
Verwechslung drohte fast als notwendige Folge jener ersten;
denn wenn der metaethische Mensch trotz des Namens mit
der sittlichen Persönlicheit gleichgesetzt wurde, so blieb für
den logischen Kosmos nur die Gleichsetzung mit dem
kritischen Naturbegriff. Auch hier mußten wir zu dem bedenk-
lichen Mittel des Vergleichs greifen — bedenklich auch hier,
weil wir die tiefere Wahrheit, das Mehr=als=Vergleich=sein
des Vergleichs hier noch nicht klarstellen konnten. Wir wiesen
gleichnisweise auf die innere Abgeschlossenheit und Allheit
und gleichwohl äußere Vereinzeltheit des Kunstwerks hin;
wir wiesen auch, im Gleichnis der Wand, auf der das
Gemälde hängt, auf seine äußere Bedürftigkeit, wie sie allent-
halben, in der Notwendigkeit der Aufführung, der Veröffent-
lichung, letzthin eben in der Notwendigkeit des Betrachters
für eine vollendete Existenz des Werks, zutage tritt; wir
wagten endlich den besonders gefährlichen, weil weit vor-
greifenden Hinweis auf den theologischen Begriff der Kreatur.
Durch alle diese Hinweise suchten wir unsern Weltbegriff zu
scheiden von dem kritischen Naturbegriff, dem gegenüber er
der weit umfassendere ist; denn er umschließt grundsätzlich
alle möglichen Inhalte eines philosophischen Systems, soweit
sie sich nur der Bedingung fügen, nicht als Elemente »des«,
sondern nur »eines« All auftreten zu dürfen. Erneut und ver-
stärkt begegnen uns nun diese Schwierigkeiten bei dem jetzt
zu besprechenden metaphysischen Gottesbegriff.
Metaphysisch — nicht aphysisch. Aller Akosmismus, alle
indische Leugnung, alle spinozistisch-idealistische Aufhebung
der Welt ist nichts als ein umgekehrter Pantheismus. Und
gerade den pantheistischen Allbegriff der Philosophie haben
wir ja abtun müssen, um unsern metaphysischen Qottesbegriff
auch nur sichten zu können. So wie das Metaethische des
Menschen ihn zum freien Herrn seines Ethos macht, auf daß
er es hat, nicht es ihn; und so wie das Metalogische der Welt
den Logos zu einem ganz in die Welt ausgegossenen »Be-
standteil« der Welt macht, daß sie ihn habe und nicht er sie;
so macht das Metaphysische Gottes die Physis zu einem
»Bestandteil« Gottes. Gott hat eine Natur, seine eigene, ganz
abgesehen von dem Verhältnis, in das er etwa zu dem Phy-
sischen außer ihm, zur »Welt«, tritt. Gott hat seine Natur,
sein naturhaftes, daseiendes Wesen. Das ist so wenig eine
Selbstverständlichkeit, daß vielmehr die Philosophie ihm bis
zu Hegel hin diese Eigenexistenz stets bestritten hat. Die
sublimste Form dieser Bestreitung, nichts andres, ist der
ontologische Gottesbeweis, — auch ein Gedanke, der so alt
ist wie die Philosophie. Immer wenn die Theologen mit
ihrem Drängen auf Gottes Existenz den Philosophen lästig
wurden, wichen diese auf das Geleise jenes »Beweises« aus;
die Identität von Denken und Sein wurde dem hungrigen
Kindlein Theologie von der Wärterin Philosophie als ein
Schnuller in den Mund gesteckt, damit es nicht schrie. In
Kant und Hegel geschieht ein doppelter Abschluß dieses jahr-
hundertealten Betrugs. Kant ist ein Abschluß, indem er den
Beweis durch die scharfe Scheidung von Sein und Dasein
zerkritisiert; Hegel aber lobt ihn, weil er ja Zusammenfalle
mit dem Grundbegriff der philosophischen Weltansicht über-
haupt, mit dem Gedanken der Identität von Vernunft und
Wirklichkeit, und also von Gott genau so gut gelten müsse
wie von allem andern; und gerade durch die Naivität dieses
Lobes versetzt er ihm, ohne es, Philosoph der er ist, zu
ahnen, in den Augen der Theologie den Todesstoß. So ist die
Bahn frei für die philosophische Erstellung des göttlichen Da-
seins unabhängig von Gedachtwerden und Sein des Alls; Gott
muß Dasein haben vor aller Identität -von Sein und Denken;
2Ö
ERSTER TEIL: EINLEITUNG
wenn hier Ableitung vorliegen soll, dann noch eher die des
Seins vom Dasein, als die in den ontologischen Beweisen
immer wieder versuchte Ableitung des Daseins vom Sein. Es
ist die Schellingsche Spätphilosophie, in deren Bahn wir uns
mit solchen Betrachtungen bewegen.
Aber mit diesem natürlichen Element in Gott, das ihm erst
die wahre Selbständigkeit gibt gegen alles Natürliche außer
ihm — denn so lange Gott nicht seine Natur in sich schließt,
ist er letzthin wehrlos gegen die Ansprüche der Natur, ihn in
sich zu schließen —, mit diesem Natürlichen in Gott also ist
der Inhalt des metaphysischen Gottesbegriffs noch nicht ganz
umschrieben. So wie der metaethische Begriff des Menschen
nicht darin erschöpft ist, daß er sein eigenes Ethos, noch der
metalogische Weltbegriff darin, daß sie ihren eigenen Logos
in sich hat, so wenig der metaphysische Gottesbegriff darin,
daß Gott eine — seine — Natur hat. Sondern so wie beim
Menschen erst das, seis trotzige, seis demütige, seis selbst-
verständliche Aufsichnehmen dieser seiner ethischen Erbschaft
und Be=gabung ihn zum Menschen rundet: und wie bei der
Weit erst die Fülle und Verzweigtheit und Unaufhörlichkeit
ihrer Gestalten, nicht schon ihre Denkbarkeit durch den welt-
eigenen Logos, die Welt zur kreatürlichen Welt machen: so
wird auch Gott nicht schon dadurch lebendig, daß er seine
Natur hat. Sondern es muß noch jene göttliche Freiheit hin-
zukommen, die wir mit Worten wie jenem danteschen »dort,
wo man kann, was man will« oder dem goetheschen Getansein
des Unbeschreiblichen beinahe mehr verhüllen als erleuchten;
erst indem dies Etwas als das eigentlich Göttliche hinzu-
kommt. verwirklicht sich Gottes Lebendigkeit. Wie wir für
Gottes »Natur« auf Schelling weisen durften, so können wir
für Gottes »Freiheit« den Spuren Nietzsches folgen.
Einen Atheismus wie den Nietzsches hatte die Geschichte
der Philosophie noch nicht gesehen. Nietzsche ist der erste
Denker, der Gott — nicht verneint, sondern recht eigentlich
nach dem theologischen Gebrauch des Wortes: ihn »leugnet«.
Noch genauer: der ihm flucht. Denn einen Fluch, gewaltig
VOM ALL
27
wie jener Fluch, mit dem Kierkegards Qotteserlebnis anhub,
bedeutet jener berühmte Satz: »wenn Gott wäre, wie hielte
ich es aus, nicht Gott zu sein«. Noch nie hatte ein Philosoph
so Auge in Auge mit dem lebendigen Gott gestanden, um so
zu sprechen. Der erste wirkliche Mensch unter den Philo-
sophen war auch der erste, der Gott von Angesicht zu An-
gesicht sah — wenn auch nur, um ihn zu leugnen. Denn jener
Satz ist die erste philosophische Gottesleugnung, in der Gott
nicht mit der Welt unlöslich verbunden ist. Zur Welt hätte
Nietzsche nicht sagen können: wenn sie wäre, wie hielte ich
es aus, nicht sie zu sein. Dem lebendigen Menschen erscheint
der lebendige Gott. Das trotzige Selbst schaut mit ingrim-
migem Haß die alles Trotzes ledige göttliche Freiheit, die ihn,
weil er sie für Schrankenlosigkeit halten muß, zur Leugnung
drängt, — denn wie hielte er es sonst aus, nicht Gott zu sein.
Nicht Gottes Sein, Gottes Freiheit treibt ihn zu dieser Selbst-
verwahrung; über Gottes bloßes Sein, auch wenn er daran
»glaubte«, könnte er lachend hinwegschreiten. So stößt das
Metaethische, wie zuvor das Metalogische, das Metaphysische
aus sich ab und macht es gerade dadurch als göttliche »Per-
sönlichkeit«. als Einheit — nicht wie die menschliche Persön-
lichkeit als Eins — sichtbar.
Doch es mag genug sein an vorbereitenden Bemerkungen.
Sowohl die zeitgeschichtlichen wie die begrifflichen Zu-
sammenhänge ließen sich noch weiter ausspinnen, ohne daß
dadurch mehr erreicht würde als — Vorbereitung. Indem wir
das Voraussetzungsvolle des Gedankens, das Denken habe
das All zu denken, erkannten, zersplitterte uns unversehens
der bisher grundsätzlich einfache Inhalt der Philosophie, das
All des Denkens und Seins, in drei getrennte, sich gegenseitig
in verschiedener, noch nicht näher faßbarer Weise abstoßende
Stücke. Von diesen drei Stücken — Gott Welt Mensch —
wissen wir, soviel wir schon in freier Anknüpfung an das all-
gemeine Bewußtsein der gegenwärtigen Zeit davon geredet
haben, im strengen Sinne noch gar nichts. Es sind die Nichtse,
28
ERSTER TEIL: EINLEITUNG
in die Kant der Dialektiker die Gegenstände der drei »ratio-
nalen Wissenschaften« seiner Zeit, der rationalen Theologie,
Kosmologie und Psychologie, zerkritisiert hat. Nicht als
Gegenstände rationaler Wissenschaft denken wir sie wieder-
herzustellen, sondern gerade umgekehrt als »irrationale«
Gegenstände. Als Mittel zur ersten Absteckung ihrer Orte
diente uns die Methode, die in der Vorsilbe »meta« bezeichnet
ist: nämlich die Orientierung an dem rationalen Gegenstand,
von dem sich der gesuchte irrationale abstößt, um sein irra-
tionales Sein zu gewinnen: also für den Menschen die Orien-
tierung an dem Menschen, welcher Gegenstand der Ethik, für
die Welt die an der Welt, welche Gegenstand der Logik, für
Gott die an dem Gott, welcher Gegenstand der Physik ist.
Das konnte wirklich nichts weiter als Mittel der ersten Ab-
steckung sein. Die Erschließung der so abgesteckten Gebiete
muß anders geschehen. Von den Nichtsen des Wissens stößt
unsere Entdeckerfahrt vor zum Etwas des Wissens. Wir sind
noch nicht sehr weit, wenn wir beim Etwas angekommen
sind. Aber immerhin: Etwas ist mehr als Nichts. Was jen-
seits des Etwas liegen mag, das können wir von da aus, wo
wir jetzt uns finden, vom Nichts her, überhaupt noch nicht
ahnen.
Daß das leere Sein, das Sein vor dem Denken, in dem
kurzen kaum greifbaren Augenblick, ehe es Sein für das
Denken wird, dem Nichts gleich sei, das gehört ebenfalls zu
den Erkenntnissen, die die ganze Geschichte der Philosophie
von ihren ersten Anfängen in Jonien bis zu ihrem Ausgang in
Hegel begleiten. Dies Nichts blieb ebenso unfruchtbar wie
das reine Sein. Die Philosophie hub erst an, wo sich das
Denken dem Sein vermählte. Eben ihr versagen wir, und
eben hier, unsre Gefolgschaft. Wir suchen nach Immer-
währendem, das nicht erst des Denkens bedarf um zu sein.
Deshalb durften wir den Tod nicht verleugnen und deshalb
müssen wir das Nichts, wo und wie es uns begegnen mag,
aufnehmen und zum immerwährenden Ausgangspunkt des
Immerwährenden machen. »Das« Nichts darf uns nicht
Wesensenthüllung des reinen Seins bedeuten, wie dem großen
Erben der zwei Jahrtausende Philosophiegeschichte. Sondern
wo immer ein seiendes Element des All in sich selber ruht,
unauflöslich und immerwährend, da gilt es, diesem Sein ein
Nichts, sein Nichts, vorauszusetzen. Solchem Gang aber von
einem Nichts zu seinem Etwas bietet sich zur Führerin eine
"V.
Wissenschaft, die selber nichts andres ist als ständiges Her-
leiten eines Etwas — und nie mehr als eines Etwas, eines
Irgend — aus dem Nichts, und nie aus dem leeren allgemeinen
Nichts, sondern stets aus dem »seinen« Nichts grade dieses
Etwasses: die Mathematik.
Daß die Mathematik nicht über das Etwas, das Irgend hin-
ausführt und das Wirkliche selber, das Chaos des Dies, von
ihr höchstens noch be-, nicht mehr getroffen wird, das hat
schon Platon entdeckt; dieser Entdeckung verdankt sie den
Respekt oder bisweilen auch die Mißachtung, die ihr von den
Philosophen seither entgegengebracht wurde, je nachdem das
»Allgemeine«1 bei der herrschenden Zeitgesinnung in Ehren
oder in Verruf stand. Aber daß ihr dies Bishierherundnicht-
weiter schon bei ihrer Geburt verhängt wurde, das ist, nicht
zufällig, erst nach dem völligen Aifslauf jener zweitausend-
jährigen Bewegung erkannt worden. Erst Hermann Cohen,
der, gegen seine eigene Selbstauffassung und gegen den
Anschein seiner Werke, ganz etwas anderes war als ein
bloßer Nachfahr jener wahrlich abgelaufenen Bewegung, erst
er entdeckte in der Mathematik ein Organon des Denkens,
grade weil sie ihre Elemente nicht aus dem leeren Nichts der
einen und allgemeinen Null, sondern aus dem bestimmten,
jeweils jenem gesuchten Element zugeordneten Nichts des
Differentials erzeugt. Das Differential verbindet in sich die
Eigenschaften des Nichts und des Etwas; es ist ein Nichts,
das auf ein Etwas, sein Etwas hinweist, und zugleich ein Etwas,
das noch im Schoße des Nichts schlummert. Es ist in einem
die Größe, wie sie ins Größenlose verfließt, und dann
wiederum hat es als »Unendlichkleines« leihweise alle Eigen-
schaften der endlichen Größe mit einziger Ausnahme — dieser
ERSTER TEIL: EINLEITUNG
30
selbst. So zieht es seine wirklichkeitsgründende Kraft einmal
aus der gewaltsamen Verneinung, mit der es den Schoß des
Nichts bricht, und dann ebensosehr doch wieder aus der
ruhigen Bejahung alles dessen, was an das Nichts, dem es
selber als Unendlichkleines doch noch verhaftet bleibt,
angrenzt. Zwei Wege erschließt es so vom Nichts zum
Etwas, den Weg der Bejahung dessen, was nicht Nichts ist,
und den Weg der Verneinung des Nichts. Um dieser beiden
Wege willen ist Mathematik die Führerin. Sie lehrt im Nichts
den Ursprung des Etwas erkennen. Und so bauen wir hier,
möchte der Meister es auch weit ablehnen, fort auf der
wissenschaftlichen Großtat seiner Logik des Ursprungs, dein
neuen Begriff des Nichts. Mag er sonst in der Durchführung
seiner Gedanken mehr Hegelianer gewesen sein als er zugab
— und damit ganz so sehr »Idealist«, wie er es sein wollte —,
hier, in diesem Grundgedanken brach er entscheidend mit der
idealistischen Überlieferung. An Stelle des einen und all-
gemeinen Nichts, das gleich der Null wirklich nichts weiter
sein durfte als »nichts«, jenes wahrhaften »Undings«, setzte
er das besondere Nichts, das fruchtbar in die Wirklichkeiten
brach. Eben zu Hegels Gründung der Logik auf den Begriff
des Seins setzte er sich da in entscheidendsten Gegensatz.
Und damit wiederum zur ganzen Philosophie, deren Erbe
Hegel angetreten hatte. Denn zum ersten Mal erkannte und
anerkannte hier ein Philosoph, der — ein Zeichen mehr für die
Gewalt dessen, was ihm geschah, — selber sich noch für
einen »Idealisten« hielt: daß dem Denken, wenn es auszog.
um »rein zu erzeugen«, nicht das Sein entgegentrat, sondern
— Nichts.
Zum ersten Mal. Wenn es auch wahr bleibt, daß wie
überall so auch hier unter allen Denkern der Vergangenheit
Kant allein, und zwar, wie stets, in jenen Bemerkungen, die er
hinsprach, ohne ihnen systematische Folgen zu geben, den
Weg, den wir nun gehen werden, gewiesen hat. Denn er
selber, der doch jene drei »rationalen« Wissenschaften, die er
vorfand, zersetzte, ist von dieser Zersetzung nicht etwa mehr
VOM ALL
31
zu einer einen und allgemeinen Verzweiflung am Erkennen
zurückgekehrt. Sondern er wagte, ob auch nur tastend, den
großen Schritt und formulierte das Nichts des Wissens nicht
mehr einfach, sondern dreifach. Mindestens das »Ding an
sich« und der »intelligible Charakter« bezeichnen zwei
getrennte Nichtse des Wissens, nach unsrer Terminologie das
metalogische und das metaethische. Und die dunklen Worte,
mit denen er gelegentlich von der geheimnisvollen »Wurzel«
beider spricht, suchen wohl auch dem metaphysischen Nichts
des Wissens einen festen Punkt zu ertasten. Dies ist höchst
bedeutsam, daß unser Denken, nachdem ihm einstmals das
All als sein einer und allgemeiner Gegenstand vorgelcgt war,
sich nunmehr nicht auf ein eines und allgemeines Ignoramus
zurückgeschleudert sieht. Das Nichts unsres Wissens ist kein
einfaches Nichts, sondern ein dreifaches. Damit enthält es in
sich die Verheißung der Bestimmbarkeit. Und deshalb dürfen
wir so gut wie Faust hoffen, in diesem Nichts, diesem drei-
fachen Nichts des Wissens, das All, das wir zerstückeln
mußten, wiederzufinden. »Versinke denn! ich könnt’ auch
sagen: steige!«
ERSTES BUCH
GOTT UND SEIN SEIN
ODER
METAPHYSIK
VON Gott wissen wir nichts. Aber dieses Nichtwissen
ist Nichtwissen von Gott. Als solches ist es der Anfang
unsres Wissens von ihm. Der Anfang, nicht das Ende.
Das Nichtwissen als Ende und Ergebnis unsres Wissens ist
der Grundgedanke der »negativen Theologie« gewesen,
welche die Vorgefundenen Behauptungen über Gottes »Eigen-
schaften« zersetzte und abtat, bis das Nicht aller dieser Eigen-
schaften als Gottes Wesen übrig blieb, Gott also bestimmbar
wurde nur in seiner völligen Unbestimmbarkeit. Diesen Weg,
der von einem Vorgefundenen Etwas zum Nichts führt und an
dessen Ende sich Atheismus und Mystik die Hand reichen
können, beschreiten wir nicht, sondern den entgegengesetzten
vom Nichts zum Etwas. Unser Ziel ist kein negativer, sondern
im Gegenteil ein höchst positiver Begriff. Wir suchen Gott,
gleich wie späterhin die Welt und den Menschen, gerade nicht
innerhalb eines einen und allgemeinen All als einen Begriff
unter andern; wollten wir das, dann allerdings wäre die
negative Theologie des Cusaners oder des Königsbergers das
einzig wissenschaftliche Zielt denn dann wäre das Negative
schon im Ausgangspunkt des Denkens als das Ziel festgelegt;
ein Begriff, unter andern ist stets negativ, mindestens gegen
andre; und macht er den Anspruch auf Unbedingtheit, so kann
ihm die Wissenschaft nur dienen mit unbedingter — Nichtig-
keit. Aber eben jene Voraussetzung des einen und allgemeinen
Alls haben wir aufgegeben. Wir suchen Gott, wie späterhin
Welt und Mensch, nicht als einen Begriff unter andern,
sondern für sich, auf sich allein gestellt, in seiner — wenn
der Ausdruck nicht mißverständlich ist — absoluten Tatsäch-
METAPHYSIK
33
lichkeit, also gerade in seiner »Positivität«. Deshalb müssen
wir das Nichts des gesuchten Begriffs an den Anfang stellen;
wir müssen es in unsren Rücken bringen; denn vor uns liegt
als Ziel ein Etwas: die Wirklichkeit Gottes.
Gott also ist uns zunächst ein Nichts, sein Nichts. Vom
Nichts zum Etwas, oder sagen wir schärfer: vom Nichts zu
dem, was nicht Nichts ist — denn wir suchen kein »Etwas« —
führen zwei Wege, der Weg der Bejahung und der Weg der
Verneinung. Die Bejahung, nämlich des Gesuchten, des
Nichtnichts; die Verneinung, nämlich des Vorausgesetzten, des
Nichts. Diese zwei Wege sind untereinander so verschieden,
ja so entgegengesetzt wie — nun eben wie Ja und Nein. So
sind auch die erreichten Punkte nicht etwa einerlei mit dem,
der vorhin als das »Gesuchte« bezeichnet wurde, sondern
untereinander verschieden — wieder wie Ja und Nein. Das
Ja gilt dem Nichtnichts, das Nein dem Nichts. Bejahung des
Nichtnichts setzt — wie jede Bejahung, die durch Verneinung
geschieht, — ein Unendliches, Verneinung des Nichts setzt —
wie jede Verneinung — ein Begrenztes, Endliches, Bestimmtes.
Wir sehen also das Etwas in zweierlei Gestalt und in zweierlei
Verhältnis zum Nichts: einmal als seinen Anwohner und
einmal als seinen Entronnenen. Als Anwohner des Nichts ist
das Etwas die ganze Fülle alles dessen, was nicht Nichts —
ist, in Gott also, da wir außer ihm hier nichts kennen, die
ganze Fülle dessen, was in ihm »ist«; als Entronnener hin-
gegen, der soeben das Gefängnis des Nichts brach, ist das
Etwas nichts weiter als das Ereignis dieser Befreiung vom
Nichts; es ist ganz bestimmt von diesem seinem einen
Erlebnis, in Gott also, dem von außen, mindestens hier, nichts
geschehen kann, ganz und nur Tat. Ohne Ende entquillt so
dem Nichts das Wesen, in scharfer Begrenzung entbricht ihm
die Tat. Beim Wesen fragt man nach dem Ursprung, bei der
Tat nach dem Anfang.
Aus guten Gründen gehen wir hier zunächst nicht über
diese bloß formellen Bestimmungen hinaus; wir wollen uns
34
ERSTER TEIL: ERSTES BUCH
nicht vorgreifen. Das Gesagte wird sich aber schon etwas
erhellen, wenn wir, nur zum Vergleich, den umgekehrten Vor-
gang, das Werden zum Nichts, betrachten. Hier sind eben-
falls zwei Möglichkeiten gegeben: die Verneinung des. um
nun einmal den heute zu stark verengten Ausdruck »Etwas«
durch einen unbelasteten zu ersetzen, — also die Verneinung
des Ichts und die Bejahung des NichtTchts, des Nichts. Die
Umkehrung ist so genau, daß dort, wo auf dem Hinweg das
Ja erschien, jetzt das Nein erscheint und umgekehrt. Für die
Entstehung des Nichts durch Verneinung des Ichts hat die
deutsche Sprache einen Ausdruck, den wir nur von seiner
engeren Bedeutung befreien müssen, um ihn hier einsetzen zu
können: Verwesung bezeichnet (genau wie das Mystikerwort
Entwesung) die Verneinung des Ichts. Für die Bejahung des
Nichts aber hat die Sprache das Wort Vernichtung. In der
Verwesung, der Entwesung entsteht das Nichts in seiner
unendlichen Unbestimmtheit; der verwesende Leib so wenig
wie die entwesende Seele streben nach dem Nichts als einem
Positiven, sondern einzig nach Auflösung ihres positiven
Wesens; aber indem ihnen die geschieht, münden sie in die
gestaltlose Nacht des Nichts. Hingegen Mephisto, der das
Böse geradezu will und das Ewigleere eingestandenermaßen
liebt, begehrt das Nichts, und da muß das Ganze dann freilich
hinauskommen auf — »Vernichtung«. Hier sehen wir also das
Nichts zwar nicht selber als ein Komplexes — denn dann wäre
es ein Bestimmtes und nicht das Nichts —, aber doch als ein
auf mehreren und entgegengerichteten Wegen Erreichbares;
und so verstehen wir nun vielleicht besser, wie im bestim-
mungslosen Nichts verschiedene Ursprünge des Bestimmten
liegen können und der stille Fluß des Wesens, der hoch-
schießende Springquell der Tat aus dem selben dunkel
stehenden Wasser entspringen mögen.
Wohlgemerkt, wir sprechen nicht wie die frühere Philo-
sophie, die nur das All als ihren Gegenstand anerkannte, von
einem Nichts überhaupt. Wir kennen kein eines und all-
gemeines Nichts, weil wir uns der Voraussetzung des einen
METAPHYSIK
35
und allgemeinen All entschlagen haben. Wir kennen nur das
einzelne (deswegen aber nicht etwa bestimmte, sondern nur
bestimmungerzeugende) Nichts des einzelnen Problems. In
unserm Fall also das Nichts Qottes. Gott ist hier unser Pro-
blem, unser Vor=wurf und Gegenstand. Eben daß er zunächst
uns nichts weiter sein soll als ein Problem, drücken wir darin
aus, daß wir mit seinem Nichts beginnen, das Nichts also zu
seiner Voraussetzung (nicht etwa, wie zu Anfang schon
bemerkt, zum Ergebnis) machen. Wir sagen gewissermaßen:
wenn Gott ist, so gilt von seinem Nichts das folgende. In-
dem wir also das Nichts nur als das Nichts Gottes voraus-
setzen, führen auch alle Folgen dieser Voraussetzung nicht
über den Rahmen dieses Gegenstandes hinaus. Es wäre also
ganz falsch und ein Rückfall in den überwundenen Begriff des
einen und allgemeinen Nichts, wenn wir in dem Hervor-
quellen des »Wesens« und in dem Hervorbrechen der »Tat«
das Wesen und die Tat allgemein, etwa das Wesen der Welt
oder die auf Welt oder Menschen gerichtete Tat, abgeleitet zu
haben dächten. Alle Begriffe, solange wir uns in dieser hypo-
thetisierenden Bannmeile des Nichts bewegen, bleiben in
dieser Bannmeile, bleiben unter dem Gesetz des Wenn und
So, ohne aus dem Zauberkreis heraustreten zu können. Das
Wesen etwa kann immer nur ein Wesen innerhalb Gottes
bedeuten, die Tat nie auf einen außerhalb Gottes gedachten
Gegenstand bezogen werden. Es bleibt bei lauter Reflexionen
Gottes — wie nachher der Welt und nachher des Menschen —
in sich selber. Wir haben das All zerschlagen, jedes Stück
ist nun ein All für sich. Indem wir uns in dies Stückwerk
unsres Wissens versenken, sind wir bei unserer Wanderung
ins Reich der Mütter noch Knechte des ersten Befehls: des
Befehls zu versinken. Das Steigen, und in ihm das Zusammen-
wachsen des Stückwerks zum Vollkommenen des neuen All,
wird erst später kommen.
Das Ja ist der Anfang. Das Nein kann nicht Anfang sein;
denn es könnte nur ein Nein des Nichts sein; das setzte
aber ein Nichts voraus, das verneinbar wäre, also ein Nichts,
3*
j6
ERSTER TEIL: ERSTES BUCH
das sich schon zum Ja entschlossen hätte. Das Ja ist also der
Anfang. Und zwar kann es nicht das Ja des Nichts sein; denn
es ist der Sinn unsrer Einführung des Nichts, daß es nicht
Ergebnis sein soll, sondern im Gegenteil Ausgangspunkt und
nur Ausgangspunkt. Es ist noch nicht einmal Anfang. Es ist
höchstens Anfang unsres Wissens. Es ist eben wirklich nur
Ausgangspunkt, also schlechthin unfähig, selber bejaht zu
werden. Ebenso unfähig freilich auch, wie schon gesagt, ver-
neint zu werden. Es liegt vor dem Ja wie vor dem Nein. Es
läge vor allem Anfang — wenn es läge. Aber es »liegt« nicht.
Es ist nur der virtuelle Ort für den Anfang unsres Wissens.
Es ist nur die Markierung für das Gestelltsein des Problems.
Wir vermeiden streng, es zu benennen. Es ist kein »dunkler
Grund« noch sonst ein irgend mit Ekharts, Böhmes oder
Schellings Worten Benennbares. Es ist nicht im Anfang.
Im Anfang ist das Ja. Und da das Ja also nicht auf das
Nichts gehen darf, so muß es auf das Nichtnichts gehen. Und
weil dies Nichtnichts ja nicht selbständig gegeben ist —
denn es ist überhaupt nichts gegeben außer dem Nichts —, so
umschreibt die Bejahung des Nichtnichts als innere Grenze die
Unendlichkeit alles dessen, was nicht Nichts ist. Es wird ein
Unendliches bejaht: Gottes unendliches Wesen, seine unend-
liche Tatsächlichkeit, seine Physis.
Das ist die Kraft des Ja, daß es überall haftet, daß
unbegrenzte Möglichkeiten von Wirklichkeit in ihm liegen.
Es ist das Urwort der Sprache, eins von denen, durch die —
nicht etwa Sätze, sondern erst einmal überhaupt satzbildende
Worte, die Worte als Satzteile, möglich werden. Ja ist kein
Satzteil, aber ebensowenig' das kurzschriftliche Sigel eines
Satzes, obwohl es als solches verwendet werden kann,
sondern es ist der stille Begleiter aller Satzteile, die Bestäti-
gung, das »Sic«, das »Amen« hinter jedem Wort. Es gibt
jedem Wort im Satz sein Recht auf Dasein, es stellt ihm den
Sitz hin, auf dem es sich niederlassen mag, es »setzt«. Das
erste Ja in Gott begründet in alle Unendlichkeit das göttliche
Wesen. Und dies erste Ja ist »im Anfang«.
METAPHYSIK
R
Wir können den Schritt, den dieses erste Ja auf dem Wege
zur Vollendung Gottes bedeutet, in bekannten logisch=mathe-
matischen Symbolen festzuhalten versuchen. Wir wollen uns
dabei zunächst beschränken auf die Verwendung der algebra-
ischen Buchstaben und des Gleichheitszeichens. In der Glei-
chung y-x etwa würde y den Gegenstand, x den Inhalt der
Aussage bezeichnen, y also das Subjekt, x das Prädikat.
Während nun sonst die bejahende Setzung das Subjekt, die
verneinende Bestimmung das Prädikat bezeichnet, ist es hier,
wo es sich um die Ursprünge handelt, gerade umgekehrt; die
Bejahung wird das Merkmal der Urbestimmung; das Prädikat
ist zwar im einzelnen Fall stets ein einzelnes, also negativ,
nach ihrem ursprünglichen Begriff aber ist die Bestimmung
gerade positiv, — das reine »So«. Daß dieses »So« dann
weiterhin ein »So und nicht anders« wird, tritt erst in Kraft,
wenn zu dem ursprünglich Einen das »Andre« hinzutritt. Erst
durch diesen Übergang zur Vielheit wird die Bestimmung zur
Verneinung. Und wie die Urbestimmung im Ja geschieht, so
die Ursetzung, die Setzung des ursprünglichen Subjekts, im
Nein; jede einzelne Setzung eines Subjekts ist zwar bloße für
sich grundlose Position, aber die ursprüngliche Setzung, die
vor allen einzelnen liegt, die Voraussetzung, ist Verneinung,
nämlich des Nichts; jedes einzelne Subjekt ist schlechthin
»anders«, anders nämlich als das Nichts. In der Gleichung,
die wir hier aufzustellen haben, wird also links vom Glei-
chungsstrich das Nein, rechts das Ja zu stehen kommen. Mit
dem einfachen x oder y symbolisieren wir die vollkommene
Beziehungslosigkeit, mit y* die Beziehung des Subjekts auf
ein Prädikat, also die Bestimmung mit dem Hinblick auf eine
ihr noch zuzuordnende Gesetztheit, mit =x die Gesetztheit mit
dem Hinblick auf eine ihr noch bevorstehende Bestimmung.
In dieser Symbolsprache müßten wir also Gottes Physis,
Gottes schlechthinniges und unendlich bejahtes Sein, mit A
bezeichnen; mit A und nicht etwa mit B oder C, denn es ist
unendlich bejaht, es geht ihm innerhalb der ihm eigentüm-
lichen, von seinem Nichts bedingten Sphäre nichts voraus,
3»
ERSTER TEIL: ERSTES BUCH
dem es etwa folgen müßte; es kann ihm nichts vorausgehen,
weil es als unendlich und nicht als endlich gesetzt ist. Es ist
schlechthinige ruhende, aber unendliche Tatsächlichkeit; ob in
dieses stille Meer der innergöttlichen Physis ein Sturm hinein-
fahren wird, der seine Fluten aufbrausen läßt, ob aus seinem
eigenen Schoß sich Wirbel und Wellen bilden, die in die stille
Fläche strömende Bewegung bringen, — das wissen wir noch
nicht. Vorerst ist es »A«, — unbewegtes, unendliches Sein.
Wissen wir wirklich nicht, welche von den beiden Mög-
lichkeiten, der Sturm von außen oder der Wirbel von
innen die glatte Fläche in Bewegung bringen wird? Der Fläche
selber freilich sehen wir nichts an. Aber erinnern wir uns
doch, wie dies unbewegte Wesen uns entstand im Ja und wie
wir soeben vorgreifend ausführten, daß das Ja stets die
rechte, die »x«-Seite der Gleichung y=x einnahm. Damit ist
schon für die erste der beiden Bewegungsmögliohkeiten ent-
schieden. Im Ja liegt nichts, was über es selbst hinaustreibt;
es ist das »so«. Vom Nein also muß die Bewegung kommen.
Das Nein ist ebenso ursprünglich wie das Ja. Es setzt
nicht etwa das Ja voraus. Diese Voraussetzung macht wohl
das einzelne abgeleitete Nein. Das ursprüngliche aber setzt
nichts voraus als das Nichts. Es ist Nein des Nichts. Aber
nun freilich: es entbricht zwar unmittelbar dem Nichts, eben
als dessen Verneinung, kein Ja geht ihm voraus; wohl aber
eine Bejahung. Nämlich: es setzt zwar nur das Nichts voraus,
aber das von ihm vorausgesetzte Nichts ist kein Nichts, bei
dem es sein Bewenden hätte haben dürfen, nicht das Ewig-
leere, das Mephistopheles sich liebt, sondern ein Nichts, aus
dem das Ja hervorquellen mußte, das Nichts, das nur als ein
Nichts des Wissens gedacht war, nicht als positives gesetztes
Nichts, nicht als »dunkler Grund«, nicht als »Abgrund der
Gottheit«, sondern als Ausgangspunkt des Denkens über Gott,
als Ort der Stellung des Problems. Zwar nicht das Ja selber,
aber das Nichts, aus dem Bejahung hervorgehen mußte, geht
dem ursprünglichen Nein voraus. So ist das Nein, unbeschadet
METAPHYSIK
39
der Unmittelbarkeit seines Ursprungs, »jünger« als das Ja.
Das Non ist nicht propter Sic, aber post Sic.
Das Nein ist ursprüngliche Verneinung des Nichts. Wäh-
rend das Ja an dem Nichts nicht hatte haften bleiben können,
weil dieses ihm gewissermaßen keinen Ansatzpunkt gab; wäh-
read es also von ihm abgestoßen sich auf das Nichtnichts warf
und, so ins Unendliche befreit von seinem Ausgangspunkt, in
dem unendlichen Gebiet des Nichtnichts das göttliche Wesen
setzte: ist das Nein mit dem Nichts in engster Verschlingung
Leib an Leib. Die enge Verschlingung ist jetzt möglich, da
durch die vorausgegangene unendliche Bejahung des Nicht-
nichts das Nichts als ein Endliches zurückgeblieben war. So
findet das Nein hier seinen Gegner dicht vor sich. Aber das
Bild des Ringerpaars führt irre. Es ist kein Paar. Es ist ein
Ringkampf nicht zu Zweien, sondern zu Einem; das Nichts
verneint sich selbst. In der Selbstverneinung erst bricht aus
ihm das »Andre«, der »Gegner«, hervor; und in dem Augen-
blick seines Hervorbrechens ist das Nein aus der selbstver-
neinenden Verschlingung des Nichts gelöst und frei geworden.
Als freies, ursprüngliches Nein nimmt es jetzt Gestalt an.
Hier gilt es nun wieder die Frage genau einzustellen. Wir
fragen nach Gott. Das sichselbstverneinende Nichts war das
sichselbstverneinende Nichts Gottes; das aus dieser Selbstver-
neinung geborene Nein ist ein Nein Gottes. Das Ja in Gott
war sein unendliches Wesen. Sein freies, aus der Verneinung
seines Nichts hervorschießendes Nein ist nicht selbst Wesen;
denn es enthält kein Ja; es ist und bleibt reines Nein, es ist
nicht »so«; nur »nicht anders«; so ist es immer auf »andres«
gerichtet, es ist immer nur das »eine«. Und zwar das »eine«
als das »eine« in Gott, vor welchem also alles andre in ihm
zum bloßen »andern« wird. Dies schlechthin »eine«, dies
schlechthinige Nein zu allem, was nicht es selbst, sondern
»andres« ist, welchen Namen dürften wir ihm geben, wenn
nicht den der Freiheit? Gottes Freiheit wird geboren aus der
ursprünglichen Verneinung des Nichts als das auf alles andre
nur als auf andres Gerichtete. Gottes Freiheit ist schlechthin
gewaltiges Nein.
4°
ERSTER TEIL: ERSTES BUCH
Gottes Wesen war unendliches Ja. Jenes Ja ließ das Nichts
als ein des Unendlichen entleertes zurück. Aus diesem end-
lich gewordenen entrang sich in ursprünglicher Selbstver-
neinung das freie Nein. Es trägt die Narben des Kampfs, in
dem es hervorbrach. Es ist unendlich in seinen Möglichkeiten,
in dem, worauf es geht; denn es geht schlechthin auf alles;
alles ist ihm »andres«; aber es selbst ist stets »eines«, stets
begrenzt, stets — endlich, wie es ja in der Selbstverneinung
des endlich gewordenen Nichts hervorbrach. Es bricht in alle
Ewigkeit hervor; denn alle Ewigkeit ist ihm bloß »andres«, ist
ihm bloß unendliche Zeit. Es ist diesem ihm stets »andern«
gegenüber in alle Zeit das Einmalige, das immer Neue, immer
Erstmalige. Dem unendlichen göttlichen Wesen tritt gegen-
über die göttliche Freiheit, die endliche Gestalt der Tat, einer
Tat freilich, deren Mächtigkeit unerschöpflich ist, die sich ins
Unendliche immer neu aus ihrem endlichen Ursprung heraus
ergießen kann, kein unendliches Meer, sondern eine un-
erschöpfliche Quelle. Dem einfürallemal so wie es ist be=
schaffenen Wesen tritt entgegen die allzeit neu sich offen-
barende Freiheit der Tat, eine Freiheit aber, für die wir noch
keinen andern Gegenstand denken dürfen außer der Unend-
lichkeit jenes immerwährenden Wesens. Es ist keine Freiheit
Gottes, Gott ist uns auch jetzt noch Problem. Es ist göttliche
Freiheit, Freiheit in Gott und in Bezug auf Gott. Wir wissen
auch jetzt noch nichts von Gott. Wir sind noch beim Stück-
werk des Wissens, noch beim Fragen, nicht beim Antworten.
Suchen wir das eben gewonnene Stück, die göttliche Frei-
heit, ebenso in einem Symbol einzufangen wie zuvor das gött-
liche Wesen. Als ursprüngliches Nein haben wir die göttliche
Freiheit auf die linke Seite der zukünftigen Gleichung zu
stellen. Und da es ein Nein ist, das als ursprüngliches Sub-
jekt mit unbeschränkter Macht über sich hinaus (wenn auch,
wie stets wieder betont werden muß, nur innerhalb Gottes
über sich hinaus) greift, so wird das Symbol nach dem Schema
»y=« zu bilden sein. Und da schließlich diese Freiheit zwar
in ihrer allzeit erneuerten Einmaligkeit endlich, aber in ihrer
METAPHYSIK
beständigen Neuheit unendlich ist und ihr nichts vorausgehen
kann, weil es nichts neben ihr gibt, sondern sie ein stets Ein-
maliges, aber nie Einzelnes ist, so ergibt sich als Symbol für
sie das »A=«. Wie dies Symbol für die göttliche Freiheit sich
mit dem für das göttliche Wesen zusammenfindet und dadurch
erst die Gleichung und mit ihr die erste Antwort auf die Frage
nach Gott zustande kommt, das sei nun dargestellt.
Die Freiheit geht auf ein Unendliches. Als Freiheit ist sie
endlich; insofern sie auf ein Unendliches geht, ist sie
Macht, unendliche Macht, schroff gesagt: unendliche Willkür.
Als der unendliche Gegenstand, den sie verlangt, liegt ihr vor
nur das Wesen. Aber in dem Wesen, wie es denn symbo-
lisiert war durch einen bloßen Buchstaben ohne das Gleich-
heitszeichen, liegt keinerlei ausgesprochene Richtung, weder
eine tätige noch eine empfängliche, die jener Kraft entgegen-
drängt; das göttliche Wesen ruht im unendlichen Schweigen
des reinen Daseins, der stummen Tatsächlichkeit. Es ist. So
scheint die Willkür, weder gerufen noch gezogen, sich über
das Wesen stürzen zu können. Aber indem sie sich ihm
nähert, gerät sie gleichwohl in den Bannkreis seines trägen
Seins. Ohne daß etwa dies Sein ihr eine Kraft entgegen-
schickt, fühlt sie dennoch ihre eigene Kraft erlahmen; die
unendliche Macht spürt mit jedem Schritt, den sie sich dem
Wesen nähert, einen wachsenden Widerstand, einen Wider-
stand, der am Zielpunkt, beim Wesen selbst, unendlich werden
würde; denn hier würden die Äußerungen der Macht ver-
schluckt von dem durchgängig ausgebreiteten, träge da-
liegenden »Es ist«, »So ist es« des Wesens. An dem Brenn-
punkt der Unendlichkeit des trägen Ja würde die unendlich
geschwächte Macht des unendlich aktiven Nein erlöschen. So
müssen wir die Macht, wie sie selber schon nicht mehr das
ursprüngliche unendliche Nein, sondern schon dies Nein auf
dem Wege zu seiner Machtausübung am trägen So des Ja ist,
erfassen vor dem Ende der Bewegung, also ehe die Trägheit
des Soseins als unendliche wirken kann. Dieser Punkt, wo
42
ERSTER TEIL: ERSTES BUCH
gewissermaßen die unendliche Macht der göttlichen Tat ein-
tritt in das Kraftfeld des göttlichen Wesens, noch gewaltig
über seine Trägheit, aber doch schon an ihr gehemmt, —
diesen Punkt bezeichnen wir im Gegensatz zu dem Punkt der
göttlichen Macht und Willkür als den Punkt des göttlichen
Müssens und Schicksals. Wie die göttliche Freiheit sich zu
Willkür und Macht gestaltet, so das göttliche Wesen zu
Müssen und Schicksal. Aus der unendlichen Bewegung, die
von der Freiheit ausgehend in den Bereich des Wesens
hinüberströmt, entsteht so in unendlicher Selbstgestaltung das
göttliche Antlitz, das mit einem Nicken seiner Brauen den
weiten Olymp erschüttert und dessen Stirne doch gefurcht ist
vom Wissen um den Spruch der Norne. Beides, die unend-
liche Macht im freien Erguß des Pathos und die unendliche
Gebundenheit im Zwang der Moira, — beides zusammen
formt die Lebendigkeit des Gottes.
Wir halten hier einen Augenblick inne, um erst einmal
diesen offenbar entscheidenden Schritt, den wir hier über das
bloße Ja und das bloße Nein hinausgetan haben, nachträglich
zu begreifen. Wir haben die Bewegung, die uns vom Nein
zum Ja trug, wie selbstverständlich hingenommen, ohne zu
fragen, welches Urwort, entsprechend dem Ja und dem Nein
der beiden ersten Schritte, diesen dritten Schritt leitete. Das
Ur=Ja war das Wort der ursprünglichen Setzung gewesen,
als solches in jedem Wort der stille Teilhaber der Geschäfte,
die das Wort im Satzganzen macht. Das Ur=Nein ist gleich-
falls in jedem Wort im Satz wirksam, und zwar nicht insofern
dies Wort Aussage ist, sondern insofern es Gegenstand von
Aussagen wird; so ist sein eigenster Platz im Satz, wie schon
ausgeführt, beim Subjekt; während das Ja als »So« das ein-
zelne Wort bestätigt, d. h. es seines »steten« dauernden
Werts, unabhängig von der Stellung, die es innerhalb des
Satzes zu den andern Worten einnimmt, versichert, geht das
Nein gerade auf diese Stellung des Worts zum Satz. Als
»NichTanders« erörtert es diesen »Ort« des einzelnen Worts,
durch den seine Eigentümlichkeit gegenüber den »andern«
METAPHYSIK
£
festgedegt wird — nicht die »stete« Eigentümlichkeit, sondern
eine vom Satzganzen, von den »andern« Bestandteilen des
Satzes abhängige. Nehmen wir als Beispiel zunächst zwei
extreme Fälle, nämlich für das Ja die Nichts=als=Aussage, das
prädikativische Eigenschaftswort, für das Nein den Nichts^
als^Aussagegegenstand, das substantivische Subjekt. Das
Wort »frei« hat einen bestimmten Sinn, unabhängig davon, ob
es in dem Satz »der Mensch ist freigeschaffen, ist frei« steht,
oder in dem andern »der Mensch ist nicht geschaffen, frei zu
sein«. Dieser bewegungslose Sinn ist das Werk des heim-
lichen Ja. Dagegen das Wort »Mensch« etwas ganz Ver-
schiedenes ist, insofern von ihm ausgesagt wird, daß er ein
Bürger zweier Welten ist, als insofern er ein politisches Tier
genannt wird; diese Verschiedenheit, die jedesmal durch die
andern Glieder des Satzes geschaffen wird, denen das eine
Subjekt gegenübertritt, ist das Werk des heimlichen Nein.
Und nun als abschließendes Beispiel ein ganz unextremes: das
Wort »bis« bedeutet immer den Abschluß einer sukzessiv
gedachten Größe, aber in »bis morgen« geht es auf eine Zeit-
strecke. und zwar eine zukünftige, in »bis an die Sterne weit«
auf eine Raumstrecke. Der übrigens hier leicht erweckte
Anschein, als ob das »heimliche Ja« also in Wirklichkeit, und
nicht bloß in der begrifflichen Reihenfolge (als Möglichkeit des
Bejahens), dem »heimlichen Nein« vorangehen müßte und letz-
teres also weniger ursprünglich sei, wird durch die einfache
Überlegung beseitigt, daß wir ja in Wirklichkeit jene »steten«
festen Bedeutungen der Worte nur aus ihren Zusammen-
hängen im Satz entnehmen und daher diese »Stetigkeit« im
einzelnen Fall gar nicht wirklich vorliegt, sondern im Gegen-
teil jeder neue Satzzusammenhang, in den ein Wort tritt, den
»stetigen« Charakter des Worts wandelt und also die Sprache
in der lebendigen Rede sich stets erneuert.
Wir sprachen eben schon ganz unbefangen von Satz und
Zusammenhang. Eigentlich aber ist mit dem Ja und dem
Nein immer nur das einzelne Wort vorbereitet, wenn auch
tnit dem Nein schon in seiner Beziehung auf den Satz. Der
44
ERSTER TEIL: ERSTES BUCH
Satz selber kommt erst zustande, entsteht erst dadurch, daß
das erörternde, festigende Nein, über das bestätigende Ja
Gewalt zu gewinnen sucht. Der Satz, ja schon der kleinste
Satzteil — wo die Sprache isoliert, das Wort; wo sie agglu-
tiniert, die Verbindung zweier Worte; wo sie flektiert, die
Verbindung von Stamm und Flexionsendung in einem Wort —
setzt Ja und Nein, So und Nichtanders voraus. Damit haben
wir das dritte jener Urworte, das an Ursprünglichkeit den
beiden andern nicht gleich, sondern sie beide voraussetzend,
dennoch erst beiden zu lebendiger Wirklichkeit hilft: das
Wort »und«. Das Und ist nicht der geheime Begleiter des
einzelnen Worts, sondern des Wortzusammenhangs. Es ist
der Schlußstein des Kellergewölbes, über welchem das
Gebäude des Logos, der Sprachvernunft, errichtet ist. Wir
haben in der zuvor gefundenen Antwort auf die Frage nach
Gott, die wir in der Feststellung des Nichts unsres Wissens
von ihm aufgeworfen hatten, eine erste Kraftprobe jenes
dritten Urworts kennen gelernt.
Das, zunächst wenigstens, Abschließende dieser Antwort
wird symbolisiert durch die Gleichung, in der die Wege, die
zur Antwort führten, unsichtbar geworden sind. Der Gleichung
A=A sieht man nicht mehr an, ob sie aus A, A=, =A oder A
aufgebaut ist. Sie läßt nichts weiter erkennen als die reine
Ursprünglichkeit und Insichselbstbefriedigtheit des Gottes. Er
ist von nichts außer sich abhängig und scheint nichts außer
sich zu bedürfen: »frei im Äther herrscht der Gott, seiner
Brust gewalt’ge Lüste bändigt das Naturgebot« — das Gebot
seiner eigenen Natur. Das innere Spiel der Kräfte, das diese
lebendige Göttergestalt gebildet hat, ist versunken. Eben
damit symbolisiert die Gleichung die unmittelbare Lebendig-
keit dieser Gestalt, die Lebendigkeit des Gottes.
Des Gottes zunächst. Denn lebendig sind auch die Götter
des Altertums, nicht erst der, den wir heut als den
lebendigen bezeichnen. Sie sind sogar, wenn man so will,
viel lebendiger. Denn sie sind nichts als lebendig. Sie sind
METAPHYSIK
unsterblich. Der Tod liegt unter ihnen. Sie haben ihn nicht
besiegt, aber er wagt sich nicht an sie heran. Sie lassen ihn
in seinem Reich gelten, entsenden wohl einen aus ihrem
unsterblichen Kreis, über jenes Reich zu walten. Dies ist
dann die uneingeschränkteste, ja eigentlich die einzige Herr-
schaft im strengeren Sinn, die sie ausüben. In die Welt des
Lebendigen greifen sie wohl ein, aber sie herrschen nicht
darin, — sie sind lebendige Götter, aber nicht Götter des
Lebendigen; denn dazu gehörte ein wirkliches Aussichheraus-
treten, und das läge dieser »leichtlebigen« Lebendigkeit der
Olympier nicht; nur auf die Fernhaltung des Todes von ihrer
unsterblichen Welt wird eine gewisse planmäßige- Aufmerk-
samkeit verwendet. Im übrigen leben die Götter unter sich.
Daran ändert auch ihr viel berufenes Verhältnis zu den
»Kräften der Natur« nichts. Denn der Begriff der Natur als
eines Reichs eigener Gesetzlichkeit im Gegensatz zu einem
etwaigen »Übernatürlichen« existiert noch gar nicht. Die
Natur ist stets die eigene Natur der Götter. Wenn ein Gott
mit einem Gestirn oder irgend etwas dergleichen zusammen-
gebracht wird, so wird er dadurch nicht, wie wir es uns
immer wieder in Rücktragung unsres Naturbegriffs vorstellen
möchten, zum Gott des Gestirns, sondern das Gestirn wird
Gott oder mindestens Teil des Gottes. Und wenn von diesem
göttlichen Walten der Gestirne ein Kraftfeld ausstrahlt über
alles irdische Geschehen, so wird damit dieses irdische
Geschehen nicht der Waltung der göttlichen Gestirne unter-
stellt, sondern es wird gewissermaßen hinaufgehoben in jene
göttliche Sphäre, Teil dieses Ganzen; es hört auf, selbständig
zu sein, wenn es das je war; es wird selbst göttlich. Immer
bleibt die Welt der Götter eine Welt für sich, selbst wenn sie
die ganze Welt umschließen; die umschlossene Welt ist dann
nichts für sich, zu dem der Gott erst in ein Verhältnis treten
müßte, sondern eben ein von ihm Umschlossenes. So ist Gott
hier ohne Welt; oder wenn man umgekehrt diese Vorstellung
gerade als eine Weltanschauung charakterisieren möchte, so
wäre diese Welt des unter sich bleibenden Götterlebens —
a6 ERSTER TEIL: ERSTES BUCH
eine Welt ohne Götter. Und damit hätten wir das Wesen
dessen ausgesprochen, was man als mythologische Weltauf-
fassung bezeichnen mag.
Denn dies ist das Wesen des Mythos: ein Leben, das nichts
über sich und nichts unter sich kennt; das, mögen nun die
Träger dieses Lebens Götter Menschen Dinge sein, ohne
beherrschte Dinge, ohne herrschende Götter ist, ein Leben
rein in sich. Das Gesetz dieses Lebens ist der innere, nicht
über sich selbst hinaustönende, stets in sich selbst zurück-
kehrende Einklang von Willkür und Schicksal. Die frei hin-
strömende Leidenschaft des Gottes bricht sich an dem inneren
Damm des dunkeln Gebots seiner Natur. Die Gestalten des
Mythos sind weder bloß Mächte noch bloße Wesen; weder
als das eine, noch als das andre wären sie lebendig; erst in
dem Wechselstrom von Leidenschaft und Schicksalsschluß
entstehen ihre höchst lebendigen Züge: grundlos im Haß wie
in der Liebe, denn es gibt keine Gründe unter ihrem Leben,
rücksichtslos, denn es gibt kein Zurück, nach dem sie sehen
müßten, ihr freier Erguß nicht geleitet, nur gehemmt vom
Spruch des Schicksals, ihr Müssen nicht gelöst durch die freie
Kraft ihrer Leidenschaft, und dennoch beides, Freiheit und
Wesen, eins in der rätselhaften Einheit des Lebendigen — das
ist die Welt des Mythos.
Dieser widerspruchsvolle Reichtum des Lebens, der möglich
wird durch die Abgeschlossenheit der mythischen Welt,
ist nun außerhalb seines ursprünglichen Bereichs bis auf den
heutigen Tag in Kraft geblieben für die Kunst. Alle Kunst
steht noch heutigen Tags unter dem Gesetz der mythischen
Welt. Das Kunstwerk muß jene Abgeschlossenheit in sich,
jene Rücksichtslosigkeit gegen alles, was außerhalb liegen
mag, jene Unabhängigkeit von höheren Gesetzen, jene Freiheit
von niederen Pflichten haben, die wir als der Welt des Mythos
eigentümlich erkannten. Es ist eine Grundforderung an das
Kunstwerk, daß von seinen Gestalten, und mögen sie die
Tracht unsres Alltags tragen, ein Schauer des »Mythischen«
METAPHYSIK
1Z
ausgeht; das Kunstwerk muß durch eine kristallene Mauer
von allem andern, was nicht es selbst ist, abgeschlossen sein;
es muß etwas wie ein Hauch über ihm liegen von jenem
»leichten Leben« der olympischen Götter, mag schon das
Dasein, das es spiegelt, Not und Träne sein. Von dem drei-
fachen Geheimnis des Schönen — äußere Form, innere Form,
Gehalt — hat die erste seiner Gestalten, das Wunder der
äußeren Form, das »Was aber schön ist, selig ist es in ihm
selbst«, seinen Ursprung im metaphysischen Geiste des
Mythos. Der Geist des Mythos gründet das Reich des
Schönen.
Dieser Geist des Mythischen, in dem Gott zu einem leben-
digen Gott wird, hat seine Stärke in jener Geschlossen-
heit, die selbst wieder eine Folge der Abschlußhaftigkeit dieses
Gottesbegriffs ist. Auch seine Schwäche liegt begründet in
dieser seiner Geschlossenheit und abschlußhaften, nicht zeu-
genden, sondern erzeugnishaften Art. Aber hier gilt es vor-
erst, seine Stärke zu betonen. Das Mythische, wie es bis zu
ihrem Untergang in den Religionen Vorderasiens und Europas,
doch als ein Stadium der Entwicklung überall herrschend war,
bedeutet keine niedrigere, sondern die höhere Form gegen-
über den »Geistesreligionen« des Ostens. Es ist kein Zufall,
daß die Offenbarung, als sie in die Welt hinausging, ihren Weg
nicht nach Osten, sondern nach Westen nahm. Die lebendigen
»Götter Griechenlands« waren würdigere Gegner für den
lebendigen Gott als die Schemen des asiatischen Ostens.
Chinas wie Indiens Gottheiten sind ungeheure Gebäude aus
den Blöcken der Urzeit, die als Rohblöcke in den Kulten der
»Primitiven« noch bis in unsre Zeit hineinragen. Der Himmel
Chinas ist der zum Weltumfassenden gesteigerte Begriff der
göttlichen Macht, die, ohne sich über das göttliche Wesen zu
ergießen und sich so zur göttlichen Lebendigkeit zu gestalten,
in die ungeheure Kugel ihrer herrschenden Willkür das ganze
All einordnete, nicht als ein andres, sondern als ein ihr Ein-
geschlossenes, ihr »Innewohnendes«; nirgends wird der an-
±8
ERSTER TEIL: ERSTES BUCH
schauliche Sinn des Immanenzgedankens so deutlich wie bei
diesem chinesischen Vergöttern der Himmelswölbung, außer
der — Nichts ist. Und ebenso wie sich Chinas Gott erschöpft
in dem Gang vom Nichts zur allumfassenden Macht, so
Indiens auf der Straße zwischen dem Nichts und der reinen
alles durchdringenden Stille des Wesens, der göttlichen
Physis. In den stummen Kreis des Brahman ist nie der Laut
der göttlichen Freiheit gedrungen; so bleibt es, obwohl alles
Leben erfüllend und alles Leben in sich hineinsaugend, selber
tot. Von den lebendigen Gestalten der Götter des Mythos her
gesehen sind diese »Gottheiten« — das Wort aller derer, die
sich vor dem Angesicht des lebendigen Gottes in die Nebel der
Abstraktion flüchten — Rückbildungen ins Elementare. Wie
sehr, das lehrt ein Blick auf die Rückbildungen, die eben jene
elementaren Gebilde selber wieder erfahren; denn einmal be-
gonnen, hört dieser Gang der Rückbildung nicht eher auf, bis
er hart an seine äußerste Grenze gelangt ist, ans — Nichts.
Die Wesenhaftigkeit des Brahman sprachen seine Verehrer
tiefsinnig aus mit der unermüdlich wiederholten Silbe der Be-
jahung, die alle seine Geheimnisse erschließen sollte. Aber
indem sie gleichzeitig dieses eine ungegliederte Wesen als den
Aufsauger aller Vielheit, des Selbst aller Dinge, erkannten,
tauchte hinter dem ungegliederten einen Ja schon eine neue
Bestimmung des Wesens auf, dem Sinne nach mit dem Ja
einerlei, aber die unendliche in es hineingebannte Vielheit an-
deutend; »Nein Nein«. So ward das Ja als Verneinung des
Nichts erkannt. Dem einen unendlichen So wurde das unend-
lich zahllose »Nicht so, nicht so« eingefügt. Das Wesen der
Gottheit war das verneinte Nichts. Und von hier gab es nur
noch einen letzten Sprung rückwärts. Sollte der Sprung nicht
im Nichts selber zerschellen, so mußte er den letzten Punkt
erreichen, der noch zwischen ihm und jenem Nichtnichts lag.
In diesem Weder=Noch aber von Nichts und Nichtnichts
erkennen wir jenen schwindelerregenden letzten Gedanken
des Buddhismus wieder, jenes Nirwana, das jenseits von Gott
und Göttern, doch ebensosehr auch jenseits des bloßen Nichts,
METAPHYSIK
49
seinen selbst gedanklich nur im salto mortale zu erschwin-
genden Platz hat. Offenbar gibt es hier nichts mehr weiter;
es ist ein Äußerstes; dahinter liegt bloß noch das reine Nichts;
die erste Station auf dem Wege, der vom Nichts zum Nicht-
nichts führt, wird von diesem Begriff in letzter noch irgend
möglicher Verflüchtigung alles Wesens bezeichnet.
Die Macht des Himmels, an den das klassische China
glaubt, hat sich wie jede tätige Macht durch einfache Vernei-
nung vom Nichts gelöst. Die Vielheit der Dinge wird in dieses
machtvolle Allumfassende nicht aufgesogen wie das Selbst,
und alles Selbst, in die Meeresstille des Brahman; der Himmel
schließt alles ein, indem er über alles gewaltig ist. Seine
Macht ist Tat, ihr Symbol die Gewalt, die das Männliche dem
Weiblichen tut. Nicht als ein unendliches Ja äußert sie sich also,
sondern als ein jeden Augenblick erneuertes Nein gegen Jeg-
liches, was in ihr beschlossen ist. Die Abstraktion, die auch
hier noch hinter diese elementare Abstraktion den Sprung
rückwärts wagte bis hart an die Grenze alles Elementaren im
Nichts, mußte an die Stelle von Gott und Göttern als Gott*
»heit« einen Begriff der höchsten Macht stellen, die vom
Nichts sich nur darin unterschied, daß sie sich auf Tat und
Wirkung bezog, welche Beziehung aber selber einzig die des
— Nichtstuns war. Das Tao ist dies nur tatlos Wirkende,
dieser Gott,, der sich »mäuschenstill« hält, damit die Welt sich
um ihn bewegen kann. Es ist ganz unwesenhaft; nichts ist in
ihm, so wie etwa alles Selbst im Brahman »ist«. Vielmehr es
selbst in allem, aber wiederum nicht wie alles Selbst
im Brahmann »ist«, also nicht wie — nach dem Gleichnis
der Upanischaden — Salzkristalle in der Lösung, sondern
— höchst bezeichnend auch hier wieder die Gleichnisse — wie
die Nabe in den Speichen, wie die Fenster in der Wand, wie
der Hohlraum im Gefäß: es ist das, was dadurch, daß es
»nichts« ist, das Etwas »brauchbar« macht, der selbst
bewegungslose Beweger des Beweglichen. Es ist die Nicht-
tat als der Urgrund der Tat. Auch hier wieder ein Äußerstes:
die eine mögliche Gestalt, die der Atheismus annehmen kann,
ERSTER TEIL: ERSTES BUCH
21
wenn er wahrhaft atheistisch sein und weder im Pantheismus
stecken bleiben noch im reinen, von jeder besonderen Be-
ziehung auf Gott und Götter freien Nihilismus verwehen will.
So sind hier in Nirwana und Tao die Baupläne entworfen,
nach denen bis zum heutigen Tag jedes Gebäude errichtet
werden muß, wohin das Denken über Gott sich vor der
Stimme des wahren Gottes flüchten will. Hier allein ist es vor
dieser Stimme sicher, — securus adversus deos so gut wie
adversus Deum. Von hier führt kein Weg mehr zurück. Das
Nichts ist ein fester Pflock; was an ihn angepflöckt ist, reißt
sich nicht mehr los. Und nur weil diese letzte Abstraktion
von allem göttlichen Leben dem lebendigen Selbst des
Menschen und den lebendigen Welten der Völker unerträglich
ist und deshalb das Leben auf die Dauer stets wieder gewaltig
wird über die lebensflüchtige Blässe der Abstraktion — kurz
weil es das Schicksal der Anhänger Buddhas wie Laotses ist,
daß ein blühendes Heidentum die starren Steinblöcke ihrer
Ungedanken wieder überwuchert, nur deshalb mögen auch in
ihrem Bannkreis die Ohren der Menschen noch wieder emp-
fänglich werden für die Stimmen, vor denen jene Männer einst
sich in den schallsicheren Räumen des Nirwana und Tao
bargen. Denn nur wo Leben ist, und sei es auch götter-
trunken=gottfeindliches Leben, nur dort findet die Stimme des
Lebendigen Widerhall. Im leeren Raum des Ungedankens, in
den sich die Gottesangst flüchtet, die zur Gottesfurcht nicht
den Mut aufbrachte, verhallt jene Stimme ins Leere. Die
Götter des Mythos, mochten sie auch nicht über ihr um-
mauertes Reich hinausleben, — immerhin: sie lebten. Indiens
wie Chinas Gott, auch schon vor der letzten Verflüchtigung
zum Nirwana und Tao, teilt die Schwäche jener Götter des
Mythos: nicht über sich selber hinaus zu können. Aber er ist
ihnen unendlich unterlegen in seinem Stehenbleiben auf halbem
Weg, in seiner Unkraft zu dem, was aus den Göttern des
Mythos gewaltig atmet: dem Leben.
Wenn je Gott über seine hier schon erreichte Lebendig-
keit hinausgehen sollte und zum lebendigen Gott des
Lebens werden, so müßte das bisher auf dem Wege vom
METAPHYSIK
11
Nichts gewonnene Ergebnis selber wieder zu einem Nichts, zu
einem Ausgangspunkt werden. Die Elemente der Macht und
des Müssens, der Willkür und des Schicksals, die in die
Gestalt des lebendigen Gottes zusammenmündeten, müßten
dann aufs neue auseinandertreten, das scheinbare Endergebnis
ein Urquell werden. Schon über die mythisch gerichtete
Theologie des Altertums war eine Unruhe gekommen, die zu
einem Hinausgehen über die selbstzufriedene Sphäre des
Mythos drängte und so jene Umkehrung des bloß Lebendigen
in das Lebenzeugende zu fordern schien. Aber es ist bezeich-
nend für die Gewalt der mythischen Anschauung, daß die da-
hin gerichteten Versuche sowohl in den Mysterien wie in den
Gedanken der großen Philosophen stets die Einziehung von
Mensch und Welt in die Sphäre des Göttlichen anstrebten,
also ganz wie der Mythos schließlich doch nur das Göttliche
hatten. Die Selbständigkeit des Menschlichen und Weltlichen
war aufgehoben so gut in den Vergottungsmysterien wie in
den nie vom Göttlichen zum Menschen und den Weltdingen,
nur umgekehrt führenden Sehnsuchts- und Liebesbegriffen, mit
denen die Philosophen die Kluft überbrückten. Das gilt von
dem Liebesverlangen der Griechen nach dem Vollkommenen,
wie von der Gottesliebe der Inder. Es wäre wie eine Ver-
engung Gottes erschienen, des Gottes, den man eben erst
durch Anhäufung aller edeln Qualitäten der vielen Götter auf
seinen einen Scheitel zum allumfassenden erhoben zu haben
stolz war, hätte man nun wieder ihn in die Leidenschaft der
Liebe verstricken wollen. Wohl mag ihn der Mensch lieben;
seine, des Gottes Liebe aber zum Menschen durfte höchstens
Antwort auf die Liebe des Menschen sein, nur gerechter Lohn
also, nicht freies, über alle Maßstäbe der Gerechtigkeit hinaus
begnadendes Geschenk, nicht göttliche Urkraft, die da erwählt
und sich nicht nötigen läßt, ja die aller menschlichen Liebe
zuvorkommt und Blinde erst sehend, Taube erst hörend
macht. Und selbst wo der Mensch, wie es eben in jenen
Kreisen der indischen Gottesfreunde geschah, die höchste
horm der Liebe zu erschwingen meinte, indem er sich alles
4*
ERSTER TEIL: ERSTES BUCH
Eignen, aller Wünsche und Begierden wie auch allen
asketischen Sichmühens um Gott begab und in vollkom-
menster Gelassenheit Gottes Gnade erwartete, — so war
eben diese Gelassenheit die Leistung, die der Mensch dar-
brachte, nicht selber erst Gottes Geschenk. Anders gesagt:
Gottes Liebe ward nicht dem Verstockten, sondern dem Voll-
kommenen. Die Lehre von der Gelassenheit in die göttliche
Gnade galt für ein gefährliches »Allergeheimstes«; man möge
sie, so wird gelehrt, nimmer denen verkünden, die Gott nicht
verehren, wider ihn murren, sich nicht kasteien. Grade diese
Verirrten, Verhärteten, Verschlossenen aber, die Sünder,
mußte die Liebe eines Gottes suchen, der nicht bloß liebens-
würdig ist, sondern der selber liebt, unabhängig von der Liebe
des Menschen, nein grade umgekehrt: selber erst die Liebe
des Menschen erweckend. Aber freilich, dazu wäre nötig, daß
der unendliche Gott dem Menschen so endlich nah käme, so
von Angesicht zu Angesicht, von benannter Person zu be-
nannter Person, wie es kein Verstand der Verständigen,
keine Weisheit der Weisen je zugeben dürfte. Und wäre zu-
gleich nötig, daß die Kluft zwischen Menschlich'Weltlichem
und Göttlichem, die eben in der Unaustilgbarkeit der Eigen-
namen bezeichnet ist, für so tief, für so wirklich und allen
asketischen Menschen» und mystischen Weltkräften uniiber-
springbar erkannt und anerkannt würde, wie es kein Asketen-
hechmut, kein Mystikerdünkel in seiner Verachtung des
»Schall und Rauchs« der Namen, irdischer wie himmlischer,
je zugeben wird.
Und so blieb das Wesen dieses mythischen Gottes zwar der
Sehnsucht von Mensch und Welt erreichbar, aber nur um den
Preis, daß der Mensch aufhörte Mensch, die Welt aufhörte
Welt zu sein. Mensch und Welt trug der Flügelschlag der
Sehnsucht hinauf in das verzehrende Feuer der Vergottung.
Wie denn diese Sehnsucht, indem sie zum Göttlichen trug» das
Menschliche und Weltliche weit unter sich ließ und nicht etwa
mit tieferer Liebe auch in dieses hineinführte. Auch den
Gottesfreunden Indiens ist die Tat nur das. was nicht böse sein
METAPHYSIK
53
darf, nicht das, was gut sein muß. Und das Göttliche fließt
nirgends über die Grenzen seines Eigenlebens; bis zum Monis-
mus Gottes ist die Antike gekommen, aber nicht weiter; Welt
und Mensch müssen zur Natur Gottes werden, sich vergotten
lassen, Gott aber läßt sich nicht zu ihnen herab; er schenkt
sich nicht, er liebt nicht, er muß nicht lieben. Denn er behält
seine Physis für sich. Und bleibt also, was er ist: das
Metaphysische.
ZWEITES BUCH
DIE WELT UND IHR SINN
ODER
METALOGIK
WAS wissen wir denn von der Welt? Sie scheint *
uns zu umgeben. Wir leben in ihr, aber sie ist
auch in uns. Sie dringt auf uns ein, aber mit
jedem Atemzug und jedem Regen unsrer Hände strömt sie
auch von uns aus. Sie ist uns das Selbstverständliche, selbst-
verständlich wie das eigene Selbst, selbstverständlicher als
Gott. Sie ist das Verständliche schlechtweg, das was die
besondere Eignung wie Bestimmung hat, verstanden zu
werden und zwar aus sich selbst, — selbstverständlich zu
sein. Über diese Selbstverständlichkeit ist aber die Philo-
sophie längst zur Tagesordnung übergegangen und hat in
immer erneutem Anlauf bald das Ich, bald Gott zum Aus-
gangspunkt des Verstehens machen wollen und so die Selbst-
Verständlichkeit der Welt gradezu auf Null reduziert. Was
dann als Wissen vom »Ding an sich« oder wie immer dieser
unendlich kleine Restbetrag genannt wird, schließlich noch
von der Selbstverständlichkeit der Welt übrig bleibt, wäre
recht eigentlich Gegenstand einer negativen Kosmologie. Daß
man diesen Namen nicht mit ähnlichem Behagen aufgegriffen
hat wie den einer negativen Theologie, hängt wohl mehr an
allgemein kulturellen Sym- und Antipathien als an sachlichen
Gründen. Denn die Liebhaber Gottes sind häufig keine Lieb-
haber des Wissens und umgekehrt. Ein derartiger Gegensatz
besteht zwischen den Liebhabern der Welt und denen des
Wissens nicht; im Gegenteil, sie sind, wie ja auch die Begriffe
Welt und Wissen selber, mehr oder weniger auf einander an-
gewiesen. So ging das »Ergebnis der Wissenschaft«, daß
man von Gott nichts wissen könne, besser ein als das gleiche
METALOGIK
11
Ergebnis von der Welt. Wir widerstreben jenem »Ergebnis«
wie diesem. Wir lassen es nicht als Ergebnis bestehn. Wenn
die Wissenschaft zu solchem Ergebnis hat führen können, so
hat sie sich selbst ad absurdum geführt. Nicht das Ergebnis
zwar muß dann falsch sein, aber der Weg, auf dem es Ergebnis
werden mußte. Deshalb nehmen wir hier, wie zuvor bei Gott,
jenes »Ergebnis« als Anfang.
Von der Welt wissen wir nichts. Und auch hier ist das
Nichts Nichts unsres Wissens und ein bestimmtes, einzelnes
Nichts unsres Wissens. Auch hier ist es das Sprungbrett, von
dem aus der Srung ins Etwas des Wissens, ins »Positive«
getan werden soll. Denn wir »glauben« an die Welt, so fest
zum mindesten wie wir an Gott oder an unser Selbst glauben.
Deshalb kann uns das Nichts dieser dreie nur ein hypo-
thetisches Nichts sein; nur ein Nichts des Wissens, von dem
aus wir das Etwas des Wissens erschwingen, das den Inhalt
jenes Glaubens umschreibt. Daß wir jenen Glauben haben,
davon können wir uns nur hypothetisch freimachen; hypo-
thetisch, indem wir ihn von Grund aus aufbauen; so werden
wir schließlich den Punkt erreichen, wo wir einsehen, wie das
Hypothetische Umschlägen mußte in das Anhypothetische,
Absolute, Unbedingte jenes Glaubens. Nur dies kann und
soll uns die Wissenschaft leisten. Daß sie uns freimachen
würde von jenem dreifachen Glauben, können wir gar nicht
erwarten; eben daß und weshalb wir es nicht erwarten
können, wird uns die Wissenschaft lehren. So wird das
scheinbar, nämlich nach früheren Begriffen, Unwissenschaft-
liche jenes »Glaubens« gerechtfertigt werden. Des Descartes
»de omnibus dubitandum« galt unter der Voraussetzung des
einen und allgemeinen All. Diesem All stand das eine und all-
gemeine Denken gegenüber, und als Werkzeug dieses Denkens
der ebenso eine und allgemeine Zweifel »de omnibus«. Fällt
jene Voraussetzung — und sie als hinfällig, ja als für den
bewußten Geist schon gefallen zu erweisen, war unser erstes
Bestreben — fällt also jene Voraussetzung, so tritt an die
ERSTER TEIL: ZWEITES BUCH
56
Stelle des einen und allgemeinen, also absoluten Zweifels der
hypothetische Zweifel, der, eben weil nicht mehr »de
omnibus«, sich auch nicht mehr als Zweck, sondern nur noch
als Mittel des Denkens fühlen darf. So versinken wir denn
abermals in die Tiefe des Positiven.
Aus dem Nichts quillt auch hier wieder, eben weil es nicht
^Nichts bleiben darf, die ursprüngliche Bejahung, das Ja
des Nichtnichts. Aber weil diese Bejahung ein Unendliches
bejahen muß, so kann das bejahte Nichtnichts hier nicht wie
bei Gott das Sein bedeuten. Denn das Sein der Welt ist kein
unendlich ruhendes Wesen. Die unerschöpfliche stets neu-
gezeugte und neu empfangene Fülle der Gesichte, das »voller*
Figur=sein« der Welt ist gerade das Gegenteil eines solchen
stets ruhenden, in sich und jeden Augenblick unendlichen
Wesens, als welches wir das Sein Gottes ansprechen. So muß
das Urja hier etwas andres bejahen; anders muß die Uraus-
sage von der Welt lauten. Als ein Unendliches — und als
solches allein kann das Nichtnichts bejaht werden — als ein
Unendliches kann nur bejaht werden ein »überall« Seiendes
und »immer« Währendes. Die Worte »überall« und »immer«,
die der göttlichen Physis gegenüber nur den Sinn eines Gleich-
nisses hätten, nur der stammelnde Ausdruck wären für Unaus-
drückbares, treffen hier im Falle der Welt genau zu. Das
Sein der Welt muß wirklich ihr Überall und Immer sein.
Überall und immer ist aber das Sein der Welt nur im Denken.
Der Logos ist das Wesen der Welt.
Erinnern wir uns hier dessen, was wir über das Verhältnis
der Welt zu ihrem Logos in der Einleitung vorangeschickt
haben. Das Denken ist als ein vielverzweigtes System ein-
zelner Bestimmungen in die Welt ergossen. Es ist das aller-
orten und jederzeit in ihr Geltende. Es verdankt seine Bedeu-
tung für die Welt, seine »Anwendbarkeit«, jener Verzweigung,
jener Vielfältigkeit, zu der es sich entschlossen hat. Es ließ
das, mit dem Tragiker zu reden, »einfältige Wort der Wahr-
heit« in seinem Rücken liegen; eben dieser Abwendung ent-
METALOGIK
57
springt die Kraft seiner Hinwendung zum Sein. Das System
der Denkbestimmungen ist System nicht durch einen einheit-
lichen Ursprung, sondern durch die Einheit seiner Anwendung,
seines Geltungsbereichs, — der Welt. Ein einheitlicher Ur-
sprung kann, und sogar muß, von diesem auf das Sein und nur
das Sein gerichteten Denken wohl vorausgesetzt, aber nicht
erwiesen werden. Denn indem es sich ganz zum angewandten,
weltheimischen Denken machte, verzichtete es darauf, die
Einheit seines Ursprungs nachweisen zu können: da dieser
einheitliche Ursprung nicht in der Welt lag, so kam auch der
Weg von dem vorauszusetzenden »reinen« zum »an-
gewandten« außerhalb des Machtbereichs des angewandten
Denkens zu liegen. Das bloß vorausgesetzte Denken mag
gedacht werden müssen, denkt aber nicht; bloß das wirkliche,
das weltgültige, weltangewandte, weltheimische Denken denkt.
So bleibt die Einheit des Denkens außerhalb; das Denken muß
sich dafür trösten mit der Einheit der Anwendung in den
geschlossenen Mauern der Welt. Ob die unendliche Einheit
des göttlichen Seins, die ja ausdrücklich vor aller Identität
von Denken und Sein und damit ebensosehr vor dem seins-
gültigen Denken wie vor dem denkbaren Sein liegt, etwa der
Quell ist, aus dem das verzweigte logische Bewässerungs-
system des Weltackers entspringt: das kann hier zwar nicht
gradezu ausgeschlossen, aber doch noch weniger bewiesen
werden; es bleibt hier eine bloße Vermutung; dem Denken ist
in der Welt, wo es heimisch ist, kein Tor verriegelt, aber —
»nach drüben ist die Aussicht ihm verrannt«.
Der Logos der Welt ist in seiner Nichts=als*Anwendbarkeit
aber auch ÜberalLund=immersAnwendbarkeit das Allgemein-
gültige. Mit diesem Begriff des Allgemeinen haben wir eine
neue Seite der Wirksamkeit des ursprünglichen Ja gesichtet.
Das Ja, entsinnen wir uns, war das Wort der ursprünglichen
Aussage, der Aussage, durch die das »So« festgelegt und be=
stätigt wird — einfürallemal. Im ursprünglichen Ja liegt also
schon die Allgemeingültigkeit. Das für sich genommene Prä-
dikativum, etwa das Wort »frei«, hat seinen Sinn immer und
ERSTER TEIL: ZWEITES BUCH
überall, unabhängig von der Bedeutung, die es durch seine
Verwendung im einzelnen Fall der besonderen Aussage ge-
winnt. Das Allgemeine ist nicht das in der Anwendung Zu-
standegekommene, sondern das bloße Anwendbare. Das Ja
begründet bloß die Anwendbarkeit; es ist nicht Gesetz der
Anwendung selber. In der Bejahung, in der dem Nichts
Gottes das göttliche Wesen entquoll, zeigte sich die Unend-
lichkeit des bejahten Nichtnichts als unendliches Sein der gött-
lichen Physis. Die Unendlichkeit des bejahten Nichtnichts der
Welt hingegen zeigt sich als unendliche Anwendbarkeit des
weltlichen Logos. Wollen wir für diesen schlechthin all-
gemeinen und doch überall der Welt verhafteten, in sie ein-
gebundenen Logos eine formelhafte Bezeichnung, so müßten
wir ihn als Ergebnis einer Bejahung auf der rechten Glei-
chungsseite auftreten lassen; um seiner Allgemeinheit willen,
die keinen Raum neben sich freiläßt, dürften wir ihn nur mit A
bezeichnen; der Charakter der Anwendbarkeit, den wir ihm
als wesentlich erkannten, bedeutet einen Hinweis auf die Not-
wendigkeit, daß die Anwendung an ihm auch wirklich
geschehe; diese passiv anziehende Kraft, die von ihm ausgeht,
wurde im Symbol ausgedrückt durch den Vorantritt des
Gleichheitszeichens. So erhalten wir »=A«. Es ist das Symbol
des Weltgeistes. Denn dies wäre der Name, den wir dem in
die Welt, die sogenannte »natürliche« wie die sogenannte
»geistige«, ausgegossenen und ihr allenthalben und immerfort
amalgamierten Logos geben müßten. Wobei wir freilich die
Hegelsche Tönung, die den Namen in der Gottheit ver-
schwimmen läßt, fernhalten müßten; eher möchten wir rück-
wärts horchen auf den Klang, der das Wort, und auch die ver-
wandten »Erdgeist«, »Weltseele«, in den Anfängen der roman-
tischen Naturphilosophie umsummt, beim jungen Schelling und
etwa auch bei Novalis.
Aber das Bestürzende der Welt ist ja', daß sie nicht Geist
.ist. Es ist etwas andres noch in ihr, etwas immer Neues.
Drängendes, Überwältigendes. Ihr Schoß ist nimmersatt zu
METALOGIK
59
empfangen, unerschöpflich zu gebären. Oder besser — denn
Männliches und Weibliches ist beides in ihr — sie ist als
»Natur« ebenso die endlose Gebärerin der Gestalten wie die
nie ermattende Zeugungskraft des in ihr heimischen »Geistes«.
Stein und Pflanze, Staat und Kunst — unaufhörlich erneut sich
alles Gebild. Diese Fülle der Gesichte ist ebenso ursprünglich
wie der Reigen der Gedanken. Für ihr Hervorschießen gibt
es ebensowenig eine Bedingung wie für die Ordnung jenes
Reigens. Die Sonne ist kein geringeres Wunder wie das
Sonnenhafte des Auges, das sie erblickt. Jenseits beider,
jenseits der Fülle wie jenseits der Ordnung liegt unmittelbar
das Nichts, das Nichts der Welt.
Aber das Hervorgehen der Fülle aus dem Nichts ist auch
hier ein andres als vorhin das Hervorgehen des Weltlogos.
Der Weltgeist ließ die Nacht des Nichts in seinem Rücken
liegen und schritt mit ruhigem, unendlichem Ja dem Nicht-
nichts, der lichten Weltwirklichkeit, entgegen. Die Fülle der
Gesichte aber bricht das nächtige Gefängnis des Nichts in
immer erneutem Krampf des Zeugens und Gebärens; jedes
Neue ist eine neue Verneinung des Nichts, etwas nie Ge-
wesenes, ein Anfang für sich, ein Unerhörtes, ein »Neues unter
der Sonne«. Unendlich ist hier die Kraft der Verneinung des
Nichts, aber endlich jede einzelne Wirkung dieser Kraft, un-
endlich die Fülle, endlich das Gesicht. Grundlos und richtungs-
los steigen die einzelnen Erscheinungen aus der Nacht; es ist
ihnen nicht an die Stirn geschrieben, woher sie kommen, wo-
hin sie gehen; sie sind. Indem sie sind, sind sie einzeln, jedes
ein eines gegen alle andern, jedes ein von allen andern
gesondertes, »besonderes«, ein »nichLanders«.
So tritt die innerweltliche Fülle der Besonderheit entgegen
der innerweltlichen Ordnung des Allgemeinen. Im Allgemeinen
lag ein Bedürfnis nach Erfüllung, eine Wendung auf An=
Wendung hin. Im Besonderen liegt nichts dergleichen. Im
Besonderen liegt eben überhaupt kein Bedürfnis, keine Rich-
tung, keine Kraft, — noch nicht einmal gegen seinesgleichen.
Jedes Besondere ist zwar Besonderes im Hinblick auf andres;
6o
ERSTER TEIL: ZWEITES BUCH
aber diesen Hinblick blickt es nicht; bei seiner Geburt ist es
blind, es ist nichts als seiend. Seine Kraft ist nur das blinde
Schwergewicht seines Seins. Das Symbol nach unsrer 1 er-
minologie ist B, schlechtweg B, das nackte Zeichen der Einzel-
heit, ohne ein hinweisendes Zeichen der Gleichheit.
Das Nein hat also hier zu einem ebenso charakteristisch
gegen vorhin verschiedenen Ergebnis geführt wie das Ja.
Den Zettel ihrer »Existenz«, den Gott in seiner Physis
gefunden hatte, fand die Welt in ihrem Logos. Den Einschlag
des Gewebes, den für Gott die göttliche Freiheit herstellte,
liefert für die Welt der unerschöpfliche Brunnen der Erschei-
nung. Die freie Tat in Gott, das erscheinende Etwas in der
Welt: beides sind gleich plötzliche, gleich einmalige, gleich
neue Offenbarungen aus der Nacht des Nichts, dort Gottes,
hier der Welt. Beide entspringen dem harten, Leib an Leib
gedrängten Ringen des Neins mit dem Nichts. Jedes göttliche
Tun, jede irdische Erscheinung ist ein neuer Sieg über das
Nichts, ein Herrliches wie am ersten Tag. Aber während in
Gott schrankenlose Klarheit der Nacht des Nichts entbricht,
stürzt aus dem dunkeln Schoß des Weltnichts die farbige,
doch selber noch blinde Geburt des einzelnen Etwas. Sie
stürzt, von keinem Drang, nur von der eigenen Schwere
getrieben, hinein in die Welt. Die Welt aber ist schon da, so
gut wie Gottes schlafende Physis schon da war, als der helle
Weckruf der göttlichen Freiheit hineinscholl. Die Welt ist da,
in dem königlichen Schatz der unendlich empfänglichen, un-
endlich »anwendungs«=bedürftigen Gefäße und Geräte ihres
Logos. Und in diese Gefäße stürzen die Inhalte aus dem
unaufhörlich schießenden Quell. Über Ja und Nein schließt
sich das Und.
Das Besondere ist trieblos, in sich ohne Bewegung; es
stürzt hervor, und so ist es da. Es ist nicht das
»Gegebene«, — eine irreführende Bezeichnung, in der sich der
Fehler der ganzen vormetalogischen Weltphilosophie spiegelt;
nicht umsonst kommen ihre Systeme immer wieder grade in
METALOGIK
61
diesem Problem auf den toten Punkt. Es ist nicht das
Gegebene; »gegeben«, einfürallemal, sind in der einfachen
unendlichen Gültigkeit ihres Ja viel eher die logischen Formen;
das Besondere ist Überraschung; nicht Gegebenes, sondern
immer neue Gabe; noch eigentlicher Geschenk, denn im
Geschenk verschwindet das geschenkte Ding hinter der
Geberde des Schenkens. Und die logischen Formen sind
nicht die spontanen Tiere — sponteque se movent —, die in
die Gärten des Gegebenen einbrechen, dort ihre Nahrung zu
suchen; sie sind vielmehr die kostbaren, uralten Gefäße, stets
bereit, den Wein neuer Herbste in ihrem Bauche zu bergen.
Sie sind das Unbewegte, das »ewig Gestrige«, das »All-
gemeine«, das deshalb noch nicht, wie der erzürnte Rebell
wohl möchte, das »ganz Gemeine« ist; das er aber dennoch
richtig charakterisiert als das, »was heute gilt, weils gestern
hat gegolten, und morgen gelten wird, weils heute galt«. Die
Erscheinung aber ist das Immerneue, — das Wunder in der
Geisteswelt.
Die Erscheinung war die crux des Idealismus, und also der
ganzen Philosophie von Parmenides bis Hegel, gewesen; er
hatte sie nicht als »spontan« begreifen dürfen, weil er damit
die Allherrschaft des Logos geleugnet hätte, und so war er ihr
nie gerecht geworden und hatte die sprudelnde Fülle zum
toten Chaos des Gegebenen umfälschen müssen. Die Einheit
des denkbaren All ließ im Grunde keine andre Auffassung zu.
Das All als ein eines und allgemeines kann nur zusammen-
gehalten werden durch ein Denken, das aktive, spontane Kraft
besitzt; indem so dem Denken die Lebendigkeit zugeschrieben
wird, muß sie dem Leben wohl oder übel abgesprochen
werden, — dem Leben die Lebendigkeit! Erst die meta-
logische Weltansicht kann das Leben wieder in seine Rechte
einsetzen. Denn hier gilt das All nicht mehr als das eine und
allgemeine, sondern als »ein« All, und so kann der Logos als
in ihm heimische Wahrheit es erfüllen, ohne daß er genötigt
wäre, die Einheit erst zu bewirken; der innerweltliche Logos,
selber Einheit durch seine wie immer geartete Beziehung auf
Ö2
ERSTER TEIL: ZWEITES BUCH
eine wo immer heimische außerweltliche Einheit, braucht nun
nicht mehr mit einer Aktivität belastet zu werden, die seinem
weltlichen Wesen, seiner Vielfältigkeit und Anwendbarkeit,
gradezu widerspricht; er bewirkt die Einheit der Welt nur von
innen, gewissermaßen nicht als ihre äußere, sondern als ihre
innere Form. Die äußere Einheit hat dies metalogische All
schon von Haus aus, indem es nicht »das« — denkbare —,
sondern »ein« — gedankenvolles —, nicht das geistgeschaffene,
sondern ein begeistetes All ist. Der Logos ist nicht wie von
Parmenides bis Hegel Weltschöpfer, sondern Weltgeist, besser
vielleicht noch Weltseele. Der so wieder zur Weltseele
gewordene Logos kann nun dem Wunder des lebendigen
Weltleibs sein Recht widerfahren lassen. Der Weltleib braucht
nicht mehr als eine unterschiedslose, chaotisch wogende
Masse von »Gegebenheit« dazuliegen, bereit, von den logischen
Formen ergriffen und geformt zu werden, sondern er wird
zum lebendigen, stets erneuerten Schwall der Erscheinung,
der über den still geöffneten Schoß der Weltseele niedergeht
und sich mit ihr vereinigt zur gestalteten Welt.
Verfolgen wir den Weg jenes Niedergehens des Besonderen
über das Allgemeine näher. Das Besondere — erinnern wir
uns des Symbols »B« — ist richtungslos, das Allgemeine
— »=A« — ist selber passiv, unbewegt; aber indem es Anwen-
dung verlangt, geht eine anziehende Kraft von ihm aus. So
bildet sich um das Allgemeine ein Kraftfeld der Anziehung, in
das das Besondere unter dem Zwange seiner eigenen Schwere
hineinstürzt. Indem wir ähnlich wie vorhin innerhalb Gottes,
so auch hier zwei Punkte dieser Bewegung besonders aus-
zeichnen, beschreiben wir gewissermaßen die ganze Kurve des
Vorgangs. Der eine dieser Punkte ist der, wo nach einem
Stück reinen, richtungs- und bewußtseinslos blinden Stürzens
das Besondere sich seiner gezogenen Bewegung nach dem
Allgemeinen hin gewissermaßen bewußt wird und ihm dadurch
die Augen über seine eigene Natur aufgehen. In diesem Augen-
blick wird das vorher blinde Besondere überhaupt zum seiner
Besonderheit bewußten, und das heißt: zum seiner Richtung
METALOGIK.
63
auf das Allgemeine bewußten, Besonderen. Ein Besonderes,
das vom Allgemeinen »weiß«, ist nicht mehr bloß Besonderes,
sondern Besonderes, das, ohne aufzuhören wesentlich Beson-
deres zu sein, doch schon an die Grenze des Machtbereichs
des Allgemeinen getreten ist. Das ist das »Individuum«, das
Einzelne, das die Merkmale des Allgemeinen, und zwar nicht
des Allgemeinen überhaupt, das ja keine »Merkmale« hat,
sondern seines Allgemeinen, seiner Art, seiner Gattung, am
Leibe trägt und trotzdem noch wesentlich Besonderes, aber
nun eben »individuelles« Besonderes ist. Die Individualität ist
nicht etwa ein höherer Grad der Besonderheit, sondern eine
Station auf dem Wege des reinen Besonderen zum All-
gemeinen. Die andere Station liegt an dem Punkt, wo das
Besondere unter die entschiedene Herrschaft des Allgemeinen
getreten ist. Was über diesen Punkt hinausliegt, wäre das
reine Allgemeine, in dem das Besondere spurlos aufgegangen
wäre; aber der Punkt selbst bezeichnet den Augenblick der
Bewegung, wo das Besondere trotz des entschiedenen Sieges
des Allgemeinen doch noch durchzuspüren ist. An diesem
Punkt steht, wie an dem ersten das »Individuum«, so hier die
»Gattung« oder wie man sonst dies Allgemeine nennen will,
das nicht schlechtweg allgemein, sondern ein individualisiertes
Allgemeines, eine besondere Allgemeinheit ist. Denn Art,
Gattung oder, um in die menschliche Sphäre überzugehen,
Gemeinschaft, Volk, Staat sind alles Begriffe, die nur ihrem
eigenen Besonderen gegenüber unbedingte Allgemeinheiten,
abgesehen davon aber Einheiten sind, die durchaus unter sich
zu Mehrheiten — Gattungen, Völkern, Staaten — zusammen-
treten können. So wie andrerseits auch das Individuum
schlechhinnige Einzelheit nur ist gegenüber seiner Gattung
und doch nur deswegen fähig ist, Vertreter einer — seiner —
Gattung zu sein, weil es gegenüber dem nackten, blinden Be-
sonderen schon eine Mehrheit darstellt; eine Mehrheit nämlich
mindestens von zwei Bestimmungen, dem Gattungsmerkmal
und seinem Eigentümlichen.
64
ERSTER TEIL: ZWEITES BUCH
In Individuum also und Gattung, und zwar in der Be-
wegung, die das Individuum in die geöffneten Arme der Gat-
tung hineinführt, vollendet sich die Gestalt der Welt. Auch
bei Gott waren Wesen und Freiheit nur begriffliche Extreme,
und seine Lebendigkeit erzeugte sich in der inneren Ausein-
andersetzung von göttlicher Macht und göttlichem Müssen, wo
die Willkür der Macht sich am Müssen einschränkte, der
Zwang des Müssens durch die Macht gelöst wurde; so ent-
steht die Gestalt der Welt, nicht unmittelbar aus dem Sturz
des Besonderen in das Allgemeine, sondern näher aus dem
Eingehen des Individuums in die Gattung. Das wirkliche Und
der Welt ist nicht das Und von begeisteter Welt und welt-
heimischem Geist — das sind Extreme —, sondern viel
unmittelbarer: vom Ding und seinem Begriff, vom Individuum
und seinem Genus, vom Menschen und seiner Gemeinschaft.
Es gibt einen Vorgang, worin sich diese beiden Elemente
des Weltwesens in stärkster, bedeutungsreichster Anschau-
lichkeit spiegeln. Das Individuum entspringt in der Geburt,
das Genus, wie schon das Wort andeutet, in der Begattung.
Der Akt der Begattung geht der Geburt voraus und geschieht
als einzelner Akt ohne die bestimmte Beziehung auf sie als
einzelne, dennoch in seinem allgemeinen Wesen streng auf sie
bezogen und gerichtet. Die Geburt aber bricht nun in ihrem
individuellen Ergebnis hervor als ein volles Wunder, mit der
überwältigenden Kraft des Unvorhergesehenen, Unvorher-
sehbaren. Begattung gab es immer und dennoch ist jede
Geburt etwas absolut Neues. Über die unindividuellste aller
menschlichen Handlungen stürzt ein Erfolg von wahrhaft »un-
aussprechlicher«, unausdenkbarer Individualität. Die Eigen-
heit des Geborenen — wohlgemerkt seine Eigenheit als eines
Teils Welt, nicht sein Selbst — sammelt sich ganz im Augen-
blick der Geburt; das ist der tiefste Sinn des astrologischen
Glaubens, der versagt, weil und insofern er den Menschen als
Selbst zu fassen wähnt, während er ihn in Wahrheit nur trifft,
insofern er Individualität, also ein besonderer Teil der Welt
gleich jedem andren außermenschlichen Wesen oder Ding,
METALOGIK
ist; für den Daimon der Individualität aber gilt wirklich das
astrologische Gesetz: »wie an dem Tag, der dich der Welt
verliehen, die Sonne stand zum Gruße der Planeten«. Der
Mensch und jeder individuelle Weltteil ist also nie mehr Indi-
vidualität als in dem Augenblick, wo er — eben sich indivi-
dualisiert, als selber der Teilung absagender Weltteil in die
Erscheinung tritt, »ans Licht der Welt kommt«. Diese seine
Individualität aber wird nun mit dunkler Gewalt angezogen
von der Macht ihrer Gattung; diesem Mittelpunkt treibt sie zu,
in stets zunehmender Entfernung vom aller Möglichkeiten
vollen Tage der Geburt, unter steter Einbuße also an Möglich-
keit, — an Individualität; um sie zuletzt so völlig als es ihr
nur möglich ist, aufzugeben im Augenblick der Begattung. In
der Begattung ist das in seiner Geburt vollkommen indivi-
duelle, geradezu dinghafte, verbindungs- und beziehungslose,
erst vom Begriff, noch nicht von der Wirklichkeit seiner Gat-
tung berührte Individuum ebenso vollkommen in die Gattung
eingegangen. In seinem ständigen Ablauf erweist sich dieser
Kreisprozeß gegenüber dem Erzeugungsbegriff des Idealismus
als die anschauliche Darstellung des metalogischen Wesens
der Welt.
Es ist ein Kreisprozeß. Wir müßten ihn symbolisch mit
B=A bezeichnen. Die Ursprünge der beiden »Seiten« der Glei-
chung sind verschwunden. Die Gleichung selbst aber unter-
scheidet sich charakteristisch von der vorhin gewonnenen.
Während die Gottformel A=A zwei gleich Ursprüngliche, gleich
Unendliche gleichsetzte, behauptet die Weltformel die Glei-
chung zweier Ungleichen: des Weltinhalts und der Weltform.
Und zwar behauptet sie diese Gleichung ausdrücklich zunächst
als B=A, nicht etwa als A=B. Das heißt: sie behauptet die
Passivität der Form, die Aktivität des Inhalts; sie spricht dem
Begriff Selbstverständlichkeit zu, aber das Ding erscheint ihr
als Wunder. Und damit wird ihr die Welt zum in sich
geschlossenen, nach außen ausschließenden Ganzen, zum
gefüllten Gefäß, zum gestaltenreichen Kosmos. Alle grund-
legenden Beziehungen in ihr sind solche, die von B nach A
5
66
ERSTER TEIL: ZWEITES BUCH
führen, die also die Fülle, den Inhalt, die Individuen in die
Ordnung, die Form, die Gattungen eingehen lassen. Alle in
umgekehrter Richtung laufenden Beziehungen sind nicht ur-
sprünglich, sondern abgeleitet. Der Geist kann sich den Körper
nur bauen, weil der Körper erstaunlicherweise sich dem
Geiste zudrängt. Apollons Saitenspiel kann die Steine nur des-
halb zur Mauer fügen, weil die Steine selbst wunderbar be-
seelte.Individuen — »voller Götter« — sind. So ist diese Welt
das entschiedene Gegenbild zur Welt des Idealismus. Für
diesen ist die Welt nicht wunderbare Tatsächlichkeit, also nicht
geschlossenes Ganzes. Sie muß allumfassendes All sein. Die
grundlegenden Beziehungen müssen von den Gattungen zu
den Individuen, von den Begriffen zu den Dingen, von der
Form zum Inhalt laufen. Der gegebene Stoff muß in chaotisch
grauer Selbstverständlichkeit daliegen, bis ihn die Strahlen der
Sonne der geistigen Form in Farben auffunkeln lassen; aber
es sind nur die Farben des Lichts, das aus jener wunderbaren
Lichtquelle ausströmt. Aus jenem chaotischen Grau selber
fahren hier keine Funken. A=B, nicht B*A, wäre die Formel
dieser Weltansicht. Und sie ist es wirklich, wie sich im Zeit-
alter ihrer Vollendung erweist. Das A=B des Idealismus hat in
sich die Möglichkeit seiner »Ableitung« aus einem A*A. Damit
ist die tiefe Paradoxie der Gleichung zweier Ungleicher, die
ja auch hier behauptet wird, gebrochen. Der Gedanke der
Emanation führt fast unmerkbar über die Kluft, die ja gleich-
wohl auch hier noch zwischen Allgemeinem und Besonderem
klafft. Und »emanieren« kann nur B aus A, nicht A aus B.
B kann immer nur »dasein«, nicht Ursprung sein. Daher kann
nur die Gleichung A=B die Gleichung des Idealismus sein, weil
nur sie aus einer formell unparadoxen Gleichung wirklich ab-
zuleiten ist. Das B=B, aus dem man die Gleichung B=A ab-
leiten müßte, wäre zwar formell ebenso unbedenklich, aber
materiell unfähig etwas aus sich ableiten zu lassen, — wobei
wir übrigens die Möglichkeit einer Gleichung B»B noch gar
nicht betrachten. Eine unmittelbare Beziehung aber etwa von
A*A und ELA wäre innerweltlich gar nicht herzustellen. Eine
METALOGIK
paradoxe Aussage über B (nämlich B-A) wird nicht weniger
paradox durch die Beziehung auf eine unparadoxe Aussage
über A (nämlich A=A). Während allerdings die Paradoxie
einer an sich paradoxen Aussage über A (nämlich A=B) durch
die Beziehung auf eine unparadoxe über A (nämlich A*A)
wenn nicht gerade verschwindet, so doch merklich abnimmt.
Es bleibt als unerklärter Rest hier nämlich nichts mehr außer
dem — Begriff der Beziehung, also eine Schwierigkeit, die
ebensosehr die Möglichkeit der Beziehung zwischen zwei
Gleichungen wie der innerhalb der einzelnen Gleichung be-
trifft. Diese Schwierigkeit aber fällt hier noch ganz aus
unserm Gesichtskreis, da wir ja noch einzig mit der einzelnen
Gleichung zu tun haben und nur vorweggreifend, und nur um
die Eigentümlichkeit von B=A gegenüber A=B oder den Unter-
schied der metalogischen gegenüber der idealistischen Welt-
betrachtung zu erläutern, auf den Weg, den der Idealismus
geht, hinweisen mußten. Dieser Weg führt als innerweltlicher
Weg der Emanation, des Hervorströmens, oder der idea*
listischen Erzeugung hin zu A*B. Wir werden die Bedeutung
dieses innerweltlichen Wegs später noch eingehend zu be-
handeln haben. Hier kehren wir zu der einfachen Gleichung
B*A oder vielmehr zu dem, was sie symbolisieren soll, zur
nietalogischen Welt, zurück.
Sie ist, im Gegensatz zu der allerfüllenden Welt des Idealis-
mus, die ganz erfüllte, die gestaltete Welt. Sie ist das
Ganze ihrer Teile. Die Teile sind nicht erfüllt vom Ganzen,
nicht getragen von ihm, — das Ganze ist eben nicht All, es
ist wirklich bloß Ganzes. Deswegen führen auch viele Wege
von den Teilen zum Ganzen, ja ganz genau genommen hat
jeder Teil, sowie er wirklich Teil, wirklich »Individuum« ist,
seinen eigenen Weg zum Ganzen, seine eigene Fallkurve.
Während von dem All der idealistischen Ansicht, das alle
seine Glieder erfüllt und jedes einzelne trägt, auch nur ein
einziger Weg zu diesen Gliedern führt, nämlich eben der Weg,
auf dem der Kraftstrom des Alls fließt. Hier wird der Grund
5*
68
ERSTER TEIL: ZWEITES BUCH
einer Erscheinung, die wir in der Einleitung erwähnten, klar.
Die idealistischen Systeme von 1800 zeigen durchweg, am
deutlichsten das Hegelsche, der Anlage nach aber auch Fichtes
und Schellings, einen Zug, den wir als Eindimensionalität be-
zeichnen müßten. Das Einzelne wird nicht unmittelbar aus
dem Ganzen abgeleitet, sondern wird in seiner Stellung
zwischen dem Nächsthöheren und dem Nächstniederen im
System entwickelt, etwa die »Gesellschaft« bei Hegel in ihrer
Stellung zwischen »Familie« und »Staat«; der Kraftstrom des
Systemganzen fließt als ein einer und allgemeiner durch alle
Einzelgestalten hindurch. Das entspricht genau der idea-
listischen Weltansicht; hier erklärt sich auch die in der Ein-
leitung erwähnte berufsmäßige Unpersönlichkeit der Philo-
sophen von Parmenides bis Hegel. Der Begriff der Einheit
des Alls läßt keine andre Möglichkeit eines Standpunktes offen
als die eine, die in der Problemgeschichte der Philosophie
gerade »an der Reihe« ist. Und daher mußte Hegel die
Geschichte der Philosophie selber zum systematischen Ab-
schluß der Philosophie machen, weil dadurch das Letzte, was
der Einheit des Alls widersprechen zu können schien, der
persönliche Standpunkt der einzelnen Philosophen, unschädlich
gemacht wurde.
Die metalogische Ansicht nun schafft, ebenfalls in notwen-
digem Zusammenhang mit der neuen Weltansicht, auch einen
neuen Begriff und Typ des Philosophen. Wie von jedem ein-
zelnen Ding als Individuum hier der Weg, und zwar ein
eigener Weg, zum Ganzen führt, so auch vom einzelnen Philo-
sophen. Ja der Philosoph ist der Träger der Einheit des meta-
logischen Weltsystems; es selber ermangelt ja der Einheit
der Eindimensionalität, es ist grundsätzlich vieldimensional;
von jedem einzelnen Punkt her laufen Fäden und Beziehungen
zu jedem andern und zum Ganzen, und die Einheit dieser zahl-
losen Beziehungen, der relative Abschluß, ist die persönliche,
erlebte und verphilosophierte Standpunkteinheit des Philo-
sophen. Der relative Abschluß nur; denn zwar begrifflich
muß der Gedanke des Weltganzen in seiner metalogischen
METALOGIK
62
Eigenart streng gefaßt werden, das einzelne System aber wird
diesen Gedanken immer nur relativ verwirklichen können; und
wie diese Relativität im idealistischen System, was Hegel
richtig erkannte, bedingt war durch den erreichten historischen
Problemstand, so im metalogischen durch den subjektiven
Standpunkt des Philosophen. Erschöpft ist auch mit diesen
Bemerkungen das Problem des »Philosophen« noch nicht;
doch müssen wir seine weitere Klärung uns noch aufsparen.
Die Welt also in ihrem Überwältigtsein der dennoch überall
als das »Gegebene« zugrundeliegenden Gattung durch das
Wunder der Individualität, die nicht allerfüllende, aber voll-
erfüllte Welt der metalogischen Ansicht, konnten wir als
gestaltete Welt bezeichnen. Gestaltet, nicht geschaffen. Mit
der Geschaffenheit hätten wir mehr behauptet, als wir hier
behaupten dürften. So wie der lebendige Gott der meta-
physischen Theologie durchaus nicht »der« lebendige Gott
war, sondern »ein« lebendiger Gott, so ist die gestaltete Welt
der metalogischen Kosmologie noch nicht die geschaffene,
sondern bloß die gestaltete. Wie die lebendigen Götter den
Höhepunkt der antiken Theologie, so bezeichnet diese gestal-
tete Welt die Höhe der antiken Kosmologie. Und zwar der
Kosmologie nicht bloß des Makro-, sondern vor allem des
Mikrokosmos, also sowohl der »natürlichen« wie der »gei-
stigen« Welt. Für die natürliche ist das Verhältnis sogar nicht
ganz so klar, weil ja der Grundgedanke des Idealismus, die
Identität von Sein und Denken, schon der Antike aufgegangen
war. Aber dieser Gedanke ist in der Antike ohne kosmo-
logische Auswirkung geblieben; er bleibt meta=physisch.
Selbst den Emanationsgedanken bringt erst die neuplatonische
Schule, die sich eben schon in der Reaktion auf neue, nicht
mehr antike Gedanken entwickelt. Platon aber selber und
Aristoteles lehren innerhalb der Welt kein emanatorisches,
überhaupt kein aktives Verhältnis zwischen Idee und Erschei-
nung, Begriff und Ding, Gattung und Individuum oder wie
sonst der Gegensatz noch gefaßt wird. Sondern hier treten
die merkwürdigen Gedanken ein, daß die Dinge die Idee
ERSTER TEIL: ZWEITES BUCH
»nachahmen«, daß sie auf sie »hinblicken«, sich nach ihr
»sehnen«, sich zu ihr hin, die nicht Ursache, sondern »Zweck«
ist, »entwickeln«. Die Idee ruht. Die Erscheinung bewegt sich
ihr zu. Es scheint genau das metalogische Verhältnis.
Die von den großen Alten ungelösten Schwierigkeiten
dieser Auffassung liegen auf der Hand. Sie sind zum Teil in
der Polemik des Aristoteles gegen seinen Meister ausge-
sprochen, aber von ihm selber auch nicht bewältigt. Die
aristotelische Polemik macht nämlich gegen Platons Ideen-
lehre den Unendlichkeitsgedanken mobil; über Begriff und
Ding muß wiederum ein Begriff der Beziehbarkeit des Dings
auf den Begriff anzusetzen sein und so immer fort. Aber
gegen diesen Unendlichkeitsbegriff ist die metalogische An-
sicht von der Ganzheit der gestalteten Welt überhaupt wehr-
los, und der aristotelische Kosmos ist genau so endlich wie
der platonische. Hier wird eben die Grenze des isolierten
metalogischen Gedankens sichtbar. Aristoteles weicht dem
Problem aus durch den Salto mortale ins Metaphysische.
Denn sein göttliches »Denken des Denkens« ist eben Denken
nur des Denkens; daß es auch Denken des Undenkbaren wäre,
wird ausdrücklich und grundsätzlich abgelehnt; das göttliche
Denken kann nur das »Besteh denken, also nur sich selber.
Dieser Akosmismus seiner Metaphysik aber macht sie unfähig
gerade zu dem, was sie leisten soll. Sie soll — als Lehre von
der Zweckursache — das »Prinzip« der Welt darstellen. Aber
infolge ihres rein metaphysischen Wesens ist sie Prinzip nur
ihrer selbst. Und sieht man von dieser ihrer Bestimmung als
Selbstbewußtsein ab und sucht sie nur als das, was sie leisten
soll, zu betrachten, ohne zu fragen, ob sie es wirklich leistet,
so wird sie als Zweckursache ein rein innerweltliches Prinzip,
und gegen ihr Verhältnis zum Verursachten richten sich dann
alle die Zweifel, die Aristoteles gegen das Verhältnis von Idee
und Ding aufgetürmt hatte. Bei theologischer Betrachtung
verfiel seine Metaphysik dem Vorwurf des Akosmismus, bei
kosmologischer dem des Atheismus — ein Vorwurf in beiden
Fällen, da eben der Anspruch erhoben wird, die Welt zu
METALOGIK
II
erklären, was im einen Fall unmöglich wird, weil sie aus dem
Blickfeld verschwindet, im andern, weil sie zum in sich
geschlossenen Ganzen, zum »Hier« wird, dem die Aussicht ins
Unendliche, »nach dorten«, verrannt ist. Von der metalo-
gischen Ansicht des Mikrokosmos als einer nach äußen be-
grenzten, nach innen durchgestalteten, plastischen Gestalt
kommt also auch dieser große Theolog des Heidentums nicht
los. Das was er sucht, die Auflösung des Widerspruchs, der
zwischen dem unendlichen All- und Einheitsanspruch des
Denkens und der endlichen, nur unendlich reichen Ganzheit der
Welt besteht, das hat er nicht gefunden. Es zu finden hinderte
ihn die Unfähigkeit, das theologisch-kosmologische Entweder-
Oder durch ein Sowohl=als=auch zu ersetzen.
Während so dem Makrokosmos gegenüber die metalo-
gische Ansicht nicht ohne innere Schwierigkeit aufrecht zu
halten war, schiea sie am Mikrokosmos leicht durchzuführen,
freilich nur scheinbar. Das Problem des Verhältnisses von
Individuum und Gattung wurde von der Menschheit des Alter-
tums, wie es scheint, theoretisch wie praktisch im metalo-
gischen Sinn gelöst. Volk. Staat und welches sonst die antiken
Gemeinschaften sein mögen, sind Löwenhöhlen, in die das
Individuum wohl Spuren hinein, keine hinausführen sieht.
Recht eigentlich tritt dem Menschen die Gemeinschaft als
Ganzes entgegen; er weiß, daß er nur Teil ist. Diese Ganzen,
denen gegenüber er nur Teil, diese Gattungen, denen gegen-
über er nur Vertreter ist, sind über sein sittliches Leben ab-
solute Mächte, obwohl sie doch an sich keineswegs absolut,
sondern selber wieder Exemplare der Gattung Staat, Volk
überhaupt sind. Für den Einzelnen ist seine Gemeinschaft
die Gemeinschaft. Eben durch diese Geschlossenheit nach
außen und Unbedingtheit nach innen werden sie jene durch-
gestalteten Einzelwesen, für die eine tiefsinnige Betrachtung
ganz von selbst auf den Vergleich mit dem Kunstwerk geriet.
Nicht Organisation ist das Geheimnis des antiken Staats.
Organisation ist eine durchaus idealistische Staatsbildung. Im
durchorganisierten Staat stehen Staat und Einzelner nicht im
71
ERSTER TEIL: ZWEITES BUCH
Verhältnis des Ganzen zu seinem Teil, sondern der Staat ist
das All, von dem ein einheitlicher Kraftstrom durch die Glieder
geht. Jeder hat hier seinen bestimmten Platz und gehört,
indem er ihn ausfüllt, dem All des Staats an. Stände, oder
welche puissances intermediaires sonst noch im modernen
organisierten Staat Vorkommen mögen, sind grundsätzlich
doch nur Zwischengewalten; sie vermitteln die Beziehung des
Staats zum Einzelnen, bestimmen dem Einzelnen seinen Platz
im Staat; der Staat verwirklicht sich am Menschen, erzeugt
ihn durch das Mittel seines »Standes«, seines »Platzes«.
Während die antike Kaste kein Mittel des Staats ist, sondern
für das Bewußtsein des Einzelnen das Staatsganze völlig ver-
schattet; sie ist, wo sie da ist, für den Einzelnen Staat. Denn
der antike Staat kennt nur die unmittelbare Beziehung des
Bürgers zu sich, weil er eben das Ganze ist, in dessen Gestalt
seine Teile eingehen; während der neue Staat das All ist, aus
dem die Glieder sich Kraft zu ihrer Gestaltung saugen. Daß
der antike Sklave nicht, der mittelalterliche Hörige wohl zum
Staat gehört, hat hier seinen Grund.
Das antike Individuum verliert sich also in der Gemein-
schaft nicht, um sich zu finden, sondern ganz einfach um sie
zu erbauen; es selbst verschwindet. Die bekannten Unter-
scheidungen zwischen dem antiken und allen neueren Demo-
kratiebegriffen bestehen völlig zurecht. Ebenso klar wird hier,
weshalb das Altertum den Repräsentationsgedanken nicht aus-
gebildet hat. Nur ein Körper kann Organe haben, ein Gebäude
hat nur Teile. Der Vertretungsgedanke stößt ja im antiken
Recht auf höchst charakteristische Schwierigkeiten. Jeder
Einzelne ist nur er selbst, nur Individuum. Selbst da, wo es
mit Notwendigkeit zum Vertretungsgedanken kommen muß,
beim Kult, insbesondere beim Opfer, beim opfernden wie beim
geopferten Menschen, selbst da zeigt sich diese Schwierigkeit
in dem durchgängig wahrnehmbaren Bestreben, dem Opfernden
persönliche Reinheit, dem Geopferten persönliche Todverfal-
lenheit etwa als Verbrecher oder wenigstens als Gegenstand
eines magisch wirksamen Fluchs zu geben. Daß gerade der
METALOGIK
73
persönlich Unreine zum Darbringen, der persönlich Reine zum
Erleiden des Opfers für Alle geeignet ist, dieser Gedanke der
absoluten Gemeinbürgschaft der Menschheit in Allen bleibt
dem antiken Individualismus so fern wie — nun eben wie der
Gedanke der menschlichen Gemeinbürgschaft.
Denn das ist das letzte Charakteristikum der metalogischen
Ethik der alten Welt: das Ganze aus Teilen kann immer
wieder nur Teil eines Ganzen sein, wird nie All. Die Gemein-
schaft ist für das Individuum als seine Gemeinschaft ein
Letztes, über das hinaus ihm der Blick versperrt ist. Das Ding
kennt auch nur seinen eigenen Begriff. Daß die Gattungen
selber wieder als Individuen die übergeordnete Gattung aui-
bauen, das ist dem Individuum der untergeordneten nicht
bewußt, kann ihm immer nur durch die Tat eingehämmert
werden, ohne doch selbstverständlich dadurch in sein Bewußt-
sein zu treten; die antiken Weltreiche bringen allenfalls die
Entpolitisierung ihrer Teilvölker fertig; zu einem positiven
Weltreichsbewußtsein kommt es nicht. Nur die Gleichheit des
ursprünglich Menschlichen in allen einzelnen Menschen, keine
Gemeinschaft einer erneuerten Menschheit wird in der Stoa
gelehrt. Wo hingegen die eigene Gemeinschaft dem Menschen
als die ihn selbst erzeugende Macht erscheint, wo er sich als
der Einzelne in ihr nicht als Individuum seiner Gattung,
sondern als Glied eines Alls weiß, da ist auch die Gemeinschaft
gedrängt, sich als Glied eines Alls zu wissen. Denn während
das Ganze in sich ruht und keinen Trieb hat, zu höheren
Ganzen fortzuschreiten, ist die Allheit nicht beruhigt, ehe sie
Ruhe findet im All. So kommt es, daß in der kleinsten Zelle
der idealistischen Organisation, in einer Innung etwa oder in
einer Dorfgemeinde, mehr Weltbewußtsein lebt als in jenem
Reich des Kaisers Augustus, das eben immer ein abgeschlos-
senes Ganzes war, eine in sich befriedete und befriedigte
Welt, ohne Drang, ihren Frieden über ihre Grenzen zu tragen;
was draußen lag, blieb draußen liegen; mit ruhigstem
Gewissen identifizierte sie sich selbst mit der Welt: Ökumene.
ZI
ERSTER TEIL: ZWEITES BUCH
Gegen diese metalogische Ansicht des menschlichen Ge-
meinlebens, deren Begrenzung wir hier in der Gegenüberstel-
lung mit der idealistischen aufzeigten, hat nun auch das Alter-
tum selber schon rebelliert, aber nicht mit einer andern Lehre
vom Gemeinleben, sondern schlechtweg vom Standpunkt des
Einzelmenschen aus, der es nicht wahrhaben will, daß er nur
Teil eines Ganzen sein solle. Die sophistische Revolution ist
gerade deshalb so lehrreich, weil sie über diesen an sich tief-
sinnigen und richtigen Grundgedanken nicht hinauskommt. Sie
proklamiert die freie Herrlichkeit des Menschen gegen alle
Dinge und über alle Ordnungen. Aber dabei bleibt es. Sie
vermag nicht zu sagen, wie denn diese freie Natur des
Menschen sich in allen Dingen und Ordnungen durchsetzen
soll. Sie macht den Menschen zu der Dinge Maß. Aber den
Dingen ist sehr gleichgültig, wie und von wem und mit
welchem Stabe sie gemessen werden; nur wer sie bewegt,
nicht wer sie mißt, macht Eindruck auf sie. Und so bleibt die
sophistische Revolution ein Sturm im Glas Wasser; es ist
nicht wahr, daß sie das antike Staatsbewußtsein entwurzelt
habe. Die Polis blieb, was sie war, ja sie wurde es noch
mehr, und die großen Jahrhunderte der größten Polis, Roms,
verlaufen schon im vollen Licht der sophistischen Staatskritik,
die ihr wenig anhaben kann. Die mangelnde Aktivität macht
den sophistischen Menschenbegriff genau so unfähig zu einer
neuen Lösung der Probleme des metalogischen Mikrokosmos,
wie die Unaktivität des philosophischen Gottesbegriffs diesen
unfähig machte zur Lösung des makrokosmischen Problems.
Denn ein Ungelöstes bleibt in der metalogischen Welt-
ansicht so gut wie zuvor in dem metaphysischen Gottes-
begriff. Und dennoch: wie dort so auch hier »sinds die
Griechen«, die den Gedanken zur höchsten Entwicklung, die
ihm in der Isolierung möglich war, vorgetrieben haben. Wieder-
um sie und nicht die Märchenvölker des Ostens. Die sind auch
hier in den Vorhöfen des Ja und des Nein, des Dämmers und
des Rauschs stehen geblieben, wo die Griechen den Schritt
zum Und, zur runden Gestalt, vordrangen. Wiederum haben
METALOGIK
75
Indien und China je eine Seite des elementaren, vorgestalt-
liehen Seins in gewaltsamer Selbstbeschränkung aufs höchste
ausgebildet. Denn längst ehe das indische Denken geist-
versessen die weltliche Fülle mit dem Schleier der Maja be-
deckte, längst ehe es in allen Dingen nur das »Selbst« gelten
ließ und dieses Selbst wiederum in die Alleinheit des Brahman
auflöste, — schon in seinen frühen Anfängen schweift dieses
Denken ab von der Bestimmtheit des Besonderen und sucht
ein Allgemeines, das dahinter stünde. Man hat bemerkt, daß
schon in jenen alten Hymnen, die das Opfer begleiteten, der
einzelne Gott dem Dichter unter Einbuße seines eigentüm-
lichen Gesichts leicht die Züge des höchsten und einzigen
Gottes annahm. Hymnen, die ganz individuell anheben, ver-
lieren sich in farbloser Allgemeinheit. Zwischen die älteste
naturverbundene Göttersippe schieben sich frühzeitig Götter-
gestalten rein allegorischen Ursprungs, ähnlich wie es später
in Rom geschah. Aber hier in Indien ist das nur Symptom
einer denkmäßigen Zersetzung der Welt überhaupt. Die Frage
nach dem Ursprung der Welt wird durch eine Unzahl neben-
einanderstehender gelehrter Scheinmythen gelöst, deren jede
in Gestalt einer Ursprungssage in Wahrheit ein Kategorien-
S3'stem entwickelt. Wasser, Wind, Atem, Feuer und was
immer sonst — nicht Elemente einer Wirklichkeit sind das,
sondern früh nehmen sie das Antlitz vorwissenschaftlicher
Grundbegriffe der Welterklärung an, einer Welt, die eben
nicht aufgenommen, nicht erfahren, sondern vor allem
»erklärt« wird. Nicht wirkliche Dinge werden vom Priester
geopfert, sondern das Wesen der Dinge; nur weil Wesen,
können sie mit dem Wesen der Welt gleichgesetzt werden und
so unmittelbar in es hineinwirken. So ist alles vorbereitet,
daß die Welt zu einem System von Begriffen werde, gewiß
noch einem System von Welt, von Wirklichkeit, aber ohne
jedes selbständige Recht des nur der »Illusion« zuzurech-
nenden Besonderen. Und nun greift wiederum die Lehre
Buddhas noch hinter diese objektive Begriffswelt zurück und
bezeichnet als das Wesen dieser Wesen die Begriffe des
ERSTER TEIL: ZWEITES BUCH
1±
Erkennens. ln einer Folge von Erkenntnisbegriffen wird auf-
gelöst, was dieser schon begriffsverflüchtigten Welt noch an
Festigkeit verblieben war; und in der Aufhebung des
erkennenden und begehrenden Ichs wird endlich die ganze nur
von diesem Erkennen und Begehren gezeugte Welt einschließ-
lich ihrer Götter und einschließlich ihres Wesens aufgehoben
ins Nichts. In Nichts? nein auch hier, unter Vermeidung des
noch immer einen Rest von Positivität einschließenden Worts
des Nichts, in ein Reich jenseits von Erkenntnis und Nicht-
erkenntnis. Wiederum ist der Punkt erreicht hart vor der
Grenze des Nichts und doch weit im Rücken der unendlichen,
das Nichts verneinenden und so sich selber unendlich be-
jahenden Allgemeinheit des Erkennens.
Die geistigen Mächte, die hier allein als Wesen der Welt
anerkannt wurden und deren Aufhebung selbst noch geistig
geschehen mußte, diese Mächte des Begriffs hat China ebenso
entschieden verleugnet. Ihm gilt grade die Fülle der Welt als
das allein Wirkliche. Aller Geist muß dinglich, besondert
sein, um hier Platz und Daseinsrecht zu bekommen. Die
geistigen Mächte treten zurück vor den irdischen Interessen.
Das metaphysikfreiste aller nationalethischen Systeme, des
Kongfutse, gibt dem Volksleben bis heute Form und Farbe.
Das Geistige, insofern es noch eine Rolle spielt, wird zu
Geistern. Die Geister werden zu ganz individuellen Individuen,
selber benannt und dem Namen des Verehrers aufs beson-
derste verbunden: die Geister seiner Ahnen. Ihnen gilt das
Opfer; sie sind gegenwärtig, mitten unter den Lebenden,
sichtbar, nicht von ihnen zu unterscheiden. Unbedenklich
wird mit ihrer Fülle die Fülle der Welt noch überfüllt. Die
Frage nach dem Verbleib der Toten und wie es denn komme,
daß die Welt nicht von ihnen überfüllt werde, ist mindestens
einer der Anstöße gewesen, die in Indien bezeichnenderweise
zu der Lehre vom Wandel der Person durch wechselnde
Gestalten führte; solche Einheit des Begriffs über der Mannig-
faltigkeit der Erscheinung ist dem ursprünglichen China ganz
fremd. Unbekümmert mehrt sich hier das Gedränge der
N
METALOGIK
TL
Geister; jeder unsterblich für sich, immer neue zu den alten,
alle eigennamentlich von einander geschieden. Und wenn dort
dem Einzelnen seine Besonderheit genommen wurde durch
die nicht als Gemeinschaft zwar, aber als übergeordnete All-
gemeinheit ihn umschließende Kaste, so ist in China die Ge-
meinschaft, der er unmittelbar eingefügt ist, die Kette der
Ahnen; eine Einfügung, die ihm seine Besonderheit nicht raubt,
im Gegenteil er selbst wird als das Endglied der Kette, die
auf ihn zuläuft, in seiner äußeren Besonderheit und nur Be-
sonderheit in der Welt, deren Teil er ist, bestätigt. Und wie
dort der Buddhismus hinter die Allgemeinbegriffe noch zurück-
griff auf das Begreifen selbst und in der Aufhebung des Be-
greifens die Erlösung von der Welt erreichte, so greift hier
Laotse hinter die allzu sichtbare, allzu betriebsame, allzu
geschäftige, allzu regierte Welt des Kongfutse zurück und
sucht, ohne ihr Wirklichkeitswesen zu leugnen, wo diesem
ganzen sich überstürzenden Treiben die Wurzel und Quelle
gesetzt sei. Aus jener Quelle des Nicht-Tuns entspringt alle
Fülle der Tat. Aus jenem Urgrund des Einen erhebt sich die
unzählbare Fülle der Wesen. Das Geheimnis des Herrschens
ist hierin beschlossen: nicht zu herrschen, nicht vielgeschäftig
berechnend zu gebieten und zu verbieten, sondern selber wie
die Wurzel der Dinge »ohne Tun und ohne Nichttun« zu sein:
so werde sich die Welt »von selber« gestalten. Wie Buddha
die Seinen die Aufhebung der schon begriffgewordenen Welt
ins Begreifen und weiterhin ins Begreifen des Begreifens und
so in ein Jenseits des Begreifens lehrt, so lehrt Laotse die
Ueberwindung der dinglichen Fülle des Geschehens durch das
tatlose schweigende Eingehn in den namenlosen Urgrund des
lauten und benannten Geschehens. Wieder auch hier nächste
Nähe zum Nichts und doch nicht das Nichts selber. Und wieder
hier und in jenem äußersten Punkt, den der indische Geist
erschwang, die Pole aller Weltlichkeit, die nicht den Mut zur
Klarheit der Schau aufbringt, dem allein sich die Gestalt offen-
bart. Denn die Welt verschwindet so gut wenn man ihr den
Rücken kehrt, wie wenn man in sie eintaucht; Gestalt sieht
ERSTER TEIL: ZWEITES BUCH
z£
nur, wer die Augen auf und den Kopf oben behält. Die kühle
Leere der Weltflucht, die innige Tiefe der Weltliebe — wieder
sind hier wie dort Indien und China, das Volk der geschlossen
und das der offen träumenden Augen, die Erben des Menschen
der Urzeit, der sich in den Weltwahn flüchtet, weil ihm der
Mut zur Weltschau fehlt; und wieder sind die Griechen, das
Volk der Entdecker, die Führer unsres Geschlechts auf den
Weg der Klarheit. Denn die weltlich klar umrissene Gestalt
ist am Ende doch bestimmt, obzusiegen gegen das ȟberwelt-
lich Große, Gestaltenreiche bald Gestaltenlose«.
An einem Punkt wiederum hat sie schon bei den Griechen
-/""^gesiegt und herrscht seitdem. Für das Kunstwerk be-
stehen ja, zunächst wenigstens, jene Probleme übergreifenden
Zusammenhangs nicht, die letzthin der metalogischen Welt-
ansicht gefährlich zu werden schienen. Es hat seinen Zu-
sammenhang zunächst nur in sich selber. Und wie schon das
Mythische seine dauernde Kraft gezeigt hatte als das ewige
Gesetz des in sich gegen alles ihm Äußere unabhängigen
Reichs des Schönen, also als das Gesetz der äußeren Form,
so gibt die Welt als Gestalt das zweite Grundgesetz aller
Kunst, die Geschlossenheit in sich selbst, den durchgängigen
Zusammenhang jedes Teils mit dem Ganzen, jeder Einzelheit
auch mit allen andern Einzelheiten; ein Zusammenhang, der
sich nicht irgendwie logisch auf eine Einheit bringen läßt und
der doch durchaus einheitlich ist; kein Teil nur durch Vermitt-
lung andrer Teile, sondern jeder unmittelbar dem Ganzen ein-
gefügt, — es ist das Gesetz der inneren Form, das hier, in der
metalogischen Weltansicht, einfürallemal seinen Grund hat.
Und wenn das Gesetz der äußeren Form, obwohl auch im
Kunstwerk wirksam, doch noch weiter reicht, indem es das
Reich des Schönen, die »Idee des Schönen«, begründet, so ist
das zweite das eigentümliche Gesetz des Kunstwerks und
überhaupt des einzelnen schönen Dings, der schönen Gestalt,
— Hellas.
Aber es blieb bei der Gestalt. Im Innern unendlich reich,
ein buntbestrahlter, überwältigender Wassersturz, der sich,
METALOGIK
Z2
immer erneut, immer wieder klärt und beruhigt in den stillen
Tiefen, die ihn sammeln, ist diese Welt nach außen kraftlos
und arm. Gibt es für sie ein Außen? Sie muß die Frage wohl
bejahen. Aber sie muß hinzufügen, daß sie nichts von diesem
Außen weiß und — schlimmer — nichts von ihm will. Sie kann
es nicht leugnen, aber sie bedarf sein nicht. Mag da ein Gott
sein, — solang er draußen bleibt und nicht Teil von ihr selber
wird, solang ist dies sein Dasein ihrem Makrokosmos unsicht-
bar. Mag da ein Mensch sein, — solang er nur Maßstab sein
kann, der sich von außen an sie legt, und nicht bewegende
Kraft in ihr, solange ist ihr Mikrokosmos gegen dieses Da=sein
taub. Und wahrlich — noch darf sie blind und taub bleiben,
solange der Gott nicht leuchtet und der Mensch nicht spricht.
Noch darf sie zufrieden sein, ihren Logos, ihren ganzen und
zureichenden Grund, in sich zu tragen. Noch darf sie bleiben,
was sie ist, das in sich selbst Begründete und auf sich selbst
Gegründete, von eignem Geist Begeistete, in eigner Fülle
Prangende, noch darf die Welt es sein: das Metalogische.
DRITTES BUCH
DER MENSCH UND SEIN SELBST
ODER
METAETHIK
VOM Menschen — sollten wir auch von ihm nichts
wissen? Das Wissen des Selbst von sich selber, das
Selbstbewußtsein, steht in dem Rute, das best-
gesicherte alles Wissens zu sein. Und der gesunde Menschen-
verstand sträubt sich fast noch heftiger als das wissenschaft-
liche Bewußtsein, wenn ihm die wahrhaft und wörtlich selbst»
verständliche Grundlage des Wissens unter den Füßen fort-
gezogen werden soll. Dennoch ist es geschehen, freilich erst
spät. Es bleibt eine det; erstaunlichsten Leistungen Kants, daß
er dies Selbstverständlichste, das Ich, recht eigentlich zum
Problem, zum Allerfragwürdigsten, gemacht hat. Vom
erkennenden Ich lehrt er, daß es nur in der Beziehung auf das
Erkennen, an seinen Früchten also, nicht »an sich selbst«, zu
erkennen ist. Und gar vom wollenden weiß er, daß die
eigentliche Moralität, Verdienst und Schuld, der Handlungen,
selbst unsrer eigenen, uns stets verborgen bleibt. Damit
erstellt er eine negative Psychologie, die einem ganzen Jahr-
hundert, dem Jahrhundert einer Psychologie ohne Seele,
zu denken gegeben hat. Wir brauchen kaum zu be-
tonen, daß auch hier uns das Nichts nicht für ein Er-
gebnis, sondern für den Ausgangspunkt des Denkens gilt.
Es mußte wohl einmal das Absurde gedacht werden.
Denn es ist der tiefe Sinn des vielmißbrauchten Credo
quia absurdum, daß aller Glaube zu seiner Voraus-
setzung ein Absurdum des Wissens braucht. Damit also der
Inhalt des Glaubens selbstverständlich werde, ist es nötig, daß
das anscheinend Selbstverständliche vom Wissen zu einem
Absurden gestempelt sei. Das ist der Reihe nach mit den drei
METAETHIK
81
Elementen dieses Inhalts, mit Gott, der Welt und dem
Menschen, geschehen: mit Gott schon in den Anfängen des
Mittelalters, mit der Welt zu Beginn der Neuzeit, mit dem
Menschen zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Erst nachdem
so das Wissen nichts mehr einfach und klar ließ, erst seitdem
kann der Glaube das vom Wissen ausgestoßene Einfache in
seine Hut nehmen und dadurch selber ganz einfach werden.
Der Mensch ist unbeweisbar, so gut wie die Welt und wie
Gott. Sucht das Wissen gleichwohl eins von diesen dreien zu
beweisen, so verliert es sich mit Notwendigkeit ins Nichts.
Diesen Koordinaten, zwischen denen jeder Schritt, jede Be-
wegung, die es tut, sich abzeichnet, kann es nicht entweichen
— und nähme es Flügel der Morgenröte und bliebe am
äußersten Meer; denn aus der Bahn, die von jenen drei Ele-
menten bestimmt wird, kann es nicht herausspringen. So ist
das Nichts des beweisenden Wissens hier immer nur ein
Nichts des Wissens und genauer ein Nichts des Beweisens,
dem gegenüber die Tatsache, die den Raum mitgründet, worin
das Wissen selber lebt und webt und ist, in ihrer ganzen
schlechthinnigen Tatsächlichkeit ungerührt stehen bleibt. Und
das Wissen kann deshalb hier nichts weiter als den Weg von
dem Unbeweisbaren, dem Nichts des Wissens, hin zur Tat-
sächlichkeit der Tatsache nachgehn — eben das, was wir hier
zweimal schon getan haben und nun ein drittes Mal tun.
Auch vom Menschen also wissen wir nichts. Und auch
-/^dieses Nichts ist nur ein Anfang, ja nur der Anfang eines
Anfangs. Auch in ihm erwachen die Urworte, das schaffende
Ja, das zeugende Nein, das gestaltende Und. Und das Ja
schafft auch hier im unendlichen Nichtnichts das wahre Sein,
das »Wesen«.
Was ist dies wahre Sein des Menschen? Das Sein Gottes
war schlechthinniges Sein, Sein jenseits des Wissens. Das
Sein der Welt war im Wissen, gewußtes, allgemeines Sein.
Was ist gegenüber Gott und Welt das Wesen des Menschen?
Goethe lehrt es uns: »Was unterscheidet Götter von
Menschen? daß viele Wellen vor jenen wandeln — uns hebt
6
82
ERSTER TEIL: DRITTES BUCH
die Welle, verschlingt die Welle, und wir versinken«. Und
der Prediger lehrt es uns: »Geschlecht geht, Geschlecht
kommt, doch die Erde steht ewiglich«. Vergänglichkeit, die
Gott und Göttern fremde, der Welt das bestürzende Erlebnis
ihrer eigenen, sich allzeit erneuernden Kraft, ist dem Menschen
die immerwährende Atmosphäre, die ihn umgibt, die er mit
jedem Zug seines Atems einsaugt und ausstößt. Der Mensch
ist vergänglich, Vergänglichsein ist sein Wesen, wie es das
Wesen Gottes ist, unsterblich und unbedingt, das Wesen der
Welt, allgemein und notwendig zu sein. Gottes Sein ist Sein
im Unbedingten, der Welt Sein Sein im Allgemeinen, des
Menschen Sein ist: Sein im Besonderen. Das Wissen liegt
nicht unter ihm wie für Gott, nicht um ihn und in ihm wie für
die Welt, sondern über ihm; er ist nicht jenseits der All-
gemeingültigkeit und Notwendigkeit des Wissens, sondern
diesseits; er ist nicht, wenn das Wissen aufhört, sondern ehe
es anfängt; und nur weil er vor dem Wissen ist, kommt es,
daß er auch nachher noch ist und allem Wissen, mag es ihn
noch so vollständig in die Gefäße seiner Allgemeingültigkeit
und Notwendigkeit aufgefangen zu haben wähnen, immer
wieder sein sieghaftes »Ich bin noch da« zu ruft. Sein Wesen
ist eben, daß er sich nicht auf Flaschen ziehen läßt, daß er
immer »noch da« ist, daß er in seiner Besonderheit stets gegen
den Machtspruch des Allgemeinen auftrumpft, daß ihm die
eigene Besonderheit nicht, wie es ihm die Welt wohl zu-
gestehen möchte, Ereignis ist, sondern gerade sein Selbst-
verständliches, — sein Wesen. Sein erstes Wort, sein Urja,
bejaht sein Eigensein. Im grenzenlosen Nicht seines Nichts
gründet diese Bejahung sein Besonderes, sein Eigenes als sein
Wesen. Ein Einzelnes also, aber kein Einzelnes wie das Ein-
zelne der Welt, das momenthaft in einer unaufhörlichen Reihe
von Einzelnen aufschießt, sondern ein Einzelnes im grenzen-
losen leeren Raum, ein Einzelnes also, das von andern Ein-
zelnen neben ihm nichts weiß, das überhaupt von einem
»neben ihm« nichts weiß, weil es »überall« ist, ein Einzelnes
nicht als Tat, nicht als Ereignis, sondern als immerwährendes
Wesen.
METAETHIK
h
Diese Eigenheit des Menschen ist also etwas anderes ais
die Individualität, die er als einzelne Erscheinung innerhalb
der Welt annimmt. Sie ist keine Individualität, die sich gegen
andre Individualitäten abscheidet, sie ist kein Teil — und das
Individuum bekennt, grade indem es auf seine Unteilbarkeit
pocht, daß es selber Teil ist. Sie ist eben zwar nicht selbst
unendlich, aber »im« Unendlichen; sie ist Einzelnes und den-
noch Alles. Um sie herum liegt die unendliche Stille des
menschlichen Nichtnichts; sie selber ist der Ton, der in diese
Stille tönt, ein Endliches und doch Grenzenloses.
Unsre Symbolsprache hat hier klare Bahn. Die ursprüng-
liche Bejahung, die stets die rechte Seite unsrer Gleichungen
setzt, das ursprüngliche »So«, hatte in der Physis Gottes ihre
Schlechthinnigkeit, im Logos der Welt ihre Allgemeingültigkeit
ausgewirkt; im ersten Fall also war die Kraft wirksam
geworden, die dem einzelnen Wort einen Sinn überhaupt, im
zweiten die, welche ihm die Gleichheit seiner Bedeutung
sichert. Hier tritt die Richtung des Urja in Kraft, die dem
einzelnen Wort nicht bloß einen lind immer den gleichen,
sondern seinen besonderen Sinn begründet, im Unterschied
also auch von der Besonderheit, die der einzelne Fall der An-
wendung stets neu bestimmt, die Besonderheit, die das Wort
schon vor aller Anwendung hat. Die Besonderheit nicht als
Überraschung des Augenblicks und Augenblicks, sondern als
daseiender Charakter findet ihre Stätte im persönlichen Ethos
des Menschen — »nur allein der Mensch vermag das Unmög-
liche, er kann dem Augenblick Dauer verleihn«; er kann es,
eben weil er selbst gerade das, was den Augenblick »in
schwankender Erscheinung schweben« läßt, die Besonderheit,
als sein dauerndes Wesen in sich trägt. Ihm allein wird die
Besonderheit nicht zur teilhaften »Individualität«, sondern zur
unbegrenzten Eigenheit, des »Charakters«.
Als Besonderes kann die Eigenheit nur durch B bezeichnet
werden. Eine Richtung haben wir nicht darin feststellen
können. Sie ist ebenso richtungslos, so jenseits von aktiv und
passiv, ja in ihrer Endlichkeit ebenso schlechthin seiend, wie
84
ERSTER TEIL: DRITTES BUCH
das unendliche Sein Gottes; seinem einfachen, vorzeichenlosen
A tritt sie als ein ebenso einfaches, vorzeichenloses B ent-
gegen. Sein steht hier gegen Sein. Dem erfüllungsbedürf-
tigen, unendlich formalen Sein der Welt gegenüber aber ist
das unbedürftige, grenzenlos besondere Sein des Menschen
nicht gegensätzlich, sondern ganz geschieden. Zwischen *A
und B gilt gar keine Beziehung. Käme es bloß auf das Wesen
an, so wäre zwischen Gott und Mensch Feindschaft gesetzt;
Welt und Mensch aber lägen auf verschiedenen Ebenen und
nicht einmal Feindschaft wäre zwischen ihnen möglich. Es
kommt nicht bloß auf das Wesen an, aber etwas bleibt von
diesem Verhältnis der Elemente auch noch in der schließlichen
Gestalt der Gleichung; da wird freilich dann auch wirksam,
daß gerade zwischen Welt und Mensch doch andrerseits auch
eine besonders enge Beziehung besteht, nämlich das gleich-
mäßige Vorkommen der richtungslosen schlechthinnigen Be-
sonderheit, B, bei der Welt freilich als »Nein«, beim Menschen
als »Ja«, dort als immer neues Wunder der Individualität, hier
als das dauernde Sein des Charakters. Aber es ist immerhin
das erste und wie wir sehen werden das einzige Mal, daß in
unsern Gleichungen ein Glied mehr als ein Mal auftritt. Die
Bedeutung dieses Umstandes kann erst später erkannt
werden.
Auch bei dem »So« des Charakters hat es nicht sein Be-
- wenden, sowenig wie bei einem früheren So. Auch an des
Menschen Nichts, nachdem es sich im Charakter als ein Nichts,
aus dem Bejahung hervorgehen konnte, erwiesen hat, darf
sich nun die Kraft des Nein erproben. Wieder gilt es, das
Nichts im Nahkampf der Endlichkeit niederzuringen, wieder
aus diesem tauben Felsen einen Brunnen lebendigen Wassers
fließen zu lassen. Das Nichts der Welt kapitulierte vor dem
sieghaften Nein in der sprudelnden Fülle der Erscheinung.
Gottes Nichts zerbrach vor seinem Nein zur immer neuen gött-
lichen Freiheit der Tat. Dem Menschen erschließt sich sein
Nichts in der Verneinung gleichfalls zu einer Freiheit, seiner
METAETHIK
*1
Freiheit, einer sehr andern zwar als der göttlichen. Denn
Gottes Freiheit war infolge ihres unendlichen und ganz pas-
siven Gegenstandes, des göttlichen Wesens, ohne weiteres
unendliche Macht, das heißt: Freiheit zur Tat. Die Freiheit
des Menschen aber wird auf ein Endliches, wenn auch Un-
begrenztes, nämlich Unbedingtes, stoßen; so wird sie selber
schon in ihrem Ursprung ein Endliches sein. Nicht bloß, wie
ja auch Gottes Freiheit, endlich in der stets erneuerten Augen-
blickshaftigkeit ihres Hervorschießens; das wäre die Endlich-
keit, die schon gefordert ist durch das unmittelbare Hervor#,
springen aus dem verneinten Nichts; denn alle Verneinung,
soweit sie nicht nur die in der Form der Verneinung ge-
schehende unendliche Bejahung ist, setzt ein Bestimmtes, End-
liches. Nicht bloß also eine solche Endlichkeit, wie sie auch
Gottes Freiheit hat, sondern eine ihr selber abgesehen von
ihrem Hervorgang innewohnende Endlichkeit ist die Endlich-
keit der menschlichen Freiheit. Die menschliche Freiheit ist
endliche, aber infolge ihres unmittelbaren Ursprungs aus dem
verneinten Nichts unbedingte, unbedingte, Nichts und nur
Nichts und keinerlei Ding voraussetzende Freiheit. Sie ist also
nicht, wie die Gottes, Freiheit zur Tat, sondern Freiheit zum
Willen; nicht freie Macht, sondern freier Willen. Das Können
ist ihr, im Gegensatz zur göttlichen Freiheit, schon in ihrem
Ursprung versagt, aber ihr Wollen ist so unbedingt, so gren-
zenlos wie das Können Gottes.
Dieser freie Wille ist endlich und augenblickshaft in seinen
Äußerungen, wie es die weltliche Erscheinungsfülle ist. Aber
im Gegensatz zu dieser begnügt er sich nicht einfach mit
seinem Dasein und kennt ein andres Gesetz als das der eigenen
Schwere; er stürzt nicht, er hat Richtung. Sein Symbol ist
also wie bei der Erscheinungsfülle ein B auf der linken Seite
der Gleichung, aber zum Unterschied kein einfaches B, sondern
ein »B=«. Das Symbol hat also dieselbe Form wie das Symbol
der göttlichen Freiheit, »A-«, aber den entgegengesetzten
Inhalt, — der freie Wille ist so frei wie die freie göttliche Tat;
aber Gott hat keinen freien Willen, der Mensch kein freies
86
ERSTER TEIL: DRITTES BUCH
Können; »gut sein« bedeutet beim Gott: das Gute tun, beim
Menschen: das Gute wollen. Und das Symbol hat die ent-
gegengesetzte Form, aber den gleichen Inhalt, wie das Symbol
der weltlichen Erscheinung: die Freiheit erscheint in der
Erscheinungswelt als ein Inhalt unter andern, aber sie ist das
»Wunder« in ihr; sie ist unterschieden von allen andern
Inhalten.
TVr'ant, den wir ja eben zitierten, hat also mit unleugbar groß-
artiger Intuition das Wesen der Freiheit sichergestellt.
Auch die weitere Entwicklung wird uns hier immer wieder in
seine Nähe führen, wenn auch immer wieder in die Nähe nur
seiner Intuitionen. Wir gehen jetzt zunächst wieder den Weg
nach, der vom freien Willen zur Eigenheit führt und auf dem
der Mensch, der als freier Wille und als Eigenheit noch eine
bloße Abstraktion war, erst Selbst gewinnt. Denn was ist der
freie Wille, solange er bloß Richtung, aber noch keinen Inhalt
hat? Und was ist die Eigenheit, solange sie bloß — ist? Wir
suchen den lebendigen Menschen, das Selbst. Das Selbst ist
mehr als Wille, mehr als Sein. Wie wird es dieses Mehr, dies
Und? Was geschieht dem menschlichen Willen, wenn er
seiner inneren Richtung folgend den Weg zum menschlichen
Sein einschlägt?
Er ist von vornherein endlich, und da er Richtung hat, so
ist er es mit Bewußtsein; er will gar nichts andres als das,
was er ist; er will, wie Gottes Freiheit, sein eigenes Wesen;
aber dies eigene Wesen, das er will, ist kein unendliches, in
dem die Freiheit sich als Macht erkennen dürfte, sondern ein
endliches. Der freie Wille also noch ganz in seinem eigenen
Bereich, aber doch schon seinen Gegenstand von ferne
sichtend, erkennt sich in seiner Endlichkeit, ohne doch im
mindesten etwas von seiner Unbedingtheit preiszugeben. An
diesem Punkt seines Wegs, noch ganz unbedingt und doch
schon seiner Endlichkeit bewußt, wird er aus dem freien
Willen zum trotzigen Willen. Der Trotz, das stolze Dennoch,
ist dem Menschen, was dem Gotte die Macht, das erhabene
METAETHIK
Also, ist. Gleich souverän ist der Anspruch des Trotzes wie
das Recht der Macht. Als Trotz nimmt das Abstraktum des
freien Willens Gestalt an.
Als Trotz läuft er nun weiter seine Bahn — wir erinnern
uns: es handelt sich nur um innere Bewegungen im Menschen,
das Verhältnis zu den Dingen kommt gar nicht in Frage —
bis zu dem Punkt, wo die Existenz der Eigenheit sich ihm so
fühlbar macht, daß er nicht mehr unverändert weitergehen
kann, ohne sie zu beachten. Diesen Punkt, wo die Eigenheit
in ihrer stummen daseienden Tatsächlichkeit dem freien
Willen in den Weg zu liegen kommt — in den Weg tritt, wäre
schon zu viel gesagt —, diesen Punkt bezeichnet ein Name,
den wir schon vorhin, etwas vorgreifend, mehrfach zur
Erläuterung des Begriffs der Eigenheit gegenüber der »Indivi-
dualität« verwendet haben: der Charakter. Der Wille würde
an der Eigenheit sich in Nichts auflösen; mit dem Hinweis auf
die Eigenheit demütigt ihn Mephistos »du bleibst doch immer
was du bist«. Am Charakter geschieht dem Trotz nicht wie
dem Willen an der Eigenheit seine Vernichtung, sondern er
bleibt noch durchaus als Trotz erhalten; nicht seine Aufhebung
findet er hier, aber seine Bestimmung, seinen Inhalt. Der Trotz
bleibt Trotz, er bleibt formell unbedingt, aber er nimmt den
Charakter zum Inhalt: der Trotz trotzt auf den Charakter.
Das ist die Selbstbewußtheit des Menschen oder kürzer
gesagt: das ist das Selbst. Das »Selbst« ist das, was in diesem
Übergriff des freien Willens auf die Eigenheit, als Und von
Trotz und Charakter, entsteht.
Das Selbst ist schlechthin in sich geschlossen. Das ver-
dankt es seiner Verwurzelung im Charakter. Wurzelte es in
der Individualität, hätte sich also der Trotz auf die Besonder-
heit des Menschen gegenüber andern, auf seinen unteilbaren
Anteil am allgemeinen Menschentum geworfen, so würde nicht
das Selbst, das in sich geschlossene, nicht aus sich heraus-
blickende, entstanden sein, sondern die Persönlichkeit. Die
Persönlichkeit ist, wie schon der Ursprung des Namens sagt,
der Mensch, der seine ihm vom Schicksal her zugewiesene
88
ERSTER TEIL: DRITTES BUCH
Rolle spielt, eine Rolle neben andern, eine Stimme in der viel-
stimmigen Symphonie der Menscheit. Sie ist wirklich
»höchstes Gut der Erdenkinder«, — eines jeden von ihnen. Das
Selbst hat keine Beziehung zu den Menschenkindern, immer
nur zu einem einzigen Menschen, eben dem »Selbst«. Allen-
falls kann auch die Gruppe, wenn sie sich für schlechthin
einzig hält, das Volk etwa, dem alle andern Völker »Bar-
baren« sind, ein Selbst haben. Vom Selbst gibt es keinen
Plural. Die Einzahl »Persönlichkeit« ist nur eine Abstraktion,
die ihr Leben aus dem Plural »Persönlichkeiten« zieht. Die
Persönlichkeit ist immer eine unter andern; sie wird ver-
glichen; das Selbst vergleicht sich nicht und ist unvergleichbar.
Das Selbst ist kein Teil, kein Unterfall, auch kein eifersüchtig
bewachter Anteil am gemeinsamen Gut, den »aufzugeben«
verdienstlich sein könnte. Das sind alles Gedanken, die nur
für die Persönlichkeit gedacht werden können. Das Selbst
ist nicht aufgebbar — wem denn? es ist ja niemand für es da,
dem es etwas »geben« könnte; es ist allein; es ist keines von
den »Menschenkindern«; es ist Adam, der Mensch selbst.
Von der Persönlichkeit sind zahlreiche Aussagen möglich,
so zahlreiche wie von der Individualität. Sie folgen alle als
einzelne Aussagen dem Schema B»A, in welchem alle Aus-
sagen über die Welt und ihre Teile vorgebildet sind; die Per-
sönlichkeit wird stets als einzelne in ihrem Verhältnis zu
andern einzelnen und zu einem Allgemeinen definiert. Vom
Selbst gibt es keine abgeleiteten Aussagen, nur die eine
ursprüngliche, B=B; sowie es von Gott oder der Welt keine
Mehrheit von Aussagen gibt, sondern nur die einen ursprüng-
lichen, in den Gleichungen symbolisierten. Obwohl doch
der Charakter an sich etwas ebenso Einzelnes ist wie die
Individualität und infolgedessen an sich auch durch das gleiche
nackte Symbol B bezeichnet wird, so ist er doch dadurch, daß
er im Gegensatz zur Individualität auf der rechten Gleichungs-
seite erscheint, von ihr aufs vollkommenste unterschieden. Die
Individualität ist dadurch, daß sie auf der linken Gleichungs-
seite auftritt, als Gegenstand gekennzeichnet. Der Charakter
METAETHIK
89
als auf der rechten Seite der Gleichung stehend erweist sich
als selber Aussage, Behauptung. Daß er Besonderes ist,
darauf wird, wie eben dieser Platz in der Gleichung zeigt,
nicht weiter zurückgekommen; denn das Besondere entwickelt
seine Besonderheit, indem es, wie alles Besondere in der
Welt, einschließlich auch der Individualität, sich zum Gegen-
stand von Aussagen machen läßt. Ein Besonderes, das selbst
auf die Aussageseite der Gleichung tritt, verzichtet darauf, daß
von ihm Aussagen gemacht werden; es verzichtet auf die Ent-
wicklung und Darstellung seiner Besonderheit. Es macht sich
selbst zum Aussageinhalt für etwas andres. Das tut von
allem Besonderen nur dies eine, der Charakter. Der Cha-
rakter ist die Aussage, die. den freien Willen »näher bestimmt«.
Was will der freie Wille? den eigenen Charakter. So wird der
freie Wille zum trotzigen Willen, und Willenstrotz und
Charakter verdichten sich zur Gestalt des Selbst.
Das Selbst, in der Gleichung B=B symbolisiert, stellt sich
also unmittelbar dem Gott gegenüber. Wir sehen, wie die
völlige äußere Gegensätzlichkeit des Inhalts bei ebenso völ-
liger Gleichheit der Form wie in der fertigen Gleichung, so
schon in der werdenden sichtbar war. Die fertige Gleichung
bezeichnet die reine Insichgeschlossenheit bei ebenso reiner
Endlichkeit. Als Selbst, wahrhaftig nicht als Persönlichkeit,
ist der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen. Adam ist
wirklich, im Gegensatz zur Welt, genau »wie Gott«, nur
lauter Endlichkeit, wo jener lauter Unendlichkeit ist, — die
Schlange wendet sich mit gutem Grund an den Menschen
allein in der ganzen Schöpfung. Zur Welt steht der Mensch
als fertiges Selbst nicht mehr in dem komplizierten Verhältnis
wie die Elemente vor ihrem Zusammentreten im Und, sondern
ganz einfach als ein Gleiches, von dem jedoch Entgegen-
gesetztes ausgesagt wird. Das Subjekt B kann entweder A
sein oder B. Im ersten Falle, B=A, ist es Welt, im zweiten,
B*B, ist es Selbst. Der Mensch kann offenbar, so lehren uns
die Gleichungen, beides sein; er ist nach Kants Wort »Bürger
zweier Welten«.
9o
ERSTER TEIL: DRITTES BUCH
Wobei freilich dieser an sich starke Ausdruck auch schon
wieder die ganze Schwäche Kants verrät, über der sein Un-
vergängliches zunächst in Vergessenheit geriet: in der Gleich-
setzung der beiden Sphären als »Welten«. Welt ist eben nur
die eine. Die Sphäre des Selbst ist nicht Welt und wird es
auch nicht dadurch, daß man sie so nennt. Damit die Sphäre
des Selbst »Welt« wird, muß »diese Welt vergehn«. Der Ver-
gleich, der das Selbst in eine Welt einordnet, verführt schon
bei Kant selbst und ganz offen bei seinen Nachfolgern zur
Verwechslung dieser »Welt« des Selbst mit der vorhandenen
Welt. Er täuscht hinweg über den Kampf des Unversöhn-
lichen, über die Härte des Raums und die Zähe der Zeit. Er
verwischt das Selbst des Menschenleben indem er es zu um-
reißen meint. Unsre Gleichung, welche die formale Ver-
schiedenheit so stark betont — durch die Gleichsetzung zweier
Ungleicher im einen, zweier Gleicher im andern Fall —, läuft
diese Gefahr nicht; sie kann deshalb den inhaltlichen Paral-
lelismus, daß in beiden Fällen Aussagen über ein Gleiches
gemacht werden, wenn auch entgegengesetzte Aussagen, ruhig
zur Anschauung bringen.
Das Selbst ist also von außen gesehen nicht von der Per-
sönlichkeit zu unterscheiden. Innerlich aber sind sie
genau so verschieden, ja, wie gleich deutlich werden wird,
entgegengesetzt, wie — Charakter und Individualität. Wir
haben das Wesen der Individualität als einer Welterscheinung
verdeutlicht an dem Kreis ihres Laufs durch die Welt. Die
natürliche Geburt war auch die Geburt der Individualität; in
der Begattung starb sie den Tod in die Gattung zurück. Der
natürliche Tod gibt hier nichts mehr hinzu; der Kreislauf ist
schon erschöpft; daß das individuelle Leben noch über die
Erzeugung des Nachkommen hinaus fortdauert, ist gerade von
der Individualität aus unbegreiflich; vollends das Phänomen
der Fortdauer des individuellen Lebens sogar über die Jahre
der Zeugungskraft hinaus, das Greisentum, ist für eine rein
natürliche Ansicht des Lebens ganz unfaßbar. Schon von hier
METAETHIK
21
aus also müßten wir auf das Unzulängliche der Gedanken von
Individualität und Persönlichkeit zum Begreifen des mensch-
lichen Lebens hingeführt werden.
Hier aber leiten uns die Begriffe von Selbst und Charakter
weiter. Der Charakter, und so das Selbst, das auf ihm sich
gründet, ist nicht die Begabung, welche die Himmlischen »bei
der Geburt schon« dem jungen Erdenbürger als seinen Anteil
am gemeinsamen Menschheitsgut in die Wiege legten. Ganz
im Gegenteil: der Tag der natürlichen Geburt, der der große
Schicksalstag der Individualität ist, weil bei ihr das Schicksal
des Besonderen bestimmt wird durch den Anteil am All-
gemeinen, dieser Tag ist für das Selbst mit Dunkel bedeckt.
Der Geburtstag des Selbst ist ein andrer als der Geburtstag
der Persönlichkeit. Auch das Selbst nämlich, auch der
Charakter hat seinen Geburtstag; er ist eines Tages da. Es
ist unwahr, daß der Charakter »wird«, daß er »sich bildet«.
Das Selbst überfällt den Menschen eines Tages wie ein ge-
wappneter Mann und nimmt von allem Gut seines Hauses
Besitz. Bis zu diesem Tag — es ist immer ein bestimmter
Tag, auch wenn der Mensch ihn nicht mehr weiß — bis zu
diesem Tag ist der Mensch ein Stück Welt auch vor seinem
eigenen Bewußtsein; die Sachlichkeit des Kindes erreicht kein
späteres Lebensalter je wieder. Der Einbruch des Selbst
beraubt ihn mit einem Schlage all der Sachen und Güter, die er
zu besitzen sich vermaß. Er wird ganz arm, er hat nur sich,
kennt nur sich, niemand kennt ihn; denn es ist niemand da
außer ihm. Das Selbst ist der einsame Mensch im härtesten
Sinn des Worts. Das »politische Tier« ist die Persönlichkeit.
Das Selbst also wird an einem bestimmten Tag im
Menschen geboren. Welcher Tag ist das? Der gleiche, an
dem die Persönlichkeit, das Individuum, den Tod in die Gat-
tung stirbt. Eben dieser Augenblick läßt das Selbst geboren
werden. Das Selbst, der »Daimon«, nicht im Sinne von
Goethes orphischer Stanze, wo das Wort grade die Persön-
lichkeit bezeichnet, sondern im Sinn des Heraklitworts »Sein
Ethos ist dem Menschen Daimon«, dieser blinde und stumme,
92
ERSTER TEIL: DRITTES BUCH
in sich verschlossene Daimon überfällt den Menschen das erste
Mal in der Maske des Eros, von da an geleitet er ihn durchs
Leben bis zu jenem Augenblick, wo er die Maske ablegt und
sich ihm enthüllt als Thanatos. Dies ist der zweite, und wenn
man so will der geheimere, Geburtstag des Selbst, wie es der
zweite, und wenn man so will erst der offenkundige, Sterbetag
der Individualität ist. Der natürliche Tod läßt ja auch dem
blödesten Auge offenbar werden, daß die Persönlichkeit sich
entpersönlichen, das Individuelle sich regenerieren lassen
muß. Der Teil des Menschen, an dem die Gattung sich ihr
Recht nicht schon hatte nehmen können, der fällt im Tode dem
nackten, dem übergattungsmäßigen Allgemeinen, der Natur
selber zur Beute. Aber während so in diesem Augenblick das
Individuum den letzten Resten seiner Individualität entsagt
und heimkehrt, erwacht das Selbst zur letzten Vereinzelung
und Einsamkeit. Es gibt keine größere Einsamkeit als in den
Augen eines Sterbenden, und es gibt keine trotzigere, hoch-
mütigere Vereinzelung als die, welche sich auf dem erstarrten
Antlitz eines Toten malt. Zwischen diesen beiden Geburten
des Daimon liegt alles, was uns vom Selbst des Menschen
sichtbar wird; was vorher, was nachher? — das sichtbare
Dasein dieser Gestalten ist gebunden an den Lebenskreislauf
der Individualität und verliert sich ins Unsichtbare, wo es sich
von diesem Kreislauf löst. Daß es nur wie an einen Stoff, an
dem es sich sichtbar macht, daran gebunden ist, das lehrt
schon die entgegengesetzte Richtung, die es in den ent-
scheidenden Punkten dem Kreislauf gegenüber einhält. Das
Leben des Selbst ist kein Kreislauf, sondern eine aus Un-
bekanntem in Unbekanntes führende Grade; das Selbst weiß
nicht, woher es kommt noch wohin es geht. Aber daß die
zweite Geburt des Daimon, die als Thanatos, kein bloßes
Nachspiel ist wie das Sterben der Individualität, das gibt dem
Leben über die Grenzen der Gattung, das im Lichte des Per-
sönlichkeitsglaubens eitel und sinnlos ist, seinen eigenen Rang:
dem Greisenalter. Der Greis hat keine Persönlichkeit mehr zu
eigen; sein Anteil am Gemeinsamen der Menschheit ist zur
METAETHIK
93
bloßen Erinnerung verflüchtigt; aber je weniger er noch Indi-
vidualität ist, um so härter wird er als Charakter, um so mehr
wird er Selbst. Das ist die Wesensverwandlung, die Qoethe
am Faust durchführt: der alle seine reiche Individualität schon
zu Beginn des zweiten Teils eingebüßt hat und eben deswegen
zuletzt im Schlußakt als Charakter von vollkommenster Härte
und höchstem Trotz, eben wahrhaft als Selbst erscheint, —
ein treues Bild der Lebensalter.
Das Ethos ist diesem Selbst zwar Inhalt; das Selbst ist
der Charakter; aber es wird von diesem seinem Inhalt nicht
bestimmt; es ist nicht Selbst dadurch, daß es dieser bestimmte
Charakter ist. Sondern Selbst ist es schon dadurch, daß es
überhaupt einen, einerlei welchen, Charakter hat. Während
also die Persönlichkeit Persönlichkeit ist durch ihren festen
Zusamenhang mit der bestimmten Individualität, ist das Selbst
Selbst durch sein bloßes Festhalten an seinem Charakter über-
haupt. Oder mit andern Worten: das Selbst »hat« seinen Cha-
rakter. Eben die Unwesentlichkeit des bestimmten Charakters
wird ja auch in der allgemeinen Gleichung B=B ausgesprochen.
Dieselbe Besonderheit, die in der Gleichung B=A Individuali-
tät, Gegenstand aller Aussagen, Zielpunkt alles Interesses ist,
muß sich hier begnügen, der in seiner Besonderheit allgemeine
Boden zu sein, auf dem sich das stets einzelne und doch
immer gleiche Gebäude des einzelnen Selbst erhebt.
Indem aber das Selbst die Besonderheit der Individualität
so zu seiner bloßen »besonderen Voraussetzung« macht, wird
nun gleichzeitig auch die ganze Welt ethischer Allgemeinheit,
die an dieser ethischen Besonderheit der Individualität hängt,
in diesen bloßen Hintergrund des Selbst geschoben. Mit der
Individualität zusammen sinkt also auch die Gattung, sinken
Gemeinschaften, Völker, Staaten, sinkt die ganze sittliche
Welt zur bloßen Voraussetzung des Selbst herab. Dies alles
ist dem Selbst nur etwas, was es hat; es lebt nicht darin wie
die Persönlichkeit; es ist ihm nicht die Luft seines Daseins, in
der es atmet; Atmosphäre des Daseins ist ihm nur — es selbst.
Die ganze Welt, und insbesondere die ganze sittliche Welt,
94
ERSTER TEIL: DRITTES BUCH
liegt in seinem Rücken; es ist »darüber hinaus«, — nicht als
ob es sie nicht brauchte, aber in dem Sinn, daß es ihre Gesetze
nicht als seine Gesetze anerkennt, sondern als bloße Voraus-
setzungen, die ihm gehören, ohne daß es hinwiederum ihnen
gehorchen müßte. Die Welt des Ethischen ist dem Selbst bloß
— »sein« Ethos; weiter ist nichts von ihr geblieben. Das Selbst
lebt in keiner sittlichen Welt, es hat sein Ethos. Das Selbst
ist meta*ethisch.
Das Selbst in seiner gebirgshaft »edebstummen« Einsam-
keit, in seiner Gelöstheit von allen Beziehungen des Lebens,
seiner erhabenen Beschränktheit in sich selbst — woher ist
es uns bekannt, wo haben wir es schon mit Augen gesehen?
Die Antwort wird leicht, wenn wir uns erinnern, wo wir den
metaphysischen Gott, die metalogische Welt als Gestalten des
Lebens erblickt haben. Auch der metaethische Mensch ist in
der Antike, und vornehmlich wieder in der wahrhaft klas-
sischen Antike der Griechen, lebendige Gestalt gewesen.
Gerade dort, wo die persönlichkeitenverzehrende Kraft der
Gattung sich in der Erscheinung der Polis, uneingeschränkt
durch Gegenkräfte, Gestalt gab, gerade dort nahm auch die
aller Rechte der Gattung sich überhebende Gestalt des Selbst
in stolzer Vereinzelung ihren Thronsitz ein, wohl auch in den
Ansprüchen der sophistischen Theorien, die das Selbst zum
Maß der Dinge machten, vornehmlich aber, mit der Wucht der
Sichtbarkeit, in den großen Gleichzeitern jener Theorien, den
Helden der attischen Tragödie.
Der antike tragische Held ist nichts andres als das meta-
ethische Selbst. Deswegen ist das Tragische nur dort
lebendig geworden, wo das Altertum den ganzen Weg bis zur
Erstellung dieses Menschenbildes ausgeschritten ist. Indien
und China, die auf dem Wege vor erreichtem Ziel Halt
machten, haben das Tragische weder im dramatischen Kunst-
werk noch in der Vorform der volkstümlichen Erzählung
erreicht. Indien ist nie bis zur trotzigen Gleichheit des Selbst
in allen Charakteren gekommen; der indische Mensch bleibt
METAETHIK
21
im Charakter stecken; es gibt keine charakterstarrere Welt
als die der indischen Dichtung; es gibt auch kein Menschheits-
ideal, das so allen Gliederungen des natürlichen Charakters
eng verhaftet bleibt wie das indische; nicht den Geschlechtern
etwa oder den Kasten nur gilt ein besonderes Lebensgesetz,
sondern sogar den Lebensaltern; dies ist das Höchste, daß der
Mensch diesem Gesetz seiner Besonderheit gehorcht; nicht
jeder hat das Recht oder gar die Pflicht, etwa Heiliger zu sein;
ganz im Gegenteil ist es dem Manne, der noch keine Familie
gegründet hat, gradezu verwehrt; auch Heiligkeit ist hier eine
Besonderheit unter anderen, während das Heroische das all-
gemeine und gleiche innere Lebensmuß eines jeden ist. Wieder
greift erst die in Buddha aufgipfelnde Askese hinter diese
Besonderheit des Charakters zurück. Der Vollendete ist von
allem erlöst, nur von seiner eigenen Vollendetheit nicht. Alle
Bedingungen des Charakters sind fortgefallen, es gilt hier
weder Alter noch Kaste noch Geschlecht; aber geblieben ist
der eine unbedingte nämlich von aller Bedingung erlöste
Charakter, eben der des Erlösten. Auch das ist ja noch
Charakter; der Erlöste ist geschieden vom Unerlösten; aber
die Scheidung ist eine ganz andre als die, welche sonst
Charakter von Charakter scheidet; sie liegt hinter diesen be-
dingten Scheidungen als die eine unbedingte. So ist der
Erlöste der Charakter im Augenblick seines Hervorgehens aus
— oder richtiger: seines Eingehens in das Nichts. Zwischen
dem Erlösten und dem Nichts liegt wirklich nichts weiter
mehr als der Beisatz von Individualität, mit dem der
Charakter infolge der Weltteilhaftigkeit alles Lebendigen, so-
lange es lebt, versetzt ist. Der Tod, der dies Stück Individua-
lität in die Welt zurückfluten läßt, räumt diese letzte Scheide-
wand, die den Erlösten vom Nichts scheidet, weg und ent-
kleidet ihn sogar des Charakters der Erlöstheit.
Was Indien dem Charakter und der Besonderheit zu viel
gibt, das tut China zu wenig. Während die Welt hier reich
und überreich an Individualität ist, ist der Mensch, soweit er
nicht als Weltteil gewissermaßen von außen gesehen wird, der
9Ö
ERSTER TEIL: DRITTES BUCH
innere Mensch also, gradezu charakterlos; der Begriff des
Weisen, wie ihn klassisch wieder Kongfutse verkörpert,
wischt über alle mögliche Besonderheit des Charakters hin-
weg; er ist der wahrhaft charakterlose, nämlich der Durch-
schnittsmensch. Es mag zur Ehre des Menschengeschlechts
gesagt sein, daß wohl nirgends als nur hier in China ein so
langweiliger Mensch wie Kongfutse zum klassischen Muster-
bild des Menschlichen hat werden können. Etwas ganz andres
als Charakter ist es, was den chinesischen Menschen aus-
zeichnet: eine ganz elementare Reinheit des Gefühls. Das
chinesische Gefühl ist ohne jede Beziehung zum Charakter,
gewissermaßen ohne jede Beziehung zu seinem eigenen
Traget, etwas rein Gegenständliches; es ist, in dem Augen-
blick wo es gefühlt wird, und ist, weil es gefühlt wird. Keine
Lyrik irgend eines Volks ist so reiner Spiegel der sichtbaren
Welt und des unpersönlichen, aus dem Ich des Dichters ent-
lassenen, ja gradezu aus ihm abgetropften Gefühls. Es gibt
Verse des großen Litaipe, die kein Übersetzer ohne das Wort
Ich wiederzugeben wagt und die gleichwohl im Urtext, wie es
die Eigenart der chinesischen Sprache erlaubt, ohne jede An-
deutung irgendwelcher Personalität, gewissermaßen also rein
in der Es=Form, gehalten sind. Die Reinheit des doch ganz
augenblicklichen Gefühls — was ist das anders als der Wille,
dem es nicht beschieden ward, sich an einem Charakter zu
verkörpern, die Wallung, die nur Wallung bleibt ohne irgend
ein Substrat. Hinter diese Reinheit und Unverstelltheit des
Gefühls langt nun wieder der große Weise, der in China selber
China überwand, Laotse. Das Gefühl, so elementar und so
charakterentblößt es war, hatte noch Inhalt; so war es noch
sichtbar, aussprechbar, — benennbar. Von Laotse aber heißt
es: er wollte namenlos bleiben. Diese »Verborgenheit des
Selbst« ist es, die er auch seinem Vollkommenen vorschreibt:
Unmerkbarkeit, Unbezeugtheit, ein Gehenlassen der Dinge;
wie der Urgrund selber so muß auch der Mensch jenseits sein
von Tun und Nichttun; er schaut nicht zum Fenster heraus
und deshalb sieht er den Himmel; er hilft, indem er selber das
METAETHIK
2Z
Nichttun tut, allen Wesen zu ihrem Tun; seine Liebe ist
namenlos und verborgen wie er selbst.
Zwiefach wie die vollkommene Gottesleugnung und die
vollkommene Weltverneinung ist so auch die vollkommene
Selbstauflösung in Buddhas Selbstüberwindung, in Laotses
Selbstverhehlung. Zwiefach müssen sie alle sein, denn die
lebendigen Götter lassen sich nicht leugnen, die gestaltete
Welt läßt sich nicht verneinen, das trotzige Selbst läßt
sich nicht auslöschen. Nur über die bloßen Elemente, die
Hälften, die noch nicht zur Einheit der Gestalt zusammen-
gewachsen sind, haben die Mächte der Vernichtung und Ent-
wesung Gewalt. Im Selbstüberwinden also und Selbstver-
hehlen geschieht allezeit die Auslöschung des Selbst, die
einzige, die hart an das völlige Nichts des Selbst heranführt,
ohne doch darin zu verschwinden; denn im Überwinden wie
im Verhehlen ist doch immerhin noch der Mensch es, der über-
windet und verhehlt. Neben die Gottesangst und den Weltwahn
tritt die letzte der elementaren Mächte der Urzeit: der
Menschendünkel des Magiers, der sich dem nur über das
Selbst gewaltigen Schicksal durch Kraft oder List zu entziehen
weiß und so sich den Trotz des Helden erspart. Wieder haben
Indien wie China da für immer die beiden einzigen Wege
gezeigt, auf die der Mensch allezeit vor seinem Selbst aus-
weichen kann, wenn er den Mut tragisch zu werden nicht
aufbringt. Mag das streng erst für jene beiden letzten Stei-
gerungen dieses urmenschlichen Dünkels, den buddhistischen
Erlösten und den Vollkommenen des Laotse gelten, —
geschichtlich erzeugt Indiens wie Chinas Boden überhaupt das
Gewächs des Tragischen nicht. Die Bedingtheit der Charakter-
besonderung dort, die Unpersönlichkeit des Gefühls hier, und
die Trennung der beiden von einander — dies alles läßt das
Tragische nicht aufkommen; denn das setzt zu seinem Auf-
kommen die Ineinandergewachsenheit eines Willens und
Wesens zur seßhaften Einheit des Trotzes voraus. Statt zum
tragischen Heros kommt es auf jenem Boden höchstens zur
rührenden Situation. Im Rührenden erstickt das Selbst in
2*
ERSTER TEIL: DRITTES BUCE1
seinem Unglück. Im Tragischen verliert das Unglück alle
selbständige Macht und Bedeutung; es gehört zu den Ele-
menten der Besonderheit, auf die das Selbst das Siegel seines
Trotzes drückt, dies immer gleiche Siegel — si fractus illa-
batur orbis: Sterbe meine Seele mit den Philistern!
Noch vor Simsons und Sauls tragischem Trotz hat das
älteste Vorderasien in jener Gestalt, die an der Grenze
des Göttlichen und Menschlichen steht, in Gilgamesch, den
Urtyp des tragischen Helden aufgestellt. Gilgameschs Lebens-
kurve führt durch die drei festen Punkte: der Anfang ist das
Erwachen des menschlichen Selbst in der Begegnung mit Eros;
es folgt die gerade Linie der tatenreichen Fahrt, die jäh ab-
bricht in dem letzten und entscheidenden Ereignis, der Be-
gegnung mit Thanatos. Diese ist hier gewaltig vergegenständ-
licht, indem es zunächst nicht unmittelbar der eigene Tod ist,
der dem Helden entgegentritt, sondern der Tod des Freundes;
aber er erfährt an ihm die Furcht des Todes überhaupt. Die
Zunge versagt ihm in dieser Begegnung den Dienst; er »kann
nicht schreien, kann nicht schweigen«, aber er unterwirft sich
auch nicht; sein ganzes Dasein wird zum Bestehen dieser
einen Begegnung; sein Leben bekommt den Tod, den eigenen
Tod, den er im Tode des Freunds erblickt hat, zum einzigen
Inhalt. Es ist gleichgültig, daß ihn zuletzt der Tod auch noch
selber holt; das Eigentliche liegt da schon hinter ihm; der
Tod, der eigne Tod ist beherrschendes Ereignis seines Lebens
geworden; er selbst ist in die Sphäre getreten, wo die Welt
mit ihrem Wechsel von Schreien und Schweigen den Men-
schen anfremdet, in die Sphäre der reinen erhabenen Stumm-
heit, des Selbst.
Denn das ist das Merkzeichen des Selbst, das Siegel seiner
Größe wie auch das Mal seiner Schwäche: es schweigt. Der
tragische Held hat nur eine Sprache, die ihm vollkommen
entspricht: eben das Schweigen. So ist es von Anfang an.
Das Tragische hat sich gerade deshalb die Kunstform des
Dramas geschaffen, um das Schweigen darstellen zu können.
METAETHIK
92
In der erzählenden Dichtung ist das Schweigen die Regel, die
dramatische kennt im Gegenteil nur das Reden, und dadurch
erst wird das Schweigen hier beredt. Indem der Held
schweigt, bricht er die Brücken, die ihn mit Gott und Welt
verbinden, ab und erhebt sich aus den Gefilden der Persön-
lichkeit, die sich redend gegen andre abgrenzt und individua-
lisiert, in die eisige Einsamkeit des Selbst. Das Selbst weiß
ja von nichts außer sich, es ist einsam schlechthin. Wie soll
es diese seine Einsamkeit, dieses starre Trotzen in sich selbst,
anders betätigen als eben indem es schweigt? Und so tut es
in der äschyleischen Tragödie, wie schon den Zeitgenossen
auffiel. Das Heroische ist stumm. Wenn die großen aktlangen
Schweigen der äschyleischen Personen bei den Späteren sich
nicht finden, so wird dieser Gewinn an »Natürlichkeit« durch
einen größeren Verlust an tragischer Kraft erkauft. Denn es
ist mitnichten etwa so, daß die stummen Helden des Äschylos
bei Sophokles und Euripides Sprache, die Sprache ihres tra-
gischen Selbst, gewönnen. Sie lernen nicht sprechen, sie
lernen bloß debattieren. Hier überwuchert jene uns heute ver-
zweifelt frostig anhauchende Disputierkunst des dramatischen
Zwiegesprächs, das in endlosen Hin- und Herwendungen den
Inhalt der tragischen Situation verstandesmäßig auseinander-
legt und dadurch das eigentlich Tragische, das jenseits aller
Situationen trotzende Selbst, dem Blick solange entzieht, bis
einer jener lyrischen Monologe, zu denen das Dasein des
Chors immer wieder den Anlaß gibt, dann doch wieder das
Tragische in die Mitte rückt. Die ungeheure Wichtigkeit dieser
lyrisch-musikalischen Partien in der Ökonomie des drama-
tischen Ganzen beruht eben darauf, daß die Attiker im eigent-
lich Dramatischen, im Dialog, nicht die Form fanden, das
Heroisch-Tragische zum Ausdruck zu bringen. Denn das
Heroische ist Wille, und der attische Dialog ist, um den Aus-
druck des ältesten Theoretikers, des Aristoteles selber, zu ge-
brauchen, »dianoetisch«, — verstandesmäßige Auseinander-
setzung.
7*
lOO
ERSTER TEIL: DRITTES BUCH
Diese Grenze des attischen Dramas ist nun freilich keine
bloß technische. Das Selbst kann eben nur schweigen. Allen-
falls kann es noch sich lyrisch-monologisch zu äußern suchen,
obwohl ihm schon diese Äußerung, eben als Äußerung, nicht
mehr.ganz angemessen ist; das Selbst äußert sich nicht, es
ist vergraben in sich. Aber sowie es ins Gespräch tritt,
hört es auf, Selbst zu sein; Selbst ist es nur, solang
es allein ist. So büßt es im Dialog selbst den Anlauf zu
einer Sprache ein, den es im Monolog schon genommen hatte.
Der Dialog bringt keine Beziehung zwischen zwei Willen zu-
stande, weil Jeder dieser Willen nur seine Vereinzelung wollen
kann. So kommt es, daß das attische Drama das technische
Glanzstück des modernen, die Überredungsszene, wo ein
Wille einen andern Willen bricht und lenkt, die Szene etwa,
wo »in solcher Laun’ ein Weib gefreit« wird, nicht kennt.
Auch die vielbemerkte Tatsache, daß der antiken Dramatik
die Liebesszene fremd ist, findet hier ihre letzte, zugleich
technische und geistige Erklärung; die Liebe kann höchstens
monologisch als unerfülltes Verlangen erscheinen; Phädras
Unglück des erwiderungslosen Gefühls ist antik bühnenmög-
lich, Julias Glück des wechselweis gesteigerten Gebens und
Habens nicht. Vom Willen des tragischen Selbst führt keine
Brücke nach irgend einem Außen, und sei dies Außen auch
ein andrer Wille. Sein Wille sammelt als auf den eigenen Cha-
rakter gerichteter Trotz alle Wucht nach innen.
Dies Fehlen aller Brücken und Verbindungen, dies nur
nach innen Gekehrtsein des Selbst ist es auch, was jene eigen-
tümliche Dunkelheit über Göttliches und Weltliches ausgießt,
iri der sich der tragische Held bewegt. Er versteht nicht, was
ihm widerfährt, und er ist sich bewußt, es nicht verstehen zu
können; er versucht gar nicht, in das rätselhafte Walten der
Götter einzudringen. Die Hiobsfragen nach Schuld und Schick-
sal mögen von den Dichtern gestellt werden; die Helden sel-
ber, anders als Hiob, kommen gar nicht auf den Gedanken, sie
zu stellen. Täten sie es, so müßten sie ihr Schweigen brechen.
Das bedeutete aber ein Heraustreten aus den Mauern ihres
METAETHIK
101
Selbst, und ehe sie das tun, dulden sie lieber stumm und stei-
gen die Stufen der inneren Erhöhung des Selbst hinan wie
Ödipus, dessen Tod das Rätsel seines Lebens ganz ungelöst
läßt und dennoch, gerade weil er es gar nicht berührt, den
Helden in seinem Selbst ganz einschließt und befestigt.
Überhaupt ist dies der Sinn des Untergangs des Helden.
In der Tragödie wird leicht der Anschein erweckt, als müßte
der Untergang des Einzelnen irgend ein gestörtes Gleichge-
wicht der Dinge wiederherstellen. Aber dieser Anschein be-
ruht nur auf dem Widerspruch zwischen dem tragischen Cha-
rakter und der dramatischen Fabel; das Drama als Kunstwerk
braucht beide Hälften dieses Widerspruchs, um zu bestehen;
aber das eigentlich Tragische wird dadurch verwischt. Der
Held als solcher muß nur untergehen, weil der Untergang ihm
die höchste Verheldung, nämlich die geschlossenste Ver-
selbstung seines Selbst ermöglicht. Er verlangt nach der
Einsamkeit des Untergangs, weil es keine größere Einsamkeit
gibt als diese. Deshalb stirbt der Held eigentlich auch nicht.
Der Tod sperrt ihm gewissermaßen nur die Temporalien der
Individualität. Der zum heldischen Selbst geronnene Cha-
rakter ist unsterblich. Die Ewigkeit ist ihm gerade gut genug,
sein Schweigen wiederzutönen.
Unsterblichkeit — damit haben wir ein letztes Verlangen
des Selbst berührt. Nicht die Persönlichkeit, aber das Selbst
fordert für sich Ewigkeit. Die Persönlichkeit begnügt sich an
der Ewigkeit der Beziehungen, in die sie ein- und aufgeht; das
Selbst hat keine Beziehungen, es kann keine eingehen, es
bleibt immer es selbst. So ist es sich bewußt, ewig zu sein;
seine Unsterblichkeit ist Nichtsterbenkönnen. Alle antike
Unsterblichkeitslehre kommt auf dies Nichtsterbenkönnen des
losgelösten Selbst hinaus; die Schwierigkeit besteht theo-
retisch nur darin, diesem Nichtsterbenkönnen einen natür-
lichen Träger, ein »etwas«, das nicht sterben kann, ausfindig
zu machen. So kommt die antike Psychologie zustande. Die
Psyche soll das natürliche Etwas sein, das schon von Natur
wegen todesunfähig ist. So wird sie vom Leib theoretisch
102
ERSTER TEIL: DRITTES BUCH
getrennt und Träger des Selbst. Aber diese Verkettung des
Selbst mit einem letzthin eben doch nur natürlichen Träger,
eben der »Seele«, macht die Unsterblichkeit zu einem höchst
prekären Besitz. Die Seele, wird behauptet, kann nicht
sterben; aber da sie in die Natur verflochten ist, so wird das
Nichtserbenkönnen zur unermüdlichen Verwandlungsfähigkeit;
die Seele stirbt nicht, aber sie wandert durch die Leiber. So
wird dem Selbst in der Unsterblichkeit das Danaergeschenk
der Seelenwanderung mitgegeben und damit die Unsterblich-
keit gerade für das Selbst entwertet. Denn das Selbst, wenn
es denn im Trotz auf die Unbeschränktheit seines vergäng-
lichen Wesens Unsterblichkeit verlangt, verlangt eine Unsterb-
lichkeit ohne Wandel und Wanderung; es verlangt Selbst*
Erhaltung. Indem es aber mit der »Seele« verkettet wird, der
»Seele« nach dem antiken Sinn des Worts, der ausdrücklich
nicht das Ganze des Menschen, sondern nur einen »Teil«, den
nichtsterbenkönnenden, bezeichnet, wird dem Selbst sein Ver-
langen nur wie zum Hohne erfüllt. Das Selbst bleibt es selbst,
aber es geht durch die unkenntlichsten Gestalten, denn keine
jener Gestalten wird sein Besitz; aber es behält auch sein
Eigenes, den Charakter, die Eigenart, nur dem Namen nach;
in Wahrheit bleibt ihm bei seinem Gang durch die Gestalten
nichts Erkennbares davon übrig. Es bleibt Selbst nur in seiner
vollkommenen Stummheit und Beziehungslosigkeit; die behält
es auch bei seiner Verwandlung; es bleibt immer das einzelne,
einsame, sprachlose Selbst. Eben auf diese Sprachlosigkeit
müßte es Verzicht tun, es müßte aus dem einsamen Selbst zur
sprechenden Seele werden, — Seele aber hier in einem andern
Sinn, wo das Wort ein Ganzes des Menschen jenseits des
Gegensatzes von »Leib und Seele« meint. Würde das Selbst
zur Seele in diesem Sinn, dann wäre ihm auch Unsterblichkeit
in einem neuen Sinn gewiß, und der gespenstische Gedanke
der Seelenwanderung verlöre seine Kraft. Aber wie das
geschehen sollte, wie dem Selbst die Zunge gelöst, das Ohr
erschlossen werden sollte, das ist vom Selbst aus, wie wir es
bis jetzt kennen, gar nicht vorzustellen. Vom in sich ver-
METAETHIK
103
senkten »B=B« führt kein Weg hinaus ins tönende Freie, alle
Wege nur tiefer ins Schweigen des Innern hinein.
Und dennoch, eine Welt gibt es, wo dies Schweigen selber
schon Sprache ist, nicht freilich Sprache der Seele, aber
dennoch Sprache, eine Sprache vor der Sprache, Sprache des
Unausgesprochenen, Unaussprechlichen. Wie das Mythische
der metaphysischen Theologie in der ausschließenden Ab-
geschlossenheit der äußeren Form das Reich des Schönen, wie
das Plastische der metalogischen Kosmologie in der Insich-
geschlossenheit der inneren Form das Kunstwerk, das schöne
Ding, gründete, so legt das Tragische der metaethischen Psy-
chologie in dem beredten Schweigen des Selbst den Grund des
wortlosen Verstehens, auf dem die Kunst erst eine Wirklich-
keit werden kann. Der Gehalt ist es, der hier entsteht. Der
Gehalt ist das, was zwischen dem Künstler und dem Be-
trachter, ja zwischen dem Künstler als lebendigen Menschen
und dem Künstler, der über seine Lebendigkeit hinaus das
Werk in die Welt setzt, die Brücke schlägt. Und dieser Gehalt
ist nicht die Welt, denn die ist zwar allen gemeinsam, aber
so, daß jeder seinen individuellen Anteil, seinen besonderen
Standpunkt in ihr hat. Der Gehalt muß etwas unmittelbar
Gleiches sein, etwas, was die Menschen nicht untereinander
teilen wie die gemeinsame Welt, sondern etwas, was in allen
gleich ist. Und das ist nur das Menschliche schlechthin, das
Selbst. Das Selbst ist das, was im Menschen zum Schweigen
verurteilt ist und dennoch überall sofort verstanden wird. Es
braucht bloß sichtbar gemacht, bloß »dargestellt« zu werden,
um in jedem andern gleichfalls das Selbst zu erwecken. Es
selber verspürt dabei nichts, es bleibt gebannt in die tragische
Lautlosigkeit, es starrt unverwandt in sein Inneres; wer es
aber sieht, in dem erwachen, wie es wiederum schon Ari-
stoteles voll ahnenden Tiefsinns formulierte, »Furcht und Mit-
leid«. Im Beschauer werden sie wach und richten sich sofort
in sein eigenes Innere, machen ihn zum Selbst. Würden sie
im Helden selber wach, so hört er auf, stummes Selbst zu
ERSTER TEIL: DRITTES BUCH
sein; »Phobos« und »Eieos« würden sich als »Ehrfurcht und
Liebe« enthüllen, die Seele Sprache gewinnen und das neu-
geschenkte Wort von Seele zu Seele ziehen. Nichts von
solchem Zueinanderkommen hier. Alles bleibt stumm. Der
Held, der Furcht und Mitleid in andern erweckt, bleibt selber
unbewegtes starres Selbst. Im Beschauer wiederum schlagen
sie sofort nach innen, machen auch ihn zum in sich selber ein-
geschlossenen Selbst. Jeder bleibt für sich, jeder bleibt Selbst.
Es entsteht keine Gemeinschaft. Und dennoch entsteht ein
gemeinsamer Gehalt. Die Selbste kommen nicht zueinander,
und dennoch klingt in allen der gleiche Ton, das Gefühl des
eigenen Selbst. Diese wortlose Übertragung des Gleichen
geschieht, obwohl noch keine Brücke führt von Mensch zu
Mensch. Sie geschieht nicht von Seele zu Seele — es gibt
noch kein Reich der Seelen; sie geschieht von Selbst zu Selbst,
von einem Schweigen zum andern Schweigen.
Das ist die Welt der Kunst. Eine Welt stummen Ein-
verständnisses, die keine Welt ist, kein wirklicher, hin und
her lebendiger Zusammenhang der hin und wider ziehenden
Rede, und dennoch an jedem Punkt fähig, auf Augenblicke be-
lebt zu werden. Kein Laut durchbricht dies Schweigen, und
dennoch kann in jedem Augenblick ein jeder das Innerste des
andern in sich selber spüren. Es ist die Gleichheit des Mensch-
lichen, die hier als Gehalt des Kunstwerks wirksam wird, vor
aller wirklichen Einheit des Menschlichen. Noch vor aller
wirklichen Menschensprache schafft die Kunst als Sprache des
Unaussprechlichen die erste und für alle Zeit unter und neben
der eigentlichen Sprache unentbehrliche stumme Verständi-
gung. Das Schweigen des tragischen Helden schweigt in aller
Kunst und wird in aller Kunst verstanden ohne alle Worte.
Das Selbst spricht nicht und wird doch vernommen. Das
Selbst wird gesehen. Das reine stumme Schauen vollzieht in
jedem Beschauer die Wendung hinein ins eigene Innere.
Die Kunst ist keine wirkliche Welt; denn die Fäden, die in
ihr von Mensch zu Mensch gezogen werden, laufen nur für
Augenblicke, nur für die kurzen Augenblicke des unmittel-
METAETHIK
105
baren Schauens und nur am Ort des Schauens. Das Selbst
wird nicht lebendig, indem es vernommen wird. Das Leben,
das im Betrachter erweckt wird, erweckt nicht das Betrach-
tete zum Leben; es wendet sich im Betrachter selber sogleich
nach innen. Das Reich der Kunst gibt den Boden, wo überall
das Selbst erwachsen kann; aber jedes Selbst ist wieder ein
ganz einsames, einzelnes Selbst; die Kunst schafft nirgends
eine wirkliche Mehrheit von Selbsten, obwohl sie überall die
Möglichkeit zum Erwachen von Selbsten herstellt: das Selbst,
das erwacht, weiß dennoch nur von sich selbst. Mit andern
Worten: das Selbst bleibt in der Scheinwelt der Kunst stets
Selbst, wird nicht — Seele.
Und wie sollte es Seele werden? Seele, das hieße heraus-
treten aus der in sich gekehrten Verschlossenheit; aber wie
sollte das Selbst heraustreten? wer sollte es rufen — es ist
taub; was sollte es hinauslocken — es ist blind; was sollte es
draußen anfangen — es ist stumm. Es lebt ganz nach innen.
Die Zauberflöte der Kunst allein konnte das Wunder voll-
bringen, den Gleichklang des menschlichen Gehalts in den
Getrennten erklingen zu lassen. Und wie begrenzt war noch
diese Magie! Wie blieb es eine Scheinwelt, eine Welt der
bloßen Möglichkeiten, die hier entstand. Der gleiche Klang
ertönte und wurde doch überall nur im eigenen Innern ver-
nommen; keiner spürte das Menschliche als das Menschliche
in andern, jeder nur unmittelbar im eigenen Selbst. Das Selbst
blieb ohne Blick über seine Mauern, alle Welt blieb draußen.
Hatte es sie in sich, so nicht als Welt, sondern nur als seinen
eigenen Besitz. Die Menschheit, von der es wußte, war allein
die in seinen eigenen vier Wänden. Es selbst blieb sich der
einzige andre, den es sah, und jeder andre, der von ihm
gesehen werden wollte, mußte in diesen seinen Sehraum
hineingehn und darauf verzichten, als andrer gesehen zu
werden. Die ethischen Ordnungen der Welt verloren so in
diesem Sehraum des eigensinnigen Selbst allen eigenen Sinn;
sie wurden zum bloßen Inhalt seiner Selbstschau. So mußte
es wohl bleiben, was es war, das über alle Welt weggehobene,
ioö
ERSTER TEIL: DRITTES BUCH.
mit starrem Trotz ins eigene Innere starrende und alles
Fremde allein dort im Eignen und also nur als Eignes, zu
erblicken fähige, — alle ethische Ordnung eingeheimst zum
eignen Ethos: so war und blieb das Selbst der Freiherr seines
Ethos — das Metaethische.
ÜBERGANG
ER mythische Gott, die plastische Welt, der tragische
Mensch — wir halten die Teile in der Hand. Wir haben
A—' wahrhaftig das All zerschlagen. Je tiefer wir in die
Nacht des Positiven hinabstiegen, um das Etwas unmittelbar
bei seinem Ursprung aus dem Nichts zu erhaschen, desto mehr
zerbrach uns die Einheit des All. Das Stückwerk des Wis-
sens, das uns jetzt umgibt, schaut seltsam fremd zu uns auf.
Es sind die Elemente unsrer Welt, aber wir kennen sie so
nicht; es ist das, woran wir glauben, aber nicht so, wie es
uns hier entgegentritt, glauben wir daran. Wir kennen eine
lebendige Bewegung, einen Stromkreis, in dem diese Elemente
schwimmen; nun sind sie herausgerissen aus dem Strom. In
der Bahn des Gestirns, das über unserm Leben strahlt, sind
sie uns vertraut und glaubwürdig in jedem Sinn; herausgelöst,
abgezogen zu bloßen Elementen einer rechnerischen Bahn-
konstruktion, erkennen wir sie nicht wieder. Wie sollten wir
sie auch erkennen! Erst die Bahnkurve kann ja das Ge-
heimnis der Elemente ins Sichtbare bringen. Erst die Kurve
führt aus dem bloß Hypothetischen der Elemente ins Kate-
gorische der anschaulichen Wirklichkeit. Ob die Elemente
mehr als bloße »Hypothesen« waren: erst ihre Fähigkeit zum
Aufbau der sichtbaren Bahn kann es bewähren.
Das Hypothetische — das ist das Wort, das uns jenes
fremde Aussehen der Stücke des All erklärt. Keines dieser
Stücke hat einen sicheren, unverrückbaren Ort; über jedem
steht ein heimliches Wenn geschrieben. Siehe da: Gott ist
und ist seiendes Leben; siehe da: die Welt ist und ist be-
geistete Gestalt; siehe da: der Mensch ist und ist einsames
Selbst; — aber fragst du; wie denn eines zum andern sich
finde, wie denn der Mensch in seiner Einsamkeit nun Platz
io8
ÜBERGANG
nehme in der geistbewegten Welt, wie denn der Gott in seiner
Schrankenlosigkeit es aushalte neben einer in sich geschlos-
senen Welt, einem in sich einsamen Menschen, wie denn diese
Welt in ihrer ruhigen Gestalthaftigkeit noch Raum lasse für
unendliches Leben Gottes, ein eigenes Sein des Menschen,
fragst du solche Fragen, so stürzt ein ganzer Schwarm von
Wenns als Antwort auf dich ein. In ruhiger Festigkeit mögen,
ehe du fragst, die drei Elemente nebeneinander zu liegen
scheinen, jedes in einem gegen außen blinden Ein- und All-
gefühl des eigenen Daseins. Hierin sind sie alle drei unter-
einander gleich. Auch Gott, auch die Welt, nicht der Mensch
allein, sind jedes ein einsames Selbst, das in sich starrend von
keinem Draußen weiß; auch Mensch und Welt, nicht Gott nur,
leben in der innerlichen Lebendigkeit ihrer eigenen Natur,
ohne eines Seins außer dem eigenen zu bedürfen; auch Mensch
und Gott, nicht bloß die Welt, sind in sich geschlossne Gestalt
und eignen Geists begeistet.
So scheinen alle Grenzen und Unterschiede zu ver-
schwimmen; jedes Teil setzt sich monistisch als das Ganze.
Aber es sind eben doch drei Monismen, drei Ein- und All-
bewußtseine, die hier nebeneinander aufschießen; drei Ganze
waren wohl möglich, drei Alls sind undenkbar. Und so muß
die Frage nach den Verhältnissen denn doch gefragt werden.
Aber eben sie steigert die Verwirrung aufs höchste. Denn es
gibt kein Verhältnis, das hier ausgeschlossen wäre. Es gibt
keine feste Ordnung zwischen den drei Punkten Gott, Welt,
Mensch; es gibt kein Oben und Unten, kein Rechts und Links.
Zu keiner Ordnung der dreie sagt das heidnische Bewußtsein
entschlossen Ja oder Nein. Jede wird durchprobiert. Aus
den Wenns springen die Vielleichts. Ist Gott der Schöpfer der
Welt, der sich selbst dem Menschen offenbarend Mitteilende?
Vielleicht; Platon lehrt die Schöpfung und mancher Mythologe
Europas und Vorderasiens mit ihm; in Hunderten Orakel-
stätten, auf Tausenden Altären, im zuckenden Eingeweide des
Opfers, im Flug der Vögel, im stillen Wandel der Sterne —
überall spricht der Mund der Götte'r zum Menschen, überall
ÜBERGANG
109
steigt der Gott hernieder und tut seinen Willen kund. Aber
siehe da: vielleicht ists auch anders. Sind nicht die Götter
Teile und Ausgeburten der ewigen Welt? Aristoteles lehrt es
und zahlreiche Theogonien allerorten mit ihm. Und offenbart
nicht der alten Erde Mund dem Menschen alles, was ihm zu
wissen frommt? der Kampf zwischen Gäa und den Himm-
lischen um das Recht der Orakel, das ganze Heidentum kämpft
ihn nicht aus. Und Götter selber steigen hernieder und holen
sich Rats aus der Erde Mund und erfragen ihr göttliches
Geschick aus dem Spruche des voraussinnenden, weisen Sohns
der alten Mutter. Und der — wer weiß denn, ob er nicht
selber, er das Maß aller Dinge, der wahre Schöpfer ist und
alles so, wie seine Satzung es fügte, beschaffen. Sind nicht
Menschen durch Menschenspruch in die Sterne versetzt?
Götter geworden? Ja, wären vielleicht alle, die man als
Götter heute verehrt, gestorbene Menschen von einst, Könige
und Helden der Vorzeit? Und alles Göttliche nichts als
erhöhtes menschliches Selbst? Aber nein — in erdgebundner,
götterscheuer Schwäche kriecht das menschliche Leben da-
hin, mit demütigem Gebet versuchend, den Willen der Himm-
lischen zu wenden, dem Zwang des Äußern mit zauber-
kräftigem Gegenzwang begegnend, doch nimmer fähig, die
Grenzen des Menschlichen zu überschreiten; der Erde dunkle
Macht und des unbegreiflichen Verhängnisses drücken ihm den
stolzen Nacken nieder — wie sollte er sich vermessen, der
Erde und des Schicksals Herr zu sein?
Vielleicht, vielleicht, — ein Wirbelwind der Widersprüche,
in den wir geraten sind: bald scheints, als ob Gott der
Schöpfer lind Offenbarer oben thronte, Welt und Mensch ihm
zu Füßen, bald wieder als ob die Welt auf dem Herrscher-
stuhl säße, Gott und Mensch ihre Ausgeburten, bald wieder als
ob der Mensch zu oberst stünde und Welt und Göttern das
Gesetz seiner Art zuwöge, er aller Dinge Maß. Es ist ja kein
Drang in den dreien, zu einander zu kommen; jedes ist nur
als Ergebnis entstanden, als Abschluß; abgeschlossen in sich,
die Augen ins eigene Innere gerichtet, jedes sich selber ein
ÜBERGANG
110
All. Da kann nur die Willkür, nur das Vielleicht Beziehungen
behaupten; nein nicht behaupten, vermuten höchstens, und
eine Beziehung, eine Ordnung so gut wie die andre. Viel-
leicht, vielleicht — es gibt keine Gewißheit, es gibt nur ein
kreisendes Rad der Möglichkeiten. Wenn steigt über Wenn,
Vielleicht sinkt unter Vielleicht.
Und selbst im Innern der dreie herrscht das Vielleicht.
Ungewiß bleibt hier nichts Geringeres als Zahl und Ordnung.
Wenn jedes sich selber ein All ist, so trägt es in sich die Mög-
lichkeit zur Einheit so gut wie zur Vielheit. Im bloßen Sein
ist alles möglich und alles nur möglich. Und was wir bisher
fanden, war lauter Sein, lauter »Tatsächlichkeit«, etwas
Großes gegenüber der reinen Ungewißheit des Zweifels: die
Tatsächlichkeit des Göttlichen, Menschlichen, Weltlichen;
etwas Geringes für das Verlangen des Glaubens. Den Glauben
kann die bloße Tatsächlichkeit des Seins nicht befriedigen; er
verlangt hinaus über dies Sein, in welchem innerhalb der einen
Voraussetzung des Seins noch alles möglich ist; er verlangt
nach eindeutiger Gewißheit. Die aber vermag das Sein nicht
mehr zu geben. Erst die Beziehung, die als Wirklichkeit
zwischen den Tatsachen des Seins vermittelt, erst sie be-
gründet eindeutige Zahl, eindeutige Ordnung. Das gilt schon
in den einfachsten Verhältnissen. Ob etwa die Zahl 3 Einheit
oder Vielheit ist, das wird erst bestimmt durch die Gleichung,
in der sie auf andre Zahlen bezogen wird; erst die Gleichung
bestimmt sie etwa als — 1X3 zur Einheit oder als = 3Xl
zur Vielheit; vor der Gleichung ist sie bloßes Sein und als
solches Integral, Allheit, Allmöglichkeit, zu bestimmen nur
durch das absolut unbestimmte, alle Möglichkeiten in sich
enthaltende Produkt aus °o und 0. Wie die Zahl, so die Ord-
nung. Ob das einzelne Sein, etwa der Punkt xi, yi, zi Element
einer Geraden, einer Kurve, einer Fläche, eines Körpers,
welcher Geraden, welcher Kurve, welcher Fläche, welches
Körpers sei, all das bestimmt sich erst durch die Gleichung,
die ihn zu X2, y2, Z2 in differentiale Beziehung bringt. Vor-
her ist der Punkt Allmöglichkeit, gerade weil er als feste
ÜBERGANG
in
»Tatsächlichkeit« im Raum Sein hat. So können auch die drei
Elemente des Alls ein jedes in seiner inneren Mächtigkeit und
Struktur, in seiner Zahl und Ordnung erst erkannt werden,
wenn sie miteinander in eindeutige, dem Wirbel der Möglich-
keiten entrückte, wirkliche Beziehung treten.
Weil also das Altertum zwar die Tatsächlichkeit von
Mensch, Welt, Gott lebendig besaß, aber ihre wechselseitigen
Beziehungen nicht aus dem gestaltenschwangeren Nebel des
Vielleicht heraus in helle eindeutig beleuchtete Wirklichkeit
holte, deshalb konnte es nicht zur Klarheit kommen in allen
Fragen, die über die bloße Tatsächlichkeit hinausführen. Ein
Gott? viele Götter? ein Reich von Göttern? mehrere Reiche?
die mit einander streiten? gegeneinander verbündet sind? die
einander in der Folge der Zeiten ablösen? Wer weiß, wer
weiß, wer weiß--------. Eine Welt? viele Welten? neben-
einander? übereinander aufsteigend? einander folgend? in
geradliniger Folge? kreishaft ineinander laufend in ewiger
Wiederkehr? Wer weiß, wer weiß, wer weiß-------------. Ein
Menschheitsselbst in allen eins? viele Selbste? Menschheiten
einander folgend in Geschlechtern? gruppenhaft gegeneinander
geschart? ins Unendliche in Einzelselbste zersplittert? oder
die Heroen untereinander zusammengefaßt zur heroischen
Gemeinschaft? zur einen Walhalls oder Elysions? zum Kampf
der Achäer und Troer? zum Nacheinander der Vätergeschichte
und der rächenden Epigonen? oder der Held einsam in einer
heldenlosen Welt seine Arbeiten verrichtend und einsam im
Flammenstoß zu den Göttern steigend? Wer weiß, wer weiß,
wer weiß----------
Ein schillernder Glanz des Vielleicht liegt über Göttern,
Welten und Menschen. Gerade weil es den Monismus eines
jeden dieser drei Elemente im vollendeten Eins- und Allgefühl
ihrer Tatsächlichkeit ganz ausgebaut hat, gerade deshalb ist
das Heidentum — »Polytheismus« nicht bloß, sondern »Poly-
kosmismus«, »Polyanthropismus«; gerade deshalb zersplittert
es das schon in seine Tatsächlichkeiten zerstückelte All noch
einmal in die Splitter seiner Möglichkeiten. Die vollgewichtige,
112
ÜBERGANG
doch lichtlose Tatsächlichkeit der Elemente zerweht in die
gespenstischen Nebel der Möglichkeit. Über dem grauen Reich
der Mütter feiert das Heidentum den farbenklingenden Geister-
reigen seiner klassischen Walpurgisnacht.
Das orgiastische Durcheinander des Möglichen ist so nur
die äußerliche sichtbare Erscheinung der elementaren inneren
Zerstückelung des Wirklichen. Wollen wir Ordnung, Klar*
heit, Eindeutigkeit, — Wirklichkeit in jenen Taumeltanz des
Möglichen bringen, so gilt es jene unterirdisch zerstückelten
Elemente zusammenzufügen, sie aus ihrer gegenseitigen Aus-
schließlichkeit in einen klaren strömenden Zusammenhang zu
bringen und, statt in der Nacht des Positiven zu »versinken«,
wo jedes Etwas die Riesenformen des All annehmen möchte,
wiederum aufwärts zu »steigen«. Aufwärts aber, zurück ins
eine All der Wirklichkeit trägt uns nur der eine Strom der
Weltzeit, der jene scheinbar ruhenden Elemente selber mit
sich führt in rollender Bewegung, und der in dieser Bewegung
von Weltmorgen über Weltmittag zu Weltabend die ins
Dunkel des Etwas auseinandergestürzten Elemente des All
wieder zusammenführt in dem einen Welttag des Herrn.
Aber wie sollen die Elemente ins Strömen kommen?
Dürfen wir den Strom ihnen von außen zuführen? Nimmer-
mehr, — dann wäre der Strom selber ein Element und die drei
Elemente nicht die seinen. Nein, aus den Elementen selber
muß die Bahn der strömenden Bewegung ihren Ursprung
nehmen, und ganz und gar und nur aus den Elementen; sonst
wären es nicht die Elemente, und unser Glaube an ihre Tat-
sächlichkeit, den wir bisher mutig zugrundelegten, würde
nicht durch das Bild der bewegten Wirklichkeit, in der wir
leben, bestätigt. Die Elemente selber müssen in sich die
Kraft bergen, aus welcher Bewegung entspringt, und in sich
selbst den Grund ihrer Ordnung, in der sie in den Strom ein-
treten.
In sich selbst sollen sie die Kraft tragen, aus welcher Be-
wegung entspringt? Aber wie denn, — gerade in ihrer Tat-
ÜBERGANG
113
sächlichkeit, in ihrer blinden Insichgekehrtheit haben wir sie
gefunden; wie sollen sie ihre Blicke nach außen richten? Was
bedeutet dies Verlangen? Wie sollen die Ergebnisse Ursprünge
werden können? Und doch sollen sie es. Aber wie das?
Erinnern wir uns, wie sie uns zu Ergebnissen wurden. Vom
Nichts des Wissens aus ließen wir sie, geleitet vom Glauben
an ihre Tatsächlichkeit, »entstehen«. Dies Entstehen ist kein
Entstehen in der Wirklichkeit, sondern es ist ein Gang in dem
Raum vor aller Wirklichkeit. Nicht an Wirkliches grenzt die
Wirklichkeit der drei Ergebnisse, nicht aus Wirklichem sind
sie uns entstanden, sondern sie sind Anrainer des Nichts, und
das Nichts des Wissens ist ihr Ursprung. Sie sind die Kräfte,
die in dem Ergebnis zuletzt zusammenfließen, Machttat und
Schicksalsmuß in Gott, Geburt und Gattung in der Welt,
Willenstrotz und Eigenart im Menschen, — so sind diese
Kräfte nicht Kräfte der sichtbaren Wirklichkeit, sondern ent-
weder bloße Haltepunkte auf unserm, der Erkennenden, Weg
vom Nichts unsres Wissens zum Etwas des Wissens oder,
wenn denn, wie wir wohl zugeben müssen, dem Nichts unsres
Wissens ein »wirkliches Nichts« entspricht, geheime Kräfte
jenseits aller je uns sichtbaren Wirklichkeit, dunkle Mächte,
die im Innern von Gott, Welt, Mensch am Werke sind, ehe
daß Gott, Welt, Mensch — offenbar werden. Aber ihr Offen-
barwerden rückt dann all jene geheimen Bildekräfte ins Ver-
gangene und macht das, was uns bisher Ergebnis schien,
selber zum Anfang. Und ebenso auch, wenn wir denn doch
lieber, vorsichtig am Drahtseil des Erkenntnisbewußtseins ent-
lang kletternd, das Nichts nur als Nichts des Wissens ansehen
wollten, auch dann beginnt erst beim fertigen Ergebnis die
Wirklichkeit, und so wird auch hier das Ergebnis dem Wirk-
lichen gegenüber zum Anfang. Was wir aber für sei es ge-
heime Bildekräfte vor der Geburt ins Offenbare, sei es für
letzte Etappen auf der Straße der erkennenden Konstruktion
nahmen, das wird dann, wenn die Ergebnisse sich in Ur-
sprünge umkehren, als erste Offenbarung ihres Inneren aus
ihnen hervorsteigen. So wird das, was jenseits der Wirklich-
s
114
ÜBERGANG
keit in ihnen zusammenfließend sie verwirklichte, als erstes
Zeugnis ihrer Wendung zur Wirksamkeit von ihnen ins Dies-
seits der Wirklichkeit hinausfließen. Eine Wendung ist es,
eine Umkehr. Was als Ja einmündete, wird als Nein aus-
strahlen, was als Nein einging, ausgehn als Ja. Denn das
Offenbarwerden ist die Umkehr des Werdens. Das Werden
nur ist geheim. Das Offenbarwerden aber ist — offenbar.
So verwandelt sich das reine Tatsächliche in den Ursprung
der wirklichen Bewegung. Aus fertigen Ringen werden
Glieder einer Kette. Aber wie ordnen sich die Glieder?
Zeigt sich trotz ihrer blinden Insichgekehrtheit in den Ele-
menten selber vielleicht doch schon eine Andeutung wenig-
stens ihrer Reihe und Ordnung zur Kette der Bahn? Gleich
wie trotz ihrer Insichgekehrtheit in ihnen selber schon die Vor-
bedingung ihrer Umkehr ins Offenbare lag. Sehen wir zu.
Wir hatten Gott, Welt, Mensch in den Gestalten gefunden, in
denen das reife Heidentum sie glaubte, den Gott als den leben-
digen des Mythos, die Welt als die plastische der Kunst, den
Menschen als den heldischen der Tragödie. Aber zugleich
hatten wir diese lebendigen Wirklichkeiten der geschichtlichen
Antike als Gegenwart des Gedankens dargestellt, indem wir im
Metaphysischen, Metalogischen, Metaethischen den Grund-
charakter der Wissenschaften von Gott, Welt, Mensch behaup-
teten, ja in der vorausgeschickten Einleitung diese Grund-
charaktere der Wissenschaft als die spezifisch modernen und
gegenwärtigen zu erweisen suchten. Ein scheinbarer Wider-
spruch — oder wollen wir mit dieser Modernität der meta-
physischen, metalogischen, metaethischen Ansicht etwa un-
mittelbar das Heidentum erneuern? Schieben wir die Antwort
auf die letzte Frage lieber noch für später auf; der scheinbare
Widerspruch wird sich schon ohne sie lösen.
Es war nämlich in den drei Fällen nicht allemal das gleiche
Verhältnis, in das unsre Darstellung die moderne Wissen-
schaft zu ihrer jeweiligen Verwirklichung in der Geschichte
setzte. Beim mythischen Gott war der Ort der geschicht-
lichen Wirklichkeit die geglaubte Gottesvorstellung der Antike,
ÜBERGANG
115
beim tragischen Menschen ihr lebendiges Selbstbewußtsein,
bei der plastischen Welt ihre erzeugte Weltanschauung. Der
Unterschied scheint nicht tief zu greifen; in Wahrheit reicht
er sogar tiefer als uns in diesen bloß überleitenden Bemer-
kungen darzustellen erlaubt ist. Denn in der geglaubten
Gottesvorstellung finden wir die Erbschaft, die aus einer un-
vordenklichen Vergangenheit der Antike überkommen war;
im lebendigen Selbstbewußtsein sehen wir die Luft, die sie
atmete, in der erzeugten Weltanschauung das Erbe, das sie
den Kommenden übermachte. So erscheint die Antike in
dreierlei zeitlicher Gestalt: einem ihr selber in der Vergangen-
heit liegenden Vorleben, einer mit ihr selbst gekommenen und
vergangenen Gegenwart und einem über sie hinaus führenden
Nachleben. Das erste ist ihre Theologie, das zweite ihre
Psychologie, das dritte ihre Kosmologie. In allen dreien haben
wir nur Elementarwissenschaften zu sehen gelernt — denn
auch in ihrer Modernität gelten sie uns nür als Lehre von den
»Elementen«. Elementarwissenschaften, d. h. gewissermaßen
Wissenschaften von den Vorgeschichten, von den dunkeln
Gründen des Entstehens; die antike Theologie, Psychologie,
Kosmologie gilt uns also sozusagen für Theogonie, Psycho-
gonie, Kosmogonie. Und nun haben wir den bedeutsamen Unter-
schied festgestellt, und zwar festgestellt, ohne besonders darauf
auszugehn, bloß in der Durchführung unsrer allgemeinen Auf-
gabe, den Unterschied, daß die Theogonie, die Geburtsge-
schichte Gottes, schon der Antike eine Vergangenheit be-
deutete, die Psychogonie, die Geburtsgeschichte der Seele,
ein gegenwärtiges Leben, die Kosmogonie endlich, die Ge-
burtsgeschichte der Welt, eine Zukunft. Das hieße also,
daß Gottes Geburt vor dem Ursprung der Antike läge, die
Geburt der Seele in der Antike geschehe und die Geburt der
Welt erst nach Untergang der Antike sich vollende. Und da-
mit wäre uns in diesen drei Geburten aus dem dunkeln Grund,
diesen drei — wenn wir das Wort einmal wagen wollen —
Schöpfungen, eine Verteilung der »Elemente« angedeutet über
den großen Welttag, den Himmel, an dem die von ihnen ge-
8*
n6
ÜBERGANG
bildete Bahn sich abzeichnen wird. Formulieren wir es kurz
und überlassen die breitere Ausführung ruhig dem weiteren
Verlauf: Gott war von uran, der Mensch ward, die Welt wird.
Wie wir diese drei Geburten aus den Gründen, diese drei
Schöpfungen, auch weiterhin noch unterscheiden mögen, dies
erste, ihre weltzeitliche Abfolge, konnten wir schon hier er-
kennen. Denn was wir bisher vom All erkannt haben, indem
wir die immer währenden Elemente erkannten, war nichts
andres als das Geheimnis seiner immerwährenden Geburt.
Ein Geheimnis: denn es ist uns noch nicht offenbar
und kann uns nicht offenbar sein, daß diese immer-
währende Geburt aus dem Grunde — Schöp-
fung ist. Dieses Offenbarwerden des immer-
währenden. Geheimnisses der Schöpfung
ist das allzeiterneute Wunder der
Offenbarung. Wir stehen an dem
Übergang, — dem Über-
gang des Geheimnisses
in das Wunder.
ZWEITER TEIL
• DIE BAHN
ODER
DIE ALLZEITERNEUERTE WELT
EINLEITUNG
ÜBER DIE MÖGLICHKEIT
DAS WUNDER ZU ERLEBEN
in theologos!
WENN wirklich das Wunder des Glaubens liebstes
Kind ist, so hat dieser seine Vaterpflichten, min-
destens seit einiger Zeit, arg vernachlässigt.
Mindestens seit hundert Jahren ist das Kind für seine vom
Vater bestellte Pflegerin, die Theologie, nur eine große Ver-
legenheit gewesen, der sie sich gar zu gern irgendwie ent-
ledigt hätte, wenn nur — ja wenn nur nicht eine gewisse
Rücksicht auf den Vater bei dessen Lebzeiten es verboten
hätte. Aber kommt Zeit, kommt Rat. Der Alte kann nicht
ewig leben. Und alsdann wird die Pflegerin wissen, was sie
mit dem armen Wurm, das aus eigener Kraft weder leben
noch sterben kann, zu tun hat. Die Vorbereitungen hat sie
schon getroffen.
Was ist es denn nun, was seit verhältnismäßig so kurzer
Zeit ein, wenn man alten Nachrichten trauen darf, früher
glückliches Familienleben so zerrüttet hat, daß die Heutigen
sich kaum noch jener erst so kurz vergangenen besseren Zeit
mehr zu erinnern vermögen? Denn so liegt es ja heute, daß
wir kaum noch glauben wollen, daß es einmal eine Zeit gab,
und daß sie noch gar nicht lang verstrichen ist, wo das
Wunder nicht eine Verlegenheit, sondern im Gegenteil der
schlagkräftigste und zuverlässigste Bundesgenosse der Theo-
logie war. Was ist# da inzwischen geschehen? Und wie ist
es geschehen?
Merkwürdig genug gleich die erste Wahrnehmung, die sich
uns aufdrängt: der Zeitpunkt jenes Umschwungs, jener Ver-
wandlung der bisher festesten Aufnahmestellung in einen
ganz schwachbesetzten, beim ersten Ansturm sofort preis-
zugebenden vordersten Graben, dieser Zeitpunkt fällt zu-
120
ZWEITER TEIL: EINLEITUNG
sammen mit dem, den wir in der Einleitung zum vorigen Teil
immer wieder als den kritischen Zeitpunkt auch für die Phi-
losophie kennen lernten, dem Augenblick, wo der Philosophie
ihr Grundbegriff des einheitlichen denkbaren All in der Hand,
die ihn fest zu umklammern glaubte, in Stücke sprang. Die
Philosophie hatte in diesem Augenblick ihren alten Thron
wanken gefühlt; die, ein tausendjähriges Exil mitgerechnet,
mehr als zweijahrtausendalte Dynastie, welche Thaies und
Parmenides gegründet hatten, schien in einem größten Nach-
fahren ebenso glänzend wie plötzlich zu verlöschen. Und
gleichzeitig ungefähr sah sich auch die Theologie gezwungen,
jene bezeichnete Räumung ihrer durch Jahrtausende gehal-
tenen Linie vorzunehmen und weiter rückwärts eine neue
Stellung zu beziehn. Eine auffallende Gleichzeitigkeit!
Wenn Augustin oder sonst ein Kirchenvater die Göttlich-
keit und Wahrheit der geoffenbarten Religion gegen heid-
nische Angriffe und Zweifel zu verteidigen hatte, versäumte
er schwerlich, auf die Wunder zu weisen. Sie waren, obwohl
sie nicht allein von der offenbarten Religion in Anspruch ge-
nommen wurden, sondern auch Pharaos Weise ihre Weisheit
durch Wunder beglaubigten, das kräftigste Argument. Denn
mochten die heidnischen Magier ihre Stäbe auch in Schlangen
verwandeln: der Stab Moses verschlang die Stäbe der
Götzendiener. Die eigenen Wunder waren wunderbarer als
die Wunder des Widersachers. Das Maß der Wunderbarkeit,
das eine rationalistische Gesinnung nach Möglichkeit gedrückt
hätte, wurde also im Gegenteil nach Kräften gesteigert. Je
wunderbarer, umso wahrer. Ein Naturbegriff, wie er heute
dem allgemeinen Bewußtsein die Freudf am Wunderbaren
verdirbt, stand damals merkwürdigerweise nicht im Wege,
obwohl er da war. Die Gesetzlichkeit des Naturgeschehens,
dieses Grunddogma der heutigen Menschheit, war durchaus
auch der älteren Menschheit selbstverständlich. Denn prak-
tisch kommt es ja in unserem Falle auf das Gleiche heraus, ob
alles durch in den Dingen gesetzlich wirkende Kräfte oder
VOM WUNDER
121
durch den Einfluß oberer Mächte gelenkt und bestimmt wird.
Wäre es anders gewesen, so müßte es uns rätselhaft
erscheinen, wie denn das Wunder als solches wahrnehmbar
werden konnte; uns scheint es heute des Hintergrunds der
Naturgesetze zu bedürfen, vor dem es sich allein als Wunder
gewissermaßen abhebt. Dabei übersehen wir aber, daß die
Wunderbarkeit des Wunders für das Bewußtsein der dama-
ligen Menschheit auf einem ganz anderen Umstand beruht,
nämlich nicht auf seiner Abweichung von dem gesetzlich vor-
her festgelegten Lauf der Natur, sondern auf seiner Voraus-
gesagtheit. Das Wunder ist wesentlich »Zeichen«. Es ist
ganz richtig, daß, wie man schon bemerkt hat, das einzelne
Wunder in einer ganz wunderbaren, ganz gesetzlosen, ge-
wissermaßen verzauberten Welt gar nicht als Wunder auf-
fallen könnte. Es fällt auch nicht durch seine Ungewöhnlich-
keit auf — die ist nur, obwohl oft für die Wirkung höchst
nötige, »Aufmachung«, nicht Kern —, sondern durch seine
Vorausgesagtheit. Daß ein Mensch den Schleier, der gemein-
hin über der Zukunft liegt, zu heben vermag, das, nicht daß er
die vorausgegangene Bestimmung aufhebt, ist das Wunder.
Wunder und Prophetie gehören zusammen. Ob im Wunder
zugleich etwa auch eine magische Wirkung ausgeübt wird,
das kann ganz dahingestellt bleiben und bleibt dahingestellt,
wesentlich ist sie auf keinen Fall; Zauber und Zeichen liegen
auf verschiedenen Ebenen. Einen Zauberer, befiehlt die
Thora, sollst du nicht leben lassen. Den Propheten hingegen
befiehlt sie zu prüfen, ob sein vorausgesagtes Zeichen eintrifft.
Darin spricht sich eine ganz verschiedene Bewertung aus.
Der Magier richtet sich tätig eingreifend gegen den Weltlauf
und begeht deshalb nach der Beurteilung des Qottesstaates
ein todeswürdiges Verbrechen. Er greift Gottes Vorsehung
an und will ihr das von ihr Unvorhergesehene, Unvorher-
sehbare, das von seinem eigenen Willen Gewollte abtrotzen,
ablisten, abzwingen. Der Prophet hingegen enthüllt voraus-
sehend das von der Vorsehung Gewollte; indem er das
Zeichen sagt — und auch das, was in den Händen des Magiers
122
ZWEITER TEIL: EINLEITUNG
Zauber wäre, wird im Munde des Propheten zum Zeichen —,
beweist er das Walten der Vorsehung, das der Magier
leugnet. Er beweists; denn wie sonst wäre es möglich, das
Künftige vorherzusehen, wenn es nicht »vorgesehen« wäre?
Und darum gilt es, das heidnische Wunder zu übertreffen,
seinen das eigene Machtgebot des Menschen ausführenden
Zauber durch das Gottes Vorsehung erweisende Zeichen zu
verdrängen. Darum die Freude am Wunder. Je mehr
Wunder, je mehr Vorsehung. Und eben die unbegrenzte Vor-
sehung, dies, daß wirklich ohne Gottes Willen kein Haar
vom Haupte des Menschen fällt, ist der neue Begriff von
Gott, den die Offenbarung bringt; der Begriff, durch den sein
Verhältnis zu Welt und Mensch mit einer dem Heidentum
ganz fremden Eindeutigkeit und Unbedingtheit festgelegt
wird. Das Wunder erwies zu seiner Zeit grade das, woran
seine Glaubwürdigkeit heute zu scheitern scheint: die vor-
bestimmte Gesetzmäßigkeit der Welt.
Der Gedanke der Naturgesetzlichkeit also, soweit er vor-
handen war, vertrug sich mit dem Wunder ausgezeichnet.
So kommt es, daß auch später, als jener Gedanke seine
moderne uns geläufige Form der immanenten Gesetzlichkeit
annahm, von hier aus zunächst keine Erschütterung des
Wunderglaubens ausging. Im Gegenteil: merkwürdig ernst
nahm jenes Zeitalter den heute dem allgemeinen Bewußtsein
von der Naturgesetzlichkeit so gut wie entschwundenen Um-
stand, daß die Naturgesetze nur den inneren Zusammenhang,
nicht den Inhalt des Geschehens festlegen, daß also damit,
daß alles natürlich zugeht, noch garnichts darüber gesagt ist,
was denn nun »natürlich zugehe«. So schien auch da noch
das Wunder dem unbedingten Gelten des Naturgesetzes mit
nichten zu widersprechen; es war gewissermaßen von der
Schöpfung her mit allem andern zugleich angelegt und trat
dann eines Tages mit naturgesetzlicher Notwendigkeit ans
Licht. Die Schwierigkeiten mußten also von anderswoher
kommen.
Die Skepsis gegen das Wunder bestritt denn auch eigent-
lich in früheren Zeiten nicht wie heute seine allgemeine Mög-
VOM WUNDER
123
lichkeit, sondern seine besondere Wirklichkeit, die Glaub-
würdigkeit des einzelnen Wunders. Das Wunder mußte nicht
wie ein allgemeiner Satz, sondern als ein besonderes Ereignis
bewiesen werden. Es brauchte Zeugen. Diese und nur diese
Beweisbedürftigkeit des Wunders wurde stets anerkannt und
nach Kräften befriedigt. Alle Formen des gerichtlichen Be-
weises finden sich hier wieder: am schwächsten der Indizien-
beweis. hauptsächlich der Schwurzeuge und die peinliche
Frage. Der Indizienbeweis, der auch vor Gericht erst in sehr
später Zeit zu Ehren gekommen ist, spielt auch für das
Wunder nur eine geringe Rolle, geringer jedenfalls, als man
hier erwarten sollte; der Grund dafür ist eben, daß der Erfolg
des Wunders, der ja allein die Indizien liefern könnte, das
Wunder nur für die beweist, für die er »Zeichen« ist, also für
die, welche dem Geschehen des Wunders in seinem ganzen
Verlauf, also in den beiden für seinen Wundercharakter ent-
scheidenden Momenten, der Vorhersage und der Erfüllung,
als Augenzeugen beiwohnten; die Vorhersage, die Wunder-
erwartung, bleibt immer das eigentlich konstitutive Moment,
das Wunder selbst ist nur das realisierende Moment; beide
zusammen bilden das »Zeichen«, wie denn die Heilige Schrift
wie das Neue Testament den größten Wert darauf legen,
ihrem Offenbarungswunder, jene durch die Verheißung an die
Väter, dieses durch die Weissagung der Propheten, den
Zeichencharakter zu verleihen.
Auf die Augenzeugen also muß für den Beweis des
Wunders grundsätzlich zurückgegangen werden. Bei ihrer
eidlichen Vernehmung entscheidet die persönliche Glaub-
würdigkeit, die Beurteilung ihrer Beobachtungsfähigkeit, auch
die Zahl, wie denn etwa in der altjüdischen Dogmatik* die
bessere Glaubwürdigkeit des Sinaiwunders gegenüber dem
Wunder des leeren Grabes mit Vorliebe durch die imponie-
rende Zahl der »600 000« Augenzeugen bekräftigt wird. Aber
die Krone der Beweise ist auch die beschworene Aussage
noch nicht; sie kann trotz allem bewußt oder unbewußt falsch
sein, ohne daß der Beurteilende es bemerkt. Volle Sicherheit
124
ZWEITER TEIL: EINLEITUNG
gibt, wie schon der Satan im Buch Hiob weiß, erst das Zeug-
nis, das in den Qualen der peinlichen Frage aufrechterhalten
wurde; der Blutzeuge erst ist der wahre Zeuge. So ist die
Berufung auf die Märtyrer der stärkste Beweis des Wunders,
zunächst auf die Märtyrer, die mit ihrem Martyrium eine
Augenzeugenschaft zu erhärten hatten, dann aber weiterhin
auch auf die späteren, die mit ihrem Blut die Festigkeit ihres
Glaubens an die Glaubwürdigkeit derer, die ihnen das Wunder
überliefert hatten, also letzthin der Augenzeugen, bewährten;
ein Zeuge, für dessen Glaubwürdigkeit andere wortwörtlich
durchs Feuer gehen, muß ein guter Zeuge sein. So wachsen
beide Beweise, der der Schwur- und der der Blutzeugen-
schaft, zusammen und sind schließlich nach einigen Jahr-
hunderten ein einziger geworden in dem berühmten Rekurs
Augustins von allen einzelnen Gründen auf die gegenwärtige
historische Gesamterscheinung, die ecclesiae auctoritas, ohne
die er dem Zeugnis der Schrift keinen Glauben schenken
würde.
So vollkommen ist Wunderglaube, und zwar nicht bloß
der Glaube an das dekorative, sondern auch der an das zen-
trale, an das Offenbarungswunder, historischer Glaube. Daran
ändert auch die luthersche Reformation nichts. Sie verlegt
bloß den Weg der persönlichen Vergewisserung von der Peri-
pherie der Überlieferung, wo die Gegenwart steht, unmittel-
bar ins Zentrum, wo die Überlieferung entspringt; sie schafft
damit einen neuen Gläubigen, keinen neuen Glauben; der
Glaube bleibt historisch verankert, auch wenn eine gewisser-
maßen mystische Augenzeugenschaft den aus Schwur- und
Blut^eugenschaft gekitteten Beweis der sichtbaren Kirche bei-
seite schiebt. Ganz und gar nicht, wie ja schon ausgeführt,
konnte die naturwissenschaftliche Aufklärung, die gleichzeitig
oder etwas später einsetzte, hier etwas ändern. Es mußte
schon eine andre Aufklärung als die naturwissenschaftliche
kommen, um diesem Glauben das Leben schwer zu machen,
— eine historische Aufklärung.
VOM WUNDER
125
Es gibt nicht eine, sondern eine Mehrzahl von Aufklärun-
gen, die epochenweise nacheinander dem in die Welt ge-
tretenen Glauben das Wissen repräsentieren, mit dem er sich
auseinanderzusetzen hat. Die erste ist die philosophische
Aufklärung der Antike. Die ganze Patristik hat es mit ihr zu
tun. Ihre Bekämpfung des heidnischen Mythos wird in aller
Gemütsruhe übernommen; ihrem Anspruch auf Allwissenheit
wird zunächst widersprochen — was hat der Schüler Grie-
chenlands gemein mit dem Schüler des Himmels? —, allmäh-
lich aber, wenn auch unter letzten Vorbehalten, schrittweise
Platz gegeben. Was einen Origenes noch zum Ketzer stem-
pelte, steht dem, was ein Jahrtausend später Thomas über
Glauben und Wissen lehrte, und was die Kirche von ihm an-
nahm, jedenfalls näher als der Lehre der Antithomisten. Nicht
zufällig hat Luther gegen »Aristoteles« gekämpft, wenn er
gegen die mittelalterliche Kirche aufstand. Die von ihm
inaugurierte Epoche hat denn auch in der Renaissance eine
neue Aufklärung zur Seite, die diesen Kampf gegen Aristoteles
von ihrem Standpunkt aus mitkämpft und die sich, nachdem
die philosophischen Nebel ihrer Kindheit sich gelichtet haben,
immer deutlicher als eine naturwissenschaftliche Aufklärung
erweist. Den Kampf gegen das rationale Wissen der Scho-
lastik kämpft sie als ungesuchte Bundesgenossin des Glaubens;
was sie, genau wie der Glaube, als das Erbe der Scholastik
übernimmt, ist wesentlich die positive Bewertung der Natur,
die, nach der im Mittelalter gereiften Ansicht, von der Über-
natur wohl überholt, nicht aber verleugnet oder verworfen
wurde. Diesem Naturbegriff, wie er sich verdichtet zum Ver-
trauen auf die Erfahrung und zur Forderung der eigenen Ver-
gewisserung sowohl im Glauben wie im Wissen, überkam
dann die neue »Aufklärung« jener Epoche, die wir insbeson-
dere mit diesem Namen zu bezeichnen gewohnt sind. Sie
richtete die Kritik, welche die Aufklärung der Antike gegen
die Träume des Mythos, die der Renaissance gegen-die Ge-
spinste der Vernunft gerichtet hatte, nun gegen die Leicht-
gläubigkeit der Erfahrung. Als Kritik an der Erfahrung
126
ZWEITER TEIL: EINLEITUNG
wurde sie langsam aber sicher zur historischen Kritik. Und
als solche näherte sie sich nun dem bisher unerschütterten
Glauben an das Wunder.
Die ganze Diskussion über die Wunder, die von Voltaire
ab durch ein ganzes Jahrhundert nicht mehr abreißt, setzt
uns heute in Erstaunen durch ihre fast völlige Ungrundsätz-
lichkeit. Die Großtaten der Kritik, Voltaires selbst, Reimarus’
und Lessings, Gibbons, sind immer auf einen ganz bestimmten
Ausschnitt des wunderbaren Geschehens gerichtet; hier wird
die Unglaubwürdigkeit der Überlieferung, die Unzulänglich-
keit der bisherigen Gründe für ihre Glaubwürdigkeit, die
Erklärbarkeit dessen, was der Kritik etwa standhielt, durch
natürliche Ursachen, das heißt ohne die Annahme einer vor-
hersehbaren und also vorhergesehenen Entwicklung, zu
erweisen gesucht, die allgemeine Möglichkeit des Wunders
aber durchaus in der Schwebe gelassen. Das ist nicht, wie
wir heute zunächst denken, bewußte Halbheit, sondern ehr-
liche Ungewißheit. Solange die bezeugten Wunder der Ver-
gangenheit nicht mit Sicherheit als ungeschehen nachgewiesen
sind, solange wagt man auch grundsätzlich die Möglichkeit
des Wunders nicht zu bestreiten.
Den Augenblick, wo diese Prüfung im wesentlichen zu
ungunsten der Wunder entschieden scheint, bezeichnet eine
mit Regelmäßigkeit auftretende Übergangserscheinung: die
rationalistische Wegdeutung des Wunders. Sie beginnt in den
späteren Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts und
erreicht in den ersten des neunzehnten ihren Höhepunkt. Bis
dahin hatte man kein Bedürfnis danach verspürt — im Gegen-
teil. Bis dahin war wirklich das Wunder des Glaubens
liebstes Kind gewesen. Die rationalistische Fortdeutung des
Wunders ist das Eingeständnis, daß es das nicht mehr ist und
daß sich der Glaube seines Kindes zu schämen beginnt. Nicht
mehr möglichst viel, sondern gerade möglichst wenig Wunder-
bares möchte er aufzuweisen haben. Die frühere Stütze
ist zur Last geworden. Die sucht man abzuschütteln. Aber
es ist Zeit, eine neue Stütze zu suchen, wenn die alte bricht.
VOM WUNDER
127
Und wie wir bisher sahen, daß die Aufklärung in ihrem
Kampf gegen die jeweils vergangene Epoche unbeabsichtigt
der jeweils heraufziehenden Waffen lieferte, so auch jetzt.
Denn es ist eine neue Epoche, die um 1800 heraufzieht
Die Aufklärung war diesmal historische Aufklärung
gewesen. Als historische Kritik hatte sie die Augenzeugen-
schaft des Wunders und damit dieses selbst als eine historische
Tatsache unglaubwürdig gemacht. Nicht bloß dem vermittel-
ten Glauben der sichtbaren Kirche, sondern auch dem un-
mittelbar auf die Schrift als die letzte Quelle zurückgehenden
Glauben Luthers war der Gegenstand wankend geworden.
Aber schon hatte die neue pietistische Mystik seit dem Aus-
gang des siebzehnten Jahrhunderts einen neuen, von der ge-
schichtlichen Objektivität des Wunders so gut wie unabhän-
gigen Glaubensbegriff vorbereitet. Und nun kam diesem neuen
Glauben unerwartete Unterstützung von eben der Aufklärung,
die den alten untergraben hatte. Unmittelbar aus der Kritik
hervor wuchs die historische Weltanschauung. Da das ein-
fache Hinnehmen der Überlieferung nicht mehr zulässig war,
so mußte ein Prinzip entdeckt werden, nach welchem die von
der Kritik übrig gelassenen disjecta membra der Tradition
wieder zu einem lebendigen Ganzen zusammengefügt werden
konnten. Dies Prinzip fand man in dem Gedanken des »Fort-
schritts« der Menschheit, ein Gedanke, der mit dem acht-
zehnten Jahrhundert aufkam und seit 1800 in breiter Front in
verschiedenen Formen die geistige Welt sich untertan machte.
Die Vergangenheit wurde dadurch dem Erkennen preisgegeben,
der Wille aber fühlte sich von ihr befreit und wandte sich der
Gegenwart und Zukunft zu; denn der Fortschritt ist für den
Willen eingespannt zwischen diese beiden.
Diese Richtung auf Gegenwart und Zukunft war nun auch
in der neuen Wendung, die der Glaube genommen hatte, an-
gelegt. Wenn die Aufklärung die Gegenwart mit der Zukunft
durch das Vertrauen auf den Fortschritt verband und der Ein-
zelne sich von der Gewißheit nährte, daß nur dieses Jahr-
128
ZWEITER TEIL: EINLEITUNG
hundert seinem Ideal nicht reif sei, und sich als einen Bürger
derer, welche kommen werden, fühlte, so band der neue
Glaube den gegenwärtigen Augenblick des inneren Durch-
bruchs der Gnade fest in das Vertrauen auf ihre zukünftige
Auswirkung im Leben. Ein neuer Glaube, auch wenn er, wie
es wohl geschah, die Sprache Luthers zu reden suchte. Denn
einerseits gab er Luthers Verankerung des lebendigen Glau-
bens in dem festen Grund der Vergangenheit preis und ver-
suchte den Glauben ganz in die Gegenwart des Erlebnisses zu
sammeln, und andererseits ließ er dies gegenwärtige Erlebnis
mit einer der Lutherschen Lehre gradezu entgegengesetzten
Betontheit in die Zukunft des »praktischen« Lebens münden,
ja meinte wohl, dem Glauben in diesem hoffnungsvollen Ver-
trauen auf Auswirkung ins Zukünftige, die für Luthers Pau-
linismus höchstens Folge des Glaubens sein durfte, selbst
den objektiven Halt zu geben, den Luther ihm durch die Be-
gründung auf die schriftbezeugte Vergangenheit zu geben ver-
sucht hatte. Diese Hoffnung auf das zukünftige Reich der
Sittlichkeit wurde der Stern, nach dem der Glaube seine Welt-
fahrt richtete. Man muß hören, wie der große Sohn dieser
Epoche, Beethoven, im Credo der Missa solemnis die Worte
von der vita venturi saeculi in immer neuen Wiederholungen
herausjubelt, als ob sie Krone, Sinn und Bestätigung des
ganzen Glaubens wären. Und eben dieser Hoffnung des neuen
Glaubens sekundierte als weltlicher Sekundant, und freilich
auch Nebenbuhler, der Fortschrittsgedanke der neuen Welt-
anschauung.
In Schleiermacher hat dies ganze System von Verleugnung
des fortdauernden Wertes der Vergangenheit und Verankerung
des allzeit gegenwärtigen Erlebens des gläubigen Gefühls in
die ewige Zukunft der sittlichen Welt seinen klassischen Ver-
treter gefunden. Alle folgende Theologie hat sich mit ihm
auseinanderzusetzen gehabt. Seine Grundstellung hat sie kaum
erschüttert. Aber im einzelnen War dies Gedankengebäude
noch fragwürdig genug. Denn man konnte zwar die von
Wundern und also nun von Zweifeln überlastete Vergangen-
VOM WUNDER
129
heit über Bord werfen und sich einbilden, ohne diesen Ballast
das schon gefährlich angerammte Schiff des Glaubens noch
sicher über das Meer der Gegenwart bringen zu können; aber
es war nicht gesagt, daß das, was man fallen ließ, auch wirk-
lich — fiel. Die Vergangenheit, weit entfernt, der Theologie
den Gefallen zu tun, wirklich zu sinken, klammerte sich viel-
mehr an das Fahrzeug, aus dem sie herausgeworfen war,
außen an und belastete es so schwerer als zuvor, wo sie sach-
gemäß im Innern verstaut war. Die Theologie des neun-
zehnten Jahrhunderts mußte nicht wegen, sondern trotz
Schleiermacher historische Theologie werden und mußte es
doch wieder um Schleiermachers willen; denn hier lag der
Punkt, wo über die Standfestigkeit seines Grundgedankens,
der ja der Grundgedanke der Zeit geworden war, letztlich ent-
schieden wurde.
Worin bestand die Aufgabe der Vergangenheit gegenüber,
die sich die historische Theologie stellte? Die Erkenntnis war
ja, da sie von Theologen gesucht wurde, nur Mittel zum
Zweck. Zu welchem? Die Vergangenheit sollte doch für den
Glauben unwichtig sein. Aber da sie nun doch einmal vor-
handen war, so gilt es sie zu interpretieren, daß sie ihm wenig-
stens nicht lästig werde. Und das geschah denn auch aufs
ausgiebigste. Der Weg war, dies Ziel einmal ins Auge gefaßt,
höchst klar: das Vergangene muß die Züge der Gegenwart
annehmen. So allein wird es ihr ganz ungefährlich. Der Ent-
wicklungsgedanke wird als dienstbarer Geist beschworen, um
den Stoff bis zu einem bestimmten Höhepunkte, dem früheren
Zentralwunder des offenbarten Glaubens, zu ordnen; alsdann
wird ihm der Laufpaß gegeben; er hat seine Schuldigkeit
getan, er kann gehen. Dieser Höhepunkt wird mit dem
Erlebnisinhalt der Gegenwart inhaltlich einfach gleichgesetzt,
so daß nun folgendes Ergebnis vorliegt: die Vergangenheit ist
in ihrem unwesentlichen Teile durch den Entwicklungs-
gedanken neutralisiert; in ihrem wesentlichen, der allein den
Anspruch stellen könnte, als Maßstab des gegenwärtigen Er-
lebnisses zu gelten, ist sie inhaltlich diesem Erlebnis bis zum
9
130
ZWEITER TEIL: EINLEITUNG
Verwechseln angeglichen, so daß also für den Glauben wirk-
lich genau gemäß der neuen Grundeinstellung nur Gegenwart
und Zukunft existieren. Die historische Theologie hatte der
»kantianischen« Theologie Ritschls und seiner Schule freies
Feld geschaffen, die in zweifelloser Weiterbildung des
Schleiermacherschen Grundgedankens eine völlige Unabhän-
gigkeit des Glaubens vom Wissen behauptet. Denn die Objek-
tivität des Wissens ist es ja letzthin, die sich hinter dem Be-
griff Vergangenheit verbirgt. Die Abfangung und teils Ein-
kapselung teils Neueinkleidung des Vergangenen, die der histo-
rischen Theologie aufgetragen wird, bedeutet also im Grunde
die Aufrichtung einer chinesischen Mauer gegen das Wissen.
Dem Wissen selbst mutet die »liberale« Theologie eine Lei-
stung zu, wie sie die orthodoxe nicht von ihm zu verlangen
wagt: auf »wissenschaftlichem« Wege sollen die Ansprüche
der Wissenschaft, die schon grundsätzlich abgelehnt sind, auch
noch in jedem einzelnen Fall abgewiesen werden. Und wahr-
haftig: die historische Theologie leistet, was sie soll.
Kein Wunder aber auch, daß sie sich mit dieser Leistung
als Wissenschaft so hoffnungslos kompromittiert hat, daß heute
niemand mehr Vertrauen zu ihr fassen mag. Das Verfahren
war denn doch zu durchsichtig. Wenn nicht gleich, so doch
mit der Zeit, wenn nämlich die Gegenwart selbst der Zeit
ihren Zoll zahlen mußte und zur Vergangenheit wurde, mußte
es ja auffallen, daß diese Wandlungen der Gegenwart prompt
von Wandlungen der im »Spiegel« der Wissenschaft auf-
gefangenen Vergangenheit begleitet wurden. Um die Wende
des Jahrhunderts zerbrach, in Schweitzers immanenter Kritik
und in den tollkühnen Hypothesen der Leugner des geschicht-
lichen Jesus einerseits, denen der Panbabylonier andrerseits,
das Gebäude der historischen Theologie ohne Hoffnung auf
Wiederaufbau. Weitab von dem Trümmerfeld gilt es nun,
einen völligen Neubau vorzunehmen. So billig aber,.wie mit
der historischen Theologie, dürfte es hierbei nicht abgehen.
Grade wenn man — und das will auch die Gegenwart — die
Grundstellung, den Primat der Hoffnung oder genauer die
VOM WUNDER
13t
Orientierung des persönlich und momenthaft erfahrenen
Glaubens an dem Pol der Gewißheit, daß „das Reich des
Edeln endlich komme“, festhalten will, grade dann müssen die
Ansprüche des Wissens gründlicher und vor allem unmittel-
barer befriedigt werden, als bloß durch eine Umschminkung
der Vergangenheit. Das Wissen von der Welt in seiner
systematischen Ganzheit, unvertretbar durch das Wissen um
einen einzelnen, und sei es auch noch so zentralen Teil, die
Philosophie also, wird sich-bereiten müssen, mit der Theologie
zusammenzuarbeiten. Und schon weisen die Wetterfahnen
der Zeit durchweg in dieser Richtung. Der Schrei nach der
Philosophie wird in der Theologie auf der ganzen Linie ver-
nehmbar. Ein neuer theologischer Rationalismus ist im An-
marsch. Während Nachfahrer und Erneuerer des »deutschen
Idealismus« wieder sich anschicken, den Glauben aus der
idealistischen Vernunft zu »erzeugen« und dadurch zu
»rechtfertigen«, versucht man in den Kreisen der Ortho-
doxie, ebenfalls noch recht genügsam, es damit, ihm
seinen Ort genau abzustecken und zu sichern; und der ent-
schlossenste Systematiker unter den Philosophen des letzten
Menschenalters nährt mit einem ganzen System die Flamme
einer Theologie seines Glaubens, recht wie ein verliebter Tor
Sonne. Mond und alle Sterne zum Zeitvertreib dem Liebchen
in die Luft sprengt.
Die Trennung, welche die Ritschlsche Schule zwischen
Theologie und Philosophie behauptete, schloß in sich eine Ver-
nachlässigung — um es mit den eigenen, von ihr allerdings
nur zaghaft gebrauchten Ausdrücken der Theologie zu be-
nennen — der »Schöpfung« über der einseitig betonten
»Offenbarung«. Es gilt also die Schöpfung wieder in vollem
Schwergewicht ihrer Gegenständlichkeit neben das Erlebnis
der Offenbarung zu stellen; ja noch mehr; es gilt, die Offen-
barung selbst und ihre Einbindung und Begründung in die Zu-
versicht auf das Kommen des sittlichen Reichs der endlichen
Erlösung, diesen ganzen heut als den eigentlichen Kern des
Glaubens empfundenen Zusammenhang, den die Hoffnung
132
ZWEITER TEIL: EINLEITUNG
zwischen den Begriffen Offenbarung und Erlösung stiftet, selber
wieder einzubauen in den Begriff der Schöpfung. Auch Offen-
barung, auch Erlösung sind eben in gewisser, noch nicht aus-
einanderzusetzender Weise Schöpfung. Und so liegt hier der
Punkt, von wo aus die Philosophie das ganze Gebäude der
Theologie neu errichten kann. Die Schöpfung war es, welche
die Theologie im neunzehnten Jahrhundert in ihrer Versessen-
heit auf den Gedanken der lebendig gegenwärtigen Offen-
barung vernachlässigt hatte. Und* grade die Schöpfung ist
nun die Pforte, durch die die Philosophie in das Haus der
Theologie eintritt.
In diesem Verhältnis zur Schöpfung zeigt sich der Zusam-
menhang des Wissens mit dem Begriff der Vergangenheit.
Die Wahrheit ist immer das, was war, — sei es als »a priori«,
als Platons „in altheiliger Macht Ragendes“, sei es als Gegen-
stand der „Erfahrung“. So war das Vertrauen auf die
historische Theologie nur deshalb von vornherein unberech-
tigt, weil man hier bloß einem Ausschnitt des Wissens die Aus-
einandersetzung mit dem Glauben freigab; weiterhin freilich
litt sie an der verfehlten Fragestellung, die dem Wissen seine
Eigentümlichkeit, unveränderlich, wie eben nur das Ver-
gangene, zu sein, nicht auszuleben verstattete, sondern von
ihm verlangte, daß es Rücksicht oder vielmehr Vorsicht auf
das Gegenwartserlebnis nehme. Indem wir das Wissen also
auf den Begriff der Schöpfung aufbauen, erlauben wir ihm,
jene seine Eigentümlichkeit, daß es den Dingen »auf den
Grund«' geht, auszuleben. Wir machen den Glauben ganz zum
Inhalt des Wissens, aber eines Wissens, das selber einen
Grundbegriff des Glaubens sich zugrunde legt. Daß es das
tut, kann freilich erst im Laufe des Tuns selber sichtbar wer-
den, da eben der Grundbegriff des Glaubens als solcher erst
erkannt werden kann, wenn das Wissen bis zur Darstellung
des Glaubens gelangt, nicht früher.
Aber erheben sich gegen diesen hier in Umrissen ange-
deuteten neuen theologischen Rationalismus nicht wieder alle
VOM WUNDER
133
die Bedenken, die seinen älteren Brüdern den Garaus gemacht
haben? Muß nicht auch hier entweder die Philosophie be-
sorgen, zur Magd der Theologie erniedert zu werden, oder die
Theologie, von der Philosophie überflüssig gemacht zu sein?
Wie können wir dies gegenseitige Mißtrauen aufheben? Wohl
nicht anders, als indem wir zeigen, wie von beiden Seiten ein
Bedürfnis besteht, das nur die jeweils andere Partei befrie-
digen kann. So liegt es ja wirklich. Und hier müssen wir
abermals auf die auffallende Tatsache zurückgreifen, daß im
gleichen historischen Augenblick die Philosophie sich auf dem
Punkt sah, wo ihr kein Schritt mehr weiter zu tun blieb, ja
jeder Versuch, noch weiter zu schreiten, nur zum Sturz ins
Bodenlose werden konnte, und die Theologie sich ihrer bis-
her festesten Stütze, des Wunders, plötzlich beraubt fühlte.
Ist diese Gleichzeitigkeit mehr als Zufall — und daß sie das
ist, dafür bürgen eigentlich schon die persönlichen Geschichts-
zusammenhänge, die, bisweilen bis zur Personalunion sich
steigernd, zwischen den Trägern der beiden Umschwünge hin
und wieder laufen —, liegt hier also mehr vor als ein Zufall,
so muß eine solche wechselseitige Bedürftigkeit, und damit die
Grundlosigkeit des gegenseitigen Mißtrauens, nachweisbar
sein.
Die Philosophie — wir dürfen uns hier nicht scheuen, schon
gelegentlich Gesagtes wieder aufzunehmen, — hat um 1800
ihre selbstgestellte Aufgabe der denkenden Erkenntnis des
All gelöst; indem sie sich selbst in der Geschichte der Philo-
sophie begriffen hat, ist ihr nichts mehr zu begreifen übrig;
auch den Gegensatz zum Wahrheitsgehalt des Glaubens hat
sie, indem sie diesen Gehalt »erzeugte« und als ihre eigene
methodische Wurzel entdeckte, überwunden. So also am
Ziele ihrer sachlichen Aufgabe angelangt, bezeugt sie dies ihr
Am-Ziel-Sein in der von vornherein in ihr angelegten, aber
erst in diesem Augenblick verwirklichungsreifen Errichtung
des eindimensionalen idealistischen Systems. Hier findet die-
ser historische Abschlußmoment seine rechte und gemäße
Darstellung. Die Eindimensionalität ist die Form der restlos
ZWEITER TEIL: EINLEITUNG
ui
alles einschließenden Ein- und Allheit des Wissens. Die immer
vielheitliche Erscheinung des Seins ist absolut in jener Einheit
als dem Absoluten aufgelöst; soll ein Inhalt eine besonders
hervorgehobene Stellung einnehmen, wie es der Glaube für
seinen Inhalt beansprucht, so kann das in diesem System nur
eine sein: die des Prinzips, das als Methode das System selbst
zur Einheit zusammenschließt; und eben diese Stellung wird
dem Glaubensinhalt im Hegelschen System zugestanden. Soll
von diesem Gipfel noch ein Schritt weiter geschehen, ohne
zum Sturz in den Abgrund zu führen, so müssen die Grund-
lagen verrückt werden; es muß ein neuer Begriff von Philo-
sophie aufkommen.
Wir sahen schon, wie das geschah. Der neue Philosophie-
begriff wandte sich grundsätzlich gegen alle die Elemente, die
auf dem Höhepunkt des alten sich zusammengefunden hatten.
Die Philosophie hat nicht das objektiv denkbare All und das
Denken dieser Objektivität zum Gegenstand, sondern sie ist
»Weltanschauung«, der Gedanke, mit dem ein individueller
Geist auf den Eindruck, den die Welt auf ihn macht, reagiert;
sie hat nicht den Inhalt des Glaubens zu ihrem Inhalt, sondern
dieser empört sich in von beiden Seiten, theologischer wie
philosophischer, jetzt stark hervorgehobener ewiger Paradoxie
gegen sie; die eindimensionale Form des Systems mag unter
der Voraussetzung einer objektiven Welt und eines einen und
allgemeinen Denkens die wissenschaftliche sein, — der
schlechthinnigen Mehrheit der Weltanschauungen, die ja schon
im einzelnen Menschen durchaus nicht eine einzige zu sein
brauchen, entspricht nur eine vieldimensionale Form, und
gehe sie bis an die äußerste Grenze eines Philosophierens in
Aphorismen.
Alle diese Eigentümlichkeiten des neuen Philosophiebegriffs,
der doch mindestens das Verdienst hat, nach Hegel überhaupt
noch ein Philosophieren möglich zu machen, sammeln sich
nun in der einen, daß an Stelle des alten, berufsmäßig unper-
sönlichen Philosophentyps, der nur ein angestellter Statthalter
der, natürlich eindimensionalen, Philosophiegeschichte ist, ein
VOM WUNDER
III
höchst persönlicher, der des Weltanschauungs-, ja Stand-
punktsphilosophen tritt. Hier aber tritt das Bedenkliche der
neuen Philosophie ins hellste Licht, und die Frage, die
Nietzsche entgegengehalten wurde, muß allen ernst zu neh-
menden philosophischen Bestrebungen entgegenspringen: ist
das noch Wissenschaft?
Ja, ist das noch Wissenschaft? Ist dieses Betrachten der
Dinge jedes für sich und eines jeden in zahllosen Beziehungen,
bald von jenem, bald von diesem Punkt aus, diese Betrach-
tung, deren Einheit höchstens in der Einheit des Betrachters
liegt — und wie fragwürdig ist schon diese! — noch Wissen-
schaft? So fragen auch wir, und so fragt sich mit Bestür-
zung jeder, der in den philosophischen Erscheinungen der
neueren Zeit regelmäßig entweder das Philosophische oder
das Wissenschaftliche zu kurz kommen sah. So ist hier ein
Bedürfnis der Philosophie fühlbar geworden, das sie offenbar
aus sich selbst heraus nicht befriedigen kann. Soll sie ihren
neuen Begriff nicht wieder preisgeben — und wie könnte
sie das, wo sie nur diesem Begriff ihr weiteres Fortleben über
jenen kritischen Punkt der Lösung ihrer ursprünglichen Auf-
gabe hinaus verdankt —, so muß ihr, und zwar gerade
ihrer Wissenschaftlichkeit, Unterstützung von anderswoher
kommen. Sie muß ihre neue Ausgangsstellung, das subjek-
tive, ja extrem persönliche, mehr als das, unvergleichbare, in
sich selbst versenkte Selbst und dessen Standpunkt festhalten
und dennoch die Objektivität der Wissenschaft erreichen. Wo
findet sich diese verbindende Brücke zwischen extremster
Subjektivität, zwischen, man möchte sagen, taubblinder
Selbsthaftigkeit und der lichten Klarheit unendlicher Objek-
tivität?
Die Antwort muß vorgreifen und auch dann noch auf dem
halben Wege der Andeutung stehen bleiben: Jene Brücke vom
Subjektivsten zum Objektivsten schlägt der Offenbarungs-
begriff der Theologie. Der Mensch als Empfänger der Offen-
barung, als Erleber des Glaubensinhalts trägt beides in sich.
Und er ist, mag sie es nun wahr haben wollen oder nicht, der
136
ZWEITER TEIL: EINLEITUNG
gegebene, ja wissenschaftlich der einzig mögliche Philoso-
phierende der neuen Philosophie. Die Philosophie verlangt
heute, um vom Aphorismus frei zu werden, also geradezu um
ihrer Wissenschaftlichkeit willen, daß »Theologen« philoso-
phieren. Theologen freilich nun ebenfalls in einem neuen
Sinn. Denn wie sich nun zeigen wird, ist der Theologe, nach
dem die Philosophie um ihrer Wissenschaftlichkeit willen ver-
langt, selber ein Theologe, der nach der Philosophie verlangt
— um seiner Ehrlichkeit willen. Was für die Philosophie eine
Forderung im Interesse der Objektivität war, wird sich für die
Theologie erweisen als eine Forderung jm Interesse der Sub-
jektivität. Sie sind aufeinander angewiesen und erzeugen so
miteinander einen neuen, zwischen Theologie und Philosophie
gestellten, sei es nun Philosophen- oder Theologentyp. Uber
ihn müssen wir auch hier noch uns das letzte für später ver-
sparen. Hier wenden wir uns erst, damit zugleich auf unser
eigentliches Thema zurückkommend, dem Bedürfnis zu, das
die neue Theologie nach Philosophie trägt, und das jenem
schon behandelten Bedürfnis der Philosophie entgegenkommt.
Die Theologie hatte es, wie wir sahen, seit ihrer neuen
Wendung vor rund hundert Jahren versucht, ohne auctoritas
zu leben; denn die »historische Theologie« galt ihr als die
Polizeitruppe gegen Angriffe, die ihrem lebendigen Gegen-
wartsbewußtsein etwa aus der »toten Vergangenheit« des
verbum scriptum oder auch der ecclesia visibilis drohten; aber
nicht als positive, erkenntnismäßige Begründerin ihrer Wahr-
heit, nicht als auctoritas. So spielte sie eine Rolle, etwa ver-
gleichbar der Rolle der Philosophie in der Scholastik, die auch
den Glauben wesentlich nach außen umgab, sei es als Summa
contra gentiles zur Abwehr von Angriffen, sei es als Summa
theologica zur Eroberung von geistigem Neuland für den
Glauben; auctoritas aber war nicht sie, sondern die sichtbar
daseiende Kirche selbst, wie für Luthers Glauben später das
verbum scriptum, das sie sollen lassen stahn und das er auf
den Tisch vor sich hinschrieb. Auch Luther umgab seinen
VOM WUNDER
J3L
Glauben, den er fest auf die neue auctoritas begründet hatte,
nach außen mit einer Schutzmacht, als welche er die Philo-
sophie energisch ablehnte; denn eine solche Schutzmacht ist
für ihn die »Obrigkeit«; sie nahm zum Wort und seinen Ver-
kündern die gleiche Stellung ein wie die scholastische Philo-
sophie zur sichtbaren Kirche. Eine solche Beschützerin nach
außen hatte sich auch die Theologie des neuen Zeitalters
gesetzt, aber das Wichtigere, die Grundlage einer auctoritas,
glaubte sie sich sparen zu können. So schwebte sie in der
Luft; und eigentlich war es das, was sie wollte. Denn eifer-
süchtig wachte sie über die reine Gegenwärtigkeit des
Erlebens; vor jeder Berührung mit dem harten, wohlgegrün-
deten Erdreich der Wahrheit und gegenständlichen Wirklich-
keit mußte sie beschützt werden; der einzige Halt, den sie
etwa suchen durfte, war der an den Sternenhimmel des sitt-
lichen Ideals über ihr ausgeworfene Anker der Hoffnung.
Festen Grund unter sich spüren wollte sie nicht. Sie wollte
die Wahrheit verleugnen.
Aber die Wahrheit läßt sich nicht verleugnen, auch nicht
um des Ideals, geschweige denn um des Erlebnisses willen.
Die Wahrheit ist und bleibt der feste Grund, auf dem allein die
Wahrhaftigkeit des Erlebnisses wachsen, die Bewährung des
Ideals geschehen kann. Das Wunder des persönlichen Erleb-
nisses der Offenbarung mag sich für den Willen befestigen in
der Gewißheit seiner zukünftigen Bestätigung durch die Er-
lösung; das Erkennen will einen anderen Grund sehen, auf
dem jenes Erlebnis, und sogar mitsamt jenem Hoffnungsanker,
den es auswirft, ruht.
Die Philosophie also wird heute von der Theologie herbei-
gerufen, um, theologisch gesprochen, eine Brücke zu schlagen
von der Schöpfung zur Offenbarung, eine Brücke, auf der dann
auch die der heutigen Theologie zentral wichtige Verbindung
von Offenbarung und Erlösung geschehen mag. Von der
Theologie aus gesehen, ist also das, was die Philosophie ihr
leisten soll, nicht etwa die Nachkonstruktion des theologischen
Inhalts, sondern seine Vorwegnahme oder vielmehr richtiger
138 ZWEITER TEIL: EINLEITUNG
seine Grundlegung, das Aufzeigen der Vorbedingungen, auf
denen er ruht. Und da die Theologie selbst ihren Inhalt nicht
als Gehalt, sondern als Ereignis — nämlich nicht als Leben,
sondern als Erlebnis — faßt, so sind ihr auch die Vorbedin-
gungen nicht begriffliche Elemente, sondern vorhandene Wirk-
lichkeit; an Stelle des philosophischen Wahrheitsbegriffs
schiebt sich ihr deswegen der Begriff der Schöpfung. Die
Philosophie enthält also den ganzen Inhalt der Offenbarung,
aber diesen Inhalt nicht als Offenbarung, sondern als Vor-
bedingung der Offenbarung, als Vorher der Offenbarung, also
nicht als offenbarten, sondern als geschaffenen Inhalt. In der
Schöpfung ist die Offenbarung in ihrem ganzen Inhalt, gerade
nach dem Glaubensbegriff der jetzigen Epoche also einschließ-
lich auch der Erlösung, — »vorgesehen«. Die Philosophie, wie
sie der Theologe treibt, wird zur Weissagung auf die Offen-
barung, sozusagen zum »Alten Testament« der Theologie.
Damit aber gewinnt die Offenbarung vor unseren staunenden
Augen wieder echten Wundercharakter, — echten, denn sie
wird ganz und gar zur Erfüllung der in der Schöpfung ge-
schehenen Verheißung. Und die Philosophie ist die Sybille,
die das Wunder dadurch, daß sie es voraussagt, zum »Zeichen«
macht, zum Zeichen der göttlichen Vorsehung. Die Aufklä-
rung hatte es, als sie an seinem historischen Beweis kritisch
irre geworden war, herabgedrückt zur zwar nicht kosmischen,
aber psychagogischen Magie: das Wunder erschien als gelun-
gener Betrug; so hatte sie es seines echten, die Merkmale der
Abkunft vom Glauben an der Stirne tragenden Wesens
beraubt und es verheidnischt; es war nur recht, daß der
Glaube sich der ihm zugemuteten Vaterschaft dieses Wechsel-
balgs, den man ihm an Stelle seines liebsten Kindes unter-
geschoben hatte, schämte. Heute, wo die Philosophie sich
um ihrer selbst willen herandrängt zur gemeinsamen Arbeit
mit der Theologie, die ihrerseits nach dem Zusammenbruch
der nur ersatzweisen, nämlich nur apologetischen, nicht kon-
stitutiven, auctoritas der Geschichte schon nach jener als der
echten, zu ihrer neuen Form passenden auctoritas sehnsüchtig
VOM WUNDER
\J2
Ausschau hält, — heute legt das Wissen dem Glauben sein
verloren gewähntes liebstes Kind, das echte Wunder, wieder
in die Arme.
Wir sind in der Hauptsache am Ziel dessen angelangt, was
wir in der Einleitung zu sagen dachten. Nur noch über das
Wie der philosophischen Vorwegnahme des Offenbarungs-
wunders sei einiges, freilich notwendig nur Andeutendes und
Unbefriedigendes, zugefügt, was vielleicht weniger schon das,
was dieser Teil bringen wird, als vielmehr nachträglich das,
was der vorige gebracht hat, in helleres Licht setzen wird.
Uber Fragen des Wie, der »Methode«, sollte man ja eigentlich
immer nur nach getaner Arbeit, nicht vorher reden. Und um
eine Frage des Wie handelt es sich hier. Wie kann die Mög-
lichkeit, das Wunder zu erleben, die uns in der Schöpfung auf-
ging, wie kann diese Möglichkeit in der Schöpfung selber
erkannt werden? Oder stofflicher — scheinbar stofflicher —
gefragt: wo ist im Kreise der Schöpfung das »Geschöpf«, wo
im Reiche der Philosophie der »Gegenstand«, der auf seinem
Antlitz das sichtbare Siegel der Offenbarung trägt? Wo findet
sich in der Schöpfung das Buch, das die Zeit nur aufzuschlagen
braucht, um auf seinen Blättern das Wort der Offenbarung zu
lesen? Wo enthüllt sich das Geheimnis als Wunder?
Wir hatten, als wir die Elemente des All in ihrem stummen
Hervorgang aus den geheimen Gründen des Nichts schauten,
ihre Stummheit redend gemacht, indem wir ihnen eine Sprache
liehen, welche die ihre sein konnte, weil sie keine Sprache ist.
Eine Sprache vor der Sprache also, wie jenes Hervorgehen
Schöpfung vor der Schöpfung ist. Es waren von der leben-
digen Sprache her gesehen die »Urworte«, die als geheime
Gründe unter jedem einzelnen offenbaren Wort verborgen
liegen und in ihm ans Licht steigen, Elementarworte gewisser-
maßen, die den offenbaren Lauf der Sprache zusammensetzen,
mathematische Elemente, aus denen die Bahnkurve zu ent-
wickeln ist, wie denn auch wirklich die Eigenart der Elemente
in ihrem Hervorgang sich an mathematischen Symbolen gut
140
ZWEITER TEIL: EINLEITUNG
veranschaulichen ließ. In der lebendigen Sprache werden
diese unhörbaren Urworte als wirkliche Worte hörbar, sie
selbst und mit ihnen alle wirklichen Worte. Statt der Sprache
vor der Sprache steht die wirkliche Sprache vor uns.
Waren jene unhörbaren unter sich beziehungslos neben-
einander stehenden Elementarworte die Sprache der stummen,
einzeln nebeneinander liegenden Elemente der Vor=welt, die
Sprache, die im lautlosen Reich der Mütter verstanden wird,
die bloße ideelle Möglichkeit einer Verständigung, so ist die
wirkliche Sprache die Sprache der oberirdischen Welt. Jene
Sprache der Logik ist die Weissagung einer wirklichen
Sprache der Grammatik; das Denken ist stumm in jedem Ein-
zelnen für sich und doch allen gemein; durch diese Gemein-
samkeit begründet es die wirkliche Gemeinsamkeit des
Sprechens; was im Denken stumm war, wird im Sprechen
laut, aber das Denken ist nicht Sprechen, nämlich nicht wirk-
liches »leises« Sprechen, sondern ein Sprechen vor dem
Sprechen, der geheime Grund des Sprechens; seine »Urworte«
sind nicht wirkliche Worte, sondern Verheißungen des wirk-
lichen Worts. Aber andrerseits bekommt das wirkliche Wort,
das den Gegenstand mit seinem Namen »heißt«, nur dadurch
festen Grund unter die Füße, daß das Urwort es verheißen
hat. Das Sturpme wird laut, das Geheimnis offenbar, das Ver-
schlossene erschließt sich, das als Gedanke Fertige verkehrt
sich als Wort wieder in einen Anfang; denn das Wort ist bloß
ein Anfang, bis es auf das Ohr trifft, das es auLfängt, und auf
den Mund, der ihm antwortet.
Hier, in diesem Verhältnis zwischen der Logik der Sprache
und ihrer Grammatik, haben wir nun allem Anschein nach
schon den gesuchten Gegenstand, der Schöpfung und Offen-
barung verbindet. Die Sprache, die uns in den Urworten ihrer
Logik die stummen, immerwährenden Elemente der Vor=Welt,
der Schöpfung, vernehmlich machte, wird in den Formen
ihrer Grammatik den tönend immer sich erneuernden Sphären-
gang der ewigen Mitwelt uns verständlich machen. Die Weis-
sagung der Urworte der Logik findet ihre Erfüllung in den
VOM WUNDER
141
offenkundigen Gesetzen der wirklichen Worte, den Formen
der Grammatik. Denn die Sprache ist wahrhaftig die
Morgengabe des Schöpfers an die Menschheit und doch zu-
gleich das gemeinsame Gut der Menschenkinder, an dem jedes
seinen besonderen Anteil hat, und endlich das Siegel der
Menschheit im Menschen. Sie ist ganz von Anfang, der Mensch
wurde zum Menschen, als er sprach; und doch gibt es bis
auf diesen Tag noch keine Sprache der Menschheit, sondern
die wird erst am Ende sein. Die wirkliche Sprache zwischen
Anfang und Ende aber ist allen gemein und doch jedem eine
besondere; sie verbindet und trennt zugleich. So umschließt
die wirkliche Sprache alles, Anfang, Mitte und Ende, den
Anfang als seine sichtbar gegenwärtige Erfüllung: denn die
Sprache, von der wir sagen, daß sie den Menschen zum
Menschen macht, ist heute in ihren zahllosen Gestalten sein
sichtbares Kennzeichen; und das Ende: denn sie wird auch
als einzelne Sprache von heute und selbst als Sprache des
Einzelnen beherrscht von dem Ideal der vollkommenen Ver-
ständigung, das wir uns vorstellen unter der Sprache der
Menschheit. So aber gliedern sich die Formen der Gram-
matik auch in sich selbst wiederum nach Schöpfung, Offen-
barung und Erlösung, nachdem die Sprachformenlehre als
wirkliches Ganzes gegenüber dem Urgedanken der Sprache,
der uns zum methodischen Organon der Schöpfung geworden
war, zum Organon der Offenbarung wurde; die Offenbarung
ist eben, weil sie im Wissen auf die Schöpfung gegründet, im
Wollen auf die Erlösung gerichtet ist, zugleich Offenbarung
der Schöpfung und Erlösung. Und die Sprache als ihr Or-
ganon ist zugleich der Faden, an dem sich alles Menschliche
aufreiht, das unter den Wunderschein der Offenbarung und
ihrer allzeit erneuten Gegenwärtigkeit des Erlebens tritt.
Aber hier fühlen wir, daß wir uns, wie wir schon fürch-
teten, zu weit vorwagen und, von Unbekanntem sprechend,
uns ins Unverständliche verirren. So brechen wir hier ab.
Der Begriff des Erlebens in seiner unerschöpflichen Jugend
verführt ohnehin auch ein ruhiges Denken leicht zu schwär-
ZWEITER TEIL: EINLEITUNG
mender Ausschweifung. Bleiben wir fest und halten wir fest:
die Sprache, wie sie von Anfang an ganz da, ganz geschaffen
ist, erwacht doch erst in der Offenbarung zur wirklichen
Lebendigkeit. Und so ist nichts an dem Offenbarungswunder
neu, nichts ein zauberhafter Eingriff in die erschaffene Schöp-
fung, sonderen ganz ist es Zeichen, ganz Sichtbarmachung und
Lautwerdung der ursprünglich in der stummen Nacht der
Schöpfung verborgenen Vorsehung, ganz — Offenbarung. Die
Offenbarung ist also allzeit neu, nur weil sie uralt ist. Sie
erneuert die uralte Schöpfung zur immer neugeschaffenen
Gegenwart, weil schon jene uralte Schöpfung selber nichts
ist als die versiegelte Weissagung, daß Qott Tag um Tag das
Werk des Anfangs erneuert. Das Wort des Menschen ist
Sinnbild: jeden Augenblick wird es im Munde des Sprechers
neu geschaffen, doch nur, weil es von Anbeginn an ist und
jeden Sprecher, der einst das Wunder der Erneuerung an ihm
wirkt, schon in seinem Schoße trägt. Aber dies ist mehr als
Sinnbild: das Wort Gottes ist die Offenbarung, nur weil es
zugleich das Wort der Schöpfung ist. Gott sprach: Es werde
Licht — und das Licht Gottes, was ist es? des Menschen
Seele.
ERSTES BUCH
SCHÖPFUNG
ODER
DER IMMERWÄHRENDE GRUND
DER DINGE
OTT sprach. Das ist das zweite. Es ist nicht der
Anfang. Es ist schon die Erfüllung, die laute, des
V___> schweigenden Anfangs. Es ist schon das erste
Wunder. Der Anfang ist: Gott schuf.
Gott schuf. Das ist das Neue. Hier zerbricht die Schale
des Geheimnisses. Alles, was wir bisher von Gott wußten,
war nur Wissen um einen verborgenen Gott, einen Gott, der
sich und sein Leben in einem eigenen mythischen Bezirk, einer
Götterburg, einem Götterberg, einem Gotteshimmel verbarg.
Dieser Gott, von dem wir wußten, war an seinem Ende. Aber
Gott der Schöpfer ist im Anfang.
Im Anfang. Was Ende schien, Gottes Lebendigkeit, ver-
kehrt sich in einen Anfang. Auch hier wird sich die Geburt
Gottes aus dem Grunde, seine Schöpfung vor der Schöpfung,
erweisen als die Weissagung seines Offenbarwerdens. Was
ist denn der Unterschied von Verheißung und Erfüllung? Doch
dies, daß jene stehen bleibt, fertig, unverrückbar, diese aber
geschieht, besser: eintritt. So ist von der Verheißung zur
Erfüllung nichts weiter verändert, der Inhalt der Verheißung
und die Phasen der Erfüllung sind eins; nur hat sich das
Fertige zum Anfang verkehrt. Damit aber sind die Stücke,
die das Fertige inhaltlich fertig=stellen, zu Voraussagen des
Geschehens verkehrt, das aus ihm, dem wieder zum Anfang
gewordenen, heraustritt. Diese Verkehrung kann sich, wie
schon gesagt, nur äußern als Wechsel der beiden ersten Ur-
worte. Was als Ja mündete, tritt als Nein hervor, und was
H 4
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
als Nein, als Ja, gleichwie man die Einsätze eines Koffers in
umgekehrter Reihenfolge auspackt, wie man sie eingesetzt
hat. So skurril das Gleichnis scheint^ so ernsthaft dürfen wir
es doch gebrauchen. Denn jene Akte, in welche die Geburt
aus dem Grunde zerfällt, insbesondere die beiden ersten,
wachsen nicht dialektisch der zweite aus dem ersten hervor;
das Nein ist nicht die »Antithesis« des Ja, sondern das Nein
steht dem Nichts in gleicher Unmittelbarkeit gegenüber wie
das Ja und setzt für sein Hinzutreten zum Ja nicht das
Ja selbst, sondern nur das Hervorgegangensein des Ja
aus dem Nichts voraus. Wie ungeheuer wichtig dies gleich
unmittelbare Verhältnis der beiden Akte zu ihrem Ursprung,
der Gegensatz also der hier angewandten Methode zur dialek-
tischen ist, wird erst im Verlauf dieses Teils klar werden
können. Aber das vollkommen Zutreffende des Vergleichs
mit dem Einpacken der Koffereinsätze und infolgedessen auch
des Vergleichs mit dem Auspacken hat hier seinen Grund.
In Gottes Schaffen als dem Anfang seines Sich = äußerns,
äußert sich also die in seine Lebendigkeit mit dem Urnein
eingemündete göttliche Macht. Aber diese Macht, die von der
göttlichen Freiheit, also seinem Urnein, herkam, tritt jetzt neu
hervor nicht mehr als Nein, sondern als Ja. Als Ja, also nicht
als einzelner sich im Krampf der Selbstverneinung aus Gott
losringender »Akt«, sondern als ruhige, wesenhaft ins Dau-
ernde hinausgestellte, unendliche »Eigenschaft«. Gottes bisher
im metaphysischen Jenseits des Mythos verborgene Gestalt
tritt ins Sichtbare heraus und beginnt aufzuleuchten. Gottes
Gestalt — denn was ist es anders als Gestalt, was uns erlaubt
zu sagen, er habe eine wesentliche »Eigenschaft«. Es ist die
einzige Eigenschaft; alles andre, was diesen Namen be-
ansprucht, tut es, wie wir sehen werden, zu unrecht. Vor
seinem Aussichheraustreten kann Gott überhaupt keine Eigen-
schaften haben; denn Eigenschaft ist das Äußerliche, dem
gegenüber der Träger der Eigenschaft etwas schlechthin
Inneres ist, das sich eben erst in den Eigenschaften äußert. In
SCHÖPFUNG
Hl
dieser Eigenschaft aber ist, was man etwa mit Recht sonst
noch als Eigenschaft Gottes bezeichnet, miteingeschlossen.
Was ist die Macht, nachdem sie Eigenschaft geworden ist?
Wir sagten schon: nicht mehr einzelne Tat, nicht mehr Will-
kür, sondern Wesen. Gott der Schöpfer ist wesentlich mäch-
tig. Sein Schöpfertum also ist Allmacht, ohne Willkür zu
sein. Gott, der in der Schöpfung Sichtbare, kann alles, was er
will; aber er will nur, was er aus seinem Wesen wollen muß.
In dieser Formel, die sich uns hier mit so schlichter Selbst-
verständlichkeit ergibt, sind alle Rätsel, die der Schöpfungs-
gedanke, soweit er Gott betrifft, jemals aufgegeben hat, gelöst.
Noch nicht so lange ist es her, daß man die Schwierigkeit,
die man im Gedanken der Schöpfung fand, darstellte als
einen Widerspruch zwischen Gottes »Allweisheit« und seiner
»Allmacht«. Wie kann Gott, so fragte man, allmächtig
sein, wenn ihn seine Weisheit doch ständig beschränkt
und ihn verhindern muß, alles zu tun, was er wollen
kann? Wenn man so fragt, so zeigt man, daß man die
Macht irrig als Tat auffaßt, was sie doch nur ist im Ge-
heimnis der inneren Selbstgestaltung Gottes; in seiner sicht-
bar werdenden Gestalt, wo sie nicht Tat, sondern Wesen ist,
hat sie dies wesenhafte Eingebundensein in eine innere Not-
wendigkeit; und nichts anderes als solch Eingebundensein ist
mit dem Begriff einer Gott eigenen Weisheit gemeint. In der
richtig gedachten Eigenschaft der Macht ist die der Weisheit
mitvorgestellt. Eben dies tut jene soeben gefundene Formel,
der Schöpfer könne alles, was er will, aber er wolle nur, was
er aus seinem Wesen wollen muß. In dieser Einpflanzung der
Macht als einer »Eigenschaft« in das Wesen ist aber nun nicht
bloß dies schulmäßig gefaßte Problem des Verhältnisses zur
»Weisheit« gelöst, sondern auch das echte und tiefe, das in
dem Schöpferbegriff steckt: Schafft Gott aus Willkür oder aus
Muß? Beides scheint unvereinbar. Jenes zu bejahen, scheint
eine Forderung des Begriffs der göttlichen Vollkommenheit
und Unbedingtheit; Gott darf von nichts abhängig sein, am
wenigsten von einem, sei es nun äußeren sei es inneren, Be-
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
146
dürfnis. So darf er nicht schaffen müssen; es darf ihm nicht
»einsam« sein, wie Schiller von dem »Weltenmeister« wohl
behauptet; er muß nach dem Wort des Koran »reich sein ohne
alle Welt«. So ist der Gedanke der absoluten Willkürlichkeit
des Schöpfers bei der Schöpfung denn auch gerade in der
arabischen Scholastik, aber auch in älterer christlicher und
jüdischer Theologie vielfach vertreten. Aber er ist durchaus
nicht so unbedenklich, wie seine Vertreter meinen. Droht er
doch, den Gott, den er unbedürftig macht und dessen Schöpfer-
tum er nicht in seinem Wesen begründen will, von jeder not-
wendigen Verbindung mit der Welt zu lösen; dadurch aber
wird auch das schöpferische Aussichheraustreten Gottes selber
zu einer bloßen ihm unwesentlichen Tatsächlichkeit gemacht
und Gottes Wesen in eine weltfremde, weltüberhobene Höhe
entrückt, — lehren aber so nicht auch die Heiden? Was unter-
scheidet dieses Gottes Weltenthobenheit noch von der kühlen
Apathie der epikureischen Götter, die in den »Zwischen-
räumen« des Daseins ein von ihm unberührtes, ungerührtes
Leben olympischer Heiterkeit führen? So ist am Ende doch
der echte Gedanke der Offenbarung, des Aussichherausgehens,
Zueinandergehörens und Zueinanderkommens der drei »tat-
sächlichen« Elemente des All, Gott Welt Mensch, wirksam in
dem Widerstand gegen die Behauptung der Willkür des
Schöpfers. Und so ist es denn auch gegenüber der arabischen
Scholastik, und zwar in intimster Abweichung gerade in diesem
Punkt, der große jüdische Theoretiker der Offenbarung Mai-
monides gewesen, der in aller Schärfe Gottes Schöpfertum
als seine wesentliche Eigenschaft behauptete und sogar die
ganze Lehre von den göttlichen Wesenseigenschaften in deut-
licher methodischer Angleichung an diese Eigenschaft der
schöpferischen Macht entwickelte.
Aber ganz unberechtigt war jene Betonung der Willkür
doch nicht. Das zeigt sich in den späteren Schicksalen des
Gedankens der gottwesentlichen schöpferischen Machttat. Er
steht immer auf der Kippe, in göttliche Bedürftigkeit um-
gedeutet zu werden. Weil Gott das Schaffen der Welt wesent-
SCHÖPFUNG
H7
liehe Notwendigkeit ist, so hat er, der »einsame Weltenmeister«,
in der Schöpfung dem Künstler gleich ein Bedürfnis seiner
Natur befriedigt, einer inneren Last sich entledigt. Ja dies
wird noch weiter gesteigert, indem man, nicht zufrieden mit
dem Begriff der Notwendigkeit, ihm einen Tropfen Leiden-
schaft beimischt und die Schöpfung zu einer Tat sehnsüch-
tiger Liebe macht. Sehnsüchtiger, nicht — obwohl auch das
eine Verschiebung der Akzente wäre — überquellender. Wenn
nicht um Gottes, dann sicher um der Welt willen sind solche
Formulierungen abzulehnen; denn wie Gott in ihnen seiner
inneren Freiheit beraubt wird, so geht die Welt ihres inneren
Zusammenhangs in sich, ihrer Eigenständigkeit verlustig, die
ihr ja durch den Gedanken der Schöpfung nicht genommen,
sondern im Gegenteil in dem Mückentanz der Möglichkeiten
gerade gesichert werden sollen. Sie würde, derart an Gottes
Bedürfnis gebunden, allen eigenen Sinn, alle innere Eindeutig-
keit verlieren, sie würde wie das Werk eines Bekenntnis-
dichters ihr Wesen darin haben, weniger »selbständiges
Kunstwerk« als vielmehr Zeugnis des über alle Werke merk-
würdigen inneren Lebens des Urhebers zu sein. Und damit
wäre sie nicht Schöpfung, nicht das in der metalogischen Welt
geweissagte eigenwüchsige Gebild.
Hier rettet der Begriff der göttlichen Willkür. Aber wie,
sollen wir diesen Stein, den wir beim Aufbau des Schöpfer-
begriffs ausdrücklich verwarfen, jetzt etwa zum Eckstein
machen? Zum Eckstein mit nichten, und auch nicht »machen«,
sondern: als Grundstein — erkennen. Denn zwar nicht in der
Schöpfertat des Schöpfers ist Willkür, nicht in ihr, aber vor
ihr in der Selbstgestaltung Gottes, die seiner Schöpfertat vor-
hergeht. Die Macht des Schöpfers ist wesenhafte Eigenschaft,
aber sie nahm ihren Ursprung aus der Willkür, die, nicht
Eigenschaft, sondern Ereignis, unaufhörlich erneuter Flamme
in Gottes Busen vor der Schöpfung loderte. Jenes geheime,
vorschöpferische Sichselbstoffenbaren der göttlichen Freiheit,,
die sich erst im Anprall an das Schicksalsmuß des göttlichen
Wesens aus bedingungsloser Willkür in tatenreiche Macht
10*
148
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
klärte, war die verschlossene Weissagung, die in der wesen-
haften Macht des Schöpfers in offenbare Erfüllung ging. Aber
es bleibt in der wunderbaren Macht des Schöpfers erhalten,
daß sie vorgebildet war in der flammenden Willkür, in der
sich der Schöpfer selber lebendig machte. Die Willkür des
verborgenen Qottes liegt auf dem Grunde der in ruhiger
Lebendigkeit sich offenbarenden Schöpfermacht des offen-
baren. Gottes Macht äußert sich mit reiner Notwendigkeit,
weil und gerade weil ihr Inneres reine Willkür, bedingungs-
lose Freiheit ist. Als »geschaffener«, als in sich eingeschlos=
sener, als »verborgener« Gott könnte er, wenn er — was ja
nicht angeht — als solcher überhaupt aus sich heraustreten
und schaffen könnte, das Schaffen auch bleiben lassen; aber
als »offenbarer« Gott kann er nicht anders als schaffen. So
haben gegen die Behaupter der Willkiirlichkeit der göttlichen
Schöpfertat die recht, die ihr innere, wesenhafte Notwendig-
keit zuschrieben; aber denen gegenüber, welche diese in der
Umkehr des Verborgenen in das Offenbare begründete innere
Notwendigkeit zum affektvollen Bedürfnis steigerten und die
Macht in Liebe umdeuteten, waren jene anderen mit der Be-
hauptung der göttlichen Willkür auf dem rechten Weg, indem
sie auf den inneren Kern von schrankenloser Freiheit in Gott
wiesen, der freilich, wie er nach außen bricht, seine innere
Schrankenlosigkeit einbüßt und sich als ruhige, mit Notwen-
digkeit schaffende allweise Allmacht offenbart.
Die Weltgeschichte hat eine Probe auf dies Exempel
gemacht: den Islam. Muhamed hat den Gedanken der
Offenbarung vorgefunden und übernommen, wie man ein Vor-
gefundenes übernimmt, nämlich ohne es aus seinen Voraus-
setzungen zu erzeugen. Der Koran ist ein »Talmud«, dem
keine »Schrift«, ein »Neues« Testament, dem kein »Altes«
zugrunde liegt. Der Islam hat nur die Offenbarung und nicht
die Weissagung. Daher ist das Offenbarungswunder bei ihm
nicht »Zeichen«, keine Offenbarung der in der Schöpfung wirk-
samen göttlichen Vorsehung als eines »Heilsplans«, sondern
SCHÖPFUNG
H9
der Koran ist ein Wunder in sich selbst, ein manisches Wunder
also, das sich als Wunder legitimiert nicht durch seine Vor-
ausgesagtheit, sondern durch seine Unerklärlichkeit; wie denn
der Beweis für die Göttlichkeit des Koran bis auf den heutigen
Tag darin gefunden wird, daß ein Buch von so unvergleichbar
herrlicher Weisheit und Schönheit nicht aus einem mensch-
lichen Hirn entsprungen sein könne, während sowohl der Tal-
, mud wie das Neue Testament ihre göttliche Herkunft theo-
retisch beglaubigen durch den Zusammenhang mit dem »Alten
Testament«, der Talmud durch die behauptete durchgängige
logische Ableitbarkeit daraus, das Neue Testament durch den
behaupteten durchgängigen historischen Erfüllungscharakter
ihm gegenüber. Indem also Muhamed die Begriffe der Offen-
barung äußerlich übernahm, blieb er in den Grundbegriffen
der Schöpfung mit Notwendigkeit am Heidentum kleben. Denn
er erkannte den Zusammenhang nicht, der die Offenbarung an
die Schöpfung bindet.
So konnte ihm nicht aufgehen, daß die Schöpfungsbegriffe
Gott Welt Mensch erst durch innere Umkehr sich aus fertigen
Gestalten in Quellkräfte der Offenbarung verwandeln. Er nahm
auch sie, wie er sie fertig fand, nur nicht wie die Offenbarungs-
begriffe aus dem Offenbarungsglauben, sondern aus der heid-
nischen Welt. Und so, wie er sie da vorfand, warf er sie in
die Bewegung, die von der Schöpfung über die Offenbarung
zur Erlösung führt. Sie wurden nicht aus in sich verhüllten
Weissagungen zu hervortretenden Offenbarungen, ihre ge-
schlossenen Augen taten sich nicht leuchtend auf, sondern sie
behielten den stumm nach innen gekehrten Blick, auch indem
sie ihn nach außen aufeinanderrichteten. Was Ja war, blieb
hier Ja, was Nein Nein. Und so können wir an diesem merk-
würdigen Fall weltgeschichtlichen Plagiats uns vor Augen
führen — und werden es fortlaufend tun —, wie ein aus dem
Heidentum unmittelbar, sozusagen ohne Gottes Willen, ohne
den Plan seiner Vorsehung, also in »rein natürlicher« Ver-
ursachung, hervorgegangener Offenbarungsglaube aussehen
müßte. Denn das Wesentliche eines derart rein natürlichen
150
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
Hervorgehens wäre das Fehlen der inneren Umkehr der »Vor-
zeichen«, des Umschlags der Weissagung in das Zeichen, der
Schöpfung in die Offenbarung, durch das sich jene erst als
Grund der Offenbarung, diese als Erneuerung der Schöpfung
offenbart. Der Islam hat so weder die eine noch die andere,
obwohl er mit beiden, wie er sie gefunden hat, prunkender
Würde voll einherstolziert.
Der Schöpfer Muhameds ist, wie wir schon erwähnten,
»reich ohne alle Welt«. Er ist wirklich der Schöpfer, der es
auch hätte unterlassen können zu schaffen. Seine Macht er-
weist sich wie die Macht eines orientalischen Gewaltherrschers
nicht in der Schaffung des Notwendigen, nicht in der Befugnis
zum Erlaß des Gesetzes, sondern in der Freiheit zur Willkür-
tat. Während höchst bezeichnend die rabbinische Theologie
unsren Begriff der göttlichen Schöpfermacht formuliert in der
Frage, ob Gott die Welt aus Gerechtigkeit und nicht vielmehr
aus Liebe geschaffen habe. In der Erzeugung und Durchfüh-
rung des Rechts bewährt sich ja eben die Macht, wie wir sie
als dem Schöpfer eigentümlich erkannt haben, die Macht, die
aus innerer Notwendigkeit handelt und das Notwendige ver-
wirklicht. Das klare Gegenteil solcher Macht ist die Willkür;
sie bewährt sich gerade in der Abwesenheit jedes inneren
Zwangs, in der gleichmäßigen Freiheit, Recht wie Unrecht zu
verwirklichen, eine Tat zu tun wie sie zu unterlassen. Die
Willkür kennt keine Notwendigkeit. Sie setzt ihre Äußerun-
gen nicht mit unendlicher Notwendigkeit als ein gleich Not-
wendiges aus sich heraus, sondern jede einzelne Tat entspringt
aus der kurzfristigen Laune des einzelnen Moments, nur diesem
verhaftet und den unmittelbar vergangenen ebenso verleug-
nend, wie sich sträubend, mit der Tat dieses Moments irgend-
wie einen verpflichtenden Präzedenzfall für den nächstkünf-
tigen Moment geschaffen zu haben. Ihre Unendlichkeit be-
währt sich nur darin, daß jeder künftige Moment die gleiche
Freiheit zu all und jedem hat wie der gegenwärtige. Sie wird
nie an dem Himmel über ihrem Werk den Regenbogen zum
Wahrzeichen der Verpflichtung wölben, die Gesetze seines
SCHÖPFUNG
121
Daseins, »solange die Erde steht«, nicht aufhören zu lassen;
sondern Schaffen und Vernichten sind ihr gleichviel; beider
rühmt sie sich im gleichen Atemzug und verlangt von ihren
Gläubigen, in beidem gleich verehrt, nein besser eben doch
nur: in beidem gleich gefürchtet zu werden; während der
Gott der Offenbarung sein künftiges Weltrichtertum nie unmit-
telbar seinem Schöpfertum vergleicht, obwohl doch auch jenes
schon nicht Willkür ist; sondern es hängt gleich dem Schöp-
fertum selber in dem inneren Zusammenhang der Notwendig-
keit, den die Offenbarung geknüpft hat. So entspringt das ein-
zelne Tun der Willkür dem einzelnen Moment, in welchem sie
sich selbst als den Inbegriff aller ihrer andern Momente ver-
leugnet, während die Tat der wesenhaften Macht in breiter
Notwendigkeit aus dem Wesen heraus* und ins Unendliche
hineingestellt wird. Die Schöpfertat im Islam ist wie alle
Willkürtat unbedingt augenblicks* und nur augenblicks-
verhaftet und deshalb in dem soeben klargelegten Sinn für den
Schöpfer Selbstverneinung; die Schöpfertat nach dem Glauben
der Offenbarung setzt wie alle innerlich notwendige Wesens-
äußerung ein dauernd Notwendiges aus sich heraus ins Außen
frei, ist also Weltbejahung des Schöpfers. Weltbejahung — die
Schöpfung ist Schöpfung der Welt. Was ists mit der?
Wir hatten die Welt in ihrer Selbstgestaltung begleitet
bis zu dem Punkt, wo sie in sich fertig schien, ganz
durchgestaltete, in sich geisterfüllte Gestalt. Auch für sie ist
dies Ergebnis ein Gipfel, von wo kein Pfad mehr weiterführt,
es sei denn, das Ergebnis werde auch hier zum Anfang. Das
aber bedeutet das Geschaffenwerden. Erst der Gedanke der
Schöpfung reißt die Welt aus ihrer elementaren Abgeschlos-
senheit und Unbewegtheit in den Strom des Alls hinein, öffnet
ihre bisher ins Innere gekehrten Augen nach außen, macht ihr
Geheimnis offenbar. Es scheint ja zunächst paradox, ein Ge-
schaffensein der Welt noch »nach« ihrem Fertigwerden als
Gestalt zu behaupten. Allermindestens von dem überlieferten
Begriff der Schöpfung »aus Nichts« scheinen wir uns hier hoff-
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
nungslos zu entfernen. Aus »Nichts« war sie uns schon als
Gestalt entstanden. Sollte die gestaltete Welt selber abermals
zum Nichts werden, um das »Nichts«, aus dem die Welt ge-
schaffen wäre, zu repräsentieren?
So ist es. Erinnern wir uns hier des Lichts, das wir vor-
weg auf den Pfad der Schöpfung warfen, als wir aussprachen,
daß die »metalogische« Welt, als Bild von der Antike ent-
worfen, in Wirklichkeit erst nach Ausgang der Antike, also zu
Beginn der Weltzeit des Glaubens entstehe; insofern als diese
Weltzeit zwar angehöben, aber nicht zu Ende gegangen ist,
formulierten wir die Welt im Gegensatz zu dem vor allem
Anfang gewordenen Gott und dem in der vergangenen Zeit
gewordenen Selbst als das Werdende. So ordneten wir sie
in ihrem »Werden aus Nichts« dem Weitende zu, wie wir Gott
darin dem dämmernden Weltmorgen, das Selbst dem hellen
Weltmittag zuordneten. Der Weltmorgen der Schöpfung muß
also für die Welt nicht ihr Geschaffenwerden bedeuten. Daß
Gott die Welt schuf, ist — wie jeder Satz aus Subjekt, Prä-
dikat, Objekt — uneingeschränkte Wahrheit nur für das Sub-
jekt; über das Objekt allein, ohne Zuziehung des Subjekts, läßt
sich aus jenem Satz durch bloße Analyse keine wahre Aussage
gewinnen; etwa aus dem Satz, daß der Storch den Frosch fraß,
läßt sich zwar rein analytisch das andre uneingeschränkt
Wahre ableiten, daß der Frosch vom Storch gefressen wurde;
die Beziehung zwischen Storch und Frosch wie die zwischen
Frosch und Storch ist eindeutig festgelegt, nicht aber die
Schicksale des Frosches, abgesehen von seiner Beziehung auf
den Storch; da ist noch allerlei weiteres hinsichtlich des
Gefressenwerdens möglich; nur die Beteiligung des Storchs
daran ist außer Frage gestellt. So ist der Satz »Gott schuf die
Welt« uneingeschränkte Wahrheit nur für die Beziehung
zwischen Gott und Welt; nur für sie gilt die Vergangenheits-
form, das Einfürallemal, des Satzes; dagegen von der Welt
allein braucht das Geschaffenwerden noch nicht mit der ein-
fürallemal getanen Schöpfertat Gottes zu Ende zu sein; das,
was für Gott Vergangenheit und unvordenkliche, wirklich
SCHÖPFUNG
151
»im Anfang« ist, kann für die Welt noch durchaus‘Gegenwart
sein, selbst bis zu ihrem Ende hin; die Schöpfung der Welt
braucht ihr Ende erst zu finden in der Erlösung; erst von dort
aus, oder wo nun ein solches Ende anzusetzen wäre, rück-
wärts gesehen, und von dort aus gesehen dann allerdings un-
bedingt, müßte sie »Schöpfung aus Nichts« sein. Dieser zu
Ende geschaffenen Welt gegenüber, aber dieser gegenüber
dann auch wirklich, müßte also die gestaltete Welt der meta-
logischen Weltanschauung wirklich »Nichts« sein, d. h. ein mit
der geschaffenen schlechthin Unvergleichbares, Unverbun-
denes, mit seiner Lust Vergangenes.
In der göttlichen Schöpfung aber am Weltmorgen braucht
die Welt nicht ein »fertig« Geschaffenes »geworden« zu sein,
sondern vorerst noch weiter nichts als — Geschöpf. Was von
Gott aus gesehen Schöpfung ist, kann von ihr aus gesehen nur
den Hervorbruch des Bewußtseins ihrer Geschöpflichkeit,
ihres Geschaffenwerdens bedeuten. Die gestaltete Welt würde
also ihre Augen in der Schöpfung auftun zur Kreatürlichkeit.
Ihr Geschaffenwerden wäre von ihr selber her gesehen ihr
Sich=Offenbaren als Kreatur. Als Kreaturbewußtsein, also als
Bewußtsein nicht des einmal Geschaffenwordenseins, sondern
des immerwährenden Geschöpfseins, ist dies Bewußtsein
etwas, durchaus Objektives, nicht etwa schon ein innerer Vor-
gang in der Welt, sondern echte Offenbarung, also ein Vor-
gang, der von ihr selbst herüberstrahlt auf das Bewußtsein des
Schöpfers und dieses erst vollständig bestimmt. Das Kreatur-
bewußtsein der Welt, also das Bewußtsein des Geschaffen-
werdens, nicht Geschaffenwordenseins, vergegenständlicht
sich im Gedanken der göttlichen Vorsehung.
Der Gang ist dieser: Das gesuchte Verhältnis der Welt
zum Schöpfer war, wie wir sahen, für die Welt nicht ihr ein-
fürallemal Geschaffensein, sondern ihr fortgesetztes Sichoffen-
baren als Kreatur. Es ist also für die Welt nicht ihr sich
schaffendes, sondern ihr sich offenbarendes Hervortreten. So
wird es hervortreten als Umkehrung des ersten, nicht des
zweiten Akts der Selbstgestaltung der Welt, als Umkehr
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
dessen, was ihr dauerndes Wesen war. Das dauernde Wesen
der gestalteten Welt war das Allgemeine, genauer die Gat-
tung, die selber zwar allgemein, dennoch das Individuum in
sich enthält, ja ständig aus sich gebiert. Dies dauernde Wesen
wird in der sich als Kreatur offenbarenden Welt verkehrt zu
einem augenblickshaften, »allzeit erneuerten« und dennoch all-
gemeinen Wesen. Einem unwesenhaften Wesen also. Was
wird damit bezeichnet? Ein Wesen der in den Strom der
Wirklichkeit eingetretenen Welt, das nicht »immer und überall«
ist, ein Wesen, das mit dem ganzen Inhalt des Besonderen, den
es einschließt, jeden Augenblick neu entsteht. Dies Wesen, das
alle Besonderheit einschließt, aber selber allgemein ist und
sich in jedem Augenblick als Ganzes erkennt, ist das Dasein.
Dasein bedeutet im Gegensatz zum Sein das Allgemeine, das
des Besonderen voll und nicht immer und überall ist, sondern
— darin von dem Besonderen angesteckt — fortwährend neu
werden muß, um sich zu erhalten. Im Gegensatz zu der Welt
als fester Gestalt, aus der es hervortritt und die es in seiner
beständigen Erneuerungsbedürftigkeit jeden Augenblick ver-
leugnet, ist es bedürftig, bedürftig nicht bloß nach Erneuerung
seines Daseins, sondern als Ganzes von Dasein selber noch
bedürftig nach — Sein. Denn Sein, unbedingtes und allge-
meines Sein, ist das, was dem Dasein fehlt und wonach es in
seiner aller Erscheinungen des Augenblicks übervollen All-
gemeinheit verlangt, um Bestand und Wahrheit zu gewinnen.
Sein eigenes Sein, das es im Rücken hat oder das es vor jener
Kreaturwerdung hatte, kann ihm das nicht gewähren, denn
jenes Sein blieb hinter ihm im wesenlosen Scheine der Vor»
Welt liegen. Es muß ein Sein »außer« ihm, aber im Strom-
kreis der Wirklichkeit sein, das, in sich unverzweigt, sich
seiner Verzweigtheit annimmt. Unter die Fittiche solchen
Seins, das ihm Bestand und Wahrheit verleihen würde, drängt
sich seine Kreatürlichkeit. *
So wird sich die Schwierigkeit, die wir für das in die meta-
logische Welt eingegossene vielverzweigte System der
logischen Formen fanden, hier lösen. Über jenem vielfältigen
SCHÖPFUNG
m
Sein des Logos suchten wir »irgendwo« ein einfältiges Sein der
Wahrheit, ohne doch in der metalogischen Welt und auch sonst
nirgends mit einiger Sicherheit ein solches »Irgendwo« auf-
finden zu können. Die Bedürftigkeit der Kreatur weist uns
nun ganz zwanglos die Richtung, in der wir dies »einfältige
Wort der Wahrheit«, auf dem das vielfältige Dasein des Logos
und der in ihn eingefüllten Wirklichkeit beruht, zu suchen
haben. Doch bleiben wir zunächst noch bei der Kreatur selbst.
Ihre Bedürftigkeit hat sie als Dasein überhaupt, nicht als
Dasein, allgemeines, des Besonderen. Als solches fordert das
Dasein in seiner ständigen Augenblickshaftigkeit das ständig
erneuerte Geschaffenwerden heraus. Und als solches wird es
denn auch von der Macht des Schöpfers ergriffen. Gottes
Vorsehung — denn bei ihr sind wir nun — geht in der Welt
unmittelbar nur auf das Allgemeine, auf die »Begriffe«, die
»Arten«, und auf die Dinge nur auf »ein jegliches nach seiner
Art«, auf das Besondere also nur vermittelst seines All-
gemeinen und letzthin vermittelst des allgemeinen Daseins
überhaupt. In dieser Ablehnung der »besonderen Vor-
sehung« für die Dinge der Welt zum Unterschiede vom
Menschen begegnen wir uns mit Maimonides. Inwiefern
Gottes Herrschaft die Dinge dann doch auch als einzelne un-
mittelbar ergreift, werden wir erst später hören. Dem
Schöpfer aber bieten sich die Dinge nur im allgemeinen Zu-
sammenhang des ganzen Daseins. Nur durch dieses hindurch
ergreift sie seine Schöpfung, »ein jegliches nach seiner Art«.
Aber daß dieses Allgemeine nicht wesenhaft Allgemeines ist,
sondern im Nein momenthaft sich hervorringendes, das zeigt
sich darin, daß dies göttliche Erfassen des Daseins nicht in der
ein für alle Mal stattgehabten Schöpfung geschieht, sondern
momenthaft, als zwar allgemeine, aber in jedem kleinsten be-
sonderen Augenblick für das ganze Dasein sich erneuende
Vorsehung, derart, daß Gott »Tag um Tag das Werk des
Anfangs erneuert«. Diese allmorgendliche Vorsehung ist so
das, was im Gedanken der Kreatur eigentlich angedeutet ist.
i$6
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
Wieder liefert der Islam die Probe aufs Exempel. Erführt
auch hier den vorweltlichen Begriff, hier den des
Seins, ohne innere Umkehr in den Begriffkreis der Offenbarung
hinein. Das Sein, wie es bei der Gestaltung der Welt mit-
wirkte, dieses zwar vielfältig verzweigte, aber wesenhafte
ruhige Sein des weltlichen Logos, behauptet er ohne weiteres
als das Sein der geschöpflichen Welt. Deren Sein ist sonach
nicht Dasein, nicht allgemeines und doch nur augenblickliches
und also als Ganzes täglich der Erneuerung bedürftiges;
sondern in wesenhafter Bejahung stellt die Welt ihr Sein aus
sich heraus und legt es als ihre Kreatürlichkeit vor Gottes
Füße. Und nun hat Allah die Wahl, wie er seine Vorsehung
walten lassen will; er kann sie entweder ein für alle Mal auf
das Ganze der Welt gerichtet haben und auf alles Einzelne
nur, weil es irgendwie in diesem Ganzen miteingeschlossen
und mitgesetzt ist. Das ist die Vorstellung vom Kismet, wie
wir sie gewöhnlich meinen. Aber die andere Möglichkeit ist
noch merkwürdiger, weil sie sich näher mit dem echten Vor-
sehungsbegriff, wie wir ihn eben entwickelten, berührt und
sich grade deshalb charakteristisch gegen ihn unterscheidet.
Allah kann nämlich auch das Einzelne unmittelbar fassen
wollen; es ist ja auch in diesem Allgemeinen mitgesetzt; denn,
wie wir uns entsinnen, ist das Allgemeine, wie es in die
gestaltete Welt einging, nicht Allgemeines schlechtweg,
sondern »Begriff«, Allgemeines des Besonderen, Inbegriff alles
Allgemeinen aller Besonderen. Aber das Besondere kann in
diesem Allgemeinen, das wesenhaft ist, im Gegensatz zu vor-
hin, wo es augenblickshaft war, nun ebenfalls nicht augen-
blickshaft, sondern nur wesenhaft sein. Ein wesenhaftes Be-
sonderes, also ein Besonderes, das gewissermaßen ein All-
gemeines im kleinen ist, ein Besonderes, das, obwohl Beson-
deres, dennoch, soweit es an ihm selbst liegt, »immer und
überall« ist. Was heißt das aber? Es heißt, daß es nur durch
schöpferisches Freisetzen, also nur durch »Bejahung« ent-
stehen kann, nicht durch die selbstverneinende Erneuerung. Es
wird hier Allah demnach zugemutet, jedes Einzelne in jedem
SCHÖPFUNG
EL
Augenblick zu erschaffen, genau als wenn es das Allgemeine
selber wäre. Die Vorsehung besteht hier also in unendlich
vielen zersplitterten Schöpfungsakten, die, unter sich zusam-
menhanglos, jeder das Schwergewicht einer ganzen Schöpfung
haben.
Das ist die Lehre der herrschenden orthodoxen Philosophie
im Islam gewesen. Auf das Einzelne stürzt hier in jedem
Augenblick der ganze Anprall der göttlichen Schöpfermacht. Es
wird nicht jeden Augenblick »erneuert«, sondern jeden Augen-
blick gleich mit Haut und Haaren »erschaffen«. Es kann sich
nicht retten vor dieser furchtbaren, in ihre Infinitesimale zer-
splitterten Vorsehung Allahs. Während der Gedanke der
Welts»Erneuerung« dem Einzelnen, gerade weil er es nur im
Ganzen mitfaßt, den Zusammenhang mit der einen Schöpfung
und dadurch mit der Einheit des Daseins wahrt und also die
Vorsehung auf die Schöpfung gründet, zerstört diese Auf-
fassung der Vorsehung als der ständigen schöpferischen Ein-
griffe jede Möglichkeit solchen Zusammenhangs; dort ist die
Vorsehung als ereignishafte Erneuerung der Schöpfungstat die
Erfüllung des in der Schöpfung wesentlich Angelegten; hier
ist sie, als trotz ihrer Augenblicklichkeit in jedem Fall wieder
wesenhafter Eingriff in die Schöpfung, eine fortwährende Kon-
kurrenz von Schöpferakten mit der Einheit der Schöpfung,
eigentlich eine von Gott dem Weltherrscher gegen Gott den
Schöpfer gerichtete — Magie, nicht ein von Gott dem Welt-
herrscher für Gott den Schöpfer getanes Zeichen. Trotz des
heftig und hochmütig vorangetragenen Gedankens der Einheit
Gottes gleitet der Islam so in ein, wenn der Ausdruck erlaubt
ist, monistisches Heidentum aus; Gott selbst konkurriert mit
Gott selbst in jedem Augenblick, als wäre es der bunte strei-
tende Götterhimmel des Polytheismus.
Um also zusammenzufassen: der Islam behauptet die »be-
sondere Vorsehung« in unmittelbarem Zusammenhang mit der
Kreatürlichkeit der Welt. Der wahre Glaube hingegen be-
hauptet im Zusammenhang mit der Kreatürlichkeit nur die all-
gemeine Vorsehung und verweist den Gedanken der »be-
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
sonderen« auf den Umweg über die Offenbarung, die ja
schließlich, indem sie zur Erlösung weiterführt, auch wieder
bei der Kreatur anlangt. Damit ist vor allem der Mensch und
Gottes Verhältnis zu ihm, das für den Islam scheinbar im Be-
griff der Schöpfung vollkommen aufgeschlossen wird, aus dem
Bereich der Schöpfung schon im Begriff der Schöpfung selber
herausgehoben. Auch hier wieder deutet der erste Schöpfungs-
begriff auf seine Erfüllung im Offenbarungswunder hin. Der
Mensch tritt wohl als Kreatur unter Kreaturen auf und wird
kreatürlich als besonderes Dasein von der auf alles Dasein
überhaupt gerichteten Vorsehung betroffen, aber dieses sein
kreatiirliches Verhältnis zu Gott ist doch ebenfalls nur »Weis-
sagung«. Der Mensch als Gottes Geschöpf ist das Vorzeichen
auf den Menschen als Gottes Kind. Erfüllung ist mehr als Vor-
bedeutung, Zeichen ist mehr als Vorzeichen, — Kind ist mehr ais
Geschöpf. Doch wir wollen nicht vorauseilen. Wir haben die
Pole der Schöpfertat, Gott und Welt, — in ihrer aktiven und
passiven Wirkung aufeinader betrachtet, Gott in der Weisheit
seiner Schöpfermacht die Welt ins Dasein rufend, die Welt
durch ihr Dasein sich in ihrer Kreatürlichkeit gegenüber der
göttlichen Vorsehung offenbarend; wenden wir uns nun zum
Ergebnis, zur Schöpfung selber.
Die mathematische Symbolsprache, in der wir zuvor das
Werden der Elemente darstellen konnten, versagt hier.
Schon die Umkehrungen lassen sich innerhalb der Gleichun-
gen nicht mehr exakt zur Anschauung bringen, weil der Sinn
der Umkehrungen erst beim Auseinanderstrahlen des in ihnen
zuvor Zusammengeflossenen deutlich wird. Bei diesem Aus-
einanderstrahlen müßte sich das Vorzeichen der einzelnen
Buchstaben regelmäßig ändern, was in der Zusammensetzung
dann zu Unmöglichkeiten führen würde; vor allem aber treten
aus den fertigen Elementargestalten nicht die ursprünglichen,
aus dem Nichts hervorgegangenen reinen Formen des Ja und
Nein hervor, die allein in den Symbolen dargestellt sind,
sondern die auf dem Wege des Nein zum Ja schon an einander
SCHÖPFUNG
222
umgewandelten, die schon ihren wechselseitigen Einfluß auf-
einander erfahren haben. Daß ein solcher Einfluß besteht, etwa
daß das Besondere schon nicht mehr das Besondere schlecht-
weg, sondern das Einzelne als Vertreter seiner Gattung ist,
läßt sich in algebraischen Symbolen ganz und gar nicht mehr
darstellen. Anders wäre es, wenn statt der algebraischen
geometrische Symbole benützt werden dürften; hier ließe sich
sowohl die Umkehrung mit ihrem Wechsel der Vorzeichen als
auch — durch entsprechende Bemessung der Abstände — das
wechselseitige Beeinflussüngsverhältnis der Raumpunkte, in
denen die verschiedenen Begriffe symbolisiert werden, dar-
stellen. Aber auf die Benutzung dieser Symbole in dem vor-
liegenden Hauptteil müssen wir verzichten; erst nachträglich
werden wir sie heranziehen. Das hängt mit dem Charakter
der Geometrie zusammen; sie beruht zwar auf den Voraus-
setzungen der Algebra und wird ihrerseits, indem sie sich als
Erfüllung des in der Algebra Vorbedeuteten ausweist, als ana-
lytische Geometrie zur Mathematik der anschaulichen Natur;
aber dieser sachlichen Reihenfolge läuft die Reihenfolge des
Erkennens hier nicht gleich, sondern die Geometrie setzt sub-
jektiv zu ihrem Verständnis nicht bloß den Gleichheits- und
Ungleichheitsbegriff der Algebra voraus, sondern, im Gegen-
satz zu der sachlich geltenden Reihenfolge, auch schon die
Kenntnis der natürlichen Gestalt; obwohl sie die Gegenständ-
lichkeit der Naturgestalten begründet, ist sie subjektiv doch
nur als Abstraktion aus ihnen möglich. So müßten wir hier
die endliche Gestalt des Symbols vorausdarstellen, wenn wir
sein Werden hier schon zur Veranschaulichung der einzelnen
Schritte benutzen wollten. Und das würde den Leser mehr
ablenken als sammeln. Diese Schwierigkeit scheint ja nun
auch der unmittelbaren Darstellung selber entgegenzustehen;
auch hier müßte also die »Bahn« sich subjektiv nur darstellen
lassen für solche, die nicht bloß wie der Leser dieses Buches
die Kenntnis der »Elemente«, sondern schon eine Anschauung
der »Gestalt« mitbringen. Aber tatsächlich dürfen wir das
Vorhandensein dieser Anschauung auch ruhig voraussetzen,
i6o ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
wie sich später bei der Darstellung der »Gestalt« erweisen
wird.
Doch nicht allein diese darstellerischen Gründe machen es
hier wünschenswert, nicht mit den mathematischen Symbolen
zu arbeiten. Es liegt auch ein tieferer Grund vor. Die Bedeu-
tung, die wir der Mathematik in der Darstellung der Elemente
und ihrer Geburt aus den dunkeln Gründen des Nichts gaben,
durften wir ihr geben, weil das Mathematische seinem Wesen
nach hier seinen Platz hat. Die Mathematik, diese stummen
Zeichen des Lebens, in denen dennoch für den Wissenden dies
ganze Leben vorgebildet ist, die Mathematik ist die Sprache,
die recht eigentlich die Sprache jener Welt vor der Welt ist.
Daher kommt es. daß innerhalb der Mathematik ihr wesen-
haftester, ihr man möchte sagen spezifischster, mathematisch-
ster Teil, nämlich der Teil, der unmittelbar mit den Grund-
begriffen aller Mathematik, dem Gleichen und Ungleichen,
wirtschaftet, die Algebra, hier seinen Platz hat. Es ist der
Platz, der der Mathematik überhaupt ihrem Wesen nach
gehört: so nimmt ihn innerhalb der Mathematik ihre wesen-
hafteste Disziplin ein. In diese Rolle der Sprache der stummen
Vor=Welt muß sie sich mit der Kunst als der Sprache des
Unaussprechlichen teilen, bei der ja ebenfalls dort die Grund-
begriffe, das Wesen zur Darstellung kommt. Aber die Kunst
ist hier die subjektive Sprache, das »Sprechen« gewissermaßen,
jener stummen Welt; die Mathematik, wie schon ihre notwen-
dige Schriftlichkeit bekundet, ist die objektive Sprache, der
»Sinn« jener Stille. Diese Aufgabe der Darstellung des
Sinnes, diese Rolle des Symbole liefernden Organons über-
nimmt also in der sich äußernden, sich offenbarenden Welt ein
anderer Träger. An Stelle einer Wissenschaft stummer
Zeichen muß eine Wissenschaft lebendiger Laute treten; an
Stelle einer mathematischen Wissenschaft die Lehre von den
Wortformen, die Grammatik.
Aus den stummen, bloß mitgedachten Urworten, die, sicht-
bar gemacht in den algebraischen Symbolen, als unhörbare
SCHÖPFUNG
161
Untertöne die Klangfarbe des dreistimmigen Basses unsrer
Weltsymphonie schufen, aus ihnen unmittelbar müssen hör-
bare Worte entspringen, Stammworte gewissermaßen, die, als
bestimmte Worte noch in enger Fühlung mit den Urworten
stehend, doch die ganze, das Reich der wirklichen Sprache
umfassende Gesetzlichkeit aus sich hervorzutreiben fähig sind.
Die Kategorien der Grammatik haben ja genau wie die Kate-
gorien der Logik die Eigentümlichkeit, daß sie sich einer
stammbaumartigen Darstellung entziehen; derartige Darstel-
lungen sind erst in Kraft jener Kategorien möglich; sie selber
setzen sich überall, wo man anfangen möchte, schon voll-
ständig voraus; der Begriff des Substantivs etwa setzt den
Begriff des Kasus, Numerus, sogar der Person, endlich des
Subjekts und Objekts schon voraus, die doch alle wieder erst
unter Zugrundelegung des Substantivbegriffs erklärbar werden.
Deshalb ist eine wirkliche Ordnung notwendig, die nicht
innere Ordnung ist, sondern der Grammatik und in gewissem
Sinn der Sprache überhaupt von außen, nämlich aus der Rolle
der Sprache gegenüber der Wirklichkeit, zugeführt wird, eine
Ordnung, in die sich die Vielheit der Wortformen in fort-
während wiederholten Übersichten durch Vermittlung von
Stammworten einreihen läßt. Statt der Stammbaumform
würde also hier die tabellarische für die Darstellung allein in
Frage kommen. Die Stammworte erzeugen Einteilungen, die
sich untereinander kreuzen und also dem Bilde des Stamm-
baums ungemäß werden und demnach jede für sich nur in
unmittelbarer Beziehung auf das Stammwort, wie sie allein die
Form der Tabelle herstellt, betrachtet werden wollen.
Von solchen Stammworten ist zu verlangen, daß sie in einer
Form auftreten, die nur eine eindeutige Verwendung im Satz
zuläßt; denn nicht die Worte sind die Sprache, sondern der
Satz; so müssen die Stammworte sich mit eindeutiger Not-
wendigkeit zu einem Satz zusammenschließen, der dann als
Stammsatz anzusprechen wäre. Das Wort »Hund« also etwa
wäre sicher kein Stammwort in unserem Sinn, weil es sowohl
den aktiv bellenden, wie den passiv geprügelten Hund, den
i6z
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
Hund sowohl als Subjekt wie als Objekt, meinen kann. Wir
suchen hier zunächst das Stammwort, das aus dem unhör-
baren UrGa in die hörbare Wirklichkeit der Sprache hinüber-
führt; aus dem UrGa zunächst, denn wir befinden uns hier im
Bereiche der Schöpfung, die als eine Bewegung von Gott nach
der Welt hin durch die Art der göttlichen Aktivität, nicht der
weltlichen Passivität, gekennzeichnet ist, also durch das Ja.
Die Bejahung stellt ein So frei ins Unendliche hin. Ein
solches freies So wird nicht veranschaulicht durch ein Sub-
stantiv, das selber ja erst der Bestimmung seines Wie bedarf
und ohne diese gestaltloses »Ding an sich« ist. Das So meint
die Beantwortung der Frage nach dem — Wie. Das Wie aber
fragt nach einem Adjektiv und zwar nach einem Adjektiv in
der grammatischen Form, wo es nur Adjektiv, nur Aussage
und sonst nichts sein kann; das Wort »hohes« kann sowohl in
der Verbindung »ein hohes Gebäude« wie »Hohes muß
erniedert werden« stehen; »hoch« kann nur adjektivisch ge-
braucht werden; das Prädikativum ist also die spezifische
Gestalt des Adjektivs, und, wie wir schon im ersten Teil bei-
läufig ausführten, die zum UrGa gehörige Wortform. Welches
bestimmte Wort wird nun in dieser Form des prädikativischen
Adjektivs die Lautbarmachung des Urworts als Stammwort
übernehmen? Welches Wort bedeutet in dieser Form eine
Bejahung schlechtweg? Von selber sind hier ausgeschlossen
alle Worte, die auf anschauliche Eigenschaften gehen. Denn
anschauliche Eigenschaften bejahen sich nur durch gleich-
zeitige unendliche Verneinung, also im Und von So und Nicht-
anders. Dies verhält sich anders bei den Eigenschaften, die
eine Bewertung ausdrücken. Während, um gelb zu bejahen,
nicht etwa bloß blau, sondern alle Farben des Regenbogens,
die ganze reiche Mannigfaltigkeit der wahrgenommenen, die
Unendlichkeit der jemals wahrnehmbaren Farben verneint
werden müssen, müßte bei einer bewertenden Eigenschaft,
etwa bei »schön«, höchstens der konträre Gegensatz verneint
werden, der doch selber wieder nur durch Verneinung, näm-
lich des Schönen, zu bestimmen wäre, — ein Kreislauf, den
SCHÖPFUNG
163
wir abschneiden durch die Einsicht, daß die Bewertung, natür-
lich nur die positive Bewertung (die negative ist wirklich nur
Negation der positiven, wie denn auch das Wort »Bewertung«
selber an*sich nur die positive meint), schlechthin geschieht;
die positive Bewertung ist weiter nichts als das lautgewordene
Urja. Wie übrigens der Gebrauch vieler Sprachen zeigt, für
»Ja« auch »Schön!«, »Gut!« und dergleichen zu sagen.
Gehen wir nun vom Stammwort zur Schematisierung der
Wortformen über. Vom Stammwort kommen wir sofort auf
die Wortart, der es angehört, das Adjektivum, das ja wesent-
lich und zunächst ein So setzt. Das »Eigenschafts«=Wort ist,
im Unterschied von Substantiv und Verb, recht der Ausdruck
für das freie Sosein. Es faßt das So schlechthin, ohne zunächst
Rücksicht zu nehmen auf einen Träger, auf Beziehungen, auf
Ursprünge. So wie das Auge des Künstlers das Blau des
Himmels, das Grün der Wiese trinkt, ohne zunächst nach
Himmel und Wiese viel zu fragen. Die Welt ist lauter Eigen-
schaft, sie ist es von Anfang.
Die Eigenschaft ist einfache Eigenschaft. Sie wird nicht
verglichen. Jede Eigenschaft ist, wie sie ist. Vergleichung,
Steigerung, Verabsolutierung — Komparativ also und Super-
lativ — wachsen nicht unmittelbar aus der einzeln bejahten
Eigenschaft hervor, sondern setzen voraus, daß die Eigen-
schaft Eigenschaft eines Dings geworden ist. Die Dinge sind
an sich viele; sie werden verglichen und mit ihnen dann die
Eigenschaften. Für sich ist die Eigenschaft einzeln, unver-
gleichbar, einfache Bejahung, — »Positiv«.
Aber das Ding tritt hinzu, der Träger der Eigenschaften.
Als solcher ist es der Wirklichkeit der Eigenschaften gegen-
über reine Abstraktion. Auf dem Wege von dieser Wirklich-
keit zu jener Abstraktion liegt der Hinweis, das Zeigen. Das
Fürwort ist so viel mehr Vor- als Fürwort; es bezeichnet
nicht das schon erkannte Ding, sondern das Ding, solange es
nicht erkannt und benannt, bloß in seinen Eigenschaften wahr-
genommen ist. Das »Dies« zeigt auf das Ding bloß hin und
drückt in diesem Zeigen aus, daß hier ein »Etwas« zu suchen.
n*
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
sei. Im »Hier«, das im »Dies« steckt, ist also der Raum gesetzt
als die allgemeine Bedingung, unter der das Ding, bisher nur
als ein Etwas bestimmt, zu suchen ist. Zu suchen, nicht schon
gefunden. Es ist noch fraglich, »was« es sei. Erst ‘der unbe-
stimmte Artikel gibt auf dies Was die Antwort, daß es sich um
»einen« Vertreter der und der Gattung handle, und erst der
bestimmte Artikel drückt unter diesen großen Prozeß den
Stempel und bezeichnet ihn als vollzogen, »das« Ding als
erkannt. Im bestimmten Artikel aber, oder wie sonst die
Determination zum Ausdruck kommt, ist, wie sie mit dem
Dingwort stets nächstnachbarlich verschmolzen wird, das
Ding unmittelbar ergriffen; es ist nun als dieses einzelne
erkannt.
Wirklich als dieses Einzelne? Es war ja nur als ein Ver-
treter einer Gattung erkannt und der Wirklichkeit der Eigen-
schaften gegenüber eine dunkle Abstraktion. Wie wenig es
an sich Individuum ist, wird klar, wenn wir nur einmal an den
Eigennamen denken. Es ist nicht Individuum. Um es, trotz
des auf seinem Herweg beobachteten, höchst verdächtigen
Vorsprechens bei der Gattung, dennoch zu werden, muß es
sich als Glied einer Mehrheit legitimieren. Erst die Vielheit
gibt allen ihren Gliedern das Recht, sich als Individuen, als
Einzelheiten zu fühlen; sind sie es nicht an sich, wie das im
Eigennamen bezeichnete singulare Individuum, so doch gegen-
über der Vielheit.
Das einzelne, durch den bestimmten Artikel festgelegte
Ding kann nun also endlich mit Ruhe als Gegenstand bezeich-
net werden. Es »steht« jetzt auf eigenen Füßen einem etwaigen
Schöpfer »gegen«=über da, ein bestimmtes, bejahtes Ding im
unendlichen Raum des Erkennens oder der Schöpfung. Daß
es als »Gegenstand« zur Ruhe kommt, wird auch daran deut-
lich, daß es als solcher, als »Objekt«, seine Stelle im Satz
bekommt. Es geht nichts von ihm aus, denn dazu müßte es
sich selbst verneinen, wäre also nicht ruhiges, frei in seiner
Bejahtheit dastehendes Ding. Nur als Objekt durchwandert
es die »Fälle«; im Nominativ eines passivischen Satzes ist es
SCHÖPFUNG
165
nur ein verkappter Akkusativ oder allerdings vielleicht rich-
tiger: eine noch in der Form des Objekts verhüllte Weis-
sagung des Subjekts. Im Genitiv, dem Fall des Habens,
münden sowohl vom Nominativ wie vom Akkusativ je ein
Strom ein, die nach ihrer Vereinigung dann im Dativ eigenen
Namen und eigene Richtung annehmen. Der Dativ aber, die
Form des Gehörens, Schenkens, Dankens, der Hingegebenheit
wie des Hinstrebens, liegt über den bloßen Gegenstand und
den bloßen Ausgangspunkt hinaus; da treten Objekt und Sub-
jekt zusammen.
Wir kehren, nachdem sich uns so die Welt, die anfangs
nur Eigenschaft, ein Chaos von Eigenschaften schien, mit
Dingen erfüllt hat und also zum Gegenstand geworden ist,
wieder zum Anfang, zur Eigenschaft zurück. Wir hatten bis-
her ihr Bejahtsein nur weiterentwickelt in Richtung ihres Wie.
Aber im Ja steckt nicht bloß das So, sondern auch schon das
Daß. In der »Stamm«=Bejahung »Gut!« etwa steckt nicht bloß
ein Wie, sondern auch ein Ob; »Gut!« bedeutet: »es ist gut«.
In der Eigenschaft Rot steckt der Satz: »Rot ist«. Die Kopula
»sein« steckt in jeder bejahten Eigenschaft; und sie erlaubt es
uns nun auch, die bisherige starre Gleichsetzung des Gegen-
standes mit dem Ding zu überwinden. Die Dinge sind ja in
Bewegung; auch die Bewegung und mit ihr also ihre über-
dingliche Voraussetzung, die Zeit, und die Umstände und
Formen, in denen die Bewegung geschieht, — diese alle sind
in der Kopula »sein« mit der ursprünglich allein bejahten Eigen-
schaft verbunden. Die Verbindung geschieht hier in der Form,
die zwischen Adjektivum und Verbum, also zwischen Ding und
Geschehen, mitteninne stellt und die in gewissen späten
Stadien der Sprachentwicklung, bei uns heute im ganzen Pas-
siv, gradezu das Verbum beiseite schiebt: das Partizip. Die
Tätigkeit wird hier als Eigenschaft gefaßt und nur durch die
Kopula, also nur durch die allgemeine Bezeichnung als seiend,
in ihrem Verhältnis zur Zeit, zu den bestimmten Dingen und
zur Wirklichkeit überhaupt festgelegt. Diese an der Kopula
vorgenommenen Festlegungen setzen allerdings doch schon
166
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
das vollentwickelte Verb voraus, weshalb sie eben auch nur
in späten Entwicklungsstadien als Vereinfachung auftreten.
Daß sie durchgängig möglich sind, veranschaulicht aber den
engen Zusammenhang, der auch das Verbum mit dem Stamm-
wort, dem Adjektiv, verbindet.
Für das Verb selbst geschieht die einfache Bejahung, noch
nicht seines Daß zwar, aber seines Was, in einer anderen
grammatikalischen Form, dem Infinitiv. In ihm liegt eine
wirklich ursprüngliche Möglichkeit, sich mit der Bewegung
abzufinden. Statt: »der Storch verschlang den Frosch« wird
in manchen Sprachen gesagt: »es war Verschlingen von seiten
des Storchs mit Bezug auf den Frosch«. Innerhalb des Ver-
bums zeigt sich also die Vorgangsform, wie wir sie etwa in
»es regnet« — »Zeus regnet« sagten die Griechen —, »es
träumte mir« neben der Tatform »ich träumte« haben, als die
Form, in der die Bewegung einfach in ihrer Tatsächlichkeit
hingestellt wird: festgelegt nur in ihrer spezifischen Voraus-
setzung, dem Zeitverhältnis, aber noch ohne Rücksicht auf ihre
besondere Einordnung zwischen die Dinge der Welt. Im
»Vorgang« ist sie noch selbst ein Sein, gewissermaßen ein
Ding unter den Dingen.
Diese Dinglichkeit ist ihr nun weiterhin auch innerhalb des
Verbums überhaupt zu sichern, indem die einzelne Bewegung
in die ruhige Parallelbeziehung zur Gesamtheit des Geschehens
gebracht wird, die ihr der Indikativ schafft, im Gegensatz zu
den hinsichtlich der Linien des übrigen Geschehens kon- oder
divergierenden Linien des Imperativs, Konjunktivs, Optativs.
Ferner wird die Bewegung, auch wenn sie aufhört bloßer
Vorgang neben den stehenden Gegenständen zu sein und als
Tat zu Bewegung zwischen den Dingen wird, von selbst die
Form der dritten Person annehmen. Die Dinge sind ja ver-
möge ihres Durchgangs durch das Pronomen, der ihnen Ding-
lichkeit gründet, alle von Haus aus in der dritten Person. Und
das Verbum drängt vermöge seines Durchgangs durch die
Vorgangsform, sowie auch durch seine Beziehung auf das
Partizip, das ja selber einen Teil des Weges vom Adjektiv zum
SCHÖPFUNG
167
Ding, nämlich das Stück bis zum, unbestimmten Artikel, schon
zurückgelegt hat, ebenfalls von sich aus schon zur dritten
Person; sie ist seine »objektivste«.
Wie aber das Substantiv als einzelnes, abgesehen von seiner
Stellung im Satz, die Höhe seiner Gegenständlichkeit an dem
Punkt erreicht, wo es trotz seines Verhältnisses zur Gattung
durch den bestimmten Artikel an einem einzelnen Raumpunkt
festgelegt ist — denn seine Pluralität ist nur eine Ergänzung
dazu —, so das Verbum durch die Festlegung seines Zeit-
verhältnisses. Hier genügt aber nicht die Festlegung seines
Verhältnisses zur Zeit überhaupt; diese Festlegung ist schon
durch die Auszeichnung des Indikativs erledigt; damit ist das
geschehen, was der Festlegung des Raumpunktes durch den
bestimmten Artikel für ein Glied einer Mehrheit entspricht.
Aber die Zeit verlangt wegen der qualitativen Verschiedenheit
ihrer »Dimensionen« untereinander, die der Raum nicht auf-
weist, noch eine weitere Festlegung. Unter den Zeiten muß
eine sich als spezifisch objektive darbieten. Objektiv, gegen-
ständlich, in dinghafter Ruhe, »ewig still« — »steht die Ver-
gangenheit«. Die Vergangenheitsform vollendet die Gegen-
ständlichkeit des Geschehens, wie die im Artikel bestimmte
Dinglichkeit die des Seins. Unter der Vergangenheit selbst
der Tatform schimmert trotz des völlig eigenen, spezifisch
verbalen Kleides, das es trägt, noch das adjektivische Stamm-
wort der Bejahung durch. »Gut!« kann man sich »zum
Meisterlohn« nur nach getaner Arbeit rufen.
So tritt am Schluß hier in helles Licht, wovon wir aus-
gingen : der Schöpfungsbegriff, die Idee des Seins von Anfang,
die in der Vorstellung des Geschaffenseins »im Anfang«
steckt. Die Welt ist vor allem, so lernen wir hier, da. Ein-
fach da. Dies Sein der Welt ist ihr Schon=da=sein — »was
machst du an der Welt? sie ist schon gemacht«. Was wir als
die Gestalt erkannten, in der die Welt sich als Kreatur offen-
bart, das erkennen wir nun, wo wir das Dasein als Da=sein,
Schon=da=sein, nicht mehr bloß als allgemeines, aber alles ein-
zelne in sich führendes Sein fassen, nun als das entscheidende
i68
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
Merkmal der Schöpfung überhaupt. Die Kreatur ist ja nur
der eine Pol im Gedanken der Schöpfung. Die Welt muß
Kreatürlichkeit haben, wie Gott Schöpfermacht, damit die
Schöpfung als der wirkliche Prozeß zwischen beiden sich
ergeben kann. Im neugefaßten Begriff des Daseins mündet
sowohl das Dasein der Welt wie die Macht Gottes zusammen:
beide sind »schon da«; die Welt ist auf Grund ihrer Kreatür-
lichkeit, ihres immer neuen Geschaffenwerdenkönnens, schon
gemacht; Gott hat sie auf Grund seiner ewigen Schöpfermacht
schon geschaffen, und nur deshalb ist sie »da« und wird all-
morgendlich neu.
Das ist der Grund, weshalb alle Begriffe, mit denen man
die Wirklichkeit allgemein umfaßt, die Form der Vergangen-
heit anzunehmen suchen. Gleich der Begriff des »Grundes«
und »Grund«-begriffes selbst, die »Ur«*sache, 'der »Ursprung«,
die »Voraussetzung«, das »apriori«, — jedesmal wird die Welt
in die Vergangenheit projiziert, um erkennbar zu werden. Der
Gedanke des Naturgesetzes selber ist ausdrücklich als Gesetz,
Gesetztes, Satzung gedacht; nicht auf die veränderliche
Gegenwart wird das Geschehen reduziert, sondern alles,
selbst das Gegenwärtige, der Augenblick der Bewegung, muß
auf die Form der Ruhe, also der Vergangenheit, gebracht
werden, wie es in der Differentialrechnung geschieht. Gar die
Zukunft gilt als absolut ungeeignet, »unfruchtbar« für die Er-
kenntnis des Wirklichen. In dem Wort Bacons, auf das wir
eben anspielten, der berühmten Diskreditierung der Zweck-
ursache, als welche »gleich einer Gott geweihten Jungfrau
nichts gebiert«, schimmert nun schon das Bild durch, unter
dem die geschaffene Welt wissenschaftlich begreifbar wird,
wenn der Gedanke der Schöpfung umgangen und dennoch das
in ihm aufgeworfene und durch die Beziehung der Schöpfung
auf einen übergreifenden Zusammenhang auch wirklich gelöste
Problem aufgenommen werden soll. Wir meinen das Titel-
bild des idealistischen Weltbilderbuchs, den Begriff der
Erzeugung.
Denn das metalogische Weltbild, in sich trotz seiner pla-
stischen Geschlossenheit unbefriedigt, verlangte nach einer
SCHÖPFUNG
169
Ergänzung. Was wir schon beim überall in der Welt an-
sässigen und also allzu weltheimischen Logos der metalo-
gischen Welt wohl wußten, daß er ein Eines, »Einfältiges« jen-
seits seiner selbst, ja jenseits der Welt brauche, damit er in
Wahrheit Logos zu sein beanspruchen dürfte, das hatten wir
auch noch für das aus jenem Logos entstammte Dasein der
Kreatur in voller Gültigkeit gefunden: auch das war in seiner
Allgemeinheit zwar ein Ganzes, Eines, aber keine Einheit
gewesen. Aber diesmal war uns das »Jenseits«, wo wir die
Einheit zu suchen hätten, kein bloßes »Irgendwo« gewesen,
sondern uns in klarer Richtung gewiesen; jener allzu »sinn-
lich« gewordene Weltsinn mußte in einem Übersinnlichen
seinen Grund und Ursprung haben; als »Dasein« erschloß er
sich dem Einwirken eines solchen übersinnlichen Grundes; der
Gedanke der Schöpfung führte ihn damit zusammen, indem
hier die Form der Verursachtheit auf das Dasein geprägt, das
Dasein zum Schon=da=sein wurde. Das eben, eine solche Ver-
zeitlichung, spezieller ein solches Ausgezeichnetsein mit dem
Charakter des Vergangenen, das war es, was dem Weltsinn
innerhalb der metalogischen Welt noch ganz gefehlt hatte und
weshalb dort für seine, des Weltlogos, Einheit nur ein »Irgend-
wo« behauptet werden konnte, ein Irgendwo, auf dessen Ort
jene ganz geschlossene Welt selbst nirgends erkennbar und
eindeutig hinwies.
Das Dasein der Kreatur wies dann die Richtung, das Da=
sein der Schöpfung ist an dem gesuchten Punkt angelangt. Er
sichert in der Gegenständlichkeit zugleich die Wahrheit der
Welt und erhält das elementare, das metalogische Weltbild
in Geltung. Die Welt ist kein Schatten, kein Traum, kein
Gemälde; ihr Sein ist Dasein, wirkliches Dasein — geschaf-
fene Schöpfung. Die Welt ist ganz gegenständlich, alles Tun
in ihr, alles »Machen«, ist, da es in ihr ist. Geschehen; der
Vorgang ist mindestens der Grund der Wirklichkeit, in dem
auch das Tun gegründet ist. So ist selbst das Geschehen in
ihr dinglich, fügt sich dem Grundbegriff, unter dem sich die
Gegenständlichkeit der Welt überhaupt verwirklicht, eben der
170
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
Dinglichkeit. Die Welt besteht aus Dingen, sie ist trotz der
Einheit ihrer Gegenständlichkeit kein einiger Gegenstand,
sondern eine Vielheit von Gegenständen, eben die Dinge. Das
Ding besitzt keine Standfestigkeit, solange es alleinsteht.
Seiner Einzelheit, seiner Individualität ist es nur gewiß in der
Vielheit der Dinge. Es kann gezeigt werden nur im Zusam-
menhang mit andern Dingen; seine Bestimmtheit ist raumzeit-
liche Beziehung auf andere Dinge in einem solchen Zusammen-
hang. Das Ding hat auch als bestimmtes kein eigenes Wesen,
es ist nicht in sich, es ist nur in seinen Beziehungen. Sein
Wesen, das es hat, ist nicht in ihm, sondern ist die Beziehung,
die es auf seine Gattung hat; hinter, nicht in seiner Bestimmt-
heit steckt seine Wesentlichkeit, seine Allgemeinheit. Ehe es
aber »ein Vertreter«, gewissermaßen ein Abgeordneter, seiner
Gattung ist, muß es irgend ein Ding, ja »irgend etwas«, sein,
ein überhaupt Zeigbares. Dies ist seine allgemeine Bedingung,
daß es überhaupt räumlich, mindestens raumbezogen ist. Der
Einheit der Gegenständlichkeit, jener Einheit, welche von der
Welt gesucht wird, entspricht kein einer Gegenstand außer
diesem einen, der kein Gegenstand ist, dem Raum.
Aber die Welt ist nicht ursprünglich Raum, der Raum ist
nicht der Erstling der Schöpfung. Ehe der Raum als die Be-
dingung aller im Hier gegebenen Bestimmtheit da ist, muß die
Bedingung des Hier selbst da sein; dem Hier geht voran das
Dies; erst aus Dies und Hier entsteht als »dieses hier« die
Bestimmung. Das hinzeigende Dies geht also als Bedingung
des Hier noch dem Raum voraus; die Welt ist ganz ursprüng-
lich die Fülle des Dies, die in ihrer ständig übersprudelnden
Neuheit nur durch das reine ungeformte Eigenschaftswort wie
»blau« oder »kalt« ausgesprochen ist. Diese Fülle, dieses
Chaos, ist der Erstling der Schöpfung, die allzeitliche Erneue-
rung ihres Daseins, nachdem erst einmal — dies Dasein selber
ins Dasein gerufen, die Welt geschaffen ist. Das Dasein in
seiner Allgemeinheit und allerfassenden Formhaftigkeit bleibt
der unmittelbar geschaffene Grund, der »Anfang«, aus dem die
immerneuen Geburten der Fülle hervorschießen. Die Welt
SCHÖPFUNG
171
kann Fülle sein, weil sie da ist; das Dasein ist sie selbst, die
Fülle ist ihre Erscheinung, die erste aller Aussagen über das
Dasein. Das Stammwort liegt noch vor der Fülle der Eigen-
schaftsworte; das Chaos ist in, nicht vor der Schöpfung; der
Anfang ist — im Anfang1.
Dieses metalogische Weltbild, das durch den Gedanken der
Schöpfung seine letzten Unklarheiten verliert, ist nun freilich
deswegen kein »Beweis« für diesen Gedanken. Die Schöpfung
macht die Welt restlos durchsichtig, ohne sie zu entwirklichen;
als »Traum« nämlich etwa wäre die Welt zwar auch restlos
durchsichtig, aber um den Preis ihrer Wirklichkeit, des in ihr
selbst Einheimischseins ihres Sinns, der ja nur im Träumer
läge. Aber die Schöpfung selbst wird nicht durch die Welt
bewiesen. Schon allein, weil Gott mehr ist als bloß Schöpfer.
Wollte man aus dem Weltbild, wie wir es geben, und der darin
angelegten Forderung nach dem Schöpfer auf das Schöpfertum
Gottes schließen, — man würde solchem Schluß mit Recht die
Frage in den Weg werfen, wer denn Gott sei. Der Schöpfer
selbst muß be=wiesen, nämlich in seiner Gänze ge-wiesen
werden, um diese Frage zu beantworten. Der Schöpfer ist
auch der Offenbarer. Die Schöpfung ist die Weissagung, die
erst durch das Wunderzeichen der Offenbarung bestätigt wird.
Es ist nicht möglich, die Schöpfung deswegen zu glauben, weil
sie eine zureichende Erklärung des Welträtsels bietet. Wer
von der Stimme der Offenbarung noch nicht erreicht ist, hat
kein Recht, den Gedanken der Schöpfung, als wäre er eine
wissenschaftliche Hypothese, anzunehmen. So ist es nur
recht, daß, nachdem durch den offenbarten Gedanken der
Schöpfung einmal das Fragwürdige des metalogischen Bildes
der ungeschaffenen Welt zur Diskussion gestellt war, nun das
Denken, das den Gedanken der Schöpfung sich nicht aneignen
durfte, sich einen Ersatz dafür suchte. Wir sagten schon, daß
die Emanationslehre des Spätaltertums als ein Versuch in
dieser Richtung zu verstehen sei; zur Vollendung aber kam,
wie wir ja auch schon ausführten, dies Streben erst in der
idealistischen Philosophie.
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
£2
Ihr Grundbegriff, mit dem sie den Gedanken der Schöpfung
sowohl zu umgehen wie zu ersetzen sucht, ist der Begriff der
Erzeugung. Die Erzeugung soll das Gleiche leisten wie die
Schöpfung; sie soll der plastisch gegenständlichen Welt, wie
sie das Altertum sah. das geben, was ihr fehlt, den festen
Punkt, von wo aus ihre Vielheit sich zur Einheit zusammen-
schließt und ordnet. Erst dadurch konnte die Welt nach innen
aus der Ungewißheit des Vielleicht herausgehoben werden,
nach außen die Standfestigkeit des für wirklich Beglaubigten
gewinnen. Sie soll dabei ihren elementaren Charakter, eben
ihre »Bildhaftigkeit«, ihre plastische Geschlossenheit, be-
wahren. Der Gedanke der Schöpfung erfüllt diese Bedingung,
weil er den festen Punkt außer ihren Grenzen findet und den
Schöpfer nicht mit der Welt zusammenfließen läßt, überhaupt
keinen Zusammenhang zwischen ihm und der Welt setzt außer
dem, daß der Schöpfer geschaffen hat, die Welt sich als Kre-
atur dem Geschaffenwerden entgegendrängt. Es ist die Frage,
wie wohl der Erzeugungsbegriff dieser Aufgabe gerecht wird.
Auch der Erzeugungsgedanke sucht den festen Punkt, den
Erzeuger, außerhalb der zu erzeugenden Welt. Aber er meint,
zwischen dem Einheitspunkt und dem zu Vereinheitlichenden
einen rational faßbaren Zusammenhang erstellen zu müssen
und — zu können. Es soll gewissermaßen so etwas vorliegen
wie Grund und Folge. Es soll zwischen beiden nicht Gleich-
heit, aber Vergleichbarkeit obwalten, — Proportionalität.
Zwischen einem Apfel und einer Birne waltet weder Gleich-
heit noch Proportionalität, zwischen einem Apfel und drei
Äpfeln besteht zwar ebenfalls keine Gleichung, aber eine Pro-
portion. Erzeuger und Erzeugtes rnüssen in einer Beziehung
gleich sein. Eben deshalb empfiehlt sich ja das Bild der Er-
zeugung. Der Schöpfer kann zu den Geschöpfen sagen: »wem
dürft ihr mich vergleichen, daß ich gliche?« Erzeuger und
Erzeugtes sind zwar nicht die gleiche Person, aber gleicher
Art, — vergleichbar. Wo aber ist nun ein solcher »Punkt«
außerhalb der Welt, der ihr gegenüber die Rolle des Erzeugers
übernehmen könnte? Das Nächstliegende war natürlich der
SCHÖPFUNG
121
Rekurs auf Gott. Zwischen Gott und Welt schien ebensogut
das Verhältnis der Erzeugung walten zu können wie das der
Schöpfung. Und Gott schien gemäß seinem Begriff der Un-
bedingtheit wohl geeignet, Ursprung und Bedingung des Da-
seins der Welt darzustellen. Denn als unbedingte Bedingung,
als ursprungloser Ursprung, als reines nur sich selbst
gleiches A — um die mathematischen Symbole hier wieder
aufzunehmen, deren Wiederauftauchen bald erklärt werden
soll —, als A = A also, mußte der Erzeuger so gut gefaßt wer-
den wie der Schöpfer.
Sollte er also Erzeuger sein, so mußte sich das zunächst
in einer Veränderung des mathematischen Weltsymbols aus-
wirken; die Welt, um mit ihrem Ursprung rational vergleich-
bar zu sein, durfte nicht als B=A, sondern als A=B gefaßt
werden, — eine Umkehrung, die dem Schöpfungsgedanken
fremd war, der vielmehr die Welt in ihrer elementaren
Gestalt aufnahm und nur in dem Heraustreten ihres In-
halts aus der Ruhe der Fertigkeit in die Bewegung
des Geschehens eine Umkehrung, nicht des Ganzen,
sondern der Stücke, eintreten ließ. Hier hingegen muß
das Ganze, die Welt selber, umgekehrt gefaßt werden;
denn nur auf eine Welt, die A »ist« und als B nur bestimmt
wird, ist jene rational begreifliche Einwirkung eines Gottes,
der A »ist«, möglich; eine »Proportion« kann nur zwischen A
(*A) und A (=B), also zwischen zwei verschiedenen A, be-
stehen, nicht zwischen A (=A) und B (=A), zwischen einem A
und einem B. Nur eine Welt, die A (=B) ist, kann aus dem
Gott, der A (=A) ist, hervorgeströmt, »emaniert« sein. Und
Emanation, Herniederströmen der Welt aus Gott und, in der
Welt, immer wieder neuer Ströme aus dem jeweils zuletzt
Hervorgeströmten, das ist die Vorstellung, die weltgeschicht-
lich zuerst mit dem Schöpfungsgedanken der Offenbarung zu
konkurrieren versuchte. Jedem Neuhervorströmenden ist das,
aus dem es herniederströmt, wieder ein Gleichnis des gött-
lichen Ursprungs des Ganzen, und es selber sich ein Gleichnis
des ursprünglichen Herniederströmens der Welt; jedem ist
iZ±
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
sein Ursprung wieder »A (-A)«, und es selber sich »A (=B)«;
jedem gilt zwar sein Dasein überhaupt genau wie der geschaf-
fenen Welt für sein zuerst und eigentlich Entstandenes; aber
die Fülle seines Besonderen ist die Aussage, die Allgemein-
heit, in die als Voraussetzung — denn die Aussage muß immer
»vor« dem Aussagegegenstand gedacht sein — jenes Dasein
hineingeschaffen ist: der Weg der Emanation ist ein »Weg
hinunter«, ein — um das gewöhnliche Gleichnis heranzuziehen
— Ausstrahlen eines Lichts ins Dunkel, das also überall vom
ersten Ursprung des Hervorströmens an schon vorausgesetzt
wird und also im voraus gesetzt ist. Die Emanationslehre
kann den Gedanken des Urchaos, der Urnacht, die älter ist als
das Licht, der »Finsternis, die anfangs alles war«, nicht ent-
behren.
Überdies aber befriedigt der Emanationsgedanke auch sonst
nicht das Bedürfnis der Vernunft, die ihn hervorgerufen hat.
Er hatte in zu unmittelbarer Gegenwirkung auf den ihm mit
Recht unverdaulichen Schöpfungsgedanken den Schöpfergott
durch den Erzeugergott ersetzt, ohne sich zu fragen, ob denn
die reine Vernunft, in deren Dienst er stand, mit dieser Be-
setzung der Stelle des Erzeugers einverstanden sein durfte.
War denn Gott nicht selber Gegenstand des Erkennens? Wie
durfte man ihn dann vernünftigerweise als Ursprung an-
nehmen und ihn so dem Erkennen entziehen? Nein, auch Gott
mußte erkannt und also aus dem Ursprung zu einem Inhalt
des Inbegriffs alles Erkannten werden. An Stelle Gottes
mußte ein anderer Ursprung der Welt, einschließlich also etwa
auch Gottes, treten. Da aber die Welt selber, wie seit dem
Aufkommen des Schöpfungsbegriffs der Offenbarung nicht
mehr übersehen werden kann, nicht ihr eigener Ursprung ist,
sondern gerade um ihrer Insichgeschlossenheit willen nach
einem Ursprung außer sich verlangt, so kommt für die Stelle
dieses Ursprungs in Frage nur noch — das Selbst. Aber frei-
lich nicht das Selbst, wie wir es als objektive, wenn auch
blinde »Tatsächlichkeit«, »B=B«, kennen gelernt haben, sondern
ein Selbst, das zwar ebenso nur in sich versenkt, aber rein
SCHÖPFUNG
*75
subjektiv ist und als solches reines Subjekt die Rolle des Ur-
sprungs der Erkenntnis allem Objektiven gegenüber auf sich
nehmen kann, das »Ich« des Idealismus.
Das »Ich«, das »Subjekt«, die »transzendentale Apper-
zeption«, der »Geist«, die »Idee« — alles dies sind Namen, die
das Selbst, dies einzige außer Welt und Gott noch vorhandene
Element, annimmt, nachdem es sich entschlossen hat, die
Stelle des erzeugenden »A=A« zu übernehmen. Auch es kann
seine Aufgabe nur lösen, wenn sich ihm die Welt in die Form
der Vergleichbarkeit fügt, auch es also fordert von der Welt
die Umkehrung aus EPA in A=B. Diese Welt kann es nun
»erzeugen«. Es erzeugt sie aus sich selbst: die Welt ist seines
gleichen, Subjekt wie es selbst — »A«; aber es erzeugt sie als
NichPIch; die Subjektivität der Dinge erfüllt sich an der Be-
sonderheit B zur Objektivität. Als Begriffe tragen die Dinge
die Züge ihres Erzeugers, des Ich; aber als Dinge sind sie
etwas für sich, aus dem erzeugenden Ich herausgetreten, —
Dinge. Jedes Ding steht zu seinem Öegriff in dem gleichen
Verhältnis wie die Dingwelt überhaupt zum »Ich«: er ist der
Erzeuger seines Dings. Auch die Begriffe selbst sind, insofern
sie noch »Inhalt« haben, selber wieder Dinge, und als solche
haben sie wieder ihren Begriff und so immer fort. Ein ein-
ziger Strom der Erzeugung geht also vom Ich durch die ganze
Welt der Dinge; sie ordnen sich alle in eine Reihe, einen
»Weg abwärts« vom reinen Ich bis zum reinen NichMch, vom
Ich=an=sich zum Ding=anssich. Denn dies ist die Folge der
geschehenen Umkehrung der Welt auch im Idealismus, genau
wie in der Emanationslehre; die Begrifflichkeit der Welt ist
zwar ihr erstentstandenes allgemeines Dasein, aber dies all-
gemeine Dasein erfüllt sich an dem Besonderen zur Dinghaf-
tigkeit. Die Fülle des Besonderen ist ja wiederum das Un-
erzeugte, der Schoß, in den das Dasein hineimgezeugt wird.
Das Chaos ist auch für den Idealismus Voraussetzung
der Erzeugung, wie denn die Voraussetzung eines sol-
chen passiven »Gegebenen« hier, im Gegensatz zum »Her-
vorströmen« der Emanationslehre, durch das Bild der »Erzeu-
176
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
gung« schon nahegelegt wird. Keines der großen idealisti-
schen Systeme hat diesen Begriff vermeiden können. Als
»Ding an sich«, »Mannigfaltiges der Sinnlichkeit«, »Gegebenes«,
als »Widerstand«, als »schlechte Unendlichkeit«, immer wieder
taucht das Chaos vor der Schöpfung auf, ohne welches das
absolute Subjekt keinen Grund hätte, aus sich und seiner Ab-
solutheit »herauszugehen«.
Hier wird nun nebenher deutlich, was es mit dem Begriff
der -»Schöpfung aus nichts«, den wir zuvor nicht recht ge-
brauchen konnten, auf sich hat. Er enthält die Leugnung des
Chaos. Wir sehen, wie die Behauptung des Chaos bei jeder
»vernunftgemäßen« Theorie des Ursprungs der Welt, sowohl
bei der Erzeugung wie bei der Emanation, nicht zu umgehen
ist, weil diese Theorien einen Weltbegriff nach dem Symbol
A=B fordern, einen Weltbegriff also, wo das Besondere als
Aussage, das Allgemeine als Aussagegegenstand gesetzt ist.
Der Aussagesatz wird immer nur verständlich, wenn die Aus-
sage »schon länger« bekannt ist als ihr Gegenstand; so wird
das Besondere hier zur Voraussetzung der Erzeugung des
allgemeinen Daseins. Würden wir nun diesen Weltbegriff dem
unsern entgegenstellen, wo das Besondere B der Aussage-
gegenstand und das Allgemeine A, das ja auch im Schöpfer ist,
die Aussage bedeutet, so wäre ohne weiteres klar, wie die
chaotische Fülle des Besonderen in der Schöpfung das Erst-
geschaffene ist und das Allgemeine die vom Schöpfer hinge-
stellten, »gegebenen« Gefäße, auf die das in der Schöpfung frei
hervorsprudelnde Besondere abgefüllt wird. Bei einer echten
Entgegensetzung der Weltbegriffe würde also der Begriff der
»Schöpfung aus nichts« vollkommen am Platze sein.
Aber wir nehmen eine solche Entgegensetzung nicht vor.
Wir entwickeln die Schöpfung nicht als den wissenschaftlichen
Weltbegriff; wie könnten wir ein Geschehen, das uns bloß
zwei »Elemente« der Welt in Beziehung setzt und das dritte
gar nicht berührt, schon als solches gelten lassen? Täten wir
es, dann freilich wäre die Gegenüberstellung notwendig. Aber
SCHÖPFUNG
Ul
dann hätten wir nicht die Anwendbarkeit der algebraischen
Symbole auf die Schöpfung bestreiten und uns zu den gram-
matischen wenden dürfen. Uns steht der Schöpfungsbegriff
in einem größeren wissenschaftlichen Zusammenhang; so be-
trifft er nur zwei Elemente der Welt und selbst diese zwei
nicht als Ganze, sondern ein jedes nur in dem einen seiner
Stücke; so mußten wir, indem wir die mathematische Sym-
bolsprache bei jenen vor=weltlichen »fertigen« Elementen
stehen ließen, nur im Aussichheraustreten der Elemente und in
ihrem Auseinandertreten in ihre einzelnen Stücke den Begriff
der Schöpfung aufbauen. Weniger formalistisch gesprochen:
wir entwickeln den Schöpfungsgedanken im Lichte der Offen-
barung; die Elemente des Alls vor der Offenbarung dürfen
also nicht so, wie sie sind, zur Schöpfung zusammentreten,
sondern müssen sich aus ihrer Verschlossenheit auftun, sich
einander zuwenden; in diesem Sicheinanderzuwenden aber
wird wirksam, daß in einem einzelnen Begriff, wie es der Be-
griff der Schöpfung für sich ist, gar nicht der ganze Inhalt der
Elemente zusammentreten kann; die beiden Elemente behalten
in ihrem Aufspringen noch Inhalte zurück, die erst nach ande-
ren Richtungen in Wirksamkeit treten können, so Gott sein
Sichoffenbaren, so die Welt ihr Erlöstwerden.
Während also der Idealismus in dem Gefühl, hier, »an Ort
und Stelle« gewissermaßen, das Welträtsel lösen zu müssen,
weil er außerhalb der Welt und des Wissens nichts gelten
lassen darf, die Elemente Welt und Wissen, Subjekt und Ob-
jekt, um jeden Preis in vernunftgemäße Beziehung setzen muß,
und deshalb an den mathematischen Symbolen festzuhalten
genötigt ist, sind wir von diesen Symbolen hier frei. Wir
können den Schöpfungsbegriff ruhig als einen Anfang des
Wissens gelten lassen, ohne schon in ihm alles zum Abschluß
zu bringen. Wir stellen ihn in den größeren Zusammenhang
der Offenbarung. So braucht er sich nicht in die Rationalität
mathematischer Symbole fassen zu lassen; er ist darüber hin-
aus; die Symbolik, die seinen Inhalt verdeutlicht, lieferte uns
der Aufbau der lebendigen Sprache, die Grammatik. Und weil
12
ul
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
also die Wissenschaft, wie wir sie auffassen, mehr zum Inhalt
hat als bloß den Begriff der Schöpfung, so ist die Schöpfung
nicht neben den Begriff der Erzeugung zu stellen, obwohl doch
dieser, wie vorher schon der des Hervorströmens, von seinen
Urhebern neben den Begriff der Schöpfung gestellt ist. Nur
wenn wir »Religionsphilosophie«, also Darstellung der Reli-
gion im Rahmen und nach den Maßstäben der Philosophie,
trieben, nur dann müßten wir die Schöpfung so aus ihrem
heimischen Boden, dem Lande der Offenbarung, herausnehmen
und sie parallel diesen philosophischen Gedanken konstruieren,
und dann allerdings müßten wir dem philosophischen Begriff
des Chaos den der Schöpfung aus Nichts entgegenstellen. Wie
denn dieser Begriff auch historisch in der Religionsphilosophie
entstanden ist, nicht in der Wissenschaft, die wir hier treiben,
nicht in der Theologie.
Doch kehren wir hier zur Verfolgung des Ganges, den der
Idealismus nimmt, zurück. Nicht die Theologie glaubt ja, in
der Darstellung des »Ursprungs« das All des Wissens ent-
wickeln zu können; ihr gilt die Schöpfung nur als Anfang und
Verheißung, nicht als Mitte, nicht als Ende. Die Philosophie
aber weiß sich hier in ihrem Bereich und wird nicht aufhören,
ehedenn sie hier »alles« erfaßt zu haben sich einbilden darf.
Wir hatten den idealistischen Grundbegriff der Erzeugung ver-
folgt auf seinem Wege hinab vom Ich an sich zum Ding an
sich. Die ganze Welt der Dinge als der Gegenstände des Er-
kennens ist zwischen diesen Polen ausgespannt. Der Begriff
der Erzeugung durchwirkt sie an jedem Punkt. Wie sie sich
dadurch von der metalogischen Welt an jedem Punkt unter-
scheidet, ist schon im vorigen Teil ausgeführt. Hier wäre bloß
hinzuzusetzen, daß der Idealismus deshalb im Gegensatz zu
uns, die wir den metalogischen Charakter der Welt durch die
Schöpfung konservieren, eine eigene, der Grammatik gegen-
über selbständige Logik zu entwickeln versucht. Zwar
scheint im einzelnen das Weltbild, das wir im Symbol der
Grammatik gaben, mit dem idealistischen Weltbild sich zu
SCHÖPFUNG
*7 9
decken. Die ganze Rückführung der Ungegenständlichkeit (um
nicht zu sagen Subjektivität) des Tuns über das Geschehen,
das Ding, letzthin auf die Eigenschaft als auf das rein Gegen-
ständliche selbst, scheint ja ohne weiteres auch für die Dar-
stellung des idealistischen Weltbildes zu gelten; auch dieses
steht grammatisch unter den Kategorien des Präteritums, der
dritten Person, der Intransitivität, der beiden Artikel, des be-
stimmten und unbestimmten, der Pronomina, vom indefiniten
über das interrogative zum demonstrativen, endlich des Ad-
jektivs. Dieser Schein ist nichts weiter als natürlich. Beide,
sowohl das durch die Schöpfung begründete metalogische wie
das in der Erzeugung begründete idealistische Weltbild, wollen
die Gegenständlichkeit der Welt sichern, und eben die Gegen-
ständlichkeit ist es, die in dieser Auswahl aus den grammati-
schen Kategorien beschrieben wird. Die Ursache, weshalb
gleichwohl der Idealismus sich über die Sprache mit einer
eigenen sprachfeindlichen Logik zu erheben sucht, muß also in
der Begründung, nicht im Begründeten liegen; sichtbar wird
sie also werden bei dem ursprünglichen Hervorgehen des
ersten Begründeten aus dem Begründenden.
Wirklich zeigt sich hier ein grammatischer Zusammenhang,
den der Idealismus nicht annehmen kann. Wir begründeten
das letzte Begründete, das Symbol des ersten Geschaffenen,
das Eigenschaftswort, auf ein StamnnEigenschaftswort, das
bejahende »(es ist) gut«. An Stelle dieser freien, gewisser-
maßen kampf- und krampflos herausgestellten Bejahung, die
doch zugleich, selber schon ein Eigenschaftswort, die erste
grammatische Kategorie repräsentiert, an Stelle dieses adjek-
tivischen Ja setzt der Idealismus ein pronominales »Stamm-
wort«, das aber hier nicht wahrhaft Stammwort ist, weil es
mit dem doch auch vom Idealismus als die Grundform der
Gegenständlichkeit anerkannten Eigenschaftswort nicht gram-
matisch zusammengehört. Der Zusammenhang des Ich und
der Eigenschaften ist vielmehr »rein logisch«; darin erweisen
sie sich beide als Voraussetzungen; beide sind »vor« der Er-
zeugung da, sowohl das Ich wie das Chaos des Gegebenem
12*
i8o
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
Durch dieses Versagen aber der Sprache gerade im ersten
Augenblick ist ihr das harmlose Selbstvertrauen gelähmt, mit
dem sie in der Schöpfung sich als das nie versagende Werk-
zeug des Geistes wußte; die idealistische Welt ist nicht durch
das Wort geschaffen, sondern durch das Denken. Nur im
»reinen Denken«, nämlich nur in einem dem Naturboden der
Sprache entfremdeten, dialektisch Gegensätze erdenkenden
Denken ist der Übergang vom Ich zur Eigenschaft, wie ihn der
Idealismus zugrunde legt, zu erfassen. Und da dieser erste
Übergang entscheidend ist für alle späteren Übergänge, so
bleibt das Mißtrauen gegen die Sprache und ihre scheinbare
»Übereinstimmung« mit dem Denken dauernde Erbschaft des
Idealismus und treibt ihn immer weiter auf der schiefen Ebene
seiner »reinen«, sprachfremden, hintermenschlichen Logik.
Das Ding an sich ist der andere Pol der idealistischen
Welt, dessen Vorhandensein schon der Begriff der Erzeugung
eigentlich fordert. Man könnte ihn mit B=B bezeichnen, so daß
A=B eingeschlossen wäre zwischen ein zeugendes A=A und
ein gebärendes B=B. Aber der Idealismus liebt diesen Hinweis
auf ein ihm zugrunde liegendes dunkles Chaos des Besonderen
nicht und sucht schnell davon wegzukommen. Die Gelegen-
heit dazu gibt ihm ein Umstand, den wir schon in dem B=B an-
gedeutet finden dürfen, das uns ja bekannt ist als Symbol des
Selbst. Auch der Idealismus hat an diesem Punkte für eine
kurze Weile die Unvergleichbarkeit und absolute Verschlossen-
heit des Selbst bemerkt. Daß der unauflösbare Bodensatz der
Welt und das Geheimnis des Charakters eine »gemeinsame
dunkle Wurzel« haben, ist eine von Kant klar ausgesprochene
Ahnung, deren eigentliche Bedeutung er freilich, als Idealist,
nicht ahnen konnte. Die Gemeinsamkeit ist bezeichnet in dem
Symbol B=B. Indem sich der Idealismus jetzt zu dem »Weg
aufwärts« anschickt, mit dem er erst die kreisförmige Ge-
schlossenheit erlangt, die ihm als das letzte Ziel für seine
schlechthinnige Vernunftgemäßheit vorschweben muß (denn die
Vernunft fühlt sich sicher erst in der Rückkehr in sich selbst),
verläßt er möglichst schnell dieses Bereich der Ahnungen und
SCHÖPFUNG
181
sucht den Weg zunächst wieder zur wirklichen, aus Beson-
derem und Allgemeinem gemischten Welt.
Von »B=B« geht also dieser Rückweg zunächst zu »B=A«;
denn dies, nicht »A=B«, ist die von B=B aus rational erreich-
bare Weltformel. Da »B=B« das Selbst bedeutet, so bedeutet
B*A, daß das Besondere sich näher bestimmt durch ein über-
greifendes Allgemeines, und in diesem Fall: daß das Selbst
sich einem Allgemeinen hingibt. Im Begriff der Hingabe haben
wir das Gegenstück zum Begriff der Erzeugung. Diese be-
herrscht den Weg vom Allgemeinen zum Besonderen, den
Weg hinab, jene den Weg vom Besonderen zum Allgemeinen,
den Weg hinauf. Beide zusammen, Erzeugung und Hingabe,
schließen die idealistische Welt zum Ganzen. Der Weg hinauf
beginnt mit jener ursprünglichen Hingabe der »Maxime« des
eigenen Willens — und was anders ist B=B! — an das Prin-
zip einer allgemeinen Gesetzgebung — und was anders ist B=A!
Das geht nun immer weiter, indem immerfort das letzterreichte
»Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung« wieder in die
»Maxime des eigenen Willens« aufgenommen wird und so
wieder an ihm sich die Kraft der idealistischen Hingabe er-
proben muß, indem auch es wieder zu einem Prinzip einer all-
gemeinen Gesetzgebung wird. Auf diesem Wege der Hingabe
an immer höhere Gemeinschaften, immer umfassendere Allge-
meinheiten des Lebens erweist sich das Allgemeine, ebenso
wie in der Erzeugung das Besondere, als die Voraussetzung,
das was schon im voraus gesetzt ist. Und zwar in beiden
Fällen gegen die ursprüngliche Tendenz; die ist bei der Er-
zeugung wie bei der Hingabe auf »Reinheit« gerichtet; die Er-
zeugung will an keinen fremden Stoff, die Hingabe an kein
fremdes Gesetz gebunden sein; Erzeugung wie Hingabe wollen
sich selbst das Gesetz geben; hier wie dort soll »die Freiheit
gerettet« werden.
Und hier wie dort wird sie nicht gerettet, sondern das eine
Mal, in der Erzeugung, verströmt sie in den dunkeln Schoß des
untersten Stoffs, das andre Mal, in der Hingabe, erlischt sie im
blendenden Strahl des höchsten Gesetzes. Denn dies, diese
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
182
oberste Allgemeinheit des Gesetzes, diese letzte Form, ist das,
wo schließlich der Weg aufwärts mündet. Die Hingabe, die
immer wieder nur geschieht, um am Ziel der Hingabe jedes-
mal das in der Hingabe »Hingegebene« wiederzufinden — denn
es soll »Gewinn« sein, sich aufzugeben —, diese Hingabe ent-
deckt also in jedem Allgemeinen immer wieder die Persönlich-
keit, entdeckt immer wieder, daß das A, dem sie sich hingab,
selber wieder nur die Aussage über ein B ist und also selber
wieder.sich einem höheren A aufzugeben für Gewinn erachten
;nuß. Auch die Emanationslehre kannte ja dieses Aufgehen
der Persönlichkeit im mystischen Genuß der Vergottung. Aber
erst der Idealismus bildet es durch die Zwischenschaltung der
ganzen Welt zu einem wahrhaften Gegenstück des welt-
erzeugenden Niedersteigens des erkennenden Subjekts aus;
erst hier gebiert das Aufsteigen des wollenden Subjekts aus
immer neuen Hingaben einen Aufbau der Welt als eines Stufen-
reichs der Persönlichkeit; jede einzelne Stufe bedeutet für den,
der sich hingibt, Gleichnis und vollwertige Vertretung der
höchsten, wie jede einzelne Stufe des Niedersteigens zum
reinen Gegenstand im Augenblick des Erzeugens für das Sub-
jekt den vollgültigen Wert der Gegenständlichkeit besitzt. Der
seligen Höhe der im Worte »Frommsein« gemeinten frei-
willigen Hingabe an das Höh’re, Rein’re, Unbekannte fühlt sich
der Mensch schon bei jedem früheren Glied der Reihe teilhaft,
nicht erst, wenn er vor Gott, nein auch schon, wenn er vor
»ihr« steht; man beachte da auch das in den Steigerungsformen
»Höh’re«, »Rein’re« aufdämmernde unbestimmt weite Fort-
laufen der Reihe.
Das Ziel der Reihe bleibt ein »Unbekanntes«, wie es das
Ziel der niedersteigenden Reihe gleichfalls blieb. Ein Un-
bekanntes, nämlich ein an jedem einzelnen Punkt der Reihe
Unsichtbares, dessen Sichtbarkeit wegen der vollwertigen
Vertretung, die jedes einzelne Glied an seiner Stelle leistet,
auch gar nicht gefordert wird. Wie die einzelne Erkenntnis
sich nicht um die tiefste Gegenständlichkeit zu sorgen braucht,
sondern nur um die Gegenständlichkeit des Gegenstandes, der
SCHÖPFUNG
183
gerade vor ihr steht, so das einzelne Wollen nicht um die
höchste Persönlichkeit, sondern nur um die Persönlichkeit des
Menschen oder der Gemeinschaft, vor der es gerade steht.
Aber die Philosophie erschwingt freilich auch diesen äußersten
Punkt so gut bei der Gegenständlichkeit wie bei der Persön-
lichkeit. Und wie im Ding an sich die Dinge erzeugende Un-
erschöpflichkeit des erkennenden Ichs ihre Be=dingung und
also ihr Bishierherandnichtweiter fand, so findet die seine Per-
sönlichkeit immer wieder neu gebärende Hingabe des Wollen»
den ihr Ziel in der höchsten Persönlichkeit. In »A=A« findet
sich der Wille nicht mehr wieder, hier gibt er sich auf, wie
das Erkennen im B=B des Ding=an=sich zerschellt, — ohne
Aussicht auf Wiederauferstehung.
Wer ist dies »A=A«? Es ist Persönlichkeit, aber eine, in
der sich der menschliche Wille nicht mehr wiederfindet, so
wenig wie das Erkennen sich noch wiedererhebt, wenn es
einmal beim Ding an sich angekommen ist. Es ist ganz offen-
bar — und der Idealismus hat diese Konsequenz nicht ge-
scheut — die Persönlichkeit Gottes. So hat also der Idealismus
vollbracht, wessen er sich von Anfang an vermessen hatte, als
er das Ich zur Wurzel des Erkennens machte: Gott ist zum
Gegenstand geworden, zum absoluten Gegenstand zwar nicht
des Erkennens, aber des Wollens. Gott als Persönlichkeit,
wenn auch absolute Persönlichkeit. Absolute Persönlichkeit
ist ja eigentlich ein Widerspruch. Die Formel der Persönlich-
keit, B=A, charakterisiert sie als einen Weltinhalt unter andern.
Wenn Gott absolute Persönlichkeit genannt wird, so kann das
nur heißen, daß er die Helle ist, in der alle Persönlichkeit ver-
blaßt, daß er aber auch weiter nichts ist als diese Grenze
aller menschlich=weltlichen Persönlichkeit. Ihn etwa, sowie
er hier »entsteht«, als absolutes Ich anzusprechen, geht nicht
an und ist auch im Idealismus nicht geschehen. Nicht absolutes
Ich, sondern absoluter Geist ist der Name, den der Idealismus
ihm geschöpft hat. Kein Ich also, sondern ein Er, — nein,
weniger als Er: ein Es. Der Gegenstand bleibt Gegenstand,
auch nachdem er Gott geworden ist. Aber an diesem Punkte
184
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
macht der Idealismus nun regelmäßig die Entdeckung, die uns
durch unsere Symbolsprache schon vor die Füße gelegt ist, so
daß wir sie nur aufzuheben brauchen: Gott als Geist ist nie-
mand andres als das — Subjekt der Erkenntnis, das »Ich«.
Und nun wird der letzte Sinn des Idealismus klar: die Ver=
nunft hat gesiegt, das Ende läuft in den Anfang zurück, der
höchste Gegenstand des Denkens ist das Denken selbst; es
gibt nichts, was der Vernunft unzugänglich wäre; das Ver-
nunftlose selbst ist ihr nur ihre Grenze, kein Jenseits.
Ein Sieg also auf der ganzen Linie, aber ein Sieg um
welchen Preis! Das große Gebäude der Wirklichkeit ist zer-
stört; Gott und Mensch sind in den Grenzbegriff eines Subjekts
des Erkennens verflüchtigt; Welt und Mensch andrerseits in
den Grenzbegriff eines schlechthinnigen Objekts dieses Sub-
jekts; und die Welt, zu deren Erkenntnis der Idealismus zu-
nächst auszog, ist zur reinen Brücke zwischen jenen Grenz-
begriffen geworden. Der metalogische Tatsächlichkeits-
charakter der Welt, zu dessen Begründung der Idealismus in
Wettbewerb mit dem Schöpfungsgedanken trat, ist ganz ver-
wüstet, und bei dieser Gelegenheit sind auch gleich die dem
Idealismus fremde Tatsächlichkeit Gottes und die ihm gleich-
gültige des Selbst mit in den allgemeinen Strudel der Ver-
nichtung hineingeworfen.
Ein Chaos, in dem schließlich nur ein fester Punkt noch
ragt, das vom Idealismus an den äußersten Rand der Gegen-
ständlichkeit geschobene, nicht selbst von ihm »bearbeitete«
Ding an sich. In der Ahnung einer gemeinsamen Wurzel für
dieses und den menschlichen Charakter, in dieser Ahnung, in
welcher der Idealismus sein eigenes Wesen für einen ahnungs-
vollen Augenblick verleugnet, öffnet er allein die Aussicht auf
ein All, wo diese drei Elemente, Welt Mensch Gott, in unge-
störter Tatsächlichkeit nebeneinander leben. Er selbst kann
dieses Land, das er an der Grenze seines Daseins erschaut,
nicht betreten. Er hat sich den Eintritt verscherzt durch das
gottungläubige Selbstvertrauen, mit dem er durch den eigenen
Stab des Denkens das lebendige Wasser des Alls aus dem
SCHÖPFUNG
Felsen der Schöpfung hervorzwingen wollte, statt sich ver-
trauensvoll an dem Quell der Sprache genügen zu lassen, den
Gott aus diesem Felsen hervorfließen zu lassen verhieß. Die
blinde Einseitigkeit, mit welcher der Idealismus alles in das
Schema der Schöpfung hineinpreßte, weil er mit diesem Be-
griff konkurrieren wollte und meinte, er ließe sich aus dem
Stromkreis der Offenbarung herausnehmen und als verein-
zelter Begriff wissenschaftlich überwinden, — diese Einseitig-
keit ist die Sünde, die an ihm gestraft wurde.
Der Idealismus hatte, indem er sich seitab vom Strom der
Offenbarung stellen zu können meinte, bezeichnender-
weise, wie wir sahen, die Sprache als Organon verworfen, und
wir mußten für ihn, seinen eigenen Ansätzen folgend, die
algebraische Symbolik bilden. Zur Sprache fehlte ihm das
schlichte Vertrauen. Dieser Stimme, die scheinbar sprachlos,
aber um so wirklicher im Menschen tönte, zu lauschen und zu
antworten, war der Idealismus nicht gesonnen. Er forderte
Gründe, Rechenschaft, Errechenbarkeit, was ihm alles die
Sprache nicht bieten konnte, und erfand sich die Logik, die
dies alles bot. Sie bot dies alles, nur nicht das, was die
Sprache besaß: ihre Selbstverständlichkeit, dies daß sie zwar
mit den Urworten verwurzelt ist in den unterirdischen Grün-
den des Seins, aber schon in den Stammworten hinaufschießt
ans Licht des oberirdischen Lebens und in diesem Licht auf-
blüht zur farbigen Mannigfaltigkeit, ein Gewächs also mitten
unter allem wachsenden Leben, von dem sie sich nährt wie
dieses von ihr, aber unterschieden von all diesem Leben eben
dadurch, daß sie sich nicht frei und willkürlich über die Ober-
fläche bewegt, sondern Wurzeln hinabstreckt in die dunkeln
Gründe unter dem Leben. Die idealistische Logik abe/ meint,
ganz in diesen dunkeln unterirdischen Gründen bleiben zu
müssen, und so zieht sie, ohne es zu wissen, das Leben der
Oberwelt, in das hineinzuwachsen sie sich scheut, lieber
hinab in die Unterwelt und verwandelt das Lebendige in ein
Reich der Schatten.
i86
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
Indem so der Idealismus auf seinem Höhepunkte sich völlig
unter die Gewalt seines eigenen Gemachtes, der Logik gab,
mußte er doch selber spüren, wie ihm die Fühlung mit dem
lebendigen Dasein, das zu begründen und zu begreifen er sich
unterwunden hatte, verloren ging. Ins unter» und vorwelt-
liche Schattenreich der Logik hinabgesunken, suchte er sich
einen Zugang zur Oberwelt offen zu halten. Im selben Augen-
blick, wo die Philosophie aus dem Paradies des Vertrauens
auf die Sprache ausgetrieben wurde — der Sündenfall war
auch hier, daß sie der eigenen Weisheit mehr vertraute als
der sichtbar sie umfangenden Schöpfermacht Gottes —, im
gleichen Augenblick also, wo sie das Vertrauen zur Sprache
verlor, das selbst ihre kritischen Vorläufer aus England
noch etwas besessen hatten, hielt sie Ausschau nach Er-
satz. An Stelle des geschaffenen Gottesgartens der Sprache,
in dem sie ohne das Mißtrauen und die Hintergedanken der
Logik gelebt hatte, und den sie durch eigene Schuld verlassen
mußte, suchte sie nach einem Menschengarten, einem Men-
schenparadies. Es mußte ein Garten sein, den der Mensch
selbst gepflanzt hätte und der doch nicht sein bewußtes Werk
wäre; denn wäre er das, so hätte er keinen Ersatz für den
verlorenen Garten bieten können, den Gott selber gepflanzt
hatte. Wie jener verlorene Garten mußte es einer sein, der
den Menschen umgab, er selber wußte nicht woher; er mußte
ihn wohl gepflanzt haben, aber er durfte es selber nicht
wissen; er mußte sein Werk sein, aber sein bewußtloses, alle
Zeichen zweckvoller Arbeit tragen und doch zwecklos ent-
standen sein, gewirktes Werk und doch pflanzenhaft gewach-
sen. So kam es, daß der Idealismus in dem Augenblick, wo er
die Sprache verwarf, die Kunst vergötterte.
NocI] nie hatte die Philosophie das getan. Wohl hatte sie
in der lebendigen Schöne das Werk Gottes erschaut, bei
Platon, Plotin, Augustin und weniger bewußt noch bei man-
chen andern; aber der Idealismus erhob von vornherein nicht
das lebendige Schöne überhaupt, sondern die »schöne Kunst«
auf den Schild. Die Kunst, so lehrte er, war das sichtbare
SCHÖPFUNG
187
Wirkliche, aus dem sich die Schatten aus der Ideale Reich am
Eingang zur Unterwelt Leben trinken konnten und so, des
eignen, längst versunknen Lebens sich wieder, solange dies
Blut der Wirklichkeit in ihnen kreiste, erinnernd, sich ihres
Restes von Leben versicherten. Mißtrauen brauchte der Idea-
lismus dem Kunstwerk nicht entgegenzubringen, denn es war
Erzeugnis; und weil es trotzdem in der Bewußtlosigkeit
seines Werdens und der Fraglosigkeit seines Daseins wie ein
Stück Natur dasteht, so darf er es als die Offenbarung der
Wirklichkeit ansprechen und ehren. Denn die in der »ge-
meinsamen Wurzel« nur erahnte Wirklichkeit des Alls, ab-
gesehn vom Denken, glaubte er hier in sichtbarer Gestalt zu
erblicken. So wurde dem Idealismus die Kunst zur großen
Rechtfertigung seines Vorgehens; wenn ihn Zweifel be-
schlichen an der Zulässigkeit seiner Methode des »panlogistisch«
reinen Erzeugers, — er brauchte bloß das Kunstwerk, geist-
erzeugt und doch naturhafte Wirklichkeit, anzusehen, um wie-
der ein gutes Gewissen zu kriegen. Das Kunstwerk senkte
Wurzeln in dieselbe farblose, vorweltliche Nacht des reinen
Geistes und blühte doch auf der schönen grünen Weide des
Daseins. So schien die Kunst ein Letztes, zugleich Bestäti-
gung der Methode des Denkens, »Organon« also, und — der
Schritt lag nah und war schon bei Kant im Hinweis auf die
»gemeinsame Wurzel« vorbereitet — sichtbare Erscheinung
eines »Absoluten«. Das Vertrauen, das der Idealismus dem
Wort des Menschen, das er nicht als Antwort auf das Wort
Gottes erkennen mochte, versagte, dies Vertrauen verschenkte
er an ein Werk des Menschen. Statt dem Sprechen der Seele,
dem sich Offenbaren der menschlichen Innerlichkeit, das alles
andre menschliche Sich=Äußern umschließt, trägt und vollen-
det, zu glauben, warf er das ganze Gewicht seiner Ver-
trauensseligkeit auf ein einzelnes, vom ganzen Leibe der
Menschheit losgerissenes Glied.
Denn ein Glied bloß ist die Kunst. Ein Glied, ohne wel-
ches der Mensch freilich Krüppel wäre, aber immer noch
Mensch bliebe. Es ist ein Glied nur neben andern. Der
i88
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
Mensch ist mehr. Das sichtbare Zeugnis seiner Seele, das ihrn
nicht fehlen dürfte, ohne daß er aufhörte, Mensch zu sein, ist
einzig das Wort. Auch die Kunst ruht unterm Herzen des
Worts. Sie ist selber Sprache nur des Unaussprechlichen, die
Sprache solang es noch keine Sprache gibt, Sprache der Vor-
welt. Der Welt vor dem Offenbarungswunder, die uns als ein
geschichtliches Gleichnis jener Vorwelt dasteht, ist die Kunst
und nicht das Wort die rechte Sprache. Den Elementen des
Alls, die aus den dunkeln Gründen des Nichts heraufsteigen,
ist sie in der Gliederung ihres Wesens die sichtbare Ver-
anschaulichung. Aber gegenüber der lebendig strömenden
Wirklichkeit der wirklichen Sprache ist ihre Wirklichkeit als
Kunstwerk selber Gesprochenes, nicht Sprache. Wäre sie
auch hier noch Sprache, so wäre sie Sprache neben der
Sprache, und es kann zwar viele Sprachen geben, aber nur
eine Sprache. Als »Gesprochenes« aber steht sie in allem
andern lebendigen Wirklichen mitteninne, nicht von ihm zu
trennen, ihm zu seiner Vollkommenheit notwendig, Glied unter
seinen Gliedern und als solches erkennbar. Als solches
erkennbar, aber nicht, wie der Idealismus möchte, in ihrer
ganzen Wirklichkeit einzubegreifen in das Verhältnis der Weh
zu ihrem Ursprung und an diesem Verhältnis auszumessen.
Sondern im Gedanken der Schöpfung ergreifen wir nur einen
Teil, nur den Anfang des Kunstwerks. Das Leben ist reicher
als die Welt und ihr Werden; so ist auch die Sprache in ihrer
Einzelgestaltung und ebenso nun auch die Kunst zu reich, als
daß sie ganz aus den Gedanken der Schöpfung erkennbar
würde. Die Weltzeit der Schöpfung ist auch in ihrer Spie-
gelung in dem Lebenstag des Kunstwerks nur der — freilich
immerwährende — Anfang.
Nur in einem Punkte wirkt in der bloß »gesprochenen«
Wirklichkeit des Kunstwerks noch der selbständige Sprach-
wert nach, den sein allgemeines Wesen in der stummen Vor-
welt angenommen hatte. Während die wirkliche Sprache die
inneren Umkehrungen der in der stummen Vorwelt gewor-
denen Elemente und das Heraustreten ihrer einzelnen Stücke
SCHÖPFUNG
189
ins Offenbare vorausetzt, also ganz in einem »Identitäts«=Ver-
hältnis zur Offenbarung steht, gleich wie nach dem Grund-
dogma des Idealismus das »Denken« zum »Sein«, so entspringt
die Kunst unmittelbar ihren .Wesenselementen, wie sie im
Dämmer der Vorwelt aufgetaucht sind. Das »Mythische«,
»Plastische«, »Tragische«, die geschlossene Ganzheit nach
außen, die rahmengleich das Sein aus allem andern heraushebt,
der Zusammenhang der inneren Form, der allen Reichtum der
Einzelheiten des Kunstwerks zusammenhält, der menschliche
Gehalt, der dem Schönen Sprachkraft verleiht, über diesen
drei Grundpfeilern unmittelbar wölben sich die Bogen, die,
indem sie je zwei verbinden und ineinander überführen, das
Kunstwerk aufbauen. Unmittelbar auf dem Hervorgang des
Einzelnen aus einem Ganzen ins Freie, unmittelbar also
gewissermaßen auf der Erschaffung eines ästhetisch reichen
Wirklichen aus einem ihm vorausgehenden Vorästhetischen,
beruht der Anfang vom Lebenstag des Kunstwerks, die Schöp-
fungsreihe der Grundbegriffe, deren erste hier in Kürze über-
blickt werden mögen.
Die Schöpfung des Kunstwerks geschieht im Urheber. Es
ist nicht so, daß der Urheber das Kunstwerk schafft; das
widerspräche dem schon in Platons Jon ausgesprochenen und
vom Idealismus mit Recht stark betonten unbewußten Werden
des Werks. Aber das Hervorbrechen des Kunstwerks setzt
das Gewordensein des Urhebers voraus. Der Urheber ist
zwar nicht etwa der Schöpfer des Werks, aber sein Geschaf-
fenwordensein ist die Schöpfung, die dem Hervortreten des
Kunstwerks vorangeht, wie andrerseits das Werk sich erst in
dem Geschehn, das im Betrachter vorgeht, zu seiner eigent-
lichen Lebendigkeit vollendet. Der Urheber fällt so wenig
wie sonst ein Meister fertig vom Himmel; Genie ist durchaus
nicht, wie die allgemeine Bildung heute meint, angeboren,
sondern, weil auf dem Selbst und nicht bloß in der Persön-
lichkeit beruhend, überfällt es den Menschen eines Tages;
Wunderkinder sind keine Genies und haben nicht mehr Aus-
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
sicht es zu werden als jeder andere Mensch, während andrer-
seits ein Genie, das es einmal ist, nie aufhört es zu sein; noch
Verkommenheit, noch Wahnsinn sind beim Genie genial. Das
Werden des Urhebers stellt sich nun für die Kunstlehre', die
ja nichts von Persönlichkeit und Selbst zu wissen braucht, so
dar, daß ein zuvor bestehendes, gewissermaßen vorgeniales
Ganzes des Menschen — eben, wie wir wissen, die Persön-
lichkeit — den Komplex der genialen Eigenschaften — nämlich,
wie wir wissen, das Selbst — aus sich herausstellt und frei-
macht, frei zur Urheberschaft des Werks.
Im Urheber selbst, innerhalb also des »Genies«, — und, wie
in den nächsten Büchern auszuführen sein wird, auch im Werk
und im Betrachter — wird wiederum die ganze Bahn des
Lebens ausgeschritten. Das Genie ist kehr wenig, wenn es
bloß Genie ist, es muß sich in sich steigern und vollenden. Daß
er Genie ist, daß die Fähigkeit, Urheber des Werks zu sein,
in den Menschen eingezogen ist, das ist selber wieder nur ein
Anfang, der Anfang eines neuen Anfangs. Aus der Geschlossen-
heit dieses Urheberseinkönnens muß er — dies ist sein erster
Schritt — zum wirklichen Schöpfer werden, zum »Poeten« im
Ursinn des Wortes, zum »Dichter« in dem Sinn, den dies Wort
heute im Gegensatz zu »Künstler«, etwa Balzac gegenüber
Flaubert, die Lagerlöf gegenüber der Huch, angenommen hat
(obwohl es in Wahrheit keinen Dichter gibt, der nicht auch
Künstler wäre). Die Fähigkeit, Urheber zu sein, muß eine
innere Mannigfaltigkeit, eine Welt von Geschöpfen, Einfällen,
Gedanken in ihm freisetzen, die doch durch die innere persön-
liche Art des Künstlers in einem in sich einträchtigen Bei-
einander zusammengehalten werden. Alle Gedanken, Einfälle,
Schöpfungen Beethovens, Goethes, Rembrandts in den ver-
schiedensten Werken bilden ja unter sich gewissermaßen eine
»Familie«; die Familienähnlichkeit verbindet sie, ungeachtet
sie nicht äußerlich zur Einheit des gleichen Werks geformt
sind. Dies ist das Schöpfertum des Genies, dies daß es
»innerlich voller Figur« ist. Es ist der Urgrund aller seiner
Wirklichkeit. Wer nicht Schöpfer ist, wem nichts einfällt, wem
SCHÖPFUNG
221
nicht unerschöpflich viel einfällt, und wessen Einfälle nicht
dennoch trotz dieser Unerschöpflichkeit unter sich durch das
Band jener Familienähnlichkeit zusammengehalten werden, der
wird immer höchstens ein »verhindertes« Genie sein.
Um das Gleichnis der Schöpfung, das uns das Kunstwerk
bietet, hier weiter und damit die erste Reihe Grund-
begriffe der Kunstlehre zu Ende zu verfolgen, müßten wir nun
vorgreifen und Begriffe, die wir erst im nächsten Buch durch-
sichtig machen können, vorwegnehmen. Denn die Kunstlehre
— und hier zeigt sich plötzlich wieder aufs deutlichste der
Unterschied von der Sprachlehre in diesem Teil — ist ganz
systematisch, nach dem Bilde eines Stammbaums. Gerade
daraus erhellt, daß sie nicht Organon sein kann, daß sie gegen-
über der Sprache hier Gesprochenes ist. Alle Weiterentwick-
lung eines einzelnen Begriffes — und nur das ist, als einzelnes
Glied des Menschen, die Kunst — muß stammbaumartig
geschehen können. Der Sprachlehre kann höchstens tabel-
larische Form gegeben werden; selbst diese Form bringt bloß
nachträglich eine Ordnung hinein, die dem ursprünglichen
Hervorgang der Kategorien nicht entspricht. Denn dieser
Hervorgang geschieht ganz ursprünglich, ganz unmittelbar
identisch mit dem wirklichen Vorgang, den sie kategorisieren,
hier also mit der Schöpfung. Bei den weiteren Vorgängen
wird, der Eigenart des einzelnen Vorgangs entsprechend —
wirklich entsprechend —, die Reihenfolge der Kategorien
jedesmal ganz anders sein, obwohl jede Kategorie ihre
Geschwister innerhalb der andern Vorgänge hat, — nur eben
nicht an der gleichen Stelle. Die Tabelle ist also leicht heraus-
zuziehen, aber nur indem man eine formelle Ordnung in den
Stoff bringt, der eben hier nicht als Stoff einer eigenen unter-
geordneten Sprachwissenschaft auftritt, sondern als die ur-
sprüngliche Symbolik der Wirklichkeit selber und deshalb in
engster »Identitäts«=Fühlung mit dieser Wirklichkeit erscheint.
Die Sprache ist kein eigener Inhalt hier, der nach einer
inneren Systematik sich entwickeln müßte, sondern die Be-
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
m
Schreibung des Welttageslaufs unsres Gestirns am Himmels-
gewölbe der Weltzeit, Beschreibung also jener Bahn, deren
Elemente uns in der algebraischen Symbolik entstanden. Wir
beschreiben die Bahn, die wir glauben, mit den Worten, denen
wir vertrauen. Die Bahn zu glauben ist schwer, denn wir
sehen nur jeweils den einzelnen Punkt, den wir erleben; aber
die Sprache ist die wahrhaft »höhere« Mathematik, die uns aus
dem einzelnen Punkt des selbsterlebten Wunders den ganzen
Bahnverlauf des geglaubten offenbart; und ihr zu vertrauen ist
leicht, denn sie ist in uns und um uns, und keine andre, wie sie
uns von »außen« kommt, als wie sie aus unserm »Innen« dem
»Außen« widertönt. Das Wort ist das gleiche wie es gehört
und wie es gesprochen wird. Gottes Wege und des Menschen
Wege sind verschieden, aber das Wort Gottes und das Wort
des Menschen sind das gleiche. Was der Mensch in seinem
Herzen als seine eigene Menschensprache vernimmt, ist das
Wort, das aus Gottes Munde kommt. Das Wort der Schöp-
fung, das in uns tönt und aus uns redet, vom Stammwort an,
das unmittelbar herauf aus der Stummheit des Urworts auf-
klingt, bis zur vollkommen vergegenständlichenden Erzähl-
form der Vergangenheit, das ist alles auch das Wort, das Gott
gesprochen hat und das wir geschrieben finden im Buch des
Anfangs.
Es geht ein Satz durch das ganze Kapitel hindurch, das von
dem Werk im Anfang berichtet. Ein sechsmal wiederkehrender
Satz, nur ein einziges Wort lang, nur von einem Doppelpunkt
eingeleitet. Der Satz heißt: »gut!«: es war und ist und wird
— »gut«. In dieser göttlichen Bejahung des kreatürlichen Da-
seins besteht die Schöpfung. Dieses »gut!« ist das laute
Schlußwort jedes Schöpfungstages, weil es nichts andres ist
als das stumme Urwort seines Anfangs.
Was ist »gut«? Was bejaht dies sechsfache göttliche Ja?
Das Tagewerk je eines Schöpfungstages. Das Ding nicht ein-
fach als Ding, sondern als Werk, als gewirktes, das Dasein
als Schon-Dasein. Das Dasein wird bejaht, indem Gott zu
SCHÖPFUNG
*93
seinem eigenen Werk »gut« sagt: er hat es gemacht; es ist
gut. Er schuf — diese Erzählform geht durch das ganze
Kapitel hindurch: er schuf, er sprach, er schied, er sah, und so
fort. Vergangenheit und »Er«=Form, doppelte Gegenständlich-
keit. Kein Subjekt außer dem einen immer gleichen gött-
lichen; und dies geht nicht, wie jedes andere Subjekt, als ein
Besonderes in sein Prädikat als in ein Allgemeines ein, so daß
das Prädikat dadurch subjektiviert, verpersönlicht, und also
entgegenständlicht würde, sondern bleibt in reiner, unberühr-
barer Jenseitigkeit und entläßt das Prädikat frei aus sich zu
ruhiger Gegenständlichkeit. Wenn zwei dasselbe tun, so ist
es nicht dasselbe, aber wenn der Eine, der nur Einer sein
kann, dasselbe tut, so ist es allemal dasselbe: das göttliche
Subjekt ist das einzige, das sein Prädikat nicht persönlich
färbt. Zur Sicherung dieser reinen Gegenständlichkeit des
»er schuf« darf der Schöpfer auch keinen Namen haben, er ist
nur »Gott« schlechthin.
Gott schuf. Und die Welt, das Geschaffene? Es »ward«;
auch dies Wort klingt immer wieder. Wie der Psalm es zu-
sammenfaßt: »Er sprach und es ward«. Die Schöpfung, für
Gott Gemachthaben, ist für die Welt Gewordensein. Was
ward? das gleiche, was Gott schuf: die Dinge. Gott schuf den
Himmel und die Erde. Die Substantive dieses Kapitels, da der
Platz des aktiven Subjekts von Gott allein eingenommen wird,
sind akkusativische, von Gott geschaffene Objekte, oder stehen
als Gewordenes im passiven Nominativ. »Der« Himmel und
»die« Erde: die andern Substantive erscheinen mit dem un-
bestimmten Artikel, aber dieser erste Satz, der die Schöp-
fung im Ganzen vorwegnimmt — »im Anfang, als Gott den
Himmel und die Erde schuf«, übersetzen alte jüdische Er-
klärer —, dieser erste Satz, wie er dem Schaffen vorweg die
klare aktive Form der Vergangenheit und damit der Schöpfung
ihre Wirklichkeit als Zeit gibt, verleiht auch dem Geschaffenen
als Ganzem mit einem Schlage die ihm gebührende Form; die
Bestimmtheit, die jedes einzelne Ding erst auf dem Umweg
über seine durch den unbestimmten Artikel ausgesprochene
i j
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
m
Zugehörigkeit zur Gattung erwirbt, besitzt die Gesamtheit der
Dinge — Himmel und Erde —, die ja keiner Gattung mehr
untersteht, unmittelbar; der bestimmte Artikel gibt hier der
Gegenständlichkeit der Dinge überhaupt die Raumform noch
vor aller einzelnen Bestimmung; gleichwie auch das bestimmte
persönliche allgemeine »er schuf«, durch das die Zeitform der
Gegenständlichkeit des Geschehens überhaupt festgelegt wird,
dem ersten »war« vorangeht, während alles einzelne verper*
sönlichte Geschehen, alle einzelne Tat also, erst möglich wird
durch die besondere Zeitbestimmung, die an die Tat erst
herankommt auf dem Umweg über das reine Geschehen in
seiner Verbindung mit der Kopula, also dem »war« erst folgt
»Den« Himmel und »die« Erde — das Ganze der Schöpfung
ist ihr einziges Einziges, das einzige, was seine Individualität
nicht erst auf dem Umweg über die Vielheit bezieht, — die ge-
schaffenen Dinge nachher erscheinen in der Vielzahl; selbst
Dinge, die sich dem Menschen als so einzig in ihrer Art auf-
drängen und sich zur Individualisierung als göttliche Personen
gradezu anbieten, wie Sonne und Mond, werden hier zu
»Lichtern« und durch diese Rückführung ihrer Individualität
auf eine plurale Gattung erbarmungslos und ohne Ansehn der
Person in die Dingwelt der Schöpfung gebannt.
»Am Anfang, als Gott Himmel und Erde geschaffen, war
die Erde wüste und leer und Finsternis über dem Abgrund
und der Geist Gottes brütend über den Wassern«. Ein dop-
peltes »war«. Als wüste und leer, in adjektivischer Form, er-
scheint angeschlossen an die Kopula des Seins und Schomver-
gangenseins, die hier im Urtext gegen den Sprachgebrauch als
lautes Wort auftritt, die erste Aussage von der Dingwelt;
adjektivisch überhaupt, eine Finsternis, in der noch alle Eigen-
schaften nur die eine graue Farbe des Wüst=und=Leeren zei-
gen, bis Gott sein »es werde Licht« hineinruft; Licht, kein
Ding, so wenig wie die Finsternis, sondern selber eine Eigen-
schaft, für die Erkenntnis das Gleiche wie für das Wollen das
»Gut!« — die schlechthin bejahende Bewertung; und nun
»scheidet« er den Wirrwarr der Eigenschaften, und als die
SCHÖPFUNG
121
Scheidung vollbracht und in der Sichtbarkeit der einzelnen
Eigenschaften der Anfang der Schöpfung vollendet ist, da
klingt zum ersten Mal das im Licht schon Sichtbargewordene
als tönender Laut, als Wort, das »gut«.
Aber im gleichen Satz, wo also aus der erstell noch wüst
und leeren Masse der Eigenschaften die geschaffenen Einzel-
dinge hervorsteigen, wird auch die erste schaffende Einzeltat
geboren: das Tatwort aus dem Geschehenswort in seiner
adjektivischen Form als Partizip; der Anfang der göttlichen
Schöpfungstaten ist* daß sein Geist »brütend« ist; nicht
»Gott«, obwohl schon das eine Entpersönlichung ist, sondern
das noch unpersönlichere »Gottes Geist«, im Urtext eine noch
stärkere Entpersönlichung, weil Gott als »Geist« das Schlepp»
gewand der Weiblichkeit trägt; und »brütend« — die dumpfste
aller Tätigkeiten, aus denen sich das innermenschliche Gleich-
nis der Schöpfung, die Neuschöpfung der Individuen in der
Gattung, zusammensetzt, und überdies noch eine Tätigkeit des
weiblichen Teils. Dort das Finster des Wüst»und=Leeren, hier
die Dumpfheit des Brütens; Ding wie Tat, beide entspringen
hier in der Form von Eigenschaften und zwar Eigenschaften,
die ganz an der unteren Grenze stehen, wo Ding wie Tat je
aus dem, was überhaupt noch nicht Ding und überhaupt noch
nicht Tat ist, aufsteigen.
Das also ist der Wortformenschatz der Schöpfung. Aber
vergessen wir nicht vor lauter Worten das Wort. Geschieht
denn die Schöpfung nicht selber im Wort? »Sprach« Gott
nicht? Durften wir dies sein Gesprochenhaben, wie wir es
machten, einfach unter seinen Schöpfertaten mit in der Reihe
aufzählen? Wir durften es nicht. Zwar'die Schöpfung ist, im
Anfang mindestens, innerlich breiter als die Offenbarung; viel
ist in ihr, was noch lange nicht als Weissagung offenbar ge-
worden ist; niemand weiß, wie lange es noch währen wird,
bis einmal alles Geschaffene seinen Mund aufgetan hat und als
Voraussage des Wunders vernehmlich wird. Nur ein erstes
Leuchten der Offenbarung springt schon im ersten Augenblick
der Schöpfung herauf oder wenigstens im zweiten; denn der
13*
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCEI
196
erste Augenblick ist ja der des intransitiven »es war«, der
dunkelstummen Eigenschaftlichkeit der Dinge wie der Tat;
aber im zweiten Augenblick bricht nach dem Schöpfungswort
der ganzen Schöpfung als erstes Tatwort in der Schöpfung
hervor das »Gott sprach«. Und als erstes sichtbares, wenn
auch noch stummes Eigenschaftswort in der Schöpfung das
»Licht«. Und in dem Satz, den Gott spricht, erscheint zum
ersten Mal unter aller Vergangenheit die Gegenwart, unter
allen ruhenden Indikativen die Plötzlichkeit des Imperativs:
»es werde«. Und dennoch diese Gegenwärtigkeit und diese
Plötzlichkeit noch gebunden in die Es=Form des reinen Ge-
schehens. Gott spricht, aber sein Wort ist noch als ob etwas
in ihm spräche, nicht er selber. Sein Wort ist wie eine Weis-
sagung seines künftigen Seibersprechens; aber er spricht noch
nicht selber, noch nicht als Selbst. Wesenhaft lösen sich aus
seinem Wesen, ein Es aus einem Es, die Worte der Schöpfung.
Bis er zur letzten Schöpfertat den Mund öffnet und spricht:
»Lasset uns einen Menschen machen«. »Lasset uns« — zum
ersten Mal ist der Bann der Objektivität gebrochen, zum ersten
Mal ertönt aus dem einzigen Munde, der bisher in der
Schöpfung redet, statt eines »es« ein Ich, und mehr als ein Ich,
mit dem Ich zugleich ein Du, ein Du welches das Ich zu sich
selbst spricht: »Lasset« »uns«. Ein Neues ist aufgegangen.
Ein Neues? Ist es nicht der gleiche, der spricht, wie bisher?
Und ist es nicht das gleiche, was er spricht, wie das was vor-
her von ihm erzählt wurde? ein. aus dem Selbst persönlich
hervorgehendes Machen, wie es doch auch in »er schuf« und
so fort behauptet wurde? Behauptet allerdings; aber wollte
es bisher laut werden, so verhallte es zum »es«; nun bleibt
es persönlich, nun spricht es »Ich«. Wirklich »Ich«? Hier
stoßen wir an die Grenze, die uns mahnt, daß wir auch am
sechsten Tag noch in der Schöpfung stehen, und noch nicht
in der Offenbarung.
Gott sagt, solange er noch im Schaffen ist, nicht »Ich«, er
sagt »Wir«, und ein absolutes, allumfassendes Wir, das kein
Ich außer sich meint, der Plural der absoluten Majestät. Ein
SCHÖPFUNG
197
Ich, das das Du, wie gerade die deutsche Übersetzung sehr
schön zeigt, unmittelbar in sich selbst hat, ein Ich, das nur mit
sich selber redet und nur mit sich selbst reden kann. Also ein
unpersönliches Ich, ein Ich, das noch in sich selber bleibt, das
im Du nicht aus sich heraustritt, sich nicht offenbart, sondern
wie der metaphysische Gott der Vorwelt nur in sich lebendig
ist. Der Schöpfer offenbart sich in der Schöpfertat; das
Schöpferwort, selbst das der letzten Schöpfung, ist kein ihn
offenbarendes Wort des Offenbarers, sondern schließlich auch
nur eine schaffende Tat des Schöpfers.
Und der Mensch, das letztgeschaffene unter den Ge-
schöpfen? Lasset uns einen Menschen machen, — einen
Menschen: der Eigenname Adam klingt im Urtext mit, es
wird der erste Eigenname unter lauter Gattungsgeschöpfen,
lauter Wesen, die nur geschaffen sind »nach ihrer Art«. Und
wirklich »zum Ebenbilde Gottes« geschaffen — und also her-
ausgehoben aus den anderen Geschöpfen und, ob mit oder
ohne Eigennamen, belehnt mit dem, was der Schöpfer selbst
den Himmelslichtern weigerte: Gottebenbildlichkeit, einer nicht
durch die Allgemeinheit der Gattung vermittelten und. keiner
Vielheit bedürftigen Persönlichkeit, einem Selbst. Ein Neues
ist aufgegangen. Aber auch mehr als Selbst — Seele? Dem
Menschen ist der Hauch des Lebens eingehaucht; aber haucht
er ihn denn auch aus? Spricht er? Er ist stumm geschaffen.
Und abermals stoßen wir an die Wand, die das Vorzeichen
vom Zeichen, die Weissagung von dem Wunder scheidet.
Aber Weissagung ist hier. Zum letzten Mal sieht Gott an,
was er geschaffen. Und diesmal: siehe! — »sehr gut«. Das
Stammwort der Schöpfung tritt aus sich heraus. Es bleibt
Adjektiv, bleibt im Rahmen seines Wesens; aber es hört auf,
die einfache, einzelne, unverglichene Eigenschaft zu be-
zeichnen; es steigert sich, es vergleicht. Innerhalb des all-
gemeinen, alles Einzelne auf seinem breiten Rücken tragenden
Ja der Schöpfung scheidet sich ein Bezirk ab, der anders, der
»sehr« bejaht wird, anders also als alles andre, etwas in der
Schöpfung, das doch über die Schöpfung hinausweist. Dies
ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
198
»sehr«, in der Schöpfung selbst eine Überschöpfung, im
Irdischen ein Überirdisches verkündend, ein andres als das
Leben, das doch zum Leben gehört und nur zum Leben, das
mit dem Leben als sein Letztes geschaffen wurde und das
doch über das Leben hinaus ihm erst Erfüllung ahnen läßt: das
ist der Tod. Der geschaffene Tod des Geschöpfs ist das Vor-
zeichen auf die Offenbarung des übergeschöpflichen Lebens.
Der Tod, jedem geschaffenen Ding ein rechter Vollender zu
seiner ganzen Dinglichkeit, rückt unmerklich die Schöpfung
ins Vergangene und macht sie so zur stillen, ständigen Vor-
aussage des Wunders ihrer Erneuerung. Darum wird am
sechsten Tag der Schöpfung nicht gesagt, daß es »gut« war,
sondern »siehe, gut gar sehr!« »Gar sehr«, so lehren unsre
Alten, gar sehr — das ist der Tod.
ZWEITES BUCH
OFFENBARUNG
ODER
DIE ALLZEITERNEUERTE GEBURT
DER SEELE
STARK wie der Tod ist Liebe. Stark wie der Tod?
Gegen wen denn erweist der Tod seine Stärke? Gegen
den, den er ergreift. Und die Liebe — gewiß, sie
ergreift beide, den Liebenden wie die Geliebte. Aber die
Geliebte anders als den Liebenden. Im Liebenden nimmt sie
ihren Ursprung. Die Geliebte wird ergriffen, ihre Liebe ist
schon Antwort auf das Ergriffensein, Anteros des Eros jün-
gerer Bruder. Der Geliebten zunächst gilt es, daß Liebe stark
ist wie der Tod. Wie nur dem Weibe, nicht dem Manne die
Natur es gesetzt hat, an der Liebe sterben zu dürfen. Was
von der zwiefachen Begegnung des Menschen mit seinem
Selbst gesagt wurde, gilt streng und allgemein nur dem
Manne. Dem Weibe, und gerade dem weiblichsten am meisten,
kann auch Thanatos in des Eros süßem Namen nahen. Des-
wegen, um dieses fehlenden Gegensatzes willen, ist ihr Leben
einfacher als das des Mannes. Ihr Herz ist schon in den
Schauern der Liebe festgeworden; es bedarf der Schauer des
Todes nicht mehr. Ein junges Weib kann reif zur Ewigkeit
sein, wie ein Mann erst wenn Thanatos seine Schwelle be-
schreitet. Den Tod der Alkestis stirbt kein Mann. Das Weib,
einmal von Eros gerührt, ist, was der Mann erst in Fausts
hundertjährigem Alter: bereit zur letzten Begegnung, — stark
wie der Tod.
Das ist, wie alle irdische Liebe, nur ein Gleichnis. Dem
Tod, der als Schlußstein der Schöpfung allem Geschaffenen
erst den unverwischbaren Stempel der Geschöpflichkeit, das
200
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
Wort »Gewesen«, aufdrückt, ihm sagt die Liebe Kampf an,
sie, die einzig Gegenwart kennt, von Gegenwart lebt, nach
Gegenwart schmachtet. Der Schlußstein des dunkeln Ge-
wölbes der Schöpfung wird zum Grundstein des lichten
Hauses der Offenbarung. Die Offenbarung ist der Seele das
Erlebnis einer Gegenwart, die auf dem Dasein der Vergangen-
heit zwar ruht, doch nicht darin haust, sondern im Lichte des
göttlichen Antlitzes wandelt.
Gott der Lebendige, zu dem, sofern er nicht grade schläft
oder über Feld gegangen ist, die Heiden schreien, hatte
sich in der machtvollen Weisheit seiner Schöpfertat als Gott
des Lebens aufgetan. Darin ist jene einst in Gottes mythische
Lebendigkeit eingemündete schrankenlose Macht wieder her-
vorgetreten, aber gewendet von augenblicksverhafteter Will-
kür zu wesenhaft dauernder Weisheit. Was aus Gottes
»Nichts« als Selbstverneinung dieses Nichts sich hervor-
gerungen hatte, trat nach dem Eingehen in Gottes lebendiges
»Etwas« aus diesem heraus, nicht mehr als Selbstverneinung,
sondern als Weltbejahung. Gottes Lebendigkeit wurde so
gewissermaßen abermals zum Nichts, einem Nichts höherer
Stufe, Nichts nur mit Bezug auf das, was ihm entsprang, in
sich aber ein Nichts voller Charakter, eben kein Nichts,
sondern ein Etwas. Nichts war sie nur darin, daß sie, indem
sie sich auftat, sofort in neue Gestalten auseinanderbrach, von
denen wir die eine, die wesenhafte Macht, schon kennen
lernten; denn diese neuen Gestalten haben nichts Benennbares
hinter sich, woraus sie hervorgefahren wären; wollte man
Gottes Lebendigkeit als diesen Hintergrund etwa der offen-
baren Schöpfermacht ansprechen, so müßte dem mit Recht
entgegnet werden, daß nicht aus der mythischen Lebendigkeit
des verborgenen Gottes, sondern erst aus ihrer Umkehrung
ins Offenbare jener Hervortritt geschehen konnte; für diese
Umkehrung aber fehlt der Name; sie ist gewissermaßen nur
der geometrische Punkt, aus dem der Hervortritt geschieht.
Zwar war sie auch »vor« der Umkehrung nur ein solcher
geometrischer Punkt, das Zusammentreten der beiden Stücke,
OFFENBARUNG
201
des Urja und des Urnein des göttlichen Nichts; und die Um-
kehrung ist nur faßbar in der Umkehrung der Richtungen, die
eben im einen Fall zusammen*, im andern auseinanderstrahlen.
Aber das Ergebnis des Zusammentritts zweier Linien ist zwar
nur ein Punkt, aber als erzeugter Punkt ein benennbares, ein
bestimmtes, ein Etwas, wie der Punkt x, y innerhalb eines
Koordinatensystems. Dagegen der Punkt, der nur bestimmt
ist als der Ausgangspunkt von Richtungen, ist wie der Aus-
gangspunkt eines Koordinatensystems O zwar festgelegt, aber
nicht bestimmt, sondern nur Ursprung der im Koordinaten-
system geschehenden Bestimmung. Daher kommt es, daß der
Gott im Heidentum ein höchst lebendiges, sichtbares Antlitz
hat und durchaus nicht als ein verborgener Gott empfunden
wird, während der Glaube ganz deutlich spürt, daß er von
einem Gott, der nicht offenbar würde, gar nichts weiß, sondern
Gott an sich ihm ein »verborgener Gott« ist, derselbe Gott,
der vor seiner Umkehr aus der Verborgenheit ins Offenbare
dem Unglauben gar nicht verborgen schien. Grade an diesem
verschiedenen Verhältnis zur Offenbarung wird der Standort
des Heidentums erkennbar, wie wir ihn im ersten Teil durch-
weg bestimmten: zwischen dem ursprünglichen Nichts als dem
Urgrund des ursprünglichen Etwas und diesem ursprünglichen
Etwas als dem zwar nicht offenbaren, sondern in sich ver-
hüllten, aber dennoch sichtbaren Ergebnis jenes ursprünglichen
Nichts. Sichtbar, obwohl nicht offenbar, nämlich sichtbar für
den, dessen Augen von dem gleichen Dunkel umhüllt sind, in
das sich jenes ursprüngliche Etwas verhüllt, und also angepaßt
an dieses Dunkel.
Wenn aber Gott — und entsprechendes werden wir später
auch für die beiden andern Elemente der Vor=welt finden —
für den Glauben, abgesehen von der Offenbarung, schlechthin
verborgener Gott ist, innerhalb der Offenbarung aber sofort
offenbar wird, also in die Gestalten seines Offenbarwerdens
auseinanderfährt, verlieren wir dann da nicht aus den Händen,
was wir schon zu halten glaubten: die elementare »Tatsäch-
lichkeit« Gottes? Wenn Gott nur verborgener Ursprung
202
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
seines Offenbarwerdens ist, wo bleibt dann in der Offenbarung
die gradezu greifbare Wirklichkeit, die der Gott im Heidentum
schon besaß? Aber besaß er sie denn wirklich? War sie
nicht hundertfältig gebrochen durch die unerschütterte All-
macht des Vielleicht? Gewiß, die Tatsächlichkeit scheint von
dem Vielleicht nicht unmittelbar betroffen, aber schließlich ist
eine solche Tatsächlichkeit, die sich auf alle Fragen nach
ihrem Wie verleugnen läßt, doch auch keine sehr selbst-
gewisse. Man darf vermuten, daß die Offenbarung, indem sie
die elementare Tatsächlichkeit Gottes nicht erkennen zu
können behauptet und diesen Gott als den »verborgenen« ab-
tut, statt dessen nach einer ihr gemäßen, nicht in den Ele-
menten, sondern in der einen Bahn der einen Wirklichkeit
selber begründeten Tatsächlichkeit trachtet, die über alles
Vielleicht in die Höhe schlechthiniger Sicherheit hinausgehoben
wäre.
Und so ist es. Wie der vorzeitliche Gott aus seinem
Nichts Ergebnis erst geworden war, so ist auch der verbor-
gene Gott, als den der Glaube jenes Ergebnis der Vorwelt
allein zu sehen bekommt, nur der Anfang eines Geschehens,
dessen ersten Akt wir in der göttlichen Weltschöpfung schon
sahen. Die Schöpfung ist für Gott nicht bloß Schöpfung der
Welt, sondern auch etwas, was in ihm selber als dem ver-
borgenen vorgeht. In diesem Sinn mußten wir die Schöpfung
schon als ein Offenbarwerden Gottes bezeichnen. Und zwar
offenbart er sich in ihr als Schöpfer, also in lauter Taten, die
nicht mehr wachsen, nicht mehr zunehmen, sondern im Anfang
und einfürallemal und also, was Gott angeht, nicht Taten,
sondern Eigenschaften sind. Soll nun das andre, was »außer«
der Schöpfung aus Gottes Verborgenheit hervorgeht, diese
einfürallemal freigesetzte, grenzenlose Unendlichkeit der gött-
lichen Schöpfermacht ergänzen in Richtung auf einen Zu-
sammenschluß jener Unendlichkeit zur tatsachenhaften Einheit,
so muß es etwas sein, was in sich den Trieb hat, die ganze
hingebreitete Unendlichkeit der göttlichen Macht nach und
nach zu durchlaufen, also etwas in sich Wachsendes, in sich
OFFENBARUNG
203
Steigerungsfähiges. Wie und wo es diesen Trieb verwirk-
licht, kann hier noch dahingestellt bleiben; notwendig aber ist,
und muß schon hier deutlich werden, daß es ihn hat.
Wie es zuvor die ursprüngliche Freiheit, die ungebändigte
Leidenschaft des mythischen Gottes war, die als göttliche
Schöpfermacht aus dem verborgenen Gott ans Licht des neuen
Tages bricht, so sucht nun auch jenes schicksalhafte göttliche
Wesen, die Moira des Gottes, sich einen Weg ins Freie.
Gottes innere »Natur«, die unendliche Meeresstille seines
Seins, hatte sich unter dem Anprall der innergöttlichen Tat-
freiheit wohl zum Schicksal verdichtet und vergewichtigt; aber
immer war auch das Schicksal etwas Dauerndes gewesen; die
Moira wandelte ihren Spruch nicht; er mochte wohl erst im
Laufe der Zeit sich enthüllen, aber er gilt von Anfang; das
Schicksal ist Urgesetz, seine Künderinnen sind die ältesten im
Göttergeschlecht, und nicht zufällig meist weiblich; denn das
Mütterliche ist stets das, was schon da ist, das Väterliche
kommt erst hinzu; das Weib ist dem Manne immer Mutter.
Diese Dauerhaftigkeit und Uranfänglichkeit aber muß nun dem
Schicksal verloren gehen, wenn es aus dem Dunkel der gött-
lichen Verborgenheit jetzt ins Helle bricht. Als wesenhaftes,
eigenschaftliches Sein war die Tatfreiheit in der Schöpfer-
macht offenbar geworden; jetzt muß das schicksalgebundene
Sein in entsprechender Umkehr sich offenbaren als augen-
blicksentsprungenes Geschehen, als ereignetes Ereignis. Schick-
sal, das ereignishaft mit der ganzen Wucht des Augenblicks
hereinbricht, nicht verhängt von uran, sondern grade als Ver-
neinung alles von uran Geltenden, ja als Verneinung schon des
Augenblicks, der unmittelbar diesem vorhergeht, Augenblick,
der in seinem eigenen engen Raume die ganze Schwere des
Verhängnisses hegt, eines Verhängnisses, nicht »verhängt«,
sondern plötzlich da und in seiner Plötzlichkeit doch unab-
wendbar, als wäre es verhängt von uran, — was ist das?
Ein Blick auf das Geschöpf, das in Gottes Gleichnis und
Ebenbild erschaffen worden, lehrt uns, wie wir dies affekt-
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
gewordene innergöttliche Schicksal allein nennen können und
müssen. Wie Gottes augenblicksgeborene Willkür sich zur
dauernden Macht verkehrt hatte, so sein ewiges Wesen
zur jeden Augenblick neuerwachten, immer jungen, immer
ersten — Liebe. Denn Liebe allein ist so zugleich schicksals-
hafte Gewalt über das Herz, in dem sie erwacht, und doch so
neugeboren, so — zunächst — vergangenheitslos, so ganz dem
Augenblick, den sie erfüllt, und nur ihm selbst entsprungen.
Sie ist ganz Muß, ganz — nach den Worten des großen Lie-
benden, der seine Liebe und den seine Liebe durch Hölle,
Welt und Himmel trug — »deus fortior me«, und doch, nach
den unmittelbar anschließenden Worten, in ihrer Gewalt nicht
gestützt auf ein von uran geschaffenes Verhängnis, ein immer-
währendes Vorlängst ihres Schondaseins, sondern auf das
immer neue Soeben ihres Gerade=in=diesem=Augenblick=ge-
kommemseins: ecce deus fortior me »qui veniens dominabitur
mihi«. Sie ist nichts andres als der Spruch des Schicksals, an
dem die Willkür des mythischen Gottes in ihm selber zer-
brach, und sie ist doch verschieden davon, wie der Himmel
von der Erde; denn sie hat sich verkehrt aus jenem Spruch,
der als ein einfaches Ja, ein einfaches »So ist es«, »So ward es
verhängt«, aus dem Nichts hervortrat, in ein Muß, das als ein
Nein, als eine allzeit neue Selbstverleugnung, unbekümmert
um alles, was voranging oder folgen mag, ganz Geburt des
unmittelbar gegenwärtig erdebten Augenblicks des Lebens,
aus der Nacht des verborgenen Gottes ins Offenbare bricht.
Hier beginnt jene Ergänzung des in den Taten der Schöp-
fung bloß angehobenen göttlichen Sichoffenbarens, von der wir
vorhin sprachen. Um die »Tatsächlichkeit« Gottes, die in
seiner Verborgenheit verloren zu gehen drohte, wiederzu-
gewinnen, darf es nicht bleiben bei seinem ersten Offenbar-
werden in einer Unendlichkeit voll schöpferischer Taten; da
drohte Gott sich wieder hinter der Unendlichkeit der Schöp-
fung zu verlieren; er schien zum bloßen »Ursprung« der
Schöpfung und damit doch wieder zum verborgenen Gott zu
werden, was er eben durch die Schöpfung aufgehört hatte zu
OFFENBARUNG
205
sein. Es muß aus dem Dunkel seiner Verborgenheit ein andres
hervortreten als die bloße Schöpfermacht, etwas, worin die
breite Unendlichkeit der schöpferischen Machttaten im Sicht-
baren festgehalten wird, so daß Gott nicht wieder hinter diese
Taten ins Verborgene zurückweichen kann. Ein solches Fest-
halten einer ausgedehnten Unendlichkeit kann nur so erfolgen,
daß diese Breite ganz durchlaufen wird; als unendliche Breite
kann sie aber durchlaufen werden nur von einer Kraft unend-
lichen Atems, einer Kraft, die nicht müde wird. Und diese
Kraft muß selbstverständlich ebenfalls unmittelbar aus der
Tiefe der göttlichen Verborgenheit hervorbrechen; denn nur
dann kann sie leisten, was wir hier verlangen: die Sicherung
der in der Schöpfung geschehenden Offenbarung vor einem
Rückfall in die Nacht des Geheimnisses. So verlangt die erste
Offenbarung in der Schöpfung, grade um ihres Offenbarungs-
charakters willen, das Hervorbrechen einer »zweiten« Offen-
barung, einer Offenbarung, die nichts weiter ist als Offen-
barung, einer Offenbarung im engeren, nein im engsten Sinn.
Eine Offenbarung also muß das sein, die nichts »setzt«,
nichts aus sich heraus ins Leere schafft; ein solches Offenbar-
werden war zwar auch Offenbarwerden, aber nur »auch«;
wesentlich und vor allem war es Schöpfung; das Offenbar-
werden, das wir hier suchen, muß ein solches sein, das ganz
wesentlich Offenbarung ist und nichts weiter; das heißt aber:
es darf nichts sein als das Sichauftun eines Verschlossenen,
nichts als die Selbstverneinung eines bloßen stummen Wesens
durch ein lautes Wort, einer still ruhenden Immerwährendheit
durch einen bewegten Augenblick. Im Aufleuchten eines
solchen Augenblicks wohnt die Kraft, das geschaffene Sein,
das von diesem Aufleuchten getroffen wird, aus dem geschaf-
fenen »Ding« umzufärben in ein Zeugnis eines geschehenen
Offenbarens. Jedes Ding ist ein solches Zeugnis, schon weil
es geschaffenes Ding und die Schöpfung selber schon die erste
Offenbarung ist. Aber eben weil es geschaffenes Ding von
uran ist, bleibt dies, daß es Zeugnis einer geschehenen Offen-
barung ist, hinter ihm im Dunkel eines ersten Anfangs; erst
/
206 ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
indem es irgendwann einmal in der Zeit von dem Aufleuchten
einer nicht einfürallemal geschehenen, sondern in diesem
Augenblick geschehenden Offenbarung überstrahlt wird, erst
damit wird ihm der Umstand, daß es einer Offenbarung das
Dasein dankt, zu mehr als einem »Urmstand«, — zum inneren
Kern seiner Tatsächlichkeit. Erst so, nicht mehr Zeugnis einer
überhaupt geschehenen, sondern Äußerung einer im Augen-
blick »soeben« geschehenden Offenbarung, tritt das Ding aus
seiner wesenhaften Vergangenheit in seine lebendige Gegen-
wart.
Und indem dies »Aufleuchten« in der Länge der Zeit immer
neu von Ding zu Ding weiterfließt, löst es die Dinge aus ihrer
Nurgeschaffenheit und erlöst zugleich die Schöpfung von der
dauernd über ihr schwebenden Angst eines Zurücksinkens in
ihren Ursprung aus dem Nichts einer*, der göttlichen Ver-
borgenheit andrerseits. Die Offenbarung grade in ihrer un-
bedingten Augenblicksentsprungenheit ist so das Mittel,
durch welches die Schöpfung im Gestalthaften befestigt wird.
Der Schöpfer konnte noch hinter der Schöpfung ins gestalten-
reiche und grade deshalb selber gestaltenlose Dunkel zurück-
treten; es blieb ihm gewissermaßen immer die Flucht in die
Vergangenheit des »Ursprungs«, wo er sich »bescheiden hinter
ewigen Gesetzen verbergen konnte«; aber der Offenbarer
in seiner allzeitlichen Gegenwärtigkeit kann ihn jeden Augen-
blick im Hellen, Offenbaren, Unverborgenen, eben in der
Gegenwart festhalten, und indem er das tut, läßt er Gottes
Verborgenheit endgültig ins Vergangene sinken; Gott ist nun
gegenwärtig, gegenwärtig wie der Augenblick, wie jeder
Augenblick, und damit fängt er an zu werden, was er als
Schöpfer noch nicht wahrhaft gewesen war und was er auch
jetzt erst zu werden anfängt: »tatsächlich«, wie die Götter der
Heiden in der ummauerten Burg ihres Mythos.
Es ist die Liebe, auf die alle hier an den Begriff des Offen-
barem gestellten Forderungen zutreffen, die Liebe des Lie-
benden. nicht die der Geliebten. Nur die Liebe des Liebenden
ist diese jeden Augenblick erneute Selbsthingabe, nur er ver-
OFFENBARUNG
207
schenkt sich in der Liebe. Die Geliebte empfängt das
Geschenk; dies, daß sie es empfängt, ist ihre Gegengabe, aber
im Empfangen bleibt sie bei sich und wird ganz ruhend und in
sich selige Seele. Aber der Liebende — er entringt seine
Liebe dem Stamm seines Selbst, wie der Baum sich seine
Zweige entringt, jeder Ast entbricht dem Stamm und weiß
nichts mehr von ihm, den er verleugnet; aber der Baum steht
da im Schmuck seiner Äste, die zu ihm gehören, ob sie gleich
ein jeder ihn verneinen; er hat sie nicht freigelassen, er ließ
sie nicht zu Boden fallen wie reife Früchte; jeder Zweig ist
sein Zweig und ist doch ganz Zweig für sich, an eigener, nur
ihm allein eigener Stelle hervorgebrochen und dieser Stelle
dauernd verbunden. So ist die Liebe des Liebenden in den
Augenblick ihres Ursprungs eingewachsen, und weil sie das
ist, muß sie alle andern Augenblicke, muß sie das Ganze des
Lebens verleugnen; sie ist treulos in ihrem Wesen, denn ihr
Wesen ist der Augenblick; und so muß sie sich, um treu zu
sein, jeden Augenblick erneuen, ein jeder Augenblick muß ihr
zum ersten Blick der Liebe werden. Nur durch diese Ganz-
heit in jedem Augenblick kann sie ein Ganzes geschaffenen
Lebens ergreifen, aber dadurch kann sie es auch wirklich; sie
kanns, indem sie dieses Ganze mit immer neuem Sinn durch-
läuft und bald dies, bald jenes Einzelne darin bestrahlt und
belebt, — ein Gang, der, alle Tage neu beginnend, nie an sein
Ende zu kommen braucht, der jeden Augenblick, weil er ganz
in diesem Augenblick ist, auf der Höhe zu sein meint, über
die nichts mehr hinausliegt, und dennoch mit jedem neuen
Tag erfährt, daß er das Stück Leben, das er liebt, noch nie
so sehr geliebt hat wie heute; alle Tage hat Liebe das Ge-
liebte ein bißchen lieber. Diese stete Steigerung ist die Form
der Beständigkeit in der Liebe, indem und weil sie doch
höchste Unbeständigkeit und nur dem einzelnen gegenwär-
tigen Augenblick gewidmete Treue ist; sie kann aus tiefster
Untreue so zur beständigen Treue werden und nur daraus;
denn nur die Unbeständigkeit des Augenblicks befähigt sie,
jeden Augenblick wieder für neu zu erleben und so die Fackel
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
208
der Liebe durch das ganze Nacht- und Dämrnerreich des ge-
schaffenen Lebens zu tragen. Sie steigert sich, weil sie immer
neu sein will; sie will immer neu sein, um beständig sein zu
können; sie kann beständig nur sein, indem sie ganz im Un-
beständigen, im Augenblick, lebt, und sie muß beständig sein,
damit der Liebende nicht bloß der leere Träger einer flüch-
tigen Wallung sei, sondern lebendige Seele. So liebt Gott
auch.
Aber liebt er denn? Dürfen wir ihm Liebe zuschreiben?
Schließt der Begriff der Liebe nicht Bedürftigkeit ein? Und
könnte Gott bedürftig sein? Haben wir nicht dem Schöpfer
abgesprochen, daß er aus Liebe schafft, um ihm nicht Be-
dürftigkeit zusprechen zu müssen? Und nun sollte der Offen-
barer dennoch aus Liebe sich offenbaren?
Aber weshalb haben wir dem Schöpfer Bedürftigkeit ab-
gesprochen? Weil sein Schaffen nicht Willkür, nicht Einfall,
nicht Not des Augenblicks sein soll, sondern Eigenschaft und
dauerndes Wesen. Und Eigenschaft und dauerndes Wesen
darf allerdings die Bedürftigkeit für Gott nicht sein. Aber
das ist die Liebe ja auch nicht. Sie ist nicht Eigenschaft des
Liebenden; er ist nicht ein Mensch, der liebt; daß er liebt,
ist nicht nähere Bestimmung eines Menschen. Sondern Liebe
ist momenthafte Selbstverwandlung, Selbstverleugnung des
Menschen; er ist gar nichts andres mehr als Liebender, wenn
er liebt; das Ich, das sonst die Eigenschaften tragen würde,
ist in der Liebe im Augenblick der Liebe restlos verschwun-
den; der Mensch stirbt in den Liebenden hinüber und steht
in ihm wieder auf. Bedürftigkeit wäre eine Eigenschaft. Wie
aber hätte eine Eigenschaft Platz in dem engen Raume eines
Augenblicks? Ist es denn also überhaupt wahr, daß Liebe
Bedürftigsein bedeutet? Vielleicht geht es ihr voraus. Aber
was weiß sie denn, was ihr vorausgeht? Der Augenblick, der
sie erweckt, ist ihr erster; mag, von außen gesehen, ihr ein
Bedürfnis zugrunde liegen — was heißt das anders, als daß
der Punkt des geschaffenen Daseins, den sie noch nicht mit
OFFENBARUNG
ihrem Blick getroffen hat, noch im Dunkel, eben dem Dunkel
der Schöpfung ruht? Dies Dunkel ist das Nichts, das ihr als
geschaffener »Grund« zugrunde liegt. Aber in ihr selbst, auf
der schmalen Planke ihrer Augenblicklichkeit, ist für kein Be-
dürfnis Raum; sie ist, in dem Augenblick, in dem sie ist, ganz
erfüllt; die Liebe des Liebenden ist immer »glücklich«; wer
wollte ihm sagen, daß er noch etwas bedürfe außer — zu
lieben ?
So ist Liebe keine Eigenschaft, sondern ein Ereignis, und
keine Eigenschaft hat Platz in ihr. »Gott liebt« heißt nicht,
daß die Liebe ihm eignet wie eine Eigenschaft, etwa wie die
Macht, zu schaffen, Liebe ist nicht die feste unveränderliche
Grundform seines Antlitzes, nicht die starre Maske, die der
Former vom Antlitz des Toten abnimmt, sondern das flüchtige,
nie versiegende Mienenspiel, das immer junge Leuchten, das
über die ewigen Züge geht. Liebe scheut davor, ein Bildnis
vom Liebenden zu machen; das Bildnis ließe das lebendige
Antlitz zum Toten erstarren. »Gott liebt« ist reinste Gegenwart
— was weiß Liebe selber, ob sie lieben wird, ja selbst, ob sie
geliebt hat? Genug, sie weiß das eine, daß sie liebt. Sie geht
auch nicht ins Breite der Unendlichkeit, wie die Eigenschaft
es tut; Weisheit und Macht sind Allweisheit und Allmacht,
Liebe ist nicht Allliebe; vom »allliebenden« Vater weiß die
Offenbarung nicht; Gottes Liebe ist stets ganz in dem Augen-
blick und an dem Punkt, wo sie liebt, und nur in der Unend-
lichkeit der Zeit, Schritt für Schritt, erreicht sie Punkt auf
Punkt und durchseelt das All. Gottes Liebe liebt, wen sie
liebt und wo sie liebt; keine Frage hat das Recht, ihr zu
nahen, denn jeder Frage wird einmal die Antwort werden,
indem Gott auch ihn, auch den Frager, der sich von Gottes
Liebe verlassen glaubt, liebt. Gott liebt immer nur, wen und
was er liebt; aber was seine Liebe von einer »Allliebe«
scheidet, ist nur ein Nochnicht; nur noch nicht liebt Gott alles
außer dem, was er schon liebt. Seine Liebe wandelt in immer
frischem Trieb durch die Welt. Sie ist immer im Heute und
ganz im Heute, aber alles tote Gestern und Morgen wird in
14
210
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
dieses sieghafte Heute einmal verschlungen, diese Liebe ist
der ewige Sieg über den Tod; die Schöpfung, die der Tod
krönt und schließt, kann ihr nicht Stand halten; sie muß sich
ihr ergeben in jedem Augenblick und darum schließlich auch
in der Fülle aller Augenblicke, in der Ewigkeit.
Was so als Enge des Begriffes der göttlichen Liebe er-
scheint, wie ihn der Glaube faßt, nämlich daß diese
Liebe nicht wie das Licht als wesenhafte Eigenschaft nach
allen Seiten strahlt, sondern in rätselhaftem Ergreifen Ein-
zelne ergreift — Menschen, Völker, Zeiten, Dinge —, unbe-
rechenbar in diesem Ergreifen bis auf die eine Gewißheit,
daß sie einmal auch das noch Unergriffene ergreifen wird:
diese scheinbare Engherzigkeit macht die Liebe erst wahrhaft
zur Liebe; nur so, indem sie sich in jeden Augenblick ganz
hineinwirft, und sei es, daß sie alles andere darum vergißt, nur
so kann sie schließlich alles wirklich ergreifen; ergriffe sie
alles mit einem Male, was wäre sie anders als schon die
Schöpfung war? Denn auch die Schöpfung schuf alles mit
einem Male und wurde so zur immerwährenden Vergangen-
heit; eine Liebe, die alles von vornherein ergriffen hätte, wäre
eben auch nur ein Vonvornherein, nur eine Vergangenheit,
und nicht was Liebe erst zur Liebe macht: Gegenwart, reine,
unvermischte Gegenwart.
Solche Vergangenheit bestimmt den Begriff des Offen-
barem im Islam. Hier ist, genau wie im vorigen Buch der Be-
griff des Schöpfers, der des Offenbarers unmittelbar, ohne
jene vielberufene Umkehr des Ja und des Nein, aus dem
lebendigen Gott des Mythos hervorgegangen. Wie sich da-
mals die Schöpferwillkür nicht zur Schöpferweisheit ver-
festigte, so bleibt jetzt die Offenbarung göttliche Eigenschaft,
Notwendigkeit des göttlichen Wesens; der Augenblick kommt
nicht über sie; sie wird nicht selbstverleugnende Leiden-
schaft; sie ähnelt so der Schöpfung, nicht der Schöpfung
nach dem Begriff des Islam, welche freie, unnotwendige Tat
der göttlichen Willkür ist, aber der Schöpfung nach dem Be-
OFFENBARUNG
211
griff des Glaubens. So notwendig, so wesenhaft, so eigen-
schaftlich wie diese wird im Islam die Offenbarung aus Gott
herausgesetzt.
Allahs Wesen ist jene Allliebe, die nicht sich in jedem
Augenblick der Liebe schrankenlos wegschenkt, sondern die
Offenbarung wie ein gegenständliches Geschenk aus sich
heraus der Menschheit gibt. Nicht willkürlich ist die Gabe;
alles Augenblickliche — und das wäre ja die Willkür — bleibt
ihr fern. Gott ist der Erbarmer, jede Sure des Korans sagt es;
das Erbarmen ist seine Eigenschaft, sie strahlt wesenhaft über
alle Menschen, alle Völker aus. Der Koran weist den Ge-
danken der parteiischen Bevorzugung, etwa eines Volkes,
aus dem Begriffe Gottes ab. Jedem Volk, nicht etwa den
Arabern allein, hat Allah einen Propheten gesandt, jeder von
ihnen lehrte sein Volk die ganze Glaubenswahrheit; daß
diese Wahrheit dennoch heute bei den meisten Völkern ver-
stummt oder verzerrt ist, muß dann freilich erklärt werden;
doch liegt die Erklärung nah: jene Völker haben eben den
Propheten nicht geglaubt; an ihnen liegt es, wenn sie die
Offenbarung nicht festhielten; Allah hat sie auch ihnen ge-
geben so gut wie jetzt dem Volke Muhameds. Um diese
Fiktion aufzustellen, müssen Prophetengestalten der Ver-
gangenheit und das Schicksal dieser Gestalten frei erfunden
werden; die Grundansicht verlangts: Allah muß sich offen-
baren; das ist sein Wesen, »barmherzig« zu sein, und so hat
er sich offenbart. »Barmherzig« muß man jenes Wort des
ersten Verses der Suren wohl übersetzen; denn es ist hier
aus dem lebendigen Leib der heiligen Sprache, wo es
zwischen Menschen und vom Menschen zu Gott so gut ge-
braucht werden kann wie von Gott zum Menschen, heraus-
geschnitten und auf die letztgenannte, spezifisch theologische
Anwendung beschränkt, bedeutet also nicht mehr die Liebe
überhaupt, sondern eine Liebe, die nur von Gott zum Men-
schen gehen kann, also eben nur das Erbarmen. Und voll-
ständig ist diese Offenbarung von Anfang an; schon dem
Adam und so allen folgenden Propheten hat Gott den »Islam«
212
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
anbefohlen! die Erzväter, die Propheten, Jesus, sie alle
sind »Gläubige« im vollen, theologisch offiziellen Sinn des
Wortes. Der Vorzug Muhameds liegt in seinen persönlichen
Qualitäten, nicht etwa darin, daß die größte Fülle der gött-
lichen Liebe sich über ihn ergossen hätte; die Fahrt durch
die sieben Himmel ist kein göttlicher Gnadenbeweis, sondern
eine eigene Wundertat des Propheten. Die Fülle dieser Liebe
wächst nicht, sie ist eben einfiirallemal der Welt zuge-
wandt; es gibt keine Steigerung in ihr. So ist ihr alles
»Momenthafte«, verblendet »Parteiische« fern, aber auch alle
stets blinde Kraft, wie sie der echten Liebe innewohnt. Allah
könnte nicht wie der Gott des Glaubens den Seinen ins Ge-
sicht sagen, daß er sie in ihren Sünden und um sie für ihre
Sünden zur Verantwortung zu ziehen, vor allen andern er-
wählt habe. Daß die Mängel des Menschen gewaltigere Er-
wecker der göttlichen Liebe sind als seine Vorzüge, das ist
dem Islam ein unvollziehbarer, ein widersinniger Gedanke —
es ist der Herzgedanke des Glaubens; Erbarmen hat Allah mit
menschlicher Schwäche, aber daß er sie liebt vor der Stärke,
diese göttliche Demut ist dem Gott Muhameds fremd.
Und wie zum Zeichen, daß die Offenbarung hier im Islam
nicht ein lebendiges Ereignis zwischen Gott und Mensch ist,
ein Geschehen, in das Gott selber eingeht bis zur völligen
Selbstverneinung, göttliches Sichselberschenken, sondern
eine frei hingesetzte Gabe, die Gott dem Menschen in die
Hände legt, ist hier die Offenbarung von vornherein das, was
sie im Glauben sogar für sein eigenes Bewußtsein erst all-
mählich und nie ganz wird: ein Buch. Das erste Wort der
Offenbarung an Muhamed lautet: Lies! Das Blatt eines
Buches wird ihm gezeigt, ein Buch bringt ihm der Erzengel
in der Nacht der Offenbarung vom Himmel hernieder. Älter
und heiliger als die geschriebene gilt dem Judentum die
mündliche Lehre, und Jesus hat den Seinen kein geschrie-
benes Wort hinterlassen; der Islam ist Buchreligion vom
ersten Augenblick an. Das Buch, das vom Himmel herab ge-
sendet wird — kann es eine völligere Abkehr von der Vor-
OFFENBARUNG
213
Stellung geben, daß Gott selber »herniedersteigt«, selber sich
dem Menschen schenkt, sich ihm preisgibt? Er thront in
seinem höchsten Himmel und schenkt dem Menschen — ein
Buch.
Dem Menschen. Er ist der andre Pol der Offenbarung.
Auf ihn ergießt sich die göttliche Liebe. Wie macht er
sich bereit, sie zu empfangen? Denn er muß sich bereiten.
Der Mensch, den wir als den »metaethischen« kennen lern-
ten, ist unbereit; er hört nicht, er sieht nicht — wie soll er
da die Gottesliebe empfangen? Auch seine Verschlossenheit
muß sich erst auftun, auf daß er Gottes Wort hören, Gottes
Leuchten sehen lerne. Trotz und Charakter, Hybris und
Daimon waren in ihm zusammengetreten und hatten ihn zum
in sich gekehrten stummen Selbst gebildet. Nun er aus sich
heraustritt, enthüllen sich auch hier wieder die Kräfte, die
ihn bildeten. Und wieder treten sie in der umgekehrten Reihe
ihres Eintritts hervor. Der trotzige Stolz des freien Willens,
der in seinen immer erneuten Aufwallungen den daseienden
Charakter zum Selbst schloß, wird jetzt das erste, was aus
dem Innern des Selbst nach außen tritt, und als ein erstes, ein
Anfang des Nachaußentretens, notwendigerweise nicht mehr
in der Gestalt leidenschaftlicher Aufwallungen, deren jede ein-
zelne in ihrer Augenblicklichkeit die ganze Höhe erschwingt,
sondern in ruhiger Ausbreitung.
Ein Stolz, der, statt trotzig aufzuschäumen, ruht? Ein
Stolz also, der nicht mit krampfiger Gewalt das Antlitz des
Menschen verzerrt, sondern der einfach da ist und, statt den
Menschen bis zur Unkenntlichkeit zu verwandeln, vielmehr
wie ein stilles Gewässer sich um ihn und unter ihn breitet
und ihn trägt. Was ist das für ein Stolz, der also sich dem
Stolz des Trotzes entgegenzusetzen scheint? Ein Stolz, der
nicht in dem Augenblick seiner Äußerung eine besondere Art
Mensch zu schaffen scheint; denn der Trotzige ist ein beson-
deres Menschenbild; sondern der als eine Eigenschaft auftritt,
die der Mensch dauernd an sich trägt, ohne daß ihr eigent-
214
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
liehe Äußerungen von besonders charakteristischer Physio-
gnomie zugehörten, — was ist das für ein Stolz? Es müßte
ein Stolz sein, der nicht stolz »auf« dieses oder jenes wäre,
denn dann wäre er zwar Eigenschaft, aber nur Eigenschaft
unter Eigenschaften, nicht wesentliche Eigenschaft, in der
der ganze Mensch zu ruhen vermag. Das Wort »Stolz« ist
vielleicht zu sehr nach der andern Seite belastet; es klingt zu
viel von Hochmut mit darin, Hochmut, dessen echte Äußerung
eben nur der Trotz ist. Und doch steht der Stolz rein in der
Mitte zwischen Trotz und jener Umkehrung des Trotzes, die
wir suchen. Er kann sich »äußern«; dann wird er ganz von
selbst hochmütiger Trotz, Hybris; aber er kann auch ganz
jenseits allen Gedankens an Äußerung einfach nichts weiter
als sein. Solch einfach seiender Stolz aber, in welchem dann
der Mensch stille ist und sich tragen läßt, ist nun freilich das
reine Gegenteil des stets neu aufwallenden Trotzes. Es ist die
Demut.
Auch die Demut ist ja ein Stolz. Nur Hoffart und Demut
sind gegensätzlich. Aber die Demut, die sich bewußt ist, von
eines Höheren Gnaden zu sein was sie ist, sie ist so sehr
Stolz, daß jenes Bewußtsein des Gottesgnadentums selber
geradezu für ein hoffärtiges Bewußtsein gehalten werden
konnte. Die Demut ruht im Gefühl des Geborgenseins. Sie
weiß, daß ihr nichts geschehen kann. Und sie weiß, daß ihr
keine Macht dies Bewußtsein rauben kann. Es trägt sie, wo-
hin sie auch gehen mag. Sie bleibt immer von ihm umgeben.
Die Demut allein ist ein solcher Stolz, der vor allen Aufwal-
lungen sicher, aller Äußerungen unbedürftig ist und der für
den Menschen, der ihn hat, eine schlechthin notwendige
Eigenschaft bedeutet, in der er sich bewegt, weil er es gar
nicht mehr anders weiß. Und diese Demut in ihrer stolz=ehr-
fiirchtigen Selbstverständlichkeit ist \dennoch weiter nichts
als der aus seiner stummen Verschlossenheit heraus- und
hervortretende Trotz. Wie dieser, wo er als tragische Hybris
sichtbare Gestalt annahm, bei der schaulustigen Menge
Schauer der Furcht erregte, ohne doch selber etwas davon
OFFENBARUNG
215
zu spüren, so fühlt er sich nun nach der Umkehr selber von
Schauern der Ehrfurcht überschauert und doch von ihnen ge-
tragen. Das Wort des griechischen Theoretikers der Tragödie
und das Wort, das die Offenbarung, als sie griechisch reden
lernte, sich wählte, ist ein und dasselbe: Phobos. Die Ehr-
furcht reißt die in der Kunst- und Scheinwelt der Tragödie
Getrennten, den Helden und den Zuschauer in eins; das leb-
lose Bild wird nun selber erfüllt von dem Leben, das es bis-
her bloß im Betrachter erweckt, und also lebendig; es kann
nun seinen Mund auftun und reden.
Demiitig=stolze Ehrfurcht, Gefühl der Abhängigkeit zu-
gleich und des sicheren Geborgenseins, der Zuflucht in ewigen
Armen — siehe da, ist nicht auch dies wieder die Liebe? Nur
freilich nicht der Liebende ruht in solchem Bewußtsein,
sondern das Geliebte. Es ist die Liebe des Geliebten, die wir
hier beschreiben. Das Geliebte weiß sich also getragen von
der Liebe des Liebenden und darin geborgen. Was dem
Liebenden ein immer zu erneuernder Augenblick ist, das
Geliebte weiß es als ewig, immer und ewig. »Immer« ist das
Wort, das über seiner Liebe geschrieben steht. Sie ist nie
größer als im Augenblick, wo sie erweckt wird; sie kann
nicht mehr wachsen, aber sie kann auch nicht abnehmen, sie
kann höchstens sterben: das Geliebte ist treu. Sein Geliebt-
sein ist die Luft, in der es lebt. Die Liebe des Liebenden ist
ein immer neu sich ihm entzündendes Licht; der Augenblick
des Aufleuchtens gibt ihr die Gegenwärtigkeit. Die Liebe des
Geliebten sitzt still zu den Füßen der Liebe des Liebenden;
ihr gibt Gegenwärtigkeit nicht der einzelne, immer neue
Augenblick, sondern die ruhige Dauer; weil sie sich »immer«
geliebt weiß, nur deshalb weiß sie sich geliebt in jedem Augen-
blick. Nur der Liebende hat die Geliebte alle Tage ein
bißchen lieber; die Geliebte spürt in ihrem Geliebtsein nichts
von dieser Steigerung. Nachdem sie einmal die Schauer des
Geliebtseins überschauert haben, bleibt sie darin bis ans
Ende. Sie ist zufrieden, geliebt zu sein — was fragt sie nach
Himmel und Erde? Was fragt sie selbst nach der Liebe des
216
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
Liebenden? Ihr Wiederlieben ist nur, daß sie sich lieben läßt.
Der Liebe des Liebenden antwortet von ihr kein Dank; dankt
das Geliebte, so kann sich sein Dank nicht auf den Liebenden
richten, sondern er muß sich Auswege suchen nach andern
Seiten, symbolische Auswege gewissermaßen; die Liebe
möchte Dankopfer bringen, weil sie fühlt, nicht danken zu
können. Vom Liebenden kann sie sich nur lieben lassen,
weiter nichts. Und so empfängt die Seele die Liebe Gottes.
Ja allein für die Seele und die Liebe Gottes gilt dies alles
im strengen Sinne. Zwischen Mann und Weib gehen, je
höhere Blüten die Pflanze der Liebe zwischen ihnen ansetzt,
je mehr sie recht als ein Palmbaum über sich steigt und sich
von ihren unterirdischen Wurzeln entfernt, die Rollen des
Liebe Gebenden und Liebe Empfangenden hin und her, ob-
wohl von den Wurzeln der Geschlechtlichkeit her sich immer
wieder das eindeutige Verhältnis der Natur wiederherstellt.
Aber zwischen Gott und der Seele bleibt das Verhältnis immer
das gleiche. Gott hört nie auf zu lieben, die Seele nie, geliebt
zu sein. Der Seele wird der Friede Gottes gegeben, nicht
Gott der Friede der Seele; und Gott schenkt sich der Seele
hin, nicht die Seele hier sich Gott; wie sollte sie das auch?
beginnt doch erst in der Liebe Gottes aus dem Fels des Selbst
die Blume der Seele zu wachsen; vorher war der Mensch
fühllos und stumm in sich gekehrt; nun erst ist er — geliebte
Seele.
Geliebt? Ists die Seele? Kann sie es sein? Ist die Liebe
Gottes etwas, wovon nichts mehr sie scheiden kann? Kann
sie aus diesem Ruhen in Gott nicht mehr herausgestoßen wer-
den? Ist sie immer bei ihm, kann er sein Angesicht nicht von
ihr abwenden? Ist ihre Gottgeliebtheit ein so festes Band,
daß sie gar nicht fassen kann, daß Gott es auch einmal wieder
lösen könnte? Was ist es denn, was dieser scheinbar doch
rein passiven Eigenschaft des GeliebLseins die Kraft gibt,
Eigenschaft, wesentliche Eigenschaft, einmal der Seele eigen
und nun auf immer untrennbar von ihr zu sein? Solch Pas-
OFFENBARUNG
217
sives ist doch sonst nicht Eigenschaft, sondern abhängig da-
von, ob ein Aktives seine Aktivität an ihm ausübt. Und nun
ist hier die Aktivität gar eine augenblickshafte, und dennoch
soll ihre Wirkung dem Passiven eine dauernde Eigenschaft
verleihen? Unsere Fragen sind auch hier wieder die Fragen,
welche die Dogmatik von Anfang an bei diesem Begriff der
Gottgeliebtheit der Seele beunruhigt haben. Wird nicht Gottes
Macht hier eine unleugbare Schranke gezogen, wenn die gott-
geliebte Seele für sich dauernde Gottgeliebtheit beansprucht?
Muß Gott nicht die Freiheit haben, sich von der Seele zurück-
ziehen zu können? Wohl wäre es zu begreifen, wenn er sich
solcher Freiheit entäußert hätte gegenüber einer Treue, die ihn
hielte. Aber wie kann die Seele sich unterstehen, treu sein zu
wollen, wenn sie doch nichts ist als das Geliebte? Ist Treue
nicht etwas, was nur der Liebende haben kann, und auch er
nicht als Eigenschaft, sondern nur in der Tat der steten
Erneuerung seines Liebens? Kann, ja darf Treue dauernde,
ruhige Eigenschaft sein wollen? und als solche will das Ge-
liebte sie besitzen.
Antwort auf all diese Zweifel gibt uns die geheime Vor-
geschichte der Seele im Selbst. Gewiß, wäre die Seele ein
Ding, nimmer könnte sie treu sein. Wohl kann auch ein Ding
geliebt sein, und selbst jene Treue der stets erneuerten Liebe
kann ihm gewidmet werden, aber es selber kann nicht treu
sein. Die Seele aber kanns. Denn sie ist kein Ding und hat
ihren Ursprung nicht in der Welt der Dinge. Sie entspringt
aus dem Selbst des Menschen, und zwar ist es der Trotz, der
in ihr nach außen tritt. Der Trotz, der in steten Aufwallungen
den Charakter behauptet, er ist der geheime Ursprung der
Seele; er ists, der ihr die Kraft des Haltens, des Festhaltens
gibt. Ohne die Stürme des Trotzes im Selbst wäre die Meeres-
stille der Treue in der Seele nicht möglich. Der Trotz, dieses
dunkel aufkochende Urböse im Menschen, ist die unter-
irdische Wurzel, aus der die Säfte der Treue in die gott-
geliebte Seele steigen. Ohne die finstre Verschlossenheit des
Selbst keine lichte Offenbarung der Seele, ohne Trotz keine
2l8
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
Treue. Nicht so, daß etwa in der geliebten Seele noch selber
Trotz wäre; dieser Trotz ist in ihr ganz Treue geworden;
aber die Kraft des Festhaltens, welche die geliebte Seele gegen
die Liebe, mit der sie geliebt wird, bewährt, diese Kraft der
Treue stammt ihr aus dem in sie eingegangenen Trotz des Selbst.
Und weil die Seele ihn hält, deshalb läßt sich Gott von ihr
halten. So gibt die Eigenschaft der Treue ihr Kraft, dauernd
in der Liebe Gottes zu leben. Und so geht auch vom Geliebten
eine Kraft aus, keine Kraft ständig neuer Antriebe, sondern
das stille Leuchten eines großen Ja, worin das sich allzeit
selbst verleugnende Lieben des Liebenden das findet, was es
in sich selbst nicht finden könnte: Bejahung und Dauer. Der
treue Glaube der Geliebten bejaht die im Augenblick ge-
bundene Liebe des Liebenden und verfestigt auch sie zu
einem Dauernden. Das ist die Gegenliebe: der Glaube der
Geliebten an den Liebenden. Der Glaube der Seele bezeugt
in seiner Treue die Liebe Gottes und gibt ihr dauerndes Sein.
Wenn ihr mich bezeugt, so bin ich Gott, und sonst nicht — so
läßt der Meister der Kabbalah den Gott der Liebe sprechen.
Der Liebende, der sich in der Liebe preisgibt, wird in der
Treue der Geliebten aufs neue geschaffen und nun auf
immer. Das »auf ewig«, das die Seele im ersten Überschauert-
werden von der Liebe des Liebenden in sich vernimmt, ist
keine Selbsttäuschung, bleibt nicht in ihrem Innern; es erweist
sich als eine lebendige, schöpferische Kraft, indem es die
Liebe der Liebenden selber dem Augenblick entreißt und sie
einfürallemal — verewigt. Die Seele ist in Gottes Liebe stille
wie ein Kind in den Armen der Mutter, und nun kann sie über
das äußerste Meer und an die Pforten des Grabes — und ist
doch immer bei Ihm.
Diese Stille der Seele in ihrer aus der Nacht des Trotzes
auferstandenen Treue ist das große Geheimnis des
Glaubens, und wiederum erweist sich der Islam als die äußere
unbegriffene Aufnahme dieser Begriffe; wieder hat er sie ganz
— bis auf die innere Umkehr, und wieder also hat er sie gar
OFFENBARUNG
219
nicht. Schon daß »Islam« Gottergebensein heißt, wie Goethe
meint, ist eine irreführende Übersetzung. Islam heißt nicht
gottergeben sein, sondern sich Gott ergeben, sich zufrieden
geben. Das Wort, das in seiner schlichten Stammform in
der heiligen Sprache jenen stillen, seienden Frieden Gottes
bezeichnet, wird in dem Wort »Islam« durch die Vorsilbe in
ein Causativ, ein Machen, ein Veranlassen, eine Tat um-
gewandelt. Das Gibdichzufrieden des Islam mündet nicht in
ein »sei stille«, sondern es bleibt immer weiter beim Sichzu-
friedengeben, das immer wieder in jedem Augenblick erneuert
werden muß. So behält auch die Demut des Menschen, an
den die Offenbarung geht, im Islam das Vorzeichen des
Trotzes des Selbst, das sich in jedem Augenblick selbst ver-
leugnende Nein. »Islam« ist keine zuständliche Haltung der
Seele, sondern eine unaufhörliche Folge von Pflichterfüllungen.
Und zwar nicht etwa so, daß diese Pflichterfüllungen gewis-
sermaßen nur symbolisch, eben als Zeichen und Ausdruck des
befriedeten Seelenzustandes oder als Mittel zu seiner Er-
reichung verstanden würden, sondern sie werden an sich
gewertet und sind mehr oder weniger auch derart rationell,
daß eine solche unmittelbare Wertung wohl statthaben kann.
So kommt der Islam zu einer ausgesprochenen Ethik der Lei-
stung. An der einzelnen sittlichen Tat wird das Maß der Gott-
ergebung geschätzt, das zu ihrer Vollbringung erforderlich ist.
Je schwieriger die Tat ist, um so mehr wird sie geschätzt,
denn um so höher ist die Gottergebung, die zu ihr erforderlich
war.
Während für den Glauben die sittliche Tat als einzelne
eigentlich wertlos ist und höchstens als Zeichen des ganzen
Zustands demütiger Gottesfurcht bewertet werden kann. Die
Seele selbst wird hier gewogen, die Echtheit ihres Glaubens,
die Kraft ihrer Hoffnung, nicht die einzelne Tat. Es gibt keine
schweren und leichten Pflichten. Alle sind gleich schwer oder
gleich leicht, weil alle nur symbolisch sind. In seiner
Schätzung der Schwierigkeit der einzelnen Leistung wird der
Islam so, ohne es zu wollen, der Erbe der Ethik des aus-
220
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
gehenden Heidentums, des Stoizismus, wie andrerseits auch
ein Vorbote der neuheidnischen Ethik der virtu, wie sie bis
in unsre Tage fortlebt. Es gibt bei dem großen Reformator
des Islam Gazali eine höchst bezeichnende Auseinander-
setzung, in der dieses ganze Verhältnis sowie auch jene
historischen Vergleichspunkte unmittelbar ins Auge springen.
Er stellt der Keuschheit Jesu die Sinnlichkeit Muhameds
gegenüber und rühmt seinen Propheten vor dem der Naza-
rener: Muhamed beweise sich darin als der größere; denn
seine Inbrunst zu Gott sei stark genug gewesen, um über die
Befriedigung der Triebe noch hinwegzulodern; der Prophet
der Nazarener habe auf diese Befriedigung verzichten müssen,
weil seine Frömmigkeit nicht heiß genug gebrannt habe, um
nicht darin zu erlöschen. So wird hier das Innerste, die
Frömmigkeit selbst, das woran, wenn das Menschen möglich
wäre, alle Leistung erst bemessen werden müßte, unter den
Gesichtspunkt der Leistung gerückt und nach den überwun-
denen Hemmnissen bemessen.
Das ist der Mensch, wie er im Islam dem göttlichen
Lieben gegenübersteht. Gar nicht still empfangend, sondern
in immer neuen Taten herandrängend. Aber auch Gottes Liebe
war ja hier gar nicht eigentlich Liebe, sondern ein breites
Ausströmen der Offenbarung nach allen Seiten. So kennt der
Islam so wenig einen liebenden Gott wie eine geliebte Seele.
Gottes Offenbarung geschieht in ruhiger Ausbreitung, das
Empfangen des Menschen geschieht in stürmischem, un-
ruhigem Drängen der Tat; sollte da von Liebe die Rede sein,
so müßte Gott das Geliebte, der Mensch der Liebende sein;
damit aber wäre der Sinn der Offenbarung, die von Gott an
den* Menschen geht, zunichte gemacht. Und wirklich ist es
ja im Islam auch eigentlich der Mensch, der die Offenbarung
erzwingt in seiner Bedürftigkeit, deren sich Gott »erbarmt«.
Erbarmen ist eben nicht Liebe. Wie den Offenbarer mit dem
Schöpfer, so vermengt der Islam auch die geliebte Seele mit
der bedürftigen Kreatur. Er bleibt auch hier an den unum-
gewandelten Gestalten kleben, die ihm die heidnische Welt
OFFENBARUNG
221
zeigte, und meint sie mit dem Begriff der Offenbarung, so wie
sie sind, in Bewegung bringen zu können. Muhamed war
stolz darauf, seinen Anhängern den Glauben leicht gemacht
zu haben. Er hat ihn zu leicht gemacht. Er meinte, sich und
den Seinen die innere Umkehr ersparen zu können. Er wußte
nicht, daß alle Offenbarung mit einem großen Nein beginnt.
Die Umkehr, welche alle Begriffe der Vorwelt beim Eintritt
ins Licht der wirklichen Welt erleiden, ist nichts andres als
dieses Nein. Wie die Schöpfung im Zeichen des Ja, so steht
die Offenbarung im Zeichen des Nein. Nein ist ihr Urwort.
Ihr erstes lautes aber, ihr »Stammwort«, heißt Ich.
Ich ist stets ein laut gewordenes Nein. Mit »Ich« ist immer
ein Gegensatz aufgestellt, es ist stets unterstrichen, stets
betont; es ist immer ein »Ich aber«. Auch wenn es unbekannt
bleiben will und sich in den schlichten Mantel der Selbstver-
ständlichkeit hüllt, wenn etwa Luther vor dem Reichstag sein
Hingestelltsein, sein Bestimmtsein, seine Zuversicht bekennt,
und alles drei nicht als das »Seine«, — selbst dann verrät das
blitzende Auge den vermummten König, und die Welt-
geschichte setzt in der Stunde der Demaskierung drei dicke
Striche unter jenes dreifache Ich. Ich ist eben stets, mag es
wollen oder nicht, Subjekt in allen Sätzen, in denen es auftritt.
Es kann nie passiv, nie Objekt sein. Man frage sich einmal
ehrlich, ob in dem Satze »du schlägst mich« oder »er schlug
mich«, natürlich nicht wenn man ihn liest, sondern wenn man
ihn spricht, wirklich das Du oder Er Subjekt ist oder nicht
vielmehr, wie schon ein merkbarer Akzent in der Betonung
verrät, der bei einem gewöhnlichen Objekt ausbleibt, das Ich.
Aber auch vom Urwort selbst, von dem »Nicht anders«, als
welches das Urnein in jedem Wort mitspricht, führt die Laut-
werdung gradewegs zum Ich. Ja, hier wird erst deutlich,
warum wir uns nicht nach dem scholastischen Vorbild mit
einem Sic et Non begnügen konnten, sondern ein So und
Nichtanders, für das Non also die doppelte Verneinung eines
Nichtanders. behaupten mußten.
222
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
Dem »Nicht anders« schlägt unmittelbar die Frage ent-
gegen: »nicht anders als was denn?« Es muß antworten:
»nicht anders als alles«. Denn schlechthin gegen »alles« soll
etwas, was als »so und nicht anders« bezeichnet wird, ab-
gegrenzt werden. Und es ist »nicht anders« als alles. Als
anders als alles ist es schon durch das So gesetzt; das zum
So hinzutretende »und nicht anders« meint gerade, daß es,
obwohl anders, dennoch auch nicht anders als alles, nämlich
beziehungsfähig zu allem ist. Was ist nun also in diesem
Sinn »nicht anders«, also zugleich »anders« und »nicht anders«
als alles? als »alles«, also als »das All«. Nur das mit dem
»Sein« des All und jedes einzelnen Gegenstandes identische,
also sowohl einerleie wie ihm entgegengesetzte »Denken« —
das Ich. Nicht als Wort innerhalb seiner Wortart haben wir
hier das »Ich« als das lautgewordene Nein entdeckt, wie im
vorigen Buch das »Gut« als das lautgewordene So, sondern
im Frag- und Antwortspiel des Denkens, als einzelne Antwort
auf einzelne Frage. Und so werden wir auch weiterhin nicht
wie bei der Schöpfung von Wortart zu Wortart fortschreiten,
sondern gemäß dem ganz wirklichen Gesprochenwerden der
Sprache, in dem wir uns hier als im Mittelstück dieser ganzen
Schrift aufhalten, von wirklichem Wort zu wirklichem Wort.
Nur reflektierend können wir — und müssen es freilich — das
wirkliche Wort auch als Vertreter seiner Wortart erkennen.
Aber wir finden es nicht als solchen Vertreter einer Art,
sondern unmittelbar als Wort und Antwort.
Dem Ich ant=wortet in Gottes Innerem ein Du. Es ist der
Doppelklang von Ich und Du in dem Selbstgespräch Gottes
bei der Schöpfung des Menschen. Aber so wenig wie das Du
ein echtes Du ist, denn es bleibt noch in Gottes Innerem, so
wenig ist das Ich schon ein echtes Ich; denn es ist ihm noch
kein Du gegenübergetreten; erst indem das Ich das Du als
etwas außer sich anerkennt, also erst indem es vom Selbst-
gespräch zum echten Dialog übergeht, wird es zu jenem Ich.
das wir soeben als das lautgewordene Urnein beanspruchten.
OFFENBARUNG
223
Das Ich des Selbstgesprächs ist noch kein »ich aber«, sondern
ein unbetontes, eben ein, weil bloß selbstgesprächliches, so
auch selbstverständliches Ich und also, wie wir es schon an
dem »Lasset uns« der Schöpfungsgeschichte erkannten, in
Wahrheit noch kein offenbares Ich, sondern ein noch im Ge-
heimnis der dritten Person verborgenes. Das eigentliche, das
unselbstverständliche, das betonte und unterstrichene Ich kann
erstmalig laut werden in dem Entdecken des Du. Wo aber
ist ein solches selbständiges, dem verborgenen Gott frei
gegenüberstehendes Du, an dem er sich als Ich entdecken
könnte? Es gibt eine gegenständliche Welt, es gibt das ver-
schlossene Selbst; aber wo ist ein Du? Ja, wo ist das Du?
So fragt Gott auch.
»Wo bist Du?« Es ist nichts als die Frage nach dem Du.
Nicht etwa nach dem Wesen des Du; das ist in diesem Augen-
blick noch gar nicht in Sehweite, sondern zunächst nur nach
dem Wo. Wo überhaupt gibt es ein Du? Diese Frage nach
dem Du ist das einzige, was von ihm schon bekannt ist. Aber
diese Frage genügt dem Ich, sich selbst zu entdecken; es
braucht das Du nicht zu sehen; indem es nach ihm fragt und
durch das Wo dieser Frage bezeugt, daß es an das Dasein
des Du glaubt, auch ohne daß es ihm vor Augen gekommen
wäre, spricht es sich selber als Ich an und aus. Das Ich ent-
deckt sich in dem Augenblick, wo es das Dasein des Du durch
die Frage nach dem Wo des Du behauptet.
Sich selber entdeckt es — nicht etwa das Du. Die Frage
nach dem Du bleibt bloße Frage. Der Mensch verbirgt sich,
er antwortet nicht, er bleibt stumm, er bleibt das Selbst, wie
wir es kennen. Die Antworten, die Gott ihm schließlich ab-
fragt, sind keine Antworten; kein Ich, kein »Ich bins«, »Ich
habe es getan« antwortet der göttlichen Frage nach dem Du,
sondern statt des Ich kommt aus dem antwortenden Munde
ein Er=Sie=Es: der Mensch vergegenständlicht sich selbst zum
»Manne«: das Weib, und zwar dieses ganz vergegenständ-
licht zum Weib, das dem Menschen »gegeben« ist, hat es
getan, und dieses wirft die Schuld auf das letzte Es: die
224
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
Schlange wars. Das Selbst will mit einem stärkeren Zauber
als der bloßen Frage nach dem Du beschworen sein, auf daß
es seinen Mund zum Ich auftue. An Stelle des unbestimmten,
bloß hinweisenden und so vom Menschen auch mit bloßem
Hinweise — das Weib, die Schlange — beantworteten Du tritt
der Vokativ, der Anruf; und jeder Ausweg zur Vergegen-
ständlichung wird dem Menschen abgeschnitten, indem an
Stelle seines Allgemeinbegriffes, der sich hinter das Weib und
hinter die Schlange flüchten kann, das Unfliehbare angerufen
wird, das schlechthin Besondere, Begriffslose, dem Macht-
bereich der beiden Artikel, des bestimmten und unbestimmten,
das alle Dinge, wenn auch nur als Gegenstände einer all-
gemeinen, keiner besonderen Vorsehung, umfaßt, Entrückte:
der Eigenname. Der Eigenname, der doch kein Eigemname
ist, nicht ein Name, den sich der Mensch willkürlich gegeben
hat, sondern der Name, den ihm Gott selber geschöpft hat,
und der nur deshalb, nur als Schöpfung des Schöpfers, sein
eigen ist. Der Mensch, der auf Gottes »Wo bist Du?« noch
als trotziges und verstocktes Selbst geschwiegen hatte, ant-
wortet nun, bei seinem Namen, doppelt, in höchster, unüber-
hörbarer Bestimmtheit gerufen, ganz aufgetan, ganz aus-
gebreitet, ganz bereit, ganz — Seele: »Hier bin ich«.
Hier ist das Ich. Das einzelne menschliche Ich. Noch ganz
empfangend, noch nur aufgetan, noch leer, ohne Inhalt, ohne
Wesen, reine Bereitschaft, reiner Gehorsam, ganz Ohr. In
dieses gehorsame Hören fällt als erster Inhalt das Gebot. Die
Aufforderung zu hören, der Anruf beim Eigennamen und das
Siegel des redenden göttlichen Mundes — das alles ist nur
Einleitung, vorklingend jedem Gebot, in voller Ausführlichkeit
vorgesprochen nur vor dem einen Gebot, das nicht das
höchste ist, sondern in Wahrheit das einzige, Sinn und Wesen
aller Gebote, die je aus Gottes Munde kommen mögen.
Welches ist dies Gebot aller Gebote?
Die Antwort auf diese Frage ist allbekannt; Millionen
Zungen bezeugen sie spät und früh: »Du sollst lieben den
Ewigen, deinen Gott, von ganzem Herzen und von ganzer
OFFENBARUNG
Seele und aus allem Vermögen«. Du sollst lieben — welche
Paradoxie liegt hierdrin! Kann denn Liebe geboten werden?
Ist Liebe nicht Schicksal und Ergriffensein und wenn ja frei,
dann doch nur freies Geschenk? Und nun wird sie geboten?
Ja gewiß, Liebe kann nicht geboten werden; kein Dritter kann
sie gebieten und erzwingen. Kein Dritter kanns, aber der
Eine. Das Gebot der Liebe kann nur kommen aus dem Munde
des Liebenden. Nur der Liebende, aber er auch wirklich, kann
sprechen und spricht: Liebe mich. In seinem Munde ist das
Gebot der Liebe kein fremdes Gebot, sondern nichts als die
Stimme der Liebe selber. Die Liebe des Liebenden hat gar
kein anderes Wort sich zu äußern als das Gebot. Alles andre
ist schon nicht mehr unmittelbare Äußerung, sondern Erklä-
rung — Liebeserklärung. Die Liebeserklärung ist sehr arm,
sie kommt wie jede Erklärung stets hinterher und also, weil
die Liebe des Liebenden Gegenwart ist, eigentlich stets zu
spät. Täte nicht die Geliebte in der ewigen Treue ihrer Liebe
die Arme weit auf, um sie aufzunehmen, so fiele die Erklä-
rung ganz ins Leere. Aber das imperativische Gebot, das
unmittelbare, augenblicksentsprungene und im Augenblick
seines Entspringens auch schon lautwerdende — denn Laut-
werden und Entspringen ist beim Imperativ eins —, das
»Liebe mich« des Liebenden, das ist ganz vollkommener Aus-
druck, ganz reine Sprache der Liebe. Es ist, während der
Indikativ die ganze umständliche Begründung der Gegen-
ständlichkeit im Rücken hat und daher am reinsten in der
Vergangenheitsform erscheint, ganz reine, vorbereitungslose
Gegenwart. Und nicht bloß vorbereitungslos, auch vor-
bedachtlos. Der Imperativ des Gebots trifft keine Voraussicht
für die Zukunft; er kann sich nur die Sofortigkeit des Gehor-
chens vorstellen. Würde er an Zukunft oder an ein Immer
denken, so wäre er nicht Gebot, nicht Befehl, sondern Gesetz.
Das Gesetz rechnet mit Zeiten, mit Zukunft, mit Dauer. Das
Gebot weiß nur vom Augenblick; es erwartet den Erfolg noch
im Augenblick seines Lautwerdens, und wenn es den Zauber
des echten Befehlstons besitzt, so wird es sich in dieser Er-
wartung auch nie täuschen.
15
22 6
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
So ist das Gebot reine Gegenwart. Während nun aber
jedes andre Gebot, sieht man es nur von außen und gewisser-
maßen nachträglich an, ebensogut auch Gesetz gewesen sein
könnte, ist das eine Gebot der Liebe schlechthin unfähig,
Gesetz zu sein; es kann nur Gebot sein. Alle andern Gebote
können ihren Inhalt auch in die Form des Gesetzes gießen,
dieses allein verweigert sich solchem Umguß, sein Inhalt
leidet nur die eine Form des Gebots, der unmittelbaren Gegen-
wärtigkeit und Einheit von Bewußtsein, Ausdruck und Erfül-
lungserwartung. Deshalb, als das einzige reine Gebot, ist es
das höchste aller Gebote, und wo es als solches an der Spitze
steht, da wird alles, was sonst und' von außen gesehen wohl
auch Gesetz sein könnte, gleichfalls Gebot. So wird, weil
Gottes erstes Wort an die sich ihm erschließende Seele das
»Liebe mich« ist, alles, was er ihr sonst noch in der Form des
Gesetzes offenbaren mag, ohne weiteres zu Worten, die er ihr
»heute« gebietet, wird zur Ausführung des einen und ersten
Gebots, ihn zu lieben. Die ganze Offenbarung tritt unter das
große Heute; »heute« gebietet Gott, und »heute« gilt es, seiner
Stimme zu hören. Es ist das Heute, in dem die Liebe des
Liebenden lebt, — dies imperativische Heute des Gebots.
Und wie nur aus dem Munde des Liebenden dieser Impe-
rativ kommen kann, aus diesem Munde aber auch kein andrer
Imperativ als dieser, so ist nun das Ich des Sprechers, das
Stammwort des ganzen Offenbarungsdialogs, auch das Siegel,
das, jedem Wort aufgedrückt, das einzelne Gebot als Gebot der
Liebe kennzeichnet. Das »Ich der Ewige«, dies Ich, mit dem als
dem großen, die eigene Verborgenheit verneinenden Nein des
verborgenen Gottes die Offenbarung anhebt, begleitet sie
durch alle einzelnen Gebote hindurch. Dies »Ich der Ewige«
schafft der Offenbarung im Propheten ein eigenes Werkzeug
und einen eigenen Stil. Der Prophet ist nicht Mittler zwischen
Gott und den Menschen, er empfängt nicht die Offenbarung
und gibt sie weiter, sondern unmittelbar aus ihm tönt die
Stimme Gottes, unmittelbar aus ihm spricht Gott als Ich.
Nicht wie der Meister des großen Plagiats an der Offenbarung
OFFENBARUNG
227
läßt der echte Prophet Gott reden und gibt die ihm im Ge-
heimen geschehene Oftenbarung den staunenden Umstehenden
weiter. Er läßt Gott überhaupt nicht reden, sondern indem
er den Mund auftut, spricht schon Gott; der Prophet kann
noch kaum sein »So spricht der Ewige» oder das noch kürzere,
noch eiligere, selbst die Verbalform sparende »Spruch des
Ewigen« herausbringen, da hat Gott schon von seinen Lippen
Besitz genommen. Gottes Ich bleibt das Stammwort, das
durch die Offenbarung als ein Orgelpunkt hindurchgeht, es
sträubt sich gegen jede Übersetzung ins Er, es ist Ich und
muß Ich bleib.en. Nur das Ich, kein Er, kann den Imperativ
der Liebe sprechen; er muß immer nur lauten: liebe mich.
Aber die Seele, die bereite, geöffnete, ganz stumm lau-
schende Seele — was denn kann sie dem Gebot der Liebe
erwidern? Denn Erwiderung muß sein; der Gehorsam gegen
das Gebot kann nicht stumm bleiben; er muß gleichfalls laut,
gleichfalls Wort werden; denn in der Welt der Offenbarung
wird alles Wort, und was nicht Wort werden kann, liegt ent-
weder vor oder nach jener Welt. Die Seele also, was ant-
wortet sie dem Liebesverlangen?
Dem Liebesverlangen des Liebenden antwortet das Liebes-
geständnis der Geliebten. Der Liebende gesteht seine Liebe
nicht, — wie sollte ers, er hat gar keine Zeit dazu; ehe er sie
gestanden hätte, wäre sie schon vergangen, nicht mejir gegen-
wärtig; versucht ers dennoch, so straft sich die Lüge, die im
Bekennen des Gegenwärtigen liegt; denn alles einmal Be-
kannte ist schon ein Bekanntes, rückt damit ins Vergangene
und ist nicht mehr das Gegenwärtige, das in dem Geständnis
gemeint war; deshalb wird das Bekennen des Liebenden als-
bald zur Liige, und es ist nur recht, und ein Zeichen, wie tief
im Unbewußten dies alles verankert ist, daß dem bloßen Ge-
ständnis sich auch der Glaube versagt und die schon geöffnete
Seele der Geliebten sich wieder verschließt. Wahr spricht der
Liebende nur in der Form des Liebesverlangens, nicht in der
des Liebesgeständnisses. Anders die Geliebte. Ihr wird das
Bekennen nicht zur Lüge. Ihre Liebe ist, einmal geboren, ein
15*
22 8
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
Stehendes, Stetes; so darf sie zu ihr stehen, darf sie gestehen.
Auch ihre Liebe ist gegenwärtig, aber anders als die des
Liebenden, gegenwärtig nur weil sie dauernd, weil sie treu
ist. Im Bekenntnis wird sie gestanden als solch ein Gegen-
wärtiges, das Dauer hat, Dauer haben will. Für die Zukunft
scheint dem Bekenntnis alles hell und licht; die Geliebte ist
sich bewußt, in Zukunft nur weiter sein zu wollen, was sie ist:
Geliebte. Aber in der Vergangenheit zurück gibt es eine Zeit,
wo sie es noch nicht war, und diese Zeit der Ungeliebtheit,
der Lieblosigkeit, scheint ihr mit tiefem Dunkel bedeckt; ja
weil ihr die Liebe nur als Treue zum Dauernden wird, also
nur im Hinblick auf die Zukunft, so füllt jenes Dunkel die
ganze Vergangenheit bis hart an den Augenblick des Bekennt-
nisses heran. Erst das Bekenntnis reißt die Seele hinein in
die Seligkeit des Geliebtseins; bis zu ihm ist alles Lieblosig-
keit, und selbst die Bereitschaft, in der dies beim Namen
gerufene Selbst sich zur Seele öffnete, liegt noch mit in jenem
Schatten. Darum ist es der Seele nicht leicht, zu gestehen.
Im Geständnis der Liebe entblößt sie sich selbst. Es ist süß
zu gestehen, daß man wiederliebt und inskünftige nichts als
geliebt sein will; aber es ist hart zu gestehen, daß man in der
Vergangenheit ohne Liebe war. Und doch wäre die Liebe
nicht das Erschütternde, Ergreifende, Umreißende, wenn die
erschütterte, ergriffene, umgerissene Seele nicht sich bewußt
wäre, däß sie bis zu diesem Augenblick unerschüttert und
unergriffen gewesen wäre. Es war also erst eine Erschütte-
rung nötig, damit das Selbst geliebte Seele werden konnte.
Und die Seele schämt sich ihres vergangenen Selbst und daß
sie nicht aus eigener Kraft diesen Bann, in dem sie lag,
gebrochen hat. Das ist die Scham, die sich vor den geliebten
Mund legt, der bekennen will; er muß seine vergangene und
noch gegenwärtige Schwachheit bekennen, indem er seine
schon gegenwärtige und zukünftige Seligkeit bekennen möchte.
Und so schämt sich die Seele, der Gott sein Liebesgebot zu-
ruft, ihm ihre Liebe zu bekennen; denn sie kann ihre Liebe
nur bekennen, indem sie ihre Schwachheit mitbekennt und dem
»Du sollst lieben« Gottes antwortet: Ich habe gesündigt.
OFFENBARUNG
229
Ich habe gesündigt, spricht die Seele und tut die Scham
ab. Indem sie es so spricht, rein in die Vergangenheit zurück,
reinigt sie die Gegenwart von der vergangenen Schwachheit.
Ich habe gesündigt, heißt: Ich war Sünder. Mit diesem Be-
kenntnis des Gesündigthabens aber macht die Seele die Bahn
frei für das Bekenntnis: Ich bin ein Sünder. Dies zweite aber
ist schon das volle Geständnis der Liebe. Es wirft den Zwang
der Scham weit weg und gibt sich ganz der Liebe hin. Daß
der Mensch ein Sünder war, ist im Bekenntnis abgetan; zu
diesem Bekenntnis hatte er die Scham überwinden müssen,
aber sie blieb neben ihm stehen, solange er bekannte. Jetzt
erst, wo er, trotzdem er die vergangene Schwachheit von sich
getan hat, gleichwohl bekennt noch Sünder zu sein, weicht die
Scham weg von ihm. Ja, daß sich sein Geständnis in die
Gegenwart wagt, ist das Anzeichen dafür, daß es die Scham
überwunden hat. Solange es sich noch im Vergangenen ver-
weilte, hatte es noch nicht den Mut, sich voll und vertrauend
auszusprechen, es konnte noch an der Antwort zweifeln, die
ihm werden würde; denn allerdings war der Seele bisher aus
Gottes Munde nur Namensanruf und liebeheischendes Gebot
gekommen, noch keine »Erklärung«, noch kein »Ich liebe
dich«, und es durfte, wie wir wissen, auch keines kommen,
um der Augenblicksverhaftetheit des Liebens willen, in der die
Echtheit der Liebe des Liebenden ruht und die ihm im Be-
kennen, im stets satzmäßigen Erklären zugrunde gehen würde,
wirklich zugrunde, zugrunde im »Gründen«; denn die Liebe
des Liebenden ist, im Gegensatz zur Liebe der Geliebten, die
ja in jener ihren Grund hat, grundlos. So zweifelte die Seele,
die bekennen möchte, noch, ob ihr Bekenntnis Aufnahme finden
werde. Erst indem sie aus dem Bekenntnis der Vergangenheit
sich in das Bekennen der Gegenwart hineinwagt, fallen die
Zweifel von ihr ab; indem sie ihre Sündhaftigkeit als noch
gegenwärtige Sündhaftigkeit, nicht als geschehene »Sünde«
bekennt, ist sie sich der Antwort gewiß, so gewiß, daß sie
diese Antwort nicht mehr laut zu hören braucht; sie vernimmt
sie in ihrem Innern; nicht Gott braucht sie von ihrer Sünde zu
230
V»
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
reinigen, sondern ijn Angesicht seiner Liebe reinigt sie sich
selber; im gleichen Augenblick, wo die Scham von ihr ge-
wichen ist und sie im freien, gegenwärtigen Geständnis sich
hingibt, ist sie der göttlichen Liebe gewiß, so gewiß, als ob
Gott selbst ihr jenes zuvor, als sie ihm die Sünden der Ver-
gangenheit beichtete, ersehnte »Ich verzeihe« ins Ohr gesagt
hätte: sie bedarf dieser förmlichen Absolvierung jetzt nicht
mehr, sie ist ihrer Last ledig im Augenblick, wo sie sie ganz
auf die Schultern zu nehmen gewagt hat. So braucht auch die
Geliebte das, ehe sie ihre Liebe gestanden, ersehnte Bekennt-
nis des Liebenden nicht mehr; im Augenblick, wo sie selber
wagt zu gestehen, ist sie seiner Liebe so gewiß, als flüsterte
er ihr sein Bekenntnis ins Ohr. Das Bekenntnis der noch
gegenwärtigen Sündhaftigkeit, um dessentwillen allein die ver-
gangene Sünde überhaupt gebeichtet wird, ist schon nicht
mehr Sündenbekenntnis — das ist da vergangen wie die be-
kannte Sünde selbst —, es bekennt nicht die Liebeleere der
Vergangenheit, sondern die Seele spricht: ich liebe auch jetzt,
auch in diesem gegenwärtigsten der Augenblicke noch lange
nicht so, wie ich — mich geliebt weiß. Dies Bekenntnis aber
ist ihr schon höchste Seligkeit; denn es umschließt die Gewiß-
heit, daß Gott sie liebt. Nicht aus Gottes, sondern aus ihrem
eigenen Munde kommt ihr diese Gewißheit.
Indem die Seele also auf diesem höchsten Punkt ihres Sich-
selberbekennens, aller Scham befreit, sich ganz vor Gott aus-
breitet, ist ihr Bekennen schon mehr als sich selber, mehr als
die eigene Sündhaftigkeit Bekennen; es wird nicht erst,
sondern ist schon unmittelbar Bekennen — Gottes. Wie die
Seele sich der Scham begibt und sich zu ihrer eigenen Gegen-
wart zu bekennen wagt und also der göttlichen Liebe gewiß
wird, kann sie nun diese göttliche Liebe, die sie erkannt hat,
bezeugen und bekennen. Aus dem Sündenbekenntnis springt
hervor das Glaubensbekenntnis; ein Zusammenhang, der un-
begreiflich wäre, wüßten wir nicht, daß das Sündenbekenntnis
sowohl in seinen Anfängen als Beichte des Vergangenen wie
in seiner Vollendung als Bekenntnis der gegenwärtigen Sünd-
OFFENBARUNG
231
haftigkeit nichts ist als das Liebesgeständnis der Seele in
seinem Hervortreten aus den Fesseln der Scham bis zur völ-
ligen vertrauensvollen Hingegebenheit. Die Seele, die ihr in
der Liebe Sein gesteht, bezeugt damit aufs gewisseste das Sein
des Liebenden. Alles Glaubensbekenntnis hat nur den einen
Inhalt: der, den ich im Erlebnis meiner Geliebtheit als den
Liebenden erkannt habe, — er ist. Der Gott meiner Liebe ist
wahrhaftig Gott.
Das Bekenntnis des Islam »Gott ist Gott« ist kein Glau-
bens*, sondern ein Unglaubensbekenntnis; es bekennt sich in
seiner Tautologie nicht zum offenbargewordenen, sondern zum
verborgenen Gott; mit Recht sagt der Cusaner, daß so auch
der Heide, auch der Atheist bekennen könne. Im echten
Glaubensbekenntnis geschieht immer diese Vereinigung zweier
sei es Namen sei es Naturen: es ist immer dies Zeugnis, daß
das eigene Liebeserlebnis mehr sein muß als ein eigenes Er-
lebnis; daß der, den die Seele in seiner Liebe erfährt, nicht
bloß Wahn und Selbsttäuschung der geliebten Seele ist,
sondern wirklich lebt. Gleich wie die Geliebte, indem sie sich
ihrer Liebe im seligen Geständnis bewußt wird, gar nicht
anders kann, sie muß glauben, daß der Geliebte ein rechter
Mann ist, sie kann sich nicht begnügen damit, daß es der ist,
der sie liebt, so wird die Seele sich in ihrer Geliebtheit gewiß,
daß der Gott, der sie liebt, wahrhaft Gott, der wahre Gott ist.
Und wie in diesem Glauben der Geliebten an den Liebenden
dieser erst wirklich zum Menschen wird — im Lieben erwacht
wohl die Seele und beginnt zu sprechen, aber Sein, sich selber
sichtbares Sein gewinnt sie erst im Geliebtwerden —, so ge-
winnt nun auch Gott erst hier, im Zeugnis der gläubigen Seele,
von seiner Seite, diesseits seiner Verborgenheit die schmeck-
und sichtbare Wirklichkeit, die er zuvor, jenseits seiner Ver-
borgenheit, einst im Heidentum in andrer Weise besessen
hatte. Indem die Seele vor Gottes Antlitz bekennt und damit
Gottes Sein bekennt und bezeugt, gewinnt auch Gott, der
offenbare Gott, erst Sein: »wenn ihr mich bekennt, so bin ich«.
Was antwortet nun Gott diesem ihn bekennenden »Ich bin
dein« der geliebten Seele?
232
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
Nun, nachdem Gott innerhalb und auf Grund der Offen-
barung Sein gewonnen hat, ein Sein also, das er nur als offen-
barer Gott gewann, ganz unabhängig von allem Sein im Ge-
heimen: nun kann er sich auch seinerseits zu erkennen geben,
ohne Gefahr für die Unmittelbarkeit und reine Gegenwärtigkeit
des Erlebens. Denn das Sein, das er jetzt zu erkennen gibt,
ist kein Sein mehr jenseits des Erlebens, kein Sein im Ver-
borgenen, sondern es ist ganz in diesem Erleben groß-
gewachsen, es ist ganz im Offenbaren. Er gibt sich nicht zu
erkennen, ehe er sich offenbart hat, sondern sein Offenbar-
gewordensein muß vorangehen, damit er sich zu erkennen
geben könne. Ehe ihn die Seele bekannt hat, kann er sich ihr
nicht zu erkennen geben. Nun aber muß ers. Denn das ists,
wodurch die Offenbarung erst zum Abschluß kommt. Sie
muß in ihrer grundlosen Gegenwärtigkeit nun dauernd auf
Grund kommen, einen Grund, der jenseits ihrer Gegenwärtig-
keit, also im Vergangenen liegt, aber den sie selber sichtbar
macht nur aus der Gegenwärtigkeit des Erlebens heraus. Jene
vielberufene Rückbeziehung der Offenbarung auf die Schöp-
fung, das ist es letzthin, was wir hier meinen. Aber, wie eben
gesagt, nicht erklärt wird die Offenbarung aus der Schöpfung;
dann wäre ja die Schöpfung gegen sie etwas Selbständiges.
Sondern die vergangene Schöpfung wird von der lebendig
gegenwärtigen Offenbarung aus bewiesen. Bewiesen, nämlich
gewiesen. Im Lichtschein des erlebten Offenbarungswunders
wird eine dieses Wunder vorbereitende und vorsehende Ver-
gangenheit sichtbar; die Schöpfung, die in der Offenbarung
sichtbar wird, ist Schöpfung der Offenbarung. Erst an dieser
Stelle, wo der Erlebnis- und Gegenwartscharakter der Offen-
barung unverrückbar festgestellt ist, erst hier darf sie eine
Vergangenheit bekommen, aber hier muß sie es nun auch. Auf
das bekennende »Ich bin dein« der Seele antwortet Gott nicht
ebenso einfach sein »Du bist mein«, sondern er greift zurück
ins Vergangene und weist sich aus als der Urheber und Er-
öffner dieses ganzen Zwiegesprächs zwischen ihm und der
Seele: »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist
mein«.
OFFENBARUNG
233
Das »Ich bin dein« der geliebten Seele kann grundlos
gesagt werden, ja nur grundlos. Die Seele spricht es rein aus
dem lebendigen Überfluß ihres seligen Augenblicks. Aber die
Antwort, das »Du bist mein« des Liebenden, ist als ein Satz,
der nicht das Ich zum Subjekt hat, mehr als nur Wort des
eigenen Herzens, es stellt, und wenn auch nur im engsten,
innersten Kreise, eine Beziehung in die Welt der Dinge hinein.
So darf dies Wort nur gesprochen werden, wenn es sich der
Form der Welt anpaßt. Es muß ihm ein Grund vorangeschickt
werden, eine Vergangenheit als Begründung seiner Gegen-
wart; denn diese Gegenwart will nicht mehr bloß die innere
unmittelbare Gegenwart sein, sondern behauptet sich als
Gegenwart in der Welt. Der Liebende, der zur Geliebten
spricht »Du bist mein«, ist sich bewußt, daß er die Geliebte
in seiner Liebe erzeugt und mit Schmerzen geboren hat. Er
weiß sich als den Schöpfer der Geliebten. Und mit diesem
Bewußtsein umschließt er sie nun und hüllt sie mit seiner
Liebe ein in der Welt — »du bist mein«.
Indem aber Gott so tut, ist seine Offenbarung an die Seele
nun in die Welt getreten und zu einem Stück Welt geworden.
Nicht als ob mit ihr etwas Fremdes in die Welt träte. Sondern
die Offenbarung, obwohl sie dabei ganz gegenwärtig bleibt,
erinnert sich rückwärts ihrer Vergangenheit und erkennt ihre
Vergangenheit als ein Stück vergangener Welt; damit aber
gibt sie auch ihrer Gegenwärtigkeit die Stellung eines Wirk-
lichen in der Welt. Denn was in einer Vergangenheit ge-
gründet ist, das ist auch in seiner Gegenwärtigkeit nicht bloß
innerlich, sondern ein sichtbar Wirkliches. Die Geschichtlich-
keit des Offenbarungswunders ist nicht sein Inhalt — der ist
und bleibt seine Gegenwärtigkeit —, aber sein Grund und
seine Gewähr. Erst in dieser seiner Geschichtlichkeit, dieser
»Positivität«, findet der selbsterlebte Glaube, nachdem er aus
sich selbst heraus schon die höchste ihm bestimmte Seligkeit
erfahren hat, nun auch die höchste ihm mögliche Gewißheit.
Diese Gewißheit geht jener Seligkeit nicht voran, aber sie muß
ihr folgen. Erst in dieser Gewißheit der vorlängst ge-
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
234
schehenen namentlichen Berufung zum Glauben findet der
erlebte Glaube Ruhe. Gewiß, schon vorher konnte ihn nichts
von Gott scheiden, aber doch nur, weil er in seiner Vertiefung
ins Gegenwärtige nichts außer sich sah. Jetzt darf er ruhig
die Augen öffnen und um sich schauen in die Welt der Dinge;
es gibt kein Ding, das ihn von Gott scheiden könnte; denn in
der Welt der Dinge erblickt er in der unverrückbaren Tatsäch-
lichkeit eines geschichtlichen Ereignisses den gegenständlichen
Grund seines Glaubens. Die Seele kann mit offenen Augen
und ohne zu träumen sich in der Welt umtun; immer bleibt
sie nun in Gottes Nähe. Das »Du bist mein«, das ihr gesagt
ist, zieht einen schützenden Kreis um ihre Schritte. Sie weiß
nun, daß sie nur die Rechte auszustrecken braucht, um zu
fühlen, daß Gottes Rechte ihr entgegenkommt. Sie kann nun
sprechen: mein Gott, mein Gott. Sie kann nun beten.
Das ist das Letzte, was in der Offenbarung erreicht wird,
ein Überschießen des höchsten und vollkommensten Ver-
trauens der Seele: das Gebet. Es wird hier gar nicht gefragt,
ob dem Gebet Erfüllung wird. Das Gebet selbst ist die Er-
füllung. Die Seele betet mit den Worten des Psalms: Laß mein
Gebet und deine Liebe nicht von mir weichen. Sie betet um
das Betenkönnen, das mit der Gewißheit der göttlichen Liebe
ihr schon gegeben ist. Daß sie beten kann, ist das Größte, was
ihr in der Offenbarung geschenkt wird. Es ist nur ein Beten-
können. Indem es das Höchste ist, tritt es schon über die
Grenze dieses Bezirks hinaus. Denn mit dem Geschenk des
Betenkönnens ist ihr ein Betenmüssen auferlegt. In der Gottes-
nähe des unbedingten Vertrauens, dessen Kraft Gott ihr mit
seinem in der Vergangenheit gegründeten »Du bist mein« ver-
liehen hat, findet ihr Glaube Ruhe. Ihr Leben aber bleibt in
Unruhe; denn was sie als Begründung ihres Glaubens in der
Welt besitzt, ist nur ein Stück Welt, nicht die ganze. Ihr Er-
lebnis füllt sie ganz; die geschichtliche Wirklichkeit aber, die
dem Erlebnis in der Schöpfung zugrunde liegt, ist nicht das
Ganze der Welt, sondern nur ein Teil. So wird ihr Beten-
können ein Betenmüssen. Gottes Stimme, die ihr Inneres er-
OFFENBARUNG
füllt, erfüllt ihre Welt nur zum kleinsten Teil; genug, um ihrer
weltlichen Wirklichkeit im Glauben gewiß sein zu können;
nicht genug, um dieses Glaubens zu leben. Das einmal im
Vergangenen geschehene Grundwunder der Offenbarung ver-
langt seine Ergänzung in einem weiteren noch ungeschehenen
Wunder. Der Gott, der einmal die Seele bei ihrem Namen
gerufen hat — was »feststeht« wie alles Vergangene, aber
doch zu keines Dritten Kenntnis gekommen ist —, er muß es
einst »abermals« tun, dann aber »vor den Augen alles Leben»
digen«.
So muß die Seele beten um das Kommen des Reichs. Ein-
mal ist Gott herniedergestiegen und hat sein Reich gegründet.
Die Seele betet . um die künftige Wiederholung dieses Wun-
ders. um die Vollendung des einst gegründeten Baus und um
nichts weiter. Die Seele schreit: O daß du den Himmel zer-
rissest und führest hernieder. Sehr tief drückt der Sprach-
gebrauch der Ursprache der Offenbarung ein solches »o daß
du . . .« aus durch die Frageform: »Wer gäbe, daß du . . .«
Die Offenbarung gipfelt in einem unerfüllten Wunsch, in dem
Schrei einer offenen Frage. Daß die Seele den Mut hat. so zu
wünschen, so zu fragen, so zu schreien, diese Vollkommen-
heit des in Gott geborgenen Vertrauens ist das Werk der
Offenbarung. Aber den Wunsch zu erfüllen, die Frage zu be-
antworten, den Schrei zu stillen, das liegt nicht mehr in ihrer
Macht. Ihr eignet das Gegenwärtige; ins Zukünftige wirft sie
nur den Wunsch, die Frage, den Schrei. Denn anders als in
diesen drei Gestalten, die nur eine sind, erscheint die Zukunft
nicht im Gegenwärtigen. Und deshalb ist dies Letzte, das Ge-
bet, obwohl ihr Höchstes, doch ihr nur halb angehörig, nur
als Betenkönnen und Betenmüssen, nicht als — wirkliches
Beten. Das Gebet um das Kommen des Reichs ist immer nur
ein Schreien und Seufzen, nur ein Stoßgebet. Es gibt noch ein
anderes Beten. So bleibt das Letzte, was ganz dem Reich der
Offenbarung angehört, doch der völlig beruhigte Glaube, die
Gestilltheit der Seele in Gottes »Du bist mein«, der Friede,
den sie in seinen Augen gefunden. Die Wechselrede der Liebe
236
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
ist da zu Ende. Denn der Schrei, den die Seele im Augenblick
der höchsten unmittelbaren Erfüllung stöhnt, tritt über die
Schranken dieser Wechselrede hinaus; er kommt nicht mehr
aus der seligen Gestilltheit des Qeliebtseins, sondern steigt in
neuer Unruhe aus einer neuen uns noch unerkannten Tiefe der
Seele und schluchzt über die ungesehene, doch gefühlte Nähe
des Liebenden hinweg in den Dämmer der Unendlichkeit
hinaus.
Im eilenden Hin- und Wiedergang der Rede konnten wir
kaum mit genügender Deutlichkeit die Punkte bezeichnen, wo
die sprechende Sprache der Offenbarung sich von der fest»
stellenden, erzählenden, bedingenden Sprache der Schöpfung
abschied. Das sei hier zusammenfassend, in gewissermaßen ta-
bellarischer Kürze nachgeholt. DerZeitform der Vergangenheit,
in der die Schöpfung als Tat gegründet war und als Ergebnis
gipfelte, entspricht hier beherrschend die Gegenwart. Die
Offenbarung ist gegenwärtig, ja ist das Gegenwärtigsein
selber. Die Vergangenheit, in die auch sie zurücksieht in dem
Augenblick, wo sie ihrer Gegenwärtigkeit die Form der Aus-
sage geben möchte, wird ihr nur sichtbar, indem sie mit dem
Licht der Gegenwart in sie hineinleuchtet; erst in diesem Blick
rückwärts erweist sich die Vergangenheit als Grund und Vor-
aussage des gegenwärtigen, im Ich behausten Erlebens. An
sich und zunächst aber ist dem Erlebnis überhaupt nicht die
Form der Aussage eigen wie dem Geschehen der Schöpfung,
sondern seine Gegenwärtigkeit wird befriedigt nur durch die
Form des unmittelbar in einem entspringenden, gesprochenen,
vernommenen und vollzogenen Gebots: der Imperativ gehört
der Offenbarung wie der Indikativ der Schöpfung; nur er
verläßt nicht den Kreis des Ich und Du. Was in jenem all-
umfassenden, einsamen, monologischen »lasset uns« Gottes
bei der Schöpfung des Menschen vorausklang, das geht im
Ich und Du des Offenbarungsimperativs in Erfüllung. Das
Er=sie*es der dritten Person ist verklungen. Es war nur der
Grund und Boden, aus dem das Ich und Du hervorwuchs. Dem
OFFENBARUNG
237
Erleben, nicht mehr dem Geschehen dient jetzt das Verb zum
Ausdruck, Dadurch wird das Substantiv aus dem Objekt zum
Subjekt; sein Kasus ist nun der Nominativ statt des Akkusativ.
Als Subjekt des Erlebens hört das Substantiv aber auf, Ding
zu sein, und zeigt nicht mehr den Grundcharakter des Dings
als eines Dings unter Dingen; es ist, weil Subjekt, nun ein
einzelnes; es steht grundsätzlich im Singular. Es ist Einzelnes,
vielmehr Einzelner, wie es wiederum in der Schöpfung des
Menschen, des ersten Einzelnen, des »Ebenbilds Gottes«, vor-
geklungen war.
Das Ich oder das Du, so in seiner Gegenständlichkeit an-
gesehen, ist Einzelner schlechtweg, nicht Einzelner durch Ver-
mittlung irgend einer Vielheit; es ist kein »der«, weil es
»einer« wäre, sondern Einzelner ohne Gattung. An Stelle der
Artikel tritt hier die unmittelbare Bestimmtheit des Eigen-
namens. Mit dem Anruf des Eigennamens trat das Wort der
Offenbarung in die wirkliche Wechselrede ein; im Eigen-
namen ist Bresche in die starre Mauer der Dinghaftigkeit ge-
legt. Was einen eigenen Namen hat, kann nicht mehr Ding,
nicht mehr jedermanns Sache sein; er ist unfähig, restlos in
die Gattung einzugehen, denn es gibt keine Gattung, der es
zugehörte, es ist seine eigene Gattung. Es hat auch nicht mehr
seinen Ort in der Welt, seinen Augenblick im Geschehen, son-
dern es trägt sein Hier und Jetzt mit sich herum; wo es ist,
ist ein Mittelpunkt, und wo es den Mund öffnet, ist ein Anfang.
Mittelpunkt und Anfang gab es in der vielverflochtenen
Welt der Dinge überhaupt nicht; das Ich mit seinem Eigen-
namen aber, indem es, gemäß seiner Schöpfung als Mensch
und »Adam« zugleich, in sich selber Mittelpunkt und Anfang
ist, bringt nun diese Begriffe Mittelpunkt und Anfang in die
Welt; denn es fordert in der Welt seinem Erlebnismittelpunkt
einen Mittelpunkt, seinem Erlebensanfang einen Anfang. Es
verlangt nach Orientierung, nach einer Welt, die nicht in
gleichgültigem Nebeneinander liegt, in gleichmütigem Nach-
einander hinfließt, sondern eine, die seiner inneren, es in
seinem Erlebnis stets begleitenden Ordnung den festen
238
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
Grund einer äußeren Ordnung unterbaut. Der eigene
Name fordert Namen auch außer sich. Adams erste Tat
ist die Namengebung an die Wesen der Welt; nur ein Vor-
klang ist auch das wiederum; denn Adam benennt die Wesen,
wie sie ihm in der Schöpfung entgegentreten, als Gattungen,
nicht als Einzelwesen, und er benennt sie selber, so nur seine
Forderung nach Namen ausdrückend; die Forderung bleibt
noch unerfüllt; denn die Namen, die er fordert, sind nicht
Namen, die er selber gäbe, sondern Namen, die ihm geoffen-
bart werden wie sein eigener, Namen, an denen die Eigenheit
des eigenen Namens Grund und Boden gewönne. Es ist dafür
noch nicht nötig, daß die ganze Welt voller Name sei; aber
wenigstens genug Name muß in ihr sein, um seinem eigenen
'Namen Grund zu geben. Das eigene Erlebnis, das am eigenen
Namen hängt, braucht also Begründung in der Schöpfung,
jener Schöpfung, die wir vorhin schon als Schöpfung der
Offenbarung, als historische Offenbarung bezeichneten. Solche
Begründung muß, weil in der Welt, raurmzeitlich sein, gerade
daftiit sie der absoluten Gewißheit des Erlebens, seinen eigenen
Raum und seine eigene Zeit zu haben, Grund geben kann. Die
Begründung muß dem Erleben also in der Welt sowohl einen
Mittelpunkt wie einen Anfang stiften, den Mittelpunkt im
Raum, den Anfang in der Zeit. Diese beiden zum mindesten
müssen benannt sein, mag auch sonst noch die Welt im
Dunkel der Namenlosigkeit liegen. Es muß ein Wo, einen noch
sichtbaren Ort in der Welt geben, von wo die Offenbarung
ausstrahlt, und ein Wann, einen noch nachklingenden Augen-
blick, wo sie den Mund auftat. Beides muß, nicht mehr heut,
aber einstmals, ein einziges gewesen sein, ein ebenso in sich
einiges wie heut mein Erlebnis; denn es soll mein Erlebnis
auf Grund stellen. Mag in der Nachwirkung das räumliche
StatTgefundemhaben und das zeitliche Geschehemsein der
Offenbarung heute in getrennten Trägern fortleben, in Gottes
Gemeinde jenes, in Gottes Wort dieses, einmal muß es mit
einem einzigen Schlage gegründet sein. Grund der Offen-
barung, Mittelpunkt und Anfang in eins, ist die Offenbarung
OFFENBARUNG
239
des göttlichen Namens. Aus dem geoffenbarten Namen Gottes
leben ihr Leben die verfaßte Gemeinde und das verfaßte Wort
bis auf den heutigen Tag, bis auf den gegenwärtigen Augen-
blick und bis in das eigene Erlebnis. Denn wahrhaftig, Name
ist nicht, wie der Unglaube immer wieder in stolz=verstockter
Leere wahrhaben möchte, Schall und Rauch, sondern Wort
und Feuer. Den Namen gilt es zu nennen und zu bekennen:
Ich glaub ihn.
Die Offenbarung ist also gleich notwendig wie die Schöp-
fung; denn der Name ist gleich notwendig wie das Ding
und doch nicht auf das Ding »zurückzuführen«, wenn auch
andererseits das Ding notwendige Voraussetzung und stumme
Voraussage seines Namens ist. Es war der ungeheure Irrtum
des Idealismus, daß er meinte, in seiner »Erzeugung« des All
sei wirklich das All ganz enthalten. Jenen Irrtum hatte unsere
Zerstückelung des All im ersten Teil beseitigen sollen. Im Ge-
danken der Schöpfung hatten wir dann den Wahrheitsgehalt
des Idealismus aufgezeigt und zugleich begrenzt. Der Idealis-
mus hatte sich uns erwiesen als eine Konkurrenz nicht mit der
Theologie überhaupt, sondern nur mit der Theologie der
Schöpfung. Von der Schöpfung hatten wir den Weg zur
Offenbarung gesucht und waren so in die Helle eines Welt-
mittags gekommen, in welcher der idealistische Schatten, den
die erschaffenen Dinge im schrägen Strahl der Weltmorgen-
sonne warfen, einschrumpfte bis zum völligen Verschwinden.
Jene Schatten hatten im Reich der Nacht sich eine Schein-
lebendigkeit anschlafen können; im Reich der geschaffenen
Dinge konnten sie wenigstens als die Begleiter einzutreten
nicht verhindert werden, welche die runde und bunte Wirk-
lichkeit der Dinge ins Flache zerrten und in gespenstisch
grauen Bildern nachäfften. Aber ins Reich der offenbarten
Namen ist ihnen der Eintritt versperrt; kein Überhaupt, kein
Wenn und So, kein Einerseits und Andrerseits, kein Irgendwo
und Irgendwann tritt durch diese Pforte. Der »Gegenstand«
sieht seinen Platz drinnen schon von Namen besetzt, das »Ge-
2^0
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
setz« vom Gebot; so taumeln sie verwirrt von der Schwelle
zurück; hier ist ihre Kraft zu Ende. Aber die Kraft der Offen-
barung fängt hier erst an. Sie war wirksam auch schon im
Schöpfungsbegriff, aber erst hier ist sie im Eigenen.
So erweisen die »Kategorien« der Theologie ihren Uber-
schuß über die der idealistischen Philosophie. Diese idea-
listischen Kategorien können höchstens das Gebiet der ersten
theologischen, der Schöpfung, zu decken — versuchen. Der
Versuch, ihr Reich weiter auszudehnen, bricht zusammen, ehe
er begonnen hat. Die Kategorizität der Reihe Schöpfung=Offen-
barung=Erlösung erweist sich aus dem Zusammenbruch jenes
Versuchs. Denn unter den Begriffen entscheidet die Macht
und nichts als die Macht den Kampf ums — Dasein. Wenn
sich Begriffe gegen andre als machtlos erweisen, so verlieren
sie eben ihren Kategoriecharakter an jene. Kategoriecharakter
haben heißt für einen Begriff ja weiter nichts als das, daß er
als Begriff unmittelbar auf Dasein bezogen ist, nicht erst
mittelbar durch Vermittlung irgend welcher eimtretenden Um-
stände, Erfahrung zum Beispiel. Die Kategorie ist »Anklage«;
sie behauptet etwas, was schon dadst, nicht erst etwas, was
erst eintreten muß, um da zu sein.
Indem wir der Reihe Schöpfung=Offenbarung=Eriösung
Kategoriecharakter zu- und den Begriffen des Idealismus ihn
absprechen, reden wir freilich schon die Sprache des Idealis-
mus. In Wirklichkeit sind Schöpfung, Offenbarung, Erlösung
nicht Kategorien; Kategorien bilden nie eine Reihe unter-
einander; sie können höchstens die Grundlagen legen, auf
denen eine Reihe in der Wirklichkeit gebildet werden kann.
Schöpfung, Offenbarung, Erlösung aber sind als Reihe Schöp-
fung=Offenbarung=Erlösung selber eine Wirklichkeit, und es
ist ein Zugeständnis «n die idealistische Denkweise, wenn wir
statt der Bindestriche zwischen den dreien Kommas setzen.
Weshalb aber machten wir dann überhaupt dies Zugeständ-
nis? Wenn alles Wirkliche in den dreien, als in der Wirk-
lichkeit, dem wirklichen Ablauf des Welttags, mit enthalten
ist, wie wir behaupten, was liegt uns dann noch daran, ob
OFFENBARUNG
241
dies Wirkliche auch dann ihnen untertan ist, wenn sie bloße
Begriffe wären? Eingetanheit ist ja unendlich mehr als Unter-
tanheit, so viel mehr, wie Freiheit mehr ist als Knechtschaft.
Und in die Wirklichkeit der Offenbarung eingetan, gewinnt
alles die Freiheit, die es, unter die Knechtschaft der Begriffe
untergetan, eingebüßt hat. Weshalb also dieses Zugeständnis?
Weil zwar alles Wirkliche zur Freiheit berufen ist, aber
nicht das Halbwirkliche, nicht das Wirkliche zweiter Ord-
nung, nämlich wohl alles Wirkende, aber nicht das Gewirkte.
Das Werk, das Gemachte — wohlgemerkt das Nurwerk, denn
selbst der Mensch kann in gewisser Hinsicht Werk sein —
also das Nichts=als=Werk erweist sich als Wirklichkeit zwei-
ter Ordnung gerade dadurch, daß die Reihe, in die alle Wirk-
lichkeit erster Ordnung eingetan ist, an ihm aus einer wirk-
lichen Reihe, einer Abfolge von Bahnpunkten, zu einer bloßen
Mehrheit von Kategorien wird. Diesem Halbwirklichen, die-
sem bloß als Teil, bloß als Glied Wirklichen ist die Reihe
Schöpfung=Offenbarung=Erlösung nicht sein Haus, in dem es
wohnt, sondern sein zuständiges Gerichtsgebäude, wohin es
bloß gerufen ist, um vernommen zu werden. Die Fragen etwa,
die von der Philosophie in der Logik oder in der.Ethik abge-
handelt werden, haben ihren festen Wohnsitz in der Reihe der
Wirklichkeit, wie wir es für die logischen Probleme und die
ihnen durch »Intellektualisierung« angeglichenen ethischen ja
schon gezeigt haben. Der Mensch ist eben ganz, wenn er
denkt, und auch ganz, wenn er handelt; denn es ist ihm
schlechtweg geboten zu denken und zu handeln, und jedem
Menschen. Aber der Künstler ist kein Mensch, sondern ein
Unmensch; was schon daraus erhellt, daß nicht jedem Men-
schen geboten ist, Künstler zu sein. Wie die Künstler nur ein
Teil der Menschheit sind, wenn auch ein notwendiger, und
wie uicht jedem Menschen, aber dem Künstler allerdings, ge-
boten ist, das Kunstwerk zu schaffen, so sind sie, indem sie
es nun schaffen, auch nicht ganz Mensch. Man hält dem
Künstler seine menschlichen Mängel zugute und gesteht ihm
»poetische Lizenzen« und »Künstlermoral« zu. Man gesteht
16
242
OFFENBARUNG
eben dadurch, daß man sie nicht als vollwertige Menschen
anerkennt, und es ist kein Zufall, daß viele große Künstler
einmal der Lüge des Künstlerlebens den Abschied gaben und
ihren Zauberstab mit Prospero ins Meer schleudern, um als
einfache Sterbliche in irgend einem Stratford ihr Leben
menschlich zu beschließen. Denn während der Denker seine
Gedanken, der Täter seine Taten einst vor Gottes Thron
niederlegen wird, um mitten unter ihnen gerichtet zu werden,
weiß der Künstler, daß seine Werke ihm nicht nachfolgen
und er sie auf der Erde zurücklassen muß, aus der sie, wie
alles, was nicht dem ganzen Menschen angehört, gekommen
sind.
Für die Kunst also werden wie für alles Empirische die
Stationen der Wirklichkeit zu bloßen Kategorien. Die Kunst
ist hier gewissermaßen der Erstling und Repräsentant alles
»Empirischen«. Denn für alles Halb- und Viertelswirkliche —
und das ist ja das, stets vereinzelte, Empirische — gilt mit,
was für sie gilt. Nur daß an der Kunst allein sich dieser Kate-
goriecharakter der »Begriffe« Schöpfung, Offenbarung, Er-
lösung lückenlos aufzeigen läßt; denn sie ist unter allem Em-
pirischen, allem bloß Gliedwirklichen, das einzige Notwendige.
Wenn es keine Schuster gäbe, dann würden die Menschen
barfuß gehen, aber sie würden auch gehen. Aber wenn es
keine Künstler gäbe, dann wäre die Menschheit ein Krüppel;
denn es fehlte ihr dann die Sprache vor der Offenbarung,
durch deren Dasein allein die Offenbarung ja die Möglichkeit
hat, als historische Offenbarung in die Zeit einmal einzutreten
und dort sich zu erweisen als etwas, was schon von uran ist.
Lernte der Mensch wirklich erst in dem Augenblick sprechen,
den wir als den historischen Anfang der Offenbarung erkennen
müssen, so wäre die Offenbarung das, was sie nicht sein darf:
ein Wunder ohne Zeichensinn. Aber weil der Mensch in Wirk-
lichkeit die Sprache in der Kunst auch schon zu einer Zeit
besitzt, wo ihm sein Inneres noch unaussprechlich ist, die
Kunst eben als Sprache dieses sonst noch Unaussprechlichen,
so ist immerfort und also von der Schöpfung her die Sprache
OFFENBARUNG
243
ganz und gar da, und so wird das Sprachwunder der Offen-
barung zum Zeichen der göttlichen Schöpfung und also zum
echten Wunder; Die Künstler werden also eigentlich geopfert
für die Menschlichkeit der übrigen Menschheit. Die Kunst
bleibt Stückwerk, -damit das Leben ein Ganzes sein und wer-
den kann. Und so ist die Kunst uns hier in allen Büchern
dieses Teils, anders übrigens als in den Büchern der andern
Teile, zwar nur Episode, aber eine notwendige. Wenn wir im
vorigen Buch es so ausdrückten, daß sie Gesprochenes sei,
nicht Sprache, so müssen wir also nun hinzufügen, daß sie
unter allem Gesprochenen das ist, was nicht ungesprochen
bleiben dürfte. Wir setzen nun die im vorigen Buch begonnene
Darstellung ihrer Grundbegriffe an Hand der in diesem Buch
neu hinzugekommenen »Kategorie« Offenbarung fort.
0
Genau wie im vorigen Buch die Kategorie der Schöpfung
in ihrer Bedeutung für die Kunst bestimmt werden mußte
durch unmittelbares Zurückgehen auf ihre Wesenselemente,
die wir in der Vorwelt aufgedeckt hatten, so auch jetzt die
Kategorie der Offenbarung. Die Schöpfungsbegriffe der Kunst-
lehre entspringen in der Einwirkung des »Mythischen« auf
das »Plastische«, in dem Hervortreten also des Einzelnen aus
dem Ganzen, eines ästhetisch reichen Wirklichen aus einem
ihm vorangehenden Vorästhetischen, das sich zu jenem ver-
hält wie der Schöpfer zur Kreatur: er setzt sie frei aus sich
heraus ins Freie. So entspringen die Offenbarungsbegriffe der
Kunstlehre in der Einwirkung des »Mythischen« auf das »Tra-
gische«, also des Ganzen auf den zu vernichtenden seelischen
Gehalt. Das ist eine ganz andersartige Einwirkung als jene.
Die Beseeltheit wird nicht geschaffen, nicht freigesetzt, son-
dern ringt sich aus der Ganzheit los; das vorästhetische Ganze
muß sich selbst preisgeben um der ästhetischen Beseeltheit
willen. Es ist auch hier nicht so, daß die Offenbarungsbegriffe
•aus den Schöpfungsbegriffen entspringen, sondern sie sind
gleich ursprünglich wie jene; sie kommen unmittelbar aus dem
im Verhältnis zu ihnen vorästhetischen Ganzen.
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
ZJ±
Gleich das oberste Begriffsverhältnis, das wir hier zu be-
trachten haben, wird uns das lehren. Das Werk ist genau so
alt wie sein Urheber. Der Urheber selbst wurde Urheber erst,
indem er Urheber des Werks wurde. Das Genie wird ja, wie
wir ausgeführt haben, nicht geboren. Und im Augenblick, wo
das vorästhetische Ganze eines Menschen, seine »Individua-
lität«, seine »Persönlichkeit«, den Genius in ihm frei zum Werk
macht, ist auch das Werk da. Denn das Hereinbrechen des
Selbst über die Persönlichkeit geschieht gleichzeitig mit der
Konzeption des Werks. Es gibt eben kein »verhindertes«
Genie; das könnte es nur geben, wenn das Werk jünger wäre
als der Urheber, aber sie sind gleich alt; wo das Genie er-
wacht, beginnt auch das Werk zu erscheinen. So erscheint
das Werk also nicht im Genie und aus dem Genie, obwohl es
begrifflich das Entstandensein des Genies im Menschen vor-
aussetzt; es hat selbst seinen eigenen Entstehungsgang im
Menschen. Während die Entstehung des Genies Freiwerden
einer vorher gar nicht feststellbaren charakteristischen Be-
stimmtheit, eben des Genies, von der vorgenialen Ganzheit
des Menschen ist, geschieht die Entstehung des Werks so, daß
jene menschliche Ganzheit auf sich selbst Verzicht tut zus
gunsten eines Etwas, von dem sie selber nicht meint, daß es
aus ihr hervorgegangen wäre, sondern das ihr erscheint wie
ein ihr Gegenüberstehendes, dem sie dadurch, daß sie sich
daran weggibt, Leben und Seele einhaucht. Das Werk wird
aus dem Vorästhetischen, dem Stoff, dem Inhalt, durch den
schranken- und bedenkenlos in es hineinergossenen liebenden
Überfluß der menschlichen Ganzheit, die sein Urheber wird,
zum Beseelten; der Stoff wird Werk, der Inhalt Gehalt. Es
ist ganz deutlich, daß diese Beseelung des Stoffes, dieses Wer-
den des Inhalts zum Gehalt nicht vom Menschen als Urheber
ausgeht, sondern von dem ganzen Menschen, in dem der Ur-
heber selber erst entstehen konnte. Der Urheber verliert sich
nicht in sein Werk, ganz und gar nicht; aber der Mensch als
vielfältiges Ganzes büßt seine Ganzheit und Geschlossenheit
ein und versenkt sich selbstvergessen in den schlafenden
OFFENBARUNG
245
Stoff, bis der Marmor zum Leben erwacht Das Genie ist
schon viel zu verengt, um noch so lieben zu können, wie es
dieser Beseelungsvorgang erfordert. Das Werk erwacht zum
Leben in der Liebe des Menschen selber. Die Beseeltheit des
Werks kommt aus der gleichen Tiefe wie die Genialität des
Urhebers, doch diese in einfürallemal geschehenem, über-
mächtigmnbegreiflichem Hervorgetretensein, jene in immer
erneutem öffnen der menschlichen Brust und Preisgeben ihres
Geheimnisses.
Im Urheber selbst hatten wir wiederum als das Grund-
legende die Eigenschaften des »Poeten« nach dem ursprüng-
lichen Wortsinn, das Schöpferische erkannt, dies »Innerlich»
volIer=Figur=sein«, die Gemeinsamkeit und gewissermaßen
Familienähnlichkeit der Einfälle. Es ist das, was aus dem Ur-
heber heraustritt, er weiß selber nicht wie — die notwendige
Voraussetzung des Weiteren. Aber wiederum ist nun das,
was zu dieser notwendigen Voraussetzung hinzutreten muß,
nicht aus ihr abzuleiten, sondern kommt unmittelbar aus dem
Charakter des Urheberseins. Das Künstlertum im engeren
Sinn, das Können entspringt nicht aus dem Reichtum der
schöpferischen Einfälle. Es genügt nicht, Einfälle zu haben, es
gehört auch »Fleiß« dazu; wer sich auf jenes allein verläßt und
alles davon erwartet, dem kann es gehen wie dem jungen
Spitteier, der ein volles Jahrzehnt lang die Konzeption seines
ersten Werks nicht auszuführen wagte, weil er meinte, das
müsse ebenso »von selber« kommen wie die Konzeption. Das
Genie »ist« zwar nicht Fleiß, aber es muß Fleiß werden, sich
zum Fleiß machen. Das bedeutet eine Selbsthingabe des
Genies. Während sein Schöpfertum sein Wesen nicht ver-
ändert, sondern frei die Gestalten aus ihm heraus ins Leere
treten, zehrt das Künstlertum ihm am Mark. Als Schöpfer
steht das Genie in ruhiger Macht über den Gestalten, die es
aus sich herausgesetzt hat, als Künstler muß es sich ihnen in
leidenschaftlicher Selbstvergessenheit hingeben; es muß auf
seine Ganzheit Verzicht tun, grade um dessentwillen, was es
ist und werden will: nämlich Urheber. Es muß sich in die ihm
246
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
jeweils gegenüberstehende Einzelheit versenken und sie als
einzelne mit dem Leben erfüllen, das sie erst durch diese, run-
dende, »liebevolle« Arbeit des selbstvergessenen Fleißes ge-
winnen kann. Umgekehrt lohnt die so lebendig gewordene
Einzelheit wiederum dem Urheber den in sie hineingesenkten,
immer frischen, stets so, als wenn nur sie allein da wäre, ar-
beitenden Fleiß, indem sie ihn zum Bewußtsein seiner selbst
bringt. Als Schöpfer weiß das Genie nicht, was es tut noch
was es ist; als Künstler, in der »ungenialen«, gewissermaßen
handwerklichen Arbeit erwacht es zum Bewußtsein; nicht die
Fülle seiner Geschöpfe, sondern die liebevoll belebte einzelne
Gestalt bezeugt ihm selbst sein Dasein. Sein Schöpfertum ist
seine Selbstschöpfung; er ist schon darin Genie, aber er weiß
es nicht; im Künstlertum aber geschieht ihm seine Selbst-
offenbarung.
Gehen wir weiter zum Werk und stellen auch es unter die
beiden uns bisher bekannten Kategorien. Es gibt ja im Werk
ganz allgemeine »Eigenschaften«, die jedes Werk, einerlei
welcher Art, aufweist. Es sind nicht jene ganz allgemeinen
Eigenschaften, die das Werk erst als Werk überhaupt charak-
terisieren, sondern solche, die — das Werk einmal gegeben —
seine Art näher beschreiben. Sie sind alle in jedem Kunstwerk
aufweisbar, aber allerdings in verschiedenen Graden, und die
Eigenart des Kunstwerks beruht auf dem Hervortreten der
einen oder andern. Die drei Elemente des Werks, daß es ein
Ganzes ist, daß es Einzelheiten hat und daß Seele in ihm ist,
wirken in ihnen zusammen. Indem die Ganzheit des Werks,
das als was es konzipiert ist, sich in der Ausführung der Ein-
zelheiten verwirklicht, entsteht das, was man in jedem Werk
als sein Episches bezeichnen darf, »episch« also hier ohne be-
sonderen Hinblick auf die Dichtungsgattung gemeint; im Epos
ist dies »Epische« selber nur eine Eigenschaft. Es gehört zu
jedem Kunstwerk eine Fülle von Einzelheiten; der Gedanke
des Ganzen ist für sich noch gar nichts, ist bloß ein »ver-
borgenes« Werk; offenbar wird das Werk erst, indem der
Gedanke'die Einzelheiten aus sich heraussetzt. Er bleibt diesen
OFFENBARUNG
MZ
Einzelheiten gegenüber immer der ungeändert über ihnen
schwebende Gedanke, der Ursprung, auf dem ihr Dasein in
ästhetischer Beziehung allein beruht; aber er kann andrer-
seits gar nicht anders als sich in der schöpferischen Hervor-
bildung dieser Einzelheiten betätigen, denen gegenüber er
dann als Grund, Ursprung, ästhetischer Einheitspunkt stehen
bleibt. Als »episch« dürfen wir diese Eigenschaft des Werks,
frei aus dem einen Gedanken des Ganzen entsprungene Fülle
zu sein, wohl bezeichnen, weil es sich hier um das breit —
man spricht nicht umsonst von »epischer Breite« — ausge-
führte Inhaltliche handelt; das »Inhaltliche« nicht als einen
vor dem Werk liegenden Inhalt verstanden, sondern im Gegen-
teil grade nur als das was im Werk selber alles enthalten ist.
Die Frage etwa, ob diese oder jene Wendung, dieser oder
jener Vers, oder was mir sonst gerade durch den Kopf geht,
in diesem oder jenem Werk »vorkommt«, ist die Frage nach
4t»
dem »Inhalt« des Werks in dem Sinn, wie wir das Wort hier
verstehen.
Den Inhalt im anderen Sinn, nämlich als das dem Kunst-
werk Vorausgehende, aber im Kunstwerk nun erst ästhetisch
Beseelte, konnten wir im Gegensatz zu jenem »Epischen« als
das »Lyrische« des Werks bezeichnen. Denn lyrisch ist ja die
Selbsthingabe an den einzelnen Moment, das Vergessen der
eigenen Ganzheit und der Vielheit der Dinge. Das Ganze des
Werks muß eben, wie es einerseits als gemeinsamer ästhe-
tischer Beziehungspunkt hinter der Fülle der Einzelheiten
steht, andrerseits doch auch über jeder Einzelheit vergessen
werden können. Und diese Einzelheit muß so sein, daß über
ihr alle andern Einzelheiten vergessen werden können. Diese
ästhetische Vereinzelung des Einzelnen, diese »Einzelschön-
heit«, entsteht in jener Selbstpreisgabe des Ganzen, durch
welche die jeweils grade betroffene Einzelheit selber zu einem
kleinen Ganzen wird; die ganze Tiefe der Beseeltheit kann so
in ihr sich öffnen. Das ist eben die »lyrische« Schönheit des
Augenblicks, die nur dadurch im Ganzen des Kunstwerks mög-
lich wird, daß dies "Ganze sich ganz in den einzelnen Augen-
248 ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
blick versenkt bis zur völligen Verlorenheit. Aber indem es
sich also versenkt, tritt es selber in jedem einzelnen Fall aus
seiner Verborgenheit heraus: während es der Fülle der Ein-
zelheiten gegenüber erst bloß ein »verborgenes« Ganzes war,
wird es sich jetzt in der Beseelung der Einzelheit selber offen-
bar; denn die Seele, die das Einzelne gewinnt, gewinnt es ja
nur aus der eben hieraus sich offenbarenden, gegenüber der
Fülle der Einzelheit noch verborgenen Seele des Ganzen.
»Episch« und »lyrisch« in diesem Sinn sind Eigenschaften
jedes Kunstwerks, aber, wie gesagt, in verschiedener Mischung.
Schon die verschiedenen Künste unterscheiden sich nach dem
verschiedenen Hervortreten dieser Grundeigenschaften. Über-
wiegend »episch« sind die bildenden Künste, schon aus dem
einfachen Grunde, daß sie ihre Werke in den Raum setzen.
Denn der Raum ist die Form des Nebeneinander und also ohne
weiteres die Form, in der die Fülle der Einzelheiten unmittel-
bar mit einem Schlage ästhetisch überblickbar ist. Aus dem
entsprechenden Grund ist die Musik überwiegend »lyrisch«,
denn sie stellt ihre Werke in den Fluß der Zeit, und die Zeit
ist die Form, die jeweils immer nur einen einzelnen Augen-
blick ins Bewußtsein treten läßt; so daß also das Kunstwerk
hier notgedrungen in lauter kleinsten Partikeln aufgenommen
werden muß. Nirgends spielt denn auch die Einzelschönheit
eine solche Rolle wie in der Musik. Das Aufnehmen der
Musik wird viel eigentlicher als »Genuß« empfunden und führt
zu einer weit inbrünstigeren, um nicht zu sagen brünstigeren
Selbstvergessenheit als das Aufnehmen von Werken bildender
Kunst. Bei diesen ist wiederum ein Grad von Objektivität
beim Genuß möglich und berechtigt, der sich ebenfalls erklärt
aus dem Charakter der bildenden Kunst, ein mit einem Blick
als ästhetisches Ganzes, also eben wirklich »gegenständlich«,
Überschaubares zu sein. Der »Kenner« ist hier so heimisch
wie der »Genießer« in der Musik. Alle diese Unterscheidungen
sind natürlich nicht starr, sondern lassen Raum für Über-
gänge.
OFFENBARUNG
249
lm einzelnen Werk der bildenden Kunst ist nun das Grund-
legende, das, worauf wie auf einem Skelett das Werk auf-
gebaut ist und was doch eben als Skelett noch erst der bloße
Anfang, der bloße Schöpfungstag des Werks ist, etwas was
wir in Ermanglung eines feststehenden Ausdruckes »Vision«
nennen wollen. Was ist denn der Anfang des Werks der bil-
denden Kunst? Doch dies, daß das Ganze des Werks als ein
in alle Einzelheiten ausgebildetes Ganzes mit einem Mal dem
Künstler vor dem inneren Auge steht. Was er da sieht, hat
gar keine Beziehung auf'die »Natur«, selbst wenn dies Auf-
springen des Ganzen scheinbar im Angesicht der Natur ge-
schehen ist. Sondern im Gegenteil: der »Natureindruck« muß
in diesem schöpferischen Augenblick völlig verdrängt sein, um
dem Aufflammen der Vision Platz zu machen; man kann
sagen: der Künstler, selbst etwa der Porträtkünstler in der
ersten Sitzung, betrachtet seinen »Vorwurf« nur deshalb so
eindringlich, um über den Eindruck und die Eindrücke hinaus-
zukommen; er sieht ihn sich also eigentlich nur an, um ihn
nicht mehr zu sehen. In dem Augenblick, wo er ihn nicht mehr
sieht, sondern an seiner Stelle ein von aller Natur losgelöstes
Ganzes von Richtungen, Verhältnissen, Intensitäten, von
»Formen« also und »Valeurs«, um die Atelierausdrücke zu
gebrauchen, erst in diesem Augenblick ist das Bild im Künst-
ler da. Es ist ganz da; die Natur gibt, äußerlich betrachtet,
gar nichts mehr hinzu; in dieser, man möchte sagen, rein
ornamentalen, naturlosen Konzeption des ersten Augenblicks
ist schon die ganze Ausführung vorweggenommen. Aber nur
vorweggenommen. Genauer zu reden: geweissagt. Denn die
Ausführung ist nun mit nichten etwa eine einfache mechanische
des in der Vision geschaffenen Bildes, sondern sie ist ein
ebenso ursprünglicher Vorgang wie jene schöpferische Vision
selber.
Die Ausführung geschieht angesichts der Natur. In der
Auseinandersetzung mit ihr tritt zur Vision die »Form«, Form
in dem Ateliersinn also, wie Hildebrand das Wort in die Theorie
eingeführt hat, wo es die Umformung der Naturform in die
250
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
Kunstform bezeichnet. Die Form setzt also das öeschautsein
der »Vision« voraus; denn ohne dies wäre für den Künstler
gar nicht die Notwendigkeit vorhanden, sich mit einer Natur-
form auseinanderzusetzen. Aber die Auseinandersetzung ge-
schieht nun nicht etwa auf Grund der Vision; sondern unmit-
telbar und als ob er die Vision vergessen hätte, tritt der
Künstler nun der Natur gegenüber. Die verborgene Ganzheit
des Kunstwerks, die sich in der Vision zur räumlichen Man-
nigfaltigkeit gebildet hatte, stürzt sich nun kopfüber in die
sichtbare Natur, wo immer ihr diese grade vorliegt. Die Ein-
zelheit wird jetzt, anders als in der Vision, in nächster Füh-
lung mit der Natur, ja unmittelbar aus ihr heraus, gebildet.
Der Wille zum Werk wird immer neu und immer ganz in jede
Einzelheit, an welcher der Künstler grade im Augenblick
arbeitet, hineinergossen. Dies ist das, was die Künstler selber
sehr gut ausdrücken, wenn sie sagen, irgend eine Einzelheit
sei »mit Gefühl« gearbeitet. Dabei ist nämlich selbstverständ-
lich kein sentimentales, außerktinstlerisches Gefühl gemeint,
auch kein Gefühl für die Ganzheit der Werkschöpfung, welches
in der Vision wohl lebendig war, hier aber grade schweigt,
sondern es handelt sich nur um das Gefühl, das sich in die
einzelne Naturform hineinversenkt und sie durch die Kraft
dieses sich Hineinversenkens aus der an sich nur verschwom-
menen, nur in unklarer Vieldeutigkeit sichtbaren, also ästhe-
tisch unsichtbaren, gewissermaßen stummen Naturform zur
bestimmten, eindeutigen, also ästhetisch sichtbaren, gewisser-
maßen redenden Kunstform umformt. Dies ist der zweite Akt
in der Entstehung des bildnerischen Kunstwerks. Zur natur-
losen, ästhetisch schöpferischen Schau tritt die liebevolle Be-
lebung des natürlichen Vorwurfs durch die künstlerische
Form.
In der Musik liegen die Verhältnisse anders schon dadurch,
daß, wie vorhin bemerkt, hier die Zeit herrscht und also nicht
die Einzelheiten mit einem Schlage überblickt werden können.
Die Setzung der Einzelheiten aus dem Ganzen kann hier also
nicht wie in der bildenden Kunst schon die innerlich geschaute
OFFENBARUNG
Ml
Vision des fertigen Kunstwerks selber sein; denn solch auch
nur innerlich Alles=miteinemmal=Überblicken ist hier nicht
möglich; nicht die nur durch ihre Naturlosigkeit noch stumme,
sonst aber schon aller Formen und Farben des schließlichen
Werks volle Vision geht voran, sondern wirklich der stumme
Teil der Kunst. Vollkommen richtig also sagt Hans v. Biilow':
»Im Anfang war der Rhythmus«. Im Rhythmus, zunächst ganz
einfach in der für das Ganze geltenden Taktart, dann aber
auch in der Ausbildung dieses nur das Gröbste vorweg-
nehmenden Takts in die immer feineren Verzweigungen der
rhythmischen Phrasierung ist das ganze Musikwerk in all
seinen Teilen da, aber noch als eine stumme Musik. Wie jene
dem Werk bildender Kunst vorausgehende Vision nicht eigent-
lich optische Gestalt hat, sondern eher ein Zusammenhang von
Richtungen und Gewichtsverhältnissen — Gleichgewicht,
Übergewicht, Druck, Schweben, Lasten — zu sein scheint, ein
statischer Zusammenhang also, so nimmt der Rhythmus das
Kunstwerk auch noch nicht in musikalischer Gestalt vorweg,
sondern nur in sturrnrndynamischer. Man kann ein Musik-
werk »taktieren«, das heißt: man kann seine Grundlage ton-
los durch eine Folge von Bewegungen darstellen. Die Be-
wegung ist die einzige Möglichkeit, die Zeitfolge, die sonst
rettungslos in den Zeit=Punkt des Gegenwärtigen zusammen-
sinkt, gegenständlich zu machen; und auf der Möglichkeit
dieser Vergegenständlichung beruht die Musik; nur durch
diese Möglichkeit wird die Auffassung des ganzen Werks als
einer Einheit möglich. Der einzelne Ton hat keinen Rhythmus,
wohl aber die kleinste Folge von Tönen. Es geschieht im
Rhythmus wirklich die Schöpfung des Musikwerks in seiner
ganzen Breite; aber auch hier ist die Schöpfung, obwohl sie
alles mit ihrem »im Anfang« vorweggenommen hat, doch nur
die stumme Weissagung des tönend sich offenbarenden
Wunders.
Diese Offenbarung muß auch hier wieder mit blind ver-
gessener Ausschließlichkeit auf den einzelnen Augenblick des
Werks niedergehen. Sie muß ihn, und zunächst nur ihn ohne
252
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
Rücksicht und Vorsicht auf seine Nachbarn, beseelen, ihm
tönendes Leben einhauchen. Sie kann erst eintreten, nachdem
das Ganze aller Augenblicke im Rhythmus geschaffen ist, aber
sie fragt selber nicht nach dem rhythmischen Werte des ein-
zelnen Augenblicks, sie macht ihn für sich tönend — ob auf
lange oder kurze Zeit, was geht sie das an? Diese Beseelung
der Einzelheit ist das Werk der Harmonie. Die Harmonie gibt
dem einzelnen, im Rhythmus nur erst ein stummes Glied des
Ganzen bildenden Augenblick Ton und Leben zugleich; sie
macht ihn überhaupt erst tönend und beseelt ihn, gibt ihm
Stimmungswert, und beides in einem, recht so wie die Offen-
barung dem stummen Selbst- Sprache und Seele in einem ver-
leiht. Wie der einzelne Punkt des Werks der bildenden Kunst
»geformt« sein muß, aber nicht »geschaut« sein kann, sondern
die Vision schaut schöpferisch die Summe aller Einzelheiten
vorweg; so wird der einzelne Augenblick des musikalischen
Werks harmonisch beseelt mit der ganzen Tiefe einer eigenen
Stimmung, die ihn als Augenblick und für den Augenblick ganz
unabhängig von dem rhythmischen Ganzen zu machen scheint.
Soweit können wir die Kunstwelt hier darstellen; zum Ab-
schluß kann diese Darstellung, eben wegen der hier bloß kate-
gorialen Anwendung der Grundbegriffe und des dadurch be-
dingten stammbaumartigen Aufbaues, auch für die Kategorien
der Schöpfung und Offenbarung erst im nächsten Buch ge-
langen. Da wird dann auch deutlich werden, daß schließlich
diese ganze Kunstlehre doch noch etwas mehr ist als eine
bloße Episode, für die sie hier allerdings gelten mußte. Lenken
wir also nun von der Episode wieder in die Hauptlinie zurück.
Wir hatten die Offenbarung als das unter der Liebe Gottes
geschehende Mündigwerden des stummen Selbst zur
redenden Seele erkannt. Wenn Sprache mehr ist als nur ein
Vergleich, wenn sie wahrhaft Gleichnis — und also mehr als
Gleichnis — ist, so muß das, was wir in unserem Ich als leben-
diges Wort vernehmen und was uns aus unserm Du lebendig
entgegentönt, auch in dem großen historischen Zeugnis der
OFFENBARUNG
253
Offenbarung, dessen Notwendigkeit wir gerade aus der Gegen-
wärtigkeit unseres Erlebnisses erkannten, »geschrieben stehn«.
Wiederum suchen wir das Wort des Menschen im Wort
Gottes.
Das Gleichnis der Liebe geht als Gleichnis durch die ganze
Offenbarung hindurch. Es ist das immer wiederkehrende
Gleichnis bei den Propheten. Aber es soll eben mehr sein als
Gleichnis. Und das ist es erst, wenn es ohne ein »das be-
deutet«, ohne Hinweis also auf das, dessen Gleichnis es sein
soll, auftritt. Es genügt also nicht, daß Gottes Verhältnis zum
Menschen unter dem Gleichnis des Liebenden zur Geliebten
dargestellt wird; es muß unmittelbar das Verhältnis des
Liebenden zur Geliebten, das Bedeutende also ohne alle Hin-
deutung auf das Bedeutete, im Wort Gottes stehn. Und so
finden wir es im Hohen Lied. Hier ist es nicht mehr möglich,
in jenem Gleichnis »nur ein Gleichnis« zu sehen. Hier ist der
Leser, so scheint es, vor die Wahl gestellt, entweder den
»rein menschlichen«, rein sinnlichen Sinn anzunehmen und
sich dann freilich zu fragen, welcher sonderbare Irrtum diese
Blätter in das Wort Gottes hineingeraten ließ, oder anzu-
erkennen, daß hier grade in dem rein sinnlichen Sinn, unmittel-
bar und nicht »bloß« gleichnisweise, die tiefere Bedeutung
steckt.
Bis an die Schwelle des neunzehnten Jahrhunderts ist man
einhellig den zweiten Weg gegangen. Man erkannte das Hohe
Lied als Liebeslied und gerade darin unmittelbar zugleich als
»mystisches« Gedicht. Man wußte eben, daß das Ich und Du
der innermenschlichen Sprache ohne weiteres auch das Ich
und Du zwischen Gott und Mensch ist. Man wußte, daß in der
Sprache der Unterschied von »Immanenz« und »Transzendenz«
erlischt. Nicht obwohl, sondern weil das Hohe Lied ein
»echtes«, will sagen: ein »weltliches« Liebeslied war, gerade
darum war es ein echtes »geistliches« Lied der Liebe Gottes
zum Menschen. Der Mensch liebt, weil und wie Gott liebt.
Seine menschliche Seele ist die von Gott erweckte und ge-
liebte Seele.
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
254
Es war der Wende des achtzehnten zum neunzehnten
Jahrhundert Vorbehalten, diese gefühlsmäßig klare, weil in
der Offenbarung wurzelnde, Ansicht vom Verhältnis des
Menschlichen zum Göttlichen, des Weltlichen zum Geistlichen,
der Seele zur Offenbarung, zu verwirren und zu trüben.
Wenn Herder und Goethe das Hohe Lied als eine Sammlung
»weltlicher« Liebeslieder in Anspruch nahmen, so war in die-
ser Bezeichnung »weltlich« nicht mehr und nicht weniger
ausgesprochen, als daß Gott — nicht liebt. Und wirklich war
ja dies die Meinung. Mochte der Mensch Gott als das Symbol
des Vollkommenen »lieben« — nimmermehr aber durfte er
verlangen, daß Gott ihn »wieder«=liebe. Die spinozistische
Leugnung der göttlichen Liebe zur einzelnen Seele war den
deutschen Spinozisten willkommen; Gott durfte, wenn er
denn lieben sollte, höchstens der »allliebende Vater« sein;
das echte Liebesverhältnis Gottes zur einzelnen Seele wurde
verneint und damit nun das Hohe Lied zum »rein mensch-
lichen« Liebeslied gemacht. Denn echte Liebe, die eben nicht
Allliebe ist, gab es nun nur zwischen Menschen. Gott hatte
aufgehört, die Sprache des Menschen zu sprechen; er verzog
sich wieder in seine neuheidnisch=spinozistische Verborgen-
heit jenseits des vom Gewölk der »modi« überzogenen
Himmelsgewölbes der »Attribute«.
Was diese Erklärung der Sprache der Seele für »rein
menschlich« bedeutete, wurde erst im weiteren Verlauf klar.
Herder und Goethe hatten unwillkürlich immer noch so viel
von der überlieferten Auffassung bewahrt, daß sie das Hohe
Lied nur als eine Sammlung von Liebesliedern betrachteten,
ihm also seinen subjektiven, lyrischen, seelenoffenbarenden
Charakter ließen. Aber nach ihnen ging man weiter auf der
Bahn. War das Hohe Lied einmal »rein menschlich« zu ver-
stehen, dann konnte man vom »rein Menschlichen« auch den
Schritt zum »rein Weltlichen« tun. Es wurde also nach Kräf-
ten entlyrisiert. Von allen Seiten versuchte man, dramatische
Handlung und epischen Inhalt hineinzudeuten; die eigentüm-
liche Unklarheit, mit der sichtlich neben dem Hirten noch ein
OFFENBARUNG
Ul
zweiter Liebhaber, der »König«, hineinspielte, schien ja zu
solchen Deutungen herauszufordern und gab ihnen freies Feld.
So ist das neunzehnte Jahrhundert voll von ihnen, wobei
allerdings keine Deutung der andern gleicht; an keinem Buch
der Bibel hat die Kritik solche umfangreichen Umordnungen,
vielmehr Umstürze des überlieferten Textes vorgenommen
wie an diesem. Das Ziel war immer, das Lyrische, das Ich
und Du des Gedichts, in ein episch-anschauliches Er und Sie
zu verwandeln. Die Sprache der Offenbarung der Seele hatte
eben für diesen alles nach seinem Bilde zum Objektiven, zum
Weltlichen umschaffenden Geist des Jahrhunderts etwas Un-
heimliches. Die Verleugnung des Worts Gottes, anfänglich
noch geschehen in überschwänglicher Freude am nun »rein«
gewordenen Wort des Menschen, rächte sich alsbald am Wort
des Menschen, das, losgelöst von seinem unmittelbaren,
lebendig vertrauensvollen Einssein mit jenem, zur toten Ob=
jektivität der dritten Person erstarrte.
Da kam aus der Wissenschaft selber der Gegenschlag. Die
hoffnungslose Willkürlichkeit und textkritische Abenteuerlich-
keit aller Deutungen ins Objektive des »Singspiels« machte die
gelehrten Gemüter aufnahmefähig für eine neue Ansicht. Die
eigentliche crux dieser Interpreten war ja das rätselhafte Ver-
hältnis des Hirten zum König und der Sulamith zu beiden ge-
wesen. War sie treu? oder untreu? einem? oder beiden? und
so fort ins Unendliche der Kombinationen, in denen gelehrt'
erotischer Spürsinn von je groß zu sein pflegt. Die einfache
Lösung der früheren »mystischen« Auffassung, wonach der
Hirt und der König ein und dieselbe Person waren, nämlich
Gott, war natürlich längst überholt. Da entdeckte man mit
einem Male, daß bei den Bauern Syriens noch heutigentags
die Hochzeit unter dem Gleichnis einer Königshochzeit, der
Bräutigam also als der König, die Braut als die vom König
erwählte Braut, gefeiert wird. Und nun war plötzlich
das schillernde Nebeneinander der zwei Personen geklärt: es
ist eben wirklich nur eine: der Hirt, der in der Woche seiner
Hochzeit sich als König Salomo in aller seiner Herrlichkeit
256
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
fühlen darf. Damit ist nun alle Veranlassung zu einer drama-
tischen Ausdeutung gefallen. Es ist nun alles wieder in der
lyrischen Zweieinsamkeit des Liebenden und der Geliebten
beschlossen. Und vor allem ist nun das Gleichnis schon in den
»ursprünglichsten« Sinn der Lieder zurückverlegt; schon da
überhöht einen sinnlichen Sinn eine übersinnliche Bedeutung:
den Hirten, welcher der Bräutigam ist, der König, als den er
sich fühlt. Das aber ist der Punkt, auf den wir hinauswollen.
Die Liebe kann gar nicht »rein menschlich« sein. Indem sie
spricht — und sie muß sprechen, denn es gibt gar kein andres
aus sich selber Heraussprechen als die Sprache der Liebe —
indem sie also spricht, wird sie schon ein Übermenschliches;
denn die Sinnlichkeit des Worts ist randvoll von seinem gött-
lichen Übersinn; die Liebe ist, wie die Sprache selbst, sinn-
Mch=übersinnlich. Anders gesagt: das Gleichnis ist ihr nicht
schmückender Zubehör, sondern Wesen. Alles Vergängliche
mag nur ein Gleichnis sein; aber die Liebe ist nicht »nur«,
sondern ganz und gar und wesentlich Gleichnis; denn sie ist
nur scheinbar vergänglich, in Wahrheit aber ewig. Jener
Schein ist so notwendig wie diese Wahrheit; Liebe könnte
als Liebe nicht ewig sein, wenn sie nicht vergänglich schiene;
aber im Spiegel dieses Scheins spiegelt sich unmitelbar die
Wahrheit.
Das Vergängliche ist in seiner zeitlichen Gestalt, nämlich
als Gegenwart, als »pfeilschnell verflogener« Augenblick, im
Stammwort Ich gradezu der sichtbare oder unsichtbare Träger
aller Sätze des Hohen Lieds. Es gibt kein Buch in der Bibel,
in dem verhältnismäßig das Wort Ich so häufig vorkäme wie
hier. Und zwar nicht bloß das unbetonte, sondern durchaus
auch das betonte, das ja das eigentliche Stammwort, das laut-
gewordene Nein, ist. Nur noch der Prediger, stark angefressen
wie er ist, von dem Geist der stets verneint, zeigt annähernd
ein gleich häufiges Vorkommen des Wortes für das betonte
Ich. Die Kraft jener grundlegenden Verneinung äußert sich
auch darin, daß das Hohe Lied als einziges unter allen bib-
OFFENBARUNG
HZ
lischen Büchern anhebt mit einem Komparativ, — »besser
denn Wein«; die Eigenschaft ist hier verglichene, also per-
spektivisch von einem alle andern Punkte verneinenden
»Standpunkt« aus gesehene, nicht rein in ihrer Gegenständlich-
keit daseiende und da, wo sie ist, seiende. Jenes »besser«
knüpft den Faden unmittelbar da an, wo ihn das vollendende
»sehr gut« der Schöpfung fallen gelassen hatte. Das Wort
»Ich« also ist nun der Grundton, der bald in der einen, bald,
durch das Du übergehend, in der anderen Stimme unter dem
ganzen melodisch=harmonischen Gewebe der Mittel- und
Oberstimmen orgelpunktartig hinzieht. Es gibt in dem ganzen
Buch nur eine einzige kurze Stelle, wo er schweigt; sie fällt
gerade durch dieses augenblickliche Aussetzen des Grund-
basses, den man sonst infolge seiner Unaufhörlichkeit schon
beinahe überhört, ungeheuer auf; so wie man sich des Tickens
der Wanduhr erst bewußt wird, wenn sie plötzlich stillsteht.
Es sind die Worte von der Liebe, die stark ist wie der Tod.
Nicht willkürlich haben wir mit ihnen zuvor den Übergang
aus der Schöpfung in die Offenbarung gekennzeichnet. Sie
sind in diesem Kernbuch der Offenbarung, als welches wir das
Hohe Lied erkannt haben, die einzige nicht gesprochene, son-
dern bloß gesagte Stelle, der einzige objektive Augenblick, die
einzige Begründung. In ihnen ragt die Schöpfung sichtbar in
die Offenbarung hinein und wird sichtbar von ihr überhöht.
Der Tod ist das Letzte und Vollendende der Schöpfung — und
die Liebe ist stark wie er. Dies ist das einzige, was über die
Liebe gesagt, aus=gesagt, er=zählt werden kann; alles andre
kann nicht »über« sie gesagt »werden«, sondern nur von ihr
selber gesprochen. Denn sie ist ganz aktive, ganz persönliche,
ganz lebendige, ganz — sprechende Sprache; alle wahren
Sätze über sie müssen Worte aus ihrem eigenen Munde, ich-
getragene, sein. Nur dieser eine Satz, daß sie stark ist wie
der Tod, macht eine Ausnahme, ln ihm spricht sie nicht sel-
ber, sondern die ganze Welt der Schöpfung wird ihr über-
wunden zu Füßen gelegt; der Allesiiberwinder Tod und der
eifersüchtig alles Gestorbene festhaltende Orkus sinken vor
17
ul
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCEI
ihrer Stärke und der Härte ihres Eifers zusammen; die Todes-
kälte des gegenständlich starren Vergangenen wird von ihren
Feuergluten, Qottesflammen erwärmt. In diesem Sieg der
lebendigen, gottgeliebten Seele über das Sterbliche ist alles
gesagt, was noch objektiv über sie gesagt werden kann, näm-
lich nichts über sie selbst, sondern nur über ihr Verhältnis zur
Schöpfungswelt; über sie selbst, ab=gesehn von der Welt des
Geschaffenen, kann nur sie selber sprechen. Der Grund liegt
unter ihr, nicht versunken, aber überwunden. Sie schwebt
darüber.
Sie schwebt dahin in den flüchtigen Klängen des Ich. Kaum
ist ein Ton aufgehallt, so ist er auch schon wieder im näch-
sten verklungen, und rätselhaft und grundlos unerwartet
klingt er bald wieder, um wieder zu verhallen. Die Sprache
der Liebe ist lauter Gegenwart; Traum und Wirklichkeit,
Schlaf der Glieder und Wachen des Herzens, weben sich un-
unterscheidbar ineinander, alles ist gleich gegenwärtig, gleich
flüchtig und gleich lebendig — gleich dem Reh oder der jun-
gen Gazelle auf den Bergen. Ein Schauer von Imperativen
geht belebend über diese immergrüne Wiese der Gegenwart
nieder, von verschieden klingenden, doch immer das gleiche
meinenden Imperativen: zieh mich dir nach, tu mir auf, komm,
mach dich auf, eile — es ist immer der gleiche eine 'Imperativ
der Liebe. Beide, der Liebende wie die Geliebte, scheinen
hier auf Augenblicke die Rollen zu tauschen, und dann sind
sie doch wieder deutlich geschieden. Indes er sich mit immer
neuen Blicken der Liebe in ihre Gestalt hineinsenkt, umfaßt
sie ihn ganz mit dem einen Blick des Glaubens an seine »Aus-
erkorenheit unter Tausenden«. Unendlich zart deutet der Lie-
bende mit der leisen, immer wiederkehrenden Anrede »meine
Schwester Braut« den Grund ihrer Liebe in einer der Liebe
selbst vergangenen Vorwelt der Schöpfung an und hebt seine
Liebe damit heraus aus der Flüchtigkeit des Augenblicks; die
Geliebte war ihm einst »in abgelebten Zeiten meine Schwester
oder meine Frau«. Und hinwiederum ists die Geliebte,
die vor ihm, nicht er, der vor ihr sich gering macht;
OFFENBARUNG
m
sie bekennt voll Scham, daß die Sonne ihr die Haut ge-
schwärzt habe — schauet mich nicht an, meiner Mutter
Kinder zürnen mit mir; aber fast im selben Atemzug rühmt
sie sich der gleichen »Schwärze« als ihrer Schönheit —
schwarz bin ich, aber gar lieblich gleich Zelten Kedars, gleich
1 eppichen Salomos — und hat aller Scham vergessen. Denn
in seinen Augen hat sie Frieden funden. Sie ist sein, und so
weiß sie von ihm: er ist mein. In diesem seligen Mein, diesem
absoluten Singular, erfüllt sich ihr das, um dessentwillen sie so
ängstlich immerfort die Gespielinnen angefleht hat, die Liebe
ihr nicht zu wecken, ehe denn sie selber erwache: ihre Liebe
soll nicht ein Fall der Liebe sein, ein Fall im Plural der Fälle,
den also andre erkennen und bestimmen könnten; es soll ihre
eigene, unerweckt von draußen allein in ihrem Innern er=
wachte Liebe sein. Und so ist es geworden. Nun ist sie sein.
Ist sies? Trennt sie nicht noch auf dem Gipfel der Liebe
ein letztes? Noch über das »Du bist mein« des Liebenden,
noch über den Frieden, den die Geliebte in seinen Augen ge-
funden — dies letzte Wort ihres überfließenden Herzens —
hinaus. Bleibt nicht noch eine letzte Scheidung? Der Ge-
liebte hat ihr im kosenden Namen seine Liebe gedeutet durch
den Hinweis auf einen geheimen Untergrund geschwisterlichen
Gefühls. Aber genügt die Deutung? Braucht nicht das Leben
mehr als Deutung, mehr als Namensanruf, — Wirklichkeit?
Und aus dem selig übervollen Herzen der Geliebten steigt ein
Schluchzen und formt sich zu Worten — Worten, die stam-
melnd hinausweisen in ein Unerfülltes, in der unmittelbaren
Offenbarung der Liebe selber Unerfüllbares: »O wärest du
mir wie ein Bruder«. Es genügt nicht, daß der Geliebte
im zitternden Halblicht der Anspielung die Braut beim
Schwesternamen nennt; der Name müßte Wahrheit sein, im
hellen Licht der Straße vernommen, nicht im Dämmer kosen-
der Zweieinsamkeit ins geliebte Ohr geflüstert, nein vor den
Augen der Menge vollgültig — »wer gäbe« das!
Ja, wer gäbe das? Die Liebe gibt das nicht mehr. Nicht
mehr an den Geliebten ist dies »Wer gäbe« in Wahrheit ge-
17»
2ÖO
ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
richtet. Die Liebe bleibt ja immer unter Zweien, sie weiß nur
von Ich und Du, nicht von der Straße. So ist jene Sehnsucht
in der unmittelbar gegenwärtig im Erlebnis und nur im Er=
lebnis sich offenbarenden Liebe unerfüllbar. Das Schluchzen
der Geliebten schluchzt in ein Jenseits der Liebe, in eine Zu-
kunft ihrer gegenwärtigen Offenbarung; es bangt nach einer
Verewigung der Liebe, wie sie der allzeitlichen Gegenwärtig-
keit des Gefühls nimmer entsprießen kann; eine Verewigung
nämlich, die nicht mehr im Ich und Du wächst, sondern im
Angesicht aller Welt gegründet zu werden verlangt. Die Ge-
liebte fleht, der Liebende möge den Himmel seiner allzeit-
lichen Gegenwärtigkeit zerreißen, der ihrem Sehnen nach
ewiger Liebe trotzt, und zu ihr herniederfahren, auf daß sie
sich ihm wie ein ewiges Siegel aufs immerzuckende Herz
legen kann und wie ein fest umschließender Ring um den
nimmerrastenden Arm. Ehe ist nicht Liebe. Ehe ist unendlich
mehr als Liebe; Ehe ist die Erfüllung im Draußen, nach der
die Liebe aus ihrer inneren seligen Erfülltheit heraus die Hand
ausstreckt in ohnmächtig unerfüllbarer Sehnsucht — o daß du
mein Bruder wärest . . .
Diese Erfüllung kann der Seele nicht mehr in ihrer Geliebt-
heit werden. Diesem Schrei kommt keine Antwort aus dem
Munde des Liebenden. Dies Reich der Brüderlichkeit, nach
dem die Seele hier, hinaus über die Liebe des Ich zum Du, in
der die dunkeln Vorzeichen des unpersönlich gemeinsamen
Lebens der natürlichen Blutgemeinschaft herrlich in Erfüllung
gegangen waren, verlangt, diesen Bund einer übernatürlichen,
ganz persönlich gefühlten, und doch ganz weltlich daseienden
Gemeinschaft, stiftet ihr nicht mehr die Liebe des Liebenden,
von der sie bisher stets das Stichwort erwartet hatte, um Ant-
wort zu geben. Soll dieser Sehnsucht Erfüllung werden, so
muß die geliebte Seele den Zauberkreis der Geliebtheit über-
schreiten, des Liebenden vergessen und selber den Mund
öffnen, nicht zur Antwort mehr, sondern zum eigenen Wort.
Denn in der Welt gilt nicht das Geliebtsein, und das Geliebte
darf es hier nicht anders wissen, als wäre es allein auf sich
OFFENBARUNG
261
angewiesen und ungeliebt, und alle seine Liebe wäre nicht
Geliebtheit, sondern ewig — Lieben. Und nur im geheimsten
Herzen mag sie bei diesem ihrem Gang aus dem Wunder der
göttlichen Liebe heraus in die irdische Welt der Alten Wort
bewahren, das dem, was ihr zu tun bevorsteht, durch die Er-
innrung des in jenem Zauberkreis Erlebten Kraft und Weihe
gibt: Wie Er dich liebt, so liebe Du.
DRITTES BUCH
ERLÖSUNG
ODER
DIE EWIGE ZUKUNFT
DES REICHS
LIEBE deinen Nächsten. Das ist, so versichern Jud und
Christ, der Inbegriff aller Gebote. Mit diesem Gebot
J verläßt die mündig gesprochene Seele das Vaterhaus der
göttlichen Liebe und wandert hinaus in die Welt. Ein Liebes-
gebot wie jenes Urgebot der Offenbarung, das in allen ein-
zelnen Geboten mittönt und sie erst aus der Starrheit von
Gesetzen zu lebendigen Geboten schafft. Jenes Urgebot
konnte Liebe gebieten, weil es aus dem Munde des Liebenden,
den wiederzulieben es gebot, selber kam, — weil es ein »Liebe
mich« war. Wenn nun der Inbegriff, das worin alle aus jenem
Urgebot entsprungenen Gebote schließlich münden, gleichfalls
ein Liebesgebot ist, wie vereint sich das damit, daß jenes Ur-
gebot die einzige Liebe gebietet, die geboten werden kann?
Die Antwort auf dieses Bedenken könnte leicht in einem
kurzen Wort vorweggenommen werden. Statt dessen sei ihr
lieber das ganze Schlußbuch dieses Teils gewidmet. Denn sie
enthält, so einfach sie ist, alles in sich, was die beiden voran-
gehenden Bücher noch offen lassen mußten.
Die Seele hatte sich in einem unendlichen, einfürallemal
gesagten Ja vor Gott hingebreitet. So war sie aus ihrer
Verschlossenheit im Selbst herausgetreten. Nicht daß sie das
Selbst verleugnet hätte, nein: sie war wirklich nur aus ihm
herausgetreten, heraus aus seiner Verschlossenheit ins Freie;
nun lag sie breit und geöffnet da. Geöffnet, hingegeben, ver-
trauend, — aber geöffnet nur nach einer einzigen Richtung,
hingegeben nur einem Einzigen, vertrauend nur Ihm. Die
ERLÖSUNG 263
Seele hat Augen und Ohren geöffnet, aber nur Eine Gestalt
steht vor ihrem Auge, nur Eine Stimme fällt in ihr Ohr. Sie
hat ihren Mund aufgetan, aber nur Einem galten ihre Worte.
Sie schläft nicht mehr den Starrschlaf des Selbst; aber sie ist
erweckt nur von dem Einen und für Einen. Und so bleibt sie
eigentlich auch jetzt noch taub=blind wie das Selbst, taub=blind
nämlich für alles, was nicht der Eine ist. Ja das geht noch
weiter. Wie nämlich Gott, solange er bloß Schöpfer schien,
eigentlich gestaltloser geworden war, als er zuvor im Heiden-
tum gewesen, und immer in Gefahr zurückzusinken in die
Nacht eines verborgenen Gottes, so ist jetzt die Seele, solange
sie bloß geliebte Seele ist, gleichfalls noch unsichtbar und ohne
Gestalt, mehr ohne Gestalt als einst das Selbst. Denn das
Selbst war zwar ohne jeden Weg und Trieb nach außen, »nicht
sehn, nicht hören« war ihm, wie der Marmorgestalt Michel-
angelos, einziger Wunsch; aber wenigstens wurde es als tra-
gischer Held doch selber sichtbar und in der Vernehmlichkeit
seines Schweigens hörbar. Die Seele aber ist nun zwar auf-
getan zu Blick und Wort, aber nur zu Gott hin.; nach allen
andern Seiten ist sie noch genau so verschlossen wie zuvor
das Selbst, und dazu hat sie nun auch jene Sicht- und Hör-
barkeit, jene gestalthafte, wenn auch tragisch starre Lebendig-
keit verloren, die das Selbst besaß. Das bloß hingegebene
Selbst ist in der Seligkeit seiner Gottgeliebtheit für die Welt,
nein überhaupt für alles außer Gott, erstorben. Wie der bloße
Schöpfer stets in Gefahr ist, zurück ins Verborgene zu sinken,
so die bloße Seligkeit der in Gottes Liebesblick versenkten
Liebe zurück ins Verschlossene. Der verschlossene Mensch,
er ists, der ähnlich wie der verborgene Gott an der Grenze
der Offenbarung steht und sie von der Vor=welt scheidet.
Denn zwar war der heidnische Mensch, das Selbst, in sich
eingeschlossen; aber deswegen war er doch nicht ver-
schlossen; er war sichtbar; er fand zwar keinen Zugang zur
Welt, aber die Welt fand ihren Zugang zu ihm, und obwohl
er stumm war, konnte er doch angesprochen werden. Nichts
andres ist ja der Chor in der antiken Tragödie als dies Heran-
2Ö4 ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
wallen der Außenwelt an den Helden, dies Angesprochen-
werden der marmorstummen Gestalt. Auf der Bühne dar-
gestellt mußte das werden; es genügte nicht, es dem Emp-
finden des Zuschauers zu überlassen; denn an sich wäre es
allerdings sehr natürlich, wenn dem stummen Helden gegen-
über der Beschauer sich verstummen, dem blinden gegenüber
auch er sich erblinden fühlte. Aber das soll eben nicht sein;
der Held soll sichtbare Gestalt sein, in der Welt stehen, auch
wenn er es selbst weder weiß noch wahrhaben will; und
eben dies Gefühl, daß es so ist, zwingt dem Beschauer der
Chor auf, der den Helden ansieht, anhört, anredet. In sich
eingeschlossen also war das Selbst wohl, aber nicht ver*
schlossen vor den Blicken der Welt. Der stumme Held stand
trotz seiner Stummheit in der Welt. Weil er das tat, nur des-
wegen war überhaupt irgendeine Welt im Heidentum möglich,
trotzdem der Held da war. Denn er stand zwar wie ein Block
in ihr da, aber er war ihren Wirkungen nicht schlechtweg ent-
zogen; Tarnkappe und Gygesring sind deshalb so unheimlich
und letzthin unheilbringend, weil sie jeden Zusammenhang der
Welt sprengen.
Tarnkappe und Gygesring aber scheint nun das Selbst zu
tragen, wenn man es allein als den gottseligen Empfänger der
Offenbarung betrachtet; so wie die in ihrer Götterburg ge-
borgenen, hier aber voll lebendigen und sichtbaren Götter-
gestalten des Heidentums von der Schöpfung allein her
gesehen sich zum verborgenen Gott verdunkelten. Der nur
gottgeliebte Mensch ist vor aller Welt verschlossen und ver-
schließt sich selber. Das ist das jedem natürlichen Gefühl
Unheimliche und auch objektiv Unheilbringende aller Mystik,
daß sie dem Mystiker eine solche Tarnkappe wird. Seine
Seele öffnet sich Gott, aber weil sie sich nur Gott öffnet, so
ist sie aller Welt unsichtbar und ihr verschlossen. Der Mystiker
dreht in hochmütigem Vertrauen den Zauberring an seinem
Finger, und sofort ist er mit »seinem« Gott allein, und für die
Welt nicht mehr zu sprechen. Möglich wird ihm das nur da-
durch, daß er ganz und gar nichts weiter sein will als Gottes
ERLÖSUNG
265
Liebling. Um das zu sein, um also nur das eine Geleis zu
sehen, auf dem die Verbindung von ihm zu Gott, von Gott zu
ihm läuft, muß er die Welt leugnen, und da sie sich nicht
leugnen läßt, so muß er recht eigentlich sie verleugnen; es ist
kein Zufall, sondern ganz wesentlich für ihn, daß er sie, da sie
nun einmal da ist, behandelt als ob sie nicht wahrhaft »exi-
stierte«, kein Da=sein hätte, kein Schon=da=sein; er muß sie
behandeln als ob sie nicht — geschaffen wäre (denn das ist ja
ihr Da*sein), als ob sie nicht Gottes Schöpfung wäre, nicht
von dem gleichen Gott ihm hingestellt, dessen Liebe er für
sich beansprucht; er darf nicht, sondern er muß gradezu sie
behandeln, als wäre sie vom Teufel geschaffen; oder da der
Begriff »schaffen« auf ein Tun des Teufels unanwendbar
scheint, so müßte man wohl sagen: er muß sie behandeln, als
wäre sie nicht geschaffen, sondern würde ihm von Augen-
blick zu Augenblick grade für die zufälligen Bedürfnisse des
Augenblicks, wo er ihr einen Blick schenkt, fertig zum Ge-
brauch hingestellt. Dieses grundunsittliche Verhältnis des
reinen Mystikers zur Welt ist ihm also, will er anders sein
reines Mystikertum bewähren und bewahren, schlechthin
notwendig. Der hochmütigen Verschlossenheit des Menschen
muß sich die Welt verschließen. Und der Mensch, den wir
schon sich öffnen sahen, wird, statt als redende Gestalt lebendig
zu werden, in die Verschlossenheit zurückgeschlungen.
Wie mag sich nun diese Verschlossenheit zur Gestalt er*
schließen? Denn es muß zu einer solchen Erschließung
kommen, wenn der tiefste Grund jenes sich Öffnens der Seele
nicht verleugnet werden soll. Jener Grund war ja die Not-
wendigkeit, daß die geheime Vorwelt der Schöpfung sich ins
Wunder des Offenbaren verkehren sollte. Das Selbst mußte
aus seiner Stummheit zum redenden Selbst werden. Als
geliebte Seele schien es das schon geworden zu sein. Aber
nun sank uns die geliebte Seele plötzlich wieder ins Gestalt-
lose zurück, noch ehe sie recht Gestalt gewonnen hatte. Das
ist die schwere Schuld des Mystikers, daß er das Selbst auf
seinem Wege zur Gestalt aufhält. Der Held war ein Mensch,
2 66
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
wenn auch nur in der Vor=welt. Der Mystiker aber ist kein
Mensch, kaum ein halber Mensch; er ist nur Gefäß seiner
erlebten Verzückungen. Er spricht wohl, aber was er spricht,
ist nur Antwort, nicht Wort, sein Leben nur Warten, nicht
Wandeln. Aber nur ein Mensch, dem aus Antwort das Wort,
aus dem Warten auf Gott das Wandeln vor Gott erwüchse,
nur das wäre ein wirklicher, ein voller Mensch. Erst er
könnte dem Helden die Wage halten; denn erst er wäre
ebenso sichtbar und Gestalt wie der Held. Wieder wie bei
Gott liegt es hier so, daß aus der im Heidentum »fertig gewor-
denen« Gestalt in der inneren Umkehr nicht sofort eine neue
Gestalt hervor-geht, sondern zunächst entspringt ihr nur ein
noch Gestaltloses, ein bloßer eigenschaftlicher Akt, die Schöp-
fertat Gottes, das Sichöffnen der Seele; ein Gestaltloses, das
dann erst, indem es in die Bahn des Weltgestirns hinein-
gerissen wird, weiterhin Gestalt annimmt; erst so werden ja
alle Kräfte, die in jener fertigen Gestalt der Vorwelt zu-
sammengeschlossen waren, wieder wirksam. Die Gestalt, die
der verschlossene Mensch so annimmt, indem er sich in
Warten und Wandeln, in Erlebnis der Seele und seelenhafter
Tat zum ganz erschlossenen Menschen rundet, ist, um es vor-
weg zu sagen, die des Heiligen. Der Heilige ist so diesseits
der menschlichen Verschlossenheit wie der Held jenseits; es
ist das gleiche Verhältnis wie zwischen dem öffenbaren Gott
der Liebe und dem bloß in sich lebendigen des Mythos,
zwischen denen scheidend die Nacht der göttlichen Verborgen-
heit steht.
Indem sich der Mensch zum ganzen Menschen erschließt,
ist er nun unmittelbar sichtbar und hörbar geworden. Er kann
ja jetzt sein Gesehen- und Gehörtwerden erzwingen; er ist
nicht mehr starres Marmorbild wie der tragische Held des
Altertums; nein, er spricht. Deswegen fällt in der neueren
Tragödie der Chor als überflüssig weg. Es braucht dem Zu-
schauer nicht mehr vor Augen geführt zu werden, daß der
Held trotz seiner Blindheit sichtbar, trotz seiner Taubstumm-
heit ansprechbar ist; es braucht ihm nicht vor Augen geführt
ERLÖSUNG
267
zu werden, er sieht es selbst. Denn der Held der neueren Tra-
gödie, der, eben gar nicht mehr im alten Sinne »Held«, ihm
gar nicht mehr »wie die Antike starr entgegenkömmt«, ist mit
Empfänglichkeit und Willen ganz in das Hin- und Wider-
strömen der Welt hineingeworfen, ganz lebendig und voll
unverhehlter Scheu vor dem offenen Grab. Diesen Helden,
der sehr Mensch ist und an allen Gliedern zittert vor lauter
Sterblichkeit — aus dieser Erde quillen seine Freuden, und
diese Sonne scheinet seinen Leiden —, diesen Helden sieht
der Zuschauer zu voller Lebendigkeit erwachen im Dialog;
da ist — genau umgekehrt wie im antiken Dialog — alles
Wille, alles Wirkung und Gegenwirkung; kein Raum bleibt
für eine über den Augenblick sich erhebende Bewußtheit. Der
Zuschauer kann gar nicht anders; er muß den Helden, den er
wollen und wirken sieht, für lebendig erkennen; er wird selber
im Geiste mit auf die Szene gerissen; nicht aber das Selbst-
gefühl des Helden wird in ihm erweckt und dadurch Furcht
und Mitleid, wie beim Zuschauer in der antiken Tragödie,
sondern der Mensch auf der Bühne zwingt den Menschen im
Parkett in das Gefühl seines Mitunterredners hinein; nicht zu
Furcht und Mitleid steigert ihn das Geschehen auf der Bühne,
sondern zu Widerspruch und Mitgerissenheit. Auch im Be-
schauer wird der Wille aufgeregt, nicht die wissende Ahnung.
Am deutlichsten wird dieser Unterschied in den Augen-
blicken, wo der neue Held mit sich selber allein ist. Der antike
hatte im Monolog recht eigentlich und am ehesten noch sein
Heldentum ausleben können. Hier, mit sich allein, konnte er
ganz in sich gesammelter, in sich versenkter Willenstrotz sein,
ganz Selbst. Für den neueren sind die Monologe bloße Ruhe-
punkte, Augenblicke, wo er aus seinem eigentlichen so be-
wegten wie handelnden Leben, das er in den Dialogen lebt,
gewissermaßen ans Ufer tritt und für eine Weile zum Be-
trachter wird. Selbstbetrachtung, Einordnung der eigenen
Existenz in die Welt, Entschlußklärung, Niederschlagung von
Zweifeln — immer bedeutet dieser neue Monolog eine Spanne
Bewußtsein in der übrigens bewußtseinslosen, in Tat und
208
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
Leiden ablaufenden tragischen Existenz. Ein Bewußtsein frei-
lich, das obwohl es durchweg von seltsamer, in Wirklichkeit
kaum möglicher Klarheit ist, dennoch stets beschränkt bleibt.
Es ist stets die Ansicht der Welt und der eigenen Stellung in
ihr nur von einem bestimmten Standpunkt, nämlich dem des
einzelnen eigenen Ichs.
Und dieser Ichstandpunkte gibt es viele, so viele als Iche.
Denn dies ist ein innerster Unterschied der neuen Tragödie
von der alten, um dessentwillen man sie mit Recht als Charak-
tertragödie jener als der Handlungstragödie entgegengestellt
hat: ihre Gestalten sind alle untereinander verschieden, ver-
schieden wie es jede Persönlichkeit von der andern ist, weil
ja jede Persönlichkeit eine andre »Individualität« zugrunde
liegen hat, einen andren unteilbaren WelMeil, der ganz von
selber also auch einen eigenen Standort der Weltbetrachtung
bedeutet. Das war in der antiken Tragödie anders; hier
waren nur die Handlungen verschieden, der Held aber war als
tragischer Held immer der gleiche, immer das gleiche trotzig
in sich vergrabene Selbst. Dem also notwendig beschränkten
Bewußtsein des neueren Helden läuft die Forderung, daß er
überhaupt wesentlich, nämlich wenn er mit sich allein ist,
bewußt sei, zuwider. Bewußtsein will immer klar sein; be-
schränktes Bewußtsein ist unvollkommenes. So müßte er
eigentlich ein vollkommenes Bewußtsein seiner selbst und der
Welt haben. Und so treibt die neuere Tragödie nach einem
Ziel, das der antiken ganz fremd ist, nach der Tragödie des
absoluten Menschen in seinem Verhältnis zum absoluten
Gegenstand. Die philosophischen Tragödien, die Tragödien,
wo der Held gradezu Philosoph ist — ein der Antike ganz
abenteuerlicher Gedanke —, gelten uns übereinstimmend als
die Höhepunkte der modernen Tragödie überhaupt: Hamlet,
Wallenstein, Faust.
Aber selbst in ihnen empfinden wir noch nicht das Eigent-
liche erreicht. Es stört uns noch, daß hier der Held bloß —
Philosoph ist, Mensch also, der zwar dem »Absoluten« gegen-
übersteht, aber doch eigentlich nur gegenüber; der absolute
ERLÖSUNG
Mensch müßte im Absoluten leben. Und so werden nun auf
diesen Ossa Faust in immer neuen titanischen Entwürfen neue
Pelions gestülpt, um die Höhe der wahrhaft absoluten Tra-
gödie zu erreichen. Jeder Tragiker sucht einmal seinen Faust
zu schreiben; im Grunde versuchen sie alle, was einer der
ersten versuchte: Faust durch Don Juan zu ergänzen, die
Weltanschauungs- zur Lebenstragödie zu steigern. Das kaum
gewußte Ziel dabei ist dies: an Stelle der unübersehbaren
Vielheit der Charaktere den einen absoluten Charakter zu
setzen, einen modernen Helden, der ebenso ein einer und
immergleicher ist wie der antike. Dieser Konvergenzpunkt,
in dem sich die Linien aller tragischen Charaktere schneiden
würden, dieser absolute Mensch, der dem Absoluten nicht nur
wissend gegenübersteht, sondern der es erlebt hat und der
aus diesem Erlebnis heraus nun in ihm lebt, dieser Charakter,
nach welchem die Fausttragödien nur langen, ohne ihn, weil
sie immer noch im begrenzten Leben stecken bleiben, zu
erreichen, ist kein andrer als der Heilige.
Die Heiligentragödie ist die geheime Sehnsucht des Tra-
gikers, eine vielleicht unstillbare Sehnsucht, denn es könnte
wohl sein, daß dieses Ziel in einer der Tragödie undurch-
meßbaren Entfernung läge und diese Einheit des tragischen
Charakters eine Tragödie, die nun einmal wesentlich Charak-
tertragödie ist, unmöglich machen würde, so daß also der
Heilige zum Helden einer Tragödie nur werden könnte durch
den ihm beigemischten Erdenrest der Unheiligkeit. Aber
einerlei ob also dies Ziel für den tragischen Dichter noch ein
erreichbares Ziel sei oder nicht, jedenfalls ist es, auch wenn
für die Tragödie als Kunstwerk unerreichbar, für das moderne
Bewußtsein das genaue Gegenstück zum Helden des antiken.
Der Heilige ist der vollkommene, nämlich absolut im Abso-
luten lebende und also dem Höchsten erschlossene und zum
Höchsten entschlossene Mensch, im Gegensatz zu dem in der
einen immergleichen Finsternis des Selbst verschlossenen
Helden. An die Stelle, die in der Vorwelt-der Freiherr seines
Selbst einnahm, tritt in der erneuten und allzeit sich erneu-
ernden Welt der Knecht seines Gottes.
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
27O
Diese Gestaltwerdung der gestaltlos in der göttlichen Liebe
vergehenden geliebten Seele aber setzt voraus, daß zu ihrer
bloßen Ausgebreitetheit vor Gott, in der sie zu verfließen
droht, etwas andres hinzutrete, was sie wieder zusammen-
reißt. Und zwar muß es eine Kraft sein, die fähig ist, in
jedem Augenblick die ganze hingegebene Seele ganz zu
ergreifen; und in jedem Augenblick, so daß die Seele keinen
Raum mehr hat, um zu »vergehen«, keine Zeit mehr, um »an-
dächtig zu schwärmen«. Eine neue Kraft also muß aus der
Tiefe der Seele selber hervorsteigen, um ihr in der Inbrunst
des Heiligen ihre Festigkeit und Gestalt zu geben, die sie in
der mystischen Brunst einzubüßen drohte. Solch Hervor-
steigen aber geschieht nur, indem der Zeiger der Weltuhr
weiterrückt, wie vorhin bei der Gestaltwerdung Gottes von der
Schöpfung zur Offenbarung, so jetzt bei der Gestaltwerdung
der Seele von der Offenbarung zur Erlösung.
Wie also bricht nun die Pforte, die den Menschen, auch
nachdem er den Ruf Gottes vernommen und in seiner Liebe
selig worden ist, noch vor der Welt verschließt? Wir
erinnern uns, daß in das Selbst nicht bloß der Trotz, der dann
als Treue der geliebten Seele aus vorweltlichem Dunkel ans
Licht der Welt trat, eingemündet war, sondern noch ein
andres. Dies andre war im Gegensatz zu dem heißen kochenden
Trotz ein ruhig stehendes Gewässer, der seiende Charakter,
die eigne Art des Menschen. Indem der Trotz immer aufs
Neue diese eigne Art behauptete, entstand das starre, abge-
schlossene Selbst. Dieser Charakter war es, der, wie er nun
einmal angelegt war und wie sich einmal die Elemente in ihm
gemischt hatten, den Helden für das antike Gefühl zum tra-
gischen Helden machte; denn nicht daß der Held überhaupt in
trotziger Wallung aufschäumte und seinen Charakter fest-
rammte, rechnete ihm das antike Bewußtsein als Schuld zu,
sondern daß der Charakter, den er festhielt, ungleich gemischt
war und keinen Einklang gab, so daß irgend ein einzelnes
Element in ihm vorschlug und das schöne Maß störte; nur
dieser Anlagefehler war das Hamartema, das den tragischen
ERLÖSUNG
m
Untergang des Helden notwendig machte. An sich ist eben,
ein Selbst zu sein, Pflicht und Recht jedes Menschen, und
tragisch zu werden ist mehr ein in der einmal des Menschen
herrgewordenen Anlage bedingtes Unglück als sittliche Schuld,
und daher fühlt sich der Zuschauer zum tragischen Mitleid
hingerissen. Der Charakter also, der Daimon, von dem der
Mensch besessen ist, sucht sich nun seinen Weg ins Freie.
Wieder muß er sich innerlich verkehren, aus einem einfüralle-
mal »Bejahten« zum in allzeit neuer Selbstverneinung seines
Ursprungs, des verschlossenen Selbst, sich Hervorringenden
werden. Was aber ist das für ein Charakter, der jeden
Augenblick erlischt und jeden Augenblick wieder frisch her-
vorbricht? Wir hatten etwas ganz Ähnliches schon im
vorigen Buch bei dem sich offenbarenden Gott gesehen. Hier
war es das Wesen, das innergöttliche Schicksal gewesen, das
in jenem sich Offenbaren die Gestalt einer jeden Augenblick
erneuerten und doch immer schicksalhaft gewaltigen Leiden-
schaft annahm. Diese göttliche Liebe, sollten wir hier ihr
menschliches Gegenstück gefunden haben?
Ja und nein! Nämlich allerdings kein Gegenstück. Gegen-
stück, ja mehr als Gegenstück, unmittelbares Gleichnis war die
Liebe des menschlichdrdisch Liebenden dem göttlichen Lieben.
Aber was wir hier fanden, ähnelt dem göttlichen Lieben nur
in seiner Augenblicksverhaftetheit, seiner immer neuen Gegen-
wärtigkeit, also eigentlich nur in dem, was schon bedingt war
durch sein Hervortreten unter dem Zeichen des Nein. Aber
was das göttliche und das menschliche Lieben darüber hinaus
unmittelbar gleichmachte, die schicksalhafte Gewalt, mit der
es hervorbrach, das ist in dem Hervorbruch, den wir jetzt be-
trachten, gar nicht wirksam. Kein Schicksal steht hinter ihm,
sondern ein Charakter. Kein wesenhaftes Muß also, sondern
ein gleichfalls wesenhaftes Dämonisches. Was war denn der
Daimon, der Charakter, im Unterschied von der Persönlich-
keit? Die Persönlichkeit war Geburtsanlage, der Charakter
etwas, was plötzlich über den Menschen herfiel, keine Anlage
also, sondern gegenüber der breiten Mannigfaltigkeit der An-
272
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
lagen eine Scheidung, besser: eine Richtung. Der Mensch, der
einmal von seinem Daimon besessen ist, hat für sein ganzes
Leben »Richtung« bekommen. In dieser ihn einfürallemal
richtenden Richtung ist sein Wille nun bestimmt zu laufen;
indem er Richtung erhalten hat, ist er in Wahrheit schon ge-
richtet. Denn das, was im Menschen dem Gericht unterliegt,
der wesenhafte Wille, ist in seiner Richtung schon einfüralle-
mal festgelegt.
Festgelegt nämlich, wenn nicht das einzige geschieht, was
dieses Einfürallemal wieder unterbrechen und das Gericht
mitsamt der Richtung entkräften kann: die innere Umkehr.
Und eben die geschieht dem Menschen, wie sie Gott und Welt
geschieht, indem sie aus ihrer vor- und unterweltlichen Ver-
schlossenheit ins Licht der Offenbarung steigen. Jetzt bleibt
die Willensrichtung Willensrichtung; aber sie ist nun nicht
mehr einfürallemal festgelegt, sondern in jedem Augenblick
stirbt sie und wird erneut. Dieser allzeit erneuerungsfähige
und wirklich sich erneuernde Wille, der aber nichts von kurz-
lebiger Willkür hat, sondern in jedem einzelnen seiner Akte
die ganze Kraft des in ihm eingemündeten festgerichteten
Charakters auswirkt, dieser Wille — wie sollen wir ihn
nennen? Der schicksalhaften göttlichen Liebe, dem, daß
Gott gar nicht anders kann als lieben, wenn auch mit einer
Liebe, die als echte Liebe ganz in den Augenblick versenkt ist
und weder von Vergangenheit noch von Zukunft unmittelbar
etwas weiß, dieser göttlichen Liebe entspricht also jene Kraft,
die wir aus dem Menschen hervorbrechen sahen, mit nichten.
Denn sie kommt gar nicht wie mit schicksalhafter Übermacht
über den Menschen, sondern scheint ihm in jedem Augenblick
neu und in jedem Augenblick ganz und gar aus seinem eigenen
Innern mit der ganzen Wucht des gerichteten Willens hervor-
zubrechen. Wie also sollen wir diese aus den Tiefen der
eigenen Seele immer neu ins Außen brechende nicht schick-
salhafte, sondern willensgetragene Kraft nennen?
Die Antwort kann nicht schwer fallen, wenn wir uns
erinnern, daß diese Kraft die in dem Gebot der Liebe zu Gott
ERLÖSUNG
273
geforderte Hingegebenheit ergänzen soll. Es kann nichts
• anderes sein als die Liebe zum Nächsten. Die Liebe zum
Nächsten ist das, was jene bloße Hingegebenheit in jedem
Augenblick überwindet und dennoch stets voraussetzt. Denn
ohne diese Voraussetzung könnte sie nicht sein, was sie ihrem
Wesen nach sein muß: notwendig, trotzdem — ja trotzdem! —
sie sich jeden Augenblick erneuert. Sie wäre bloß »Freiheit«;
denn ihr Ursprung läge allein im Willen. Es ist ganz richtig:
er liegt allein im Willen; aber der Mensch kann sich in der
Liebestat erst äußern, nachdem er zuvor von Gott wach-
gerufene Seele geworden ist. Nur die Gottgeliebtheit der
Seele macht ihre Liebestat zu mehr als einer bloßen Tat, näm-
lich zur Erfüllung eines — Liebesgebots.
Hier kommen wir auf die anfangs angeregte Frage zurück.
Indem die Liebe zum Menschen von Gott geboten wird, wird
sie, weil Liebe nicht geboten werden kann außer von dem
Liebenden selber, unmittelbar auf die Liebe zu Gott zurück-
geführt. Die Liebe zu Gott soll sich äußern in der Liebe zum
Nächsten. Deshalb kann die Nächstenliebe geboten werden
und muß geboten werden. Nur durch die Form des Gebots
wird hinter ihrem Ursprung, den sie im Geheimnis des gerich-
teten Willens nahm, die Voraussetzung des Gottgeliebtseins
sichtbar, durch die sie sich von allen moralischen Taten unter-
scheidet. Die moralischen Gesetze wollen in der Freiheit
nicht bloß wurzeln — das will auch die Liebe zum Nächsten —,
sondern keine andre Voraussetzung anerkennen als die Frei-
heit. Das ist die berühmte Forderung der »Autonomie«. Die
natürliche Folge dieser Forderung ist, daß die Gesetze, die
diese Tat bestimmen sollen, allen Inhalt verlieren; denn jeder
Inhalt würde eine Macht ausüben, durch welche die Autonomie
gestört würde; man kann nicht »etwas« wollen und trotzdem
nur »überhaupt« wollen; und die Forderung der Autonomie
fordert, daß der Mensch nur schlechthin, nur überhaupt will.
Und weil so das Gesetz zu keinem Inhalt kommt, so kommt
infolgedessen auch die einzelne Tat zu keiner Sicherheit. Im
Moralischen ist alles ungewiß, alles kann schließlich moralisch
18
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
u±
sein, aber nichts ist mit Gewißheit moralisch. Im Gegensatz
zum notwendigerweise rein formalen und daher inhaltlich
nicht bloß zwei-, nein unbegrenzt vieldeutigen moralischen
Gesetz braucht das inhaltlich klare und eindeutige Gebot der
Nächstenliebe, die aus der gerichteten Freiheit des Charakters
entspringt, eine Voraussetzung jenseits der Freiheit: fac quod
jubes et jube quod vis — dem daß Gott »befiehlt, was er will«,
muß, weil der Inhalt des Befehls hier der ist, zu lieben, das
göttliche »schon Getansein« dessen, was er befiehlt, voran-
gehen. Die gottgeliebte Seele allein kann das Gebot der
Nächstenliebe zur Erfüllung empfangen. Gott muß sich erst
zum Menschen gekehrt haben, ehe der Mensch sich zu Gottes
Willen bekehren kann.
Diese Erfüllung von Gottes Gebot in der Welt ist ja nun
nicht ein einzelner Akt, sondern eine ganze Reihe von Akten;
die Liebe des Nächsten bricht immer neu hervor; sie ist ein
Immerwiedervonvornbeginnen; sie läßt sich durch keine »Ent-
täuschungen« beirren; ja im Gegenteil: sie bedarf der Ent-
täuschungen, damit sie nicht einrostet, nicht zur schematischen
organisierten Tat erstarre, sondern immer frisch hervorquelle.
Sie darf keine Vergangenheit haben und in sich selbst auch
keinen Willen zu einer Zukunft, keinen »Zweck«; sie muß ganz
in den Augenblick verlorene Tat der Liebe sein. Dazu hilft ihr
allein die Enttäuschung, die sie von der natürlichen Erwartung
eines Erfolgs, der nach Analogie vergangener Erfolge erwartet
werden kann, immer wieder enttäuscht. Die Enttäuschung
erhält die Liebe bei Kräften. Wäre es anders, wäre die Tat
die Ausgeburt einer einmal vorhandenen Willensrichtung, aus
der heraus sie nun mit klarem Ziel sich frei in dem un-
begrenzten Stoff der Wirklichkeit erginge, träte sie also her-
vor als unendliche Bejahung, so wäre sie nicht Liebestat,
sondern Zwecktat, und ihr Verhältnis zu ihrem Ursprung in der
Willensrichtung des Charakters wäre nicht das augenblickhaft
frische Hervortreten, sondern einfürallemal beschlossener und
entschlossener Gehorsam. Mit andern Worten: sie wäre nicht
die Liebestat des Glaubens, sondern — der Weg Allahs.
ERLÖSUNG
Ul
Der Begriff des Wegs Allahs ist ganz etwas andres als
Gottes Wege. Gottes Wege sind ein Walten göttlichen
Ratschlusses hoch über dem menschlichen Geschehen. Das
Wandeln auf dem Weg Allahs aber bedeutet im engsten Sinne
die Ausbreitung des Islam durch den Glaubenskrieg. In dem
gehorsamen Beschreiten dieses Wegs, dem Aufsichnehmen
der damit verbundenen Gefahren, dem Befolgen der dafür vor-
geschriebenen Gesetze findet die Frömmigkeit des Moslim
ihren Weg in die Welt. Der Weg Allahs ist nicht erhaben
über den Weg des Menschen, soweit der Himmel über der
Erde ist, sondern der Weg Allahs bedeutet unmittelbar den
Weg seiner Gläubigen.
Es ist ein Weg des Gehorsams. Das unterscheidet ihn,
mehr als sein Inhalt, von der Liebe des Nächsten. Der
Glaubenskrieg kann und soll durchaus »human« geführt
werden; die Vorschriften Muhameds sowie das, was sich auf
Grund dieser Vorschriften an Kriegs- und Eroberungsrecht
ausgebildet hat, übertreffen in dieser Hinsicht bei weitem den
zeitgenössischen, auch den christlichen Kriegsbrauch; »Tole-
ranz« hat der Islam in gewisser Beziehung gefordert und ge-
übt, längst ehe das christliche Europa diesen Begriff entdeckte.
Und andrerseits konnte die Nächstenliebe, nicht in Aus-
artungen, sondern in legitimer Entwicklung, zu Folgen führen,
die in ihre oberflächliche Auffassung ganz und gar nicht hinein-
passen wollen, wie Glaubenskrieg und Ketzergericht. Im
Inhalt liegt also der Unterschied nicht. Er liegt einzig in der
inneren Form, die auf dem Weg Allahs der Gehorsam des
Willens gegen die einfürallemal gegründete Vorschrift ist, in
der Liebe des Nächsten das immer neue Zerbrechen der
Dauerform des Charakters durch das immer überraschende
Hervorbrechen der Liebestat. Worin diese Tat im einzelnen
bestehe, das läßt sich eben deshalb nicht im voraus sagen; sie
muß überraschend sein; wäre sie im voraus anzugeben, so
wäre sie nicht Liebestat.
Der Islam hat solch ein genaues positives Bild vor Augen,
wie die Welt durch das Beschreiten des Wegs Allahs um-
18*
276
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
geformt werden soll; eben darin erweist sich seine Welttat
als reiner Gehorsam gegen ein einfürallemal dem Willen auf-
erlegtes Gesetz. Die Gebote Gottes, soweit sie zur »zweiten
Tafel« gehören, welche die Liebe des Nächsten spezifiziert,
stehen durchweg in der Form des »Du sollst nicht«. Nur als
Verbote, nur in der Absteckung von Grenzen dessen, was
keinesfalls mit der Liebe zum Nächsten vereinbar ist, können
sie Gesetzeskleid anziehen; ihr Positives, ihr »Du sollst« geht
einzig in die Form des einen und allgemeinen Gebots der
Liebe ein. Die ins Gewand positiver Gesetze gekleideten Ge-
bote sind überwiegend Gesetze des Kults, der Gebärdensprache
der Liebe zu Gott, Ausführungen also der »ersten Tafel«. Die
Welttat also, und grade die höchste Tat am meisten, ist ganz
freie unberechenbare Liebe, im Islam hingegen Gehorsam
gegen das einmal erlassene Gesetz. Wie denn auch das isla-
mische Recht überall auf unmittelbare Aussprüche des Stifters
zurückzugehn sucht und so gradezu eine streng historische
Methode ausbildet, während sowohl das talmudische wie das
kanonische Recht nicht auf dem Wege historischer Feststellung,
sondern auf dem logischer Ableitung seine Sätze zu gewinnen
sucht. Die Ableitung macht eben das Gegenwärtige mächtig
über das Vergangene; denn sie wird unbewußt bestimmt von
dem Punkt aus, nach dem hin die Ableitung geschieht, und
das ist die Gegenwart, während die Feststellung umgekehrt
die Gegenwart abhängig macht vom Vergangenen. So ist
selbst in dieser scheinbar reinen Rechtswelt noch der Unter-
schied von Liebesgebot und Gesetzesgehorsam erkennbar.
Indem aber die Welttat im Islam Ausübung des Gehorsams
ist, wird nun sein Menschbegriff erst ganz deutlich. Die Vor-
aussetzung der gehorsamen Welttat ist hier der »Islam«, das
immer neue, immer gewaltsarmschwere Sichergeben der Seele
in Gottes Willen. Hier, in diesem Sichergeben, das eine, ja
das die einzige Tat der Freiheit ist, die der Islam kennt, wes-
halb er mit Recht von dieser Tat seinen Namen nimmt, liegt
zwar nicht der Ursprung der Welttat — der liegt auch hier
im Charakter, in dem zum Gehorsam entschlossenen Charakter.
ERLÖSUNG
Ul
Nicht der Ursprung der Welttat liegt hier, aber ihre Voraus-
setzung. Die Verhältnisse also zu Gott und zur Welt, aus
denen sich das Gesamtbild des Menschen ergibt, haben im
Islam genau die umgekehrten Vorzeichen wie im wahren Glau-
ben; und so ist auch jenes Ergebnis entgegengesetzt. Im
Islam folgt der freien, immer wieder neu zu erkämpfenden
Eingabe der Seele an Gott der schlichte Gehorsam der Tat
in der Welt. Im Kreis der Offenbarung folgt dem einfüralle-
mal geschehenen demiitig=stolzen Eingegangensein der Seele
in den Frieden der göttlichen Liebe die immer plötzliche,
immer überraschende freie Tat der Liebe. So steht an Stelle
des Heiligen und der paradoxen, alle Erwartung trügenden
und übertreffenden, aller Nachahmung spottenden Form seiner
Frömmigkeit das schlicht vorbildliche Leben des Frommen
im Islam. Jede Heiligengestalt hat ihre ganz eigenen Züge:
zur Heiligengestalt gehört die Heiligenlegende. Vom Heiligen
im Islam erzählt man nichts; man ehrt sein Andenken, aber
dies Andenken ist inhaltlos, es ist nur das Andenken einer
Frömmigkeit überhaupt. Und wieder findet diese auf dem
Grunde einer freien, mühsam immer neu gewonnenen Selbst-
verleugnung schlicht gehorsame Frömmigkeit merkwürdiger-
weise ihre genaue Entsprechung in der Weltfrömmigkeit des
freien Sicheinfiigens in das allgemeine Gesetz, wie sie die
neuere Zeit etwa in der Ethik Kants und seiner Nachfolger,
sowie überhaupt im allgemeinen Bewußtsein gegenüber dem
unheimlich unberechenbaren Überschwang des Heiligen für
sich auszubilden gesucht hat.
Auf die Welt also ist die Tat gerichtet; die Welt ist der
.andre Pol, nach welchem die Nächstenliebe hinstrebt. So
wie in dem Gedanken, daß Gott schafft oder daß er sich offen-
bart, schon der Hinweis auf etwas andres liegt, das er schafft,
dem er sich offenbart, so hier der Hinweis auf ein Etwas, das
der Mensch liebt. Dieses Etwas wird im Gebot bezeichnet
als der Nächste, und zwar bedeutet das Wort sowohl in der
heiligen Sprache wie im Griechischen den jeweils, den grade
278
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
in dem Augenblick des Liebens Nächsten, der, einerlei was er
vor diesem Augenblick der Liebe war und nachher sein wird,
jedenfalls in diesem Augenblick mir nur der Nächste ist. Der
Nächste ist also nur Repräsentant; er wird nicht um seiner
selbst willen geliebt, nicht seiner schönen Augen wegen, son-
dern nur weil er grade da steht, weil, er grade mein Nächster
ist. An seiner Stelle — eben an dieser mir nächsten Stelle —
könnte ebensogut ein andrer stehen; der Nächste ist der Andre,
der »plesios« der Septuaginta, der homerische »plesios allos».
Der Nächste ist also wie gesagt nur Platzhalter; die Liebe
geht, indem sie vertretungsweise auf den ihr in dem flüchtigen
Augenblick ihrer Gegenwärtigkeit jeweils Nächsten geht, in
Wahrheit auf den Inbegriff Aller — Menschen und Dinge —,
die ihr jemals diesen Platz des ihr Nächsten einnehmen könn-
ten, sie geht letzthin auf alles, auf die Welt. Wie, das lassen
wir hier noch außer Betracht. Wir wenden uns lieber vorerst
zu jenem andern Pol, eben zur Welt.
Hier stellt sich uns nun eine höchst auffallende Schwierig-
keit in den Weg, eine Schwierigkeit, deren Lösung jedoch ein
Licht über den ganzen bisher zurückgelegten Weg werfen
wird. Während nämlich sowohl bei Gott wie beim Menschen
das Hervortreten des »Ja« dem Hervortreten des »Nein« welt-
zeitlich voranging, Gott also »zuerst« schuf und »dann« sich
offenbarte, der Mensch »zuerst« die Offenbarung empfing und
»alsdann« sich zur Welttat anschickte, jedesmal also das einfür-
allemal Geschehene dem augenblickshaft Geschehenden voran-
ging, liegt dies Zeitverhältnis für die Welt umgekehrt. Die
Welt macht sich zuerst, nämlich in der Schöpfung, zu dem
jeden Augenblick im Ganzen Erneuerten; sie macht sich selbst
zur »Kreatur«, den Schöpfer zur Vorsehung. So bleibt ihr für
die Erlösung — denn die Offenbarung geschieht unmittelbar
nicht ihr, sondern ist ein Ereignis zwischen Gott und Mensch
— nur das »Ja«. Was bei Gott und beim Menschen voranging,
die breite Erstellung des eigenen Seins, das dann durch die
eigne Tat nur noch innerlich zusammengefaßt und zur Gestalt
geeinigt wurde, das muß bei der Welt erst folgen, Die selbst-
ERLÖSUNG
m
verleugnende Tat, in der sich ihre Augenblicklichkeit, ihr
Ganzsein in jedem Augenblick, offenbart, ist hier das erste;
die Ganzheit ihres Seins aber in der vollen Länge der erfüllten
Zeit muß erst noch entstehen. Paradox gesprochen: ihrem in
der Schöpfung geschehenen Sich=selbst-»offenbaren« als Krea-
tur kann erst in der Erlösung ihr »Geschaffen«=sein sich unter-
bauen. Oder vielleicht deutlicher: während bei Gott und
Mensch das Wesen älter ist als das Erscheinen, ist die .Welt
als Erscheinung geschaffen, längst ehe sie zu ihrem Wesen er-
löst wird.
Der Grund dieser Sonderstellung der Welt liegt nun s in
dem, was wir schon beim Übergang vom ersten zum zweiten
Teil ausführten: der Mensch wie Gott sind schon, die Welt
wird. Die Welt ist noch nicht fertig. Es ist noch Lachen und
Weinen in ihr. Noch ist die Träne nicht weggewischt von jeg-
lichem Angesicht. Dieser Zustand des Werdens, der Unfertig-
keit, läßt sich nun nur fassen durch eine Umdrehung des ob-
jektiven Zeitverhältnisses. Während nämlich das Vergangene,
das schon Fertige daliegt von seinem Anfang bis zu seinem
Ende und daher er=zählt werden kann — und alles Zählen hebt
vom Anfang der Reihe an —, ist das Zukünftige als das was es
ist, nämlich als Zukünftiges, nur zu fassen durch das Mittel
der Vorwegnahme. Wollte man auch das Zukünftige er*
zählen, so würde man es unabwendbar zum starren Ver-
gangenen machen. Das Zukünftige will vorausgesagt werden.
Die Zukunft wird erlebt nur in der Erwartung. Das Letzte
muß hier in Gedanken das Erste sein. So muß in der Welt als
dem noch Werdenden die natürliche Reihenfolge der Selbst-
gestaltung, der Weg von innen nach außen, vom Wesen zur
Erscheinung, von der Schöpfung zur Offenbarung, sich um-
drehen; die Gestaltung muß hier bei der sich selbst verleug-
nenden Erscheinung anheben und beim schlicht und ganz be-
jahten Wesen enden. Das Werden der Welt ist nicht wie Got-
tes und der Seele Werden ein Werden von innen nach außen,
sondern die Welt ist von Anfang an ganz Selbstoffenbarung
und doch noch ganz unwesenhaft; wie ihr Gerüste, die »Na-
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
280
tur«, ist sie ganz am lichten Tag und doch geheimnisvoll am
lichten Tag — geheimnisvoll, weil sie sich offenbart ehe ihr
Wesen da ist. So ist sie jeden Zoll ein Kommendes, nein: ein
Kommen. Sie ist das was kommen soll. Sie ist das Reich.
Im Reich erst wäre die Welt so sichtbane Gestalt, wie es
die plastische Welt, der Kosmos, des Heidentums gewesen
war. Es ist der gleiche Gegensatz wie wir ihn für Gott im
mythischen und offenbaren Gott, für den Menschen im Helden
und Heiligen erkannten. Denn auch die Kreatur ist mitnichten
schon Gestalt, die dem Kosmos Widerpart halten könnte. Es
gqjit der bloßen Kreatur ähnlich, wenn auch nicht ganz gleich,
wie zuvor der gottgeliebten Seele, dem schöpfungsmächtigen
Gott: sie ist in Gefahr, zu vergehen. Freilich, ihrem beson-
deren Vorzeichen Nein gemäß, in anderer Richtung als jene
beiden. Denn während etwa die Schöpfermacht sich hinter der
Schöpfung, nach dem Wort des großen Schillerschen Frei-
denkers, »bescheiden« wieder zu verbergen drohte und wäh-
rend die Inbrunst der gottgeliebten Seele immer in Versuchung
war, sich wieder hochmütig in sich zu verschließen, ist die
Kreatur nicht etwa davon bedroht, wieder in jene verlassene
vorweltliche Welt zurückzusinken. Jener plastische Kosmos
erscheint, von der in den Augenblick ihres Daseins geballten
Abhängigkeit der Kreatur her rückwärts gesehen, als ein un-
geheuer Starres, in sich Ruhendes, Unbedürftiiges. Nicht ver-
borgen wie Gott von der Schöpfung her, nicht verschlossen
wie der Mensch von der Offenbarung her rückwärts gesehn,
ist dieser Kosmos; er ist weder unsichtbar wie der verborgene
Gott, noch unnahbar wie der verschlossene Mensch, aber er
ist ungreifbar: er ist eine verzauberte Welt.
Vordem war jene Welt in sich durchaus begreifbar ge-
wesen; das war, solange alles Leben in ihr enthalten war;
nun hat ein neues Leben begonnen; sie ist in vor- und unter-
weltlichen Schatten zurückgetreten und scheint, so begreifbar
sie vorher war, nun sich jedem Zugriff und Begriff von dem
neuen Leben aus zu entziehen. Das antike Weltbild selbst
war ja gar nicht magisch gewesen, sondern durchaus selbst-
ERLÖSUNG
281
verständlich; denn man war in dieser Welt heimisch, und nur
in ihr, und fühlte sich also durchaus heimelig. Aber nachdem
man nun in die Welt der Offenbarung eingetreten war, wurde
dies gleiche zuvor heimelige Bild der alten Welt, dieser pla-
tonisch=aristotelische Kosmos, plötzlich eine unheimelige, un-
heimliche Welt. Der plastische Kosmos erschien nun denen,
die nicht mehr in ihm lebten, als eine zauberische, eine ver-
zauberte Welt; gleich wie auch der mythische Gott erst von
dem Offenbarungsbegriff der Schöpfung her gesehen ein ver-
borgener Gott, der tragische Mensch erst von der Offen-
barung her gesehen der verschlossene Mensch geworden war.
In dieser verzauberten Welt nun — vorher, solange sie noch
selbstverständlicher Kosmos war, nicht — ist erst die Magie
wirklich Zauber geworden.
Magie und Astrologie waren der Antike Künste, die ihr so
wenig unheimlich waren wie der heutigen Welt die Künste
der Technik. Sie wurden es erst, als jenem antiken Welt-
begriff ein andrer entgegenzutreten begann und man in die-
sem neuen Begriff lebte und doch gleichzeitig noch die Ele-
mente einer untergegangenen Welt — denn das war sie
nun — am Leben zu erhalten suchte. Erst der Begriff der Welt
als Kreatur hat jene Künste in das fahle Licht der Sünde ge-
rückt. Denn Gottes Vorsehung allerdings duldete keine
magisch gewaltsamen Eingriffe, keine künstlich mittelbare
Erforschung. Indem nun die neue Weltwissenschaft sich seit
dem siebzehnten Jahrhundert von dem antiken Weltbild abzu-
wenden begann, verschwand zwar die verzauberte Welt
mehr und mehr aus dem Gesichtskreis; aber da man nun die
Welt einseitig als Dasein und nur als Dasein, als moment-
haftes, durch den ganzen Raum hindurch in der korrelativie-
renden Formel zusammengefaßtes Dasein faßte — denn Kor-
relation ist die eigentlich weltanschauungsbegründende Kate-
gorie der neuen Wissenschaft; Substanz und Kausalität sind
nur Hilfskategorien zur Verarbeitung des Stoffes —, rückte
man nun den bloßen Gedanken der Kreatur an Stelle des run-
den gestaltenreichen Kosmos. Und dieser Gedanke des Daseins
282
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
schloß zwar einen Rückfall in die Vorstellung der verzauberten
Welt aus, aber er gab der Welt entfernt nicht den Halt, die
Eigenständigkeit, wie sie der antike Kosmos besaß. Das Da-
sein war so sehr entzaubert, daß es stets drohte in bloße Vor-
stellung zu vergehen. Die Entzauberung ist hier eine ähnliche
Gefahr, wie für Gott das sich wieder Verbergen, für den Men-
schen das sich wieder Verschließen. Daß es Ent*, nicht Ver-
zauberung ist, hängt damit zusammen, daß die Kreatur unterm
Zeichen des Nein, der Schöpfer wie die geliebte Seele sich
unterm Zeichen des Ja offenbart. Kreatur allein ist also recht
eigentlich das »arme Geschöpf«, das, sowie es sich, wie es
das als Natur und überhaupt im Weltbegriff der modernen
Wissenschaft tut, aus dem starken Schutz der göttlichen Vor-
sehung herauswagt, stets, weil in sich selbst wesenlos und
also bestandlos, ins Nichts wegsinkt. Damit sie Gestalt werde,
Reich und nicht bloß augenblicksgebunden erscheinendes Da-
sein, muß sie Wesen kriegen, zu ihrer Augenblicklichkeit
Dauerhaftigkeit, zu ihrem Dasein — ja was wohl?
In den plastischen Kosmos der Vorwelt waren geistiges
Sein und Fülle der Erscheinung, letzthin Gattung und Indivi-
duum eingemündet. Sie traten, wie wir zuvor aus dem hier
herrschenden Begriff der Zukunft erklärten, in der umgekehr-
ten Reihenfolge hervor, in der es nach dem Vorgang von Gott
und Mensch erwartet werden mußte, nämlich in der gleichen
Reihenfolge ihres Einmündens, die also grade eine Verkehrung
bedeutet. In der Kreatur war die Gattung, das Allgemeine
also, herausgetreten, aber unter dem Zeichen des Nein, also
in steter Selbstverneinung von Augenblick zu Augenblick:
jeder Augenblick enthält den ganzen Reichtum der Kreatur,
aber nur für diesen Augenblick. Die Welt hat Da=sein; da wo
sie ist, ist sie, aber nirgends anders. Nun muß jenes andre
hervortreten, die Fülle, das Individuum; und wenn es als
Augenblickhaftes in der ungeheuren Überraschung der Ge-
burt in die plastische Welt eingetreten war, so muß es nun
als Dauerndes, Beständiges wieder hervortreten. Was also
ist das? eine Fülle, die dauerhaft ist, eine Individualität, die
ERLÖSUNG
283
in sich etwas hat, was nicht vergeht, sondern, einmal da, be-
stehen bleibt? Gibt es in der Welt Individualität, die es nicht
bloß ist in der Abgrenzung gegen andre Individualität und also
schon deswegen grundsätzlich vergänglich ist, weil sie den
Grund ihrer Gestalt nicht in sich hat, sondern außer sich, oder
mit anderen Worten: weil sie sich nicht selber begrenzt?
Gibt es Individualität, die sich selber begrenzt, ihre Größe
und Gestalt aus sich selber bestimmt und von andern nur ge-
hemmt, nicht bestimmt werden kann? Es gibt solche Indivi-
dualität inmitten der Welt, verstreut und nicht überall und
streng abzusondern, aber es gibt sie, und ihre ersten Anfänge
sind so alt wie die Schöpfung selbst, — ihr Name ist: Leben.
Das organische Leben in der Natur ist dies irgendwie von
uran vorhandene, jedenfalls aus dem bloßen Dasein, der bloßen
— idealistisch gesprochen — Gegenständlichkeit der Welt Un-
ableitbare. Es ist nur das sichtbare Zeichen eines Begriffs von
Leben, der sein Machtbereich weit über die Grenzen der or-
ganischen Natur hinausdehnt. Nicht bloß Lebewesen, sondern
auch Institutionen, Gemeinschaften, Gefühle, Dinge, Werke —
alles, ja wirklich Alles kann lebendig sein. Was bedeutet denn
nun dies Lebendigsein im Gegensatz zum bloßen Dasein?
Wirklich nur das, was wir eben schon sagten: die selbst-
eigene, von innen heraus sich bildende und daher notwendig
dauerhafte Gestalt. Tier und Pflanze und so auch jeder »Or-
ganismus« im weiteren übertragenen Sinn sind nicht bloßes
Produkt und bloßer Schnittpunkt von Kräften, sondern, ein-
mal vorhanden, ein Etwas, das sich gegen alle Kräfte in seiner
Gestalt zu behaupten sucht. Leben leistet Widerstand; es
widersteht, nämlich dem Tode. Das unterscheidet es vom
bloßen Dasein, das bloß Gegenstand ist, bloß gegenübersteht,
nämlich dem Erkennen. Da sieht man schon, was das Leben
noch zum Dasein hinzubringt. Es stützt die kreatürliche
Schwäche des an sich so reichen, so allumfassenden Daseins
durch in sich feste, unverrückbare, gestaltete Wesen; gegen
die »Erscheinungen« des Daseins sind die Lebewesen wirklich
»Wesen«. Während Erkenntnis des Daseins Erkenntnis seiner
284 ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
Veränderungen ist, wäre Erkenntnis des Lebens Erkenntnis
seiner Erhaltung.
Indem aber das Leben seine Dauer durch Widerstehen er-
hält, zeigt sich nun doch, daß es nicht ganz dem entspricht,
was wir hier suchen. Wir suchten ja nicht dauernde Punkte,
Brennpunkte gewissermaßen des Lebens in einer übrigens un-
lebendigen Welt, sondern wir suchten die Dauerhaftigkeit der
Welt selber, wir suchten eine unendliche Dauer, die sich dem
stets augenblicklichen Dasein unterstellen, ihm zugrunde
liegen könnte, eine Substanz also der Welt unter den Erschei-
nungen ihres Daseins. Wir suchten ein frei stehendes Unend-
liches, wir fanden allerlei Endliches, unbestimmt vieles; wir
fanden ein Endliches, das gradezu seinem Wesen nach End-
liches war; denn es erhielt seine Dauer im Widerstand gegen
andres.
Wie löst sich dieser Widerspruch? Wieder wie schon
alles, was uns bisher hier abweichend erschien von dem zuvor
Behandelten, durch den einfachen Gedanken, daß das, was
wir hier suchen, nicht ein schon Vorhandenes ist, sondern
etwas, das erst kommt. Wir suchen ein unendliches Leben,
wir finden ein endliches. Das endliche, das wir finden, ist also
bloß das Nochnichtunendliche. Die Welt muß ganz lebendig
werden. Statt bloß einzelner Brennpunkte von Leben wie Ro-
sinen in einem Kuchen muß die Welt ganz lebendig werden.
Das Dasein muß an allen seinen Punkten lebendig sein. Daß
es das noch nicht ist, bedeutet eben wieder weiter nichts, als
daß die V/elt noch nicht fertig ist. Und daß diese Unfertigkeit
uns erst hier auffällt und nicht schon im Begriff des Daseins,
liegt daran, daß das Dasein stets nur augenblicklich ist und
also jenseits der Frage »fertig« oder »unfertig«; denn der
Augenblick kennt nur sich selbst; sowie aber die Suche nach
dem Dauernden, dem Einfürallemal, angestellt wird, das jenem
Dasein erst Grund und Halt gibt, zeigt sichs, daß das Gesuchte
— noch nicht da ist, genauer: da ist als ein noch nicht Da-
seiendes. Leben und Dasein decken einander — noch nicht.
Die Fülle der Erscheinung, die in den Kosmos hinein-
prasselte, der unaussprechliche Reichtum der Individualität ist
ERLÖSUNG
285
es, was sich im Lebendigen zu einem Dauernden, Gestalteten,
Festen macht. Während jene Fülle unter dem Zeichen des
Nein entsprang, also vergänglich an sich war, verlangt das
Lebendige, wie es nun unterm Zeichen der Bejahung hervor-
trat, nach Ewigkeit. Es will in seiner Gestalt beharren. Ohne
jene bestürzende Fülle des Kosmos nicht die gegründete Tiefe
des lebendigen Reichtums. Wäre diese Fülle nur starres »Ge-
gebenes«, wie es der Idealismus will, so wäre sie nicht der
vorweltliche Boden, auf dem die Lebendigkeit des Reichs
wachsen könnte; denn alles Flervortreten ins Offenbare muß
innere Umkehr' sein; aus Starrem könnte also nur Beweg-
liches, immer sich Verwandelndes wachsen. Nur aus der stets
erneuten Fülle wächst die ruhig dauernde, ihre Gestalt aus
Vergangenheit in Zukunft überliefernde Lebendigkeit. Nicht
die Erzeugung eines toten Seins aus allgemeinem, denkmäßi-
gem Gesetz, nur der plastische Kosmos in seiner ganz bunten
Tatsächlichkeit kann sich zum Reich verkehren. Wie der cha-
raktervolle Trotz des Helden allein die Wurzel war, aus der
die Treue des gotthingegebenen und weltzugewandten Heili-
gen aufschießen konnte, und der lebendige Gott des Mythos
allein der Boden für den liebenden Gott der Offenbarung,
so konnte nur im Weltreich des Kaisers Augustus, dieser
politischen Verwirklichung des plastischen Weltbildes des
Heidentums, das Heraustreten des Reichs Gottes in die Welt
beginnen.
Zur Lebendigkeit bestimmt ist die Welt schon von Anfang.
Wie zum Wahrzeichen dieser Bestimmung verliert sich der
Anfang des Organischen im Grau der Vergangenheit und ist
selbst auf dem Wege des Schließens nicht zu fassen. Aber was
so von uran lebendig ist, sind eben nur Zentren des Lebens. Die
Lebendigkeit muß also zunehmen, mit innerer Notwendigkeit
muß sie es; auch dieses Muß ist von uran. Zwar nicht fertig
ist die Welt im Anfang geschaffen, aber mit der Bestimmung,
fertig werden zu sollen. Die Zukunft ihres Fertigwerdens ist
mit ihr zugleich geschaffen als Zukunft. Oder, um von dem
Anteil der Welt allein zu sprechen, auf den das Fertigwerden
286
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
gelegt ist — denn das Dasein hat sich nur allzeit zu erneuern,
nicht fertig zu werden —: das Reich, die Verlebendigung des
Daseins, kommt von Anfang an, es ist immer im Kommen. So
ist sein Wachstum notwendig. Es ist immer zukünftig — aber
zukünftig ist es immer. Es ist immer ebenso schon da wie zu-
künftig. Es ist einfürallemal noch nicht da. Es kommt ewig.
Ewigkeit ist nicht eine sehr lange Zeit, sondern ein Morgen,
das ebensogut Heute sein könnte. Ewigkeit ist eine Zukunft,
die, ohne aufzuhören Zukunft zu sein, dennoch gegenwärtig ist.
Ewigkeit ist ein Heute, das aber sich bewußt ist, mehr als
Heute zu sein. Und wenn also das Reich ewig kommt, so be-
deutet das, daß zwar sein Wachsen notwendig ist, aber daß
das Zeitmaß dieses Wachstums nicht bestimmt ist, ja genauer:
daß das Wachstum gar kein Verhältnis zur Zeit hat. Ein Da-
sein, das einmal ins Reich eingegangen ist, kann nicht wieder
herausfallen, es ist unter das Einfürallemal getreten, es ist
ewig geworden.
Hier aber zeigt es sich, daß das notwendige Wachsen des
Reichs doch nicht einfach einerlei ist mit dem Wachstum des
Lebens. Denn das Leben will zwar dauern, aber es kämpft
einen Kampf mit unsicherem Ausgang; es ist zwar keine Not-
wendigkeit, daß alles Leben sterben muß, aber doch eine viel-
umfassende Erfahrung. So ist das Reich, obwohl es sein
Wachstum auf das Wachstum des Lebens baut, doch noch auf
etwas andres angewiesen, das dem Leben erst die Unsterb-
lichkeit sichert, die es für sich selber sucht und die das Reich
für es verlangen muß. Erst indem Leben unsterblich wird,
ist es ein sicherer Bürger des Reichs. Die Welt also verlangt,
um offenbare Gestalt zu werden, noch zu ihrem eigenen
inneren Wachstum, dem prekären, weil nie seiner Dauer
gewissen, Wachstum des Lebens, eine Wirkung aus einem
Außen hinzu. Diese Wirkung durchwirkt ihre Lebendigkeit in
der Tat der Erlösung. Wie,' das werden wir sehen.
Hier werfen wir zuvor noch einen letzten vergleichenden
Blick auf den Islam. Wieder wird uns dadurch der Be-
griff des Lebens, wie er dem Gedanken des Reichs zugrunde-
ERLÖSUNG
287
liegt, noch klarer werden. Der Islam macht gleichfalls die
Welt in ihrer Individualität zum Gegenstand der Erlösung. Der
Weg Allahs führt den Gläubigen in die wirklichen Völker der
wirklichen Epochen hinein. Wie werden nun hier diese Völker
und Epochen gedacht? Im Reich treten sie hervor in einem
ständigen, dennoch unberechenbaren Wachstum an Leben; es
ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen, daß ein Volk, eine Epoche,
ein Ereignis, ein Mensch, ein Werk, eine Institution wirklich
zu unsterblichem Leben kommt; niemand weiß das; aber einen
Zuwachs an Leben, wenn auch nicht ewigem Leben, bedeutet
selbst die am Ende doch wieder versinkende Gestalt. Denn
in der Erinnerung bleibt auch sie und in Wirkungen, die
schließlich doch wieder irgendwann einmal und irgendwo ins
Reich eingehen.
Im Islam hingegen steht alle weltliche Individualität noch
unter ihrem vorzeitlichen Zeichen, dem Nein. Sie ist immer
neu, kein allmählich Wachsendes. Hier ist wirklich jedes Zeit-
alter unmittelbar zu Gott und nicht bloß jedes Zeitalter, son-
dern überhaupt alles Individuelle. So ist auf dem Boden des
Islam seit der Antike wieder das erste wirkliche geschichtliche
Interesse im modernen Sinn, ein recht eigentlich wissenschaft-
liches Interesse ohne »geschichtsphilosophischen« Hintergrund,
aufgekommen. Während in der christlichen Welt das Inter-
esse an jenem Hintergrund vorwaltete und der Wunsch, das
Walten Gottes in der Geschichte am Wachstum seines Reichs
menschlichen Augen sichtbar zu machen, die Geschichtsdar-
stellung bestimmte und trotz aller Enttäuschungen durch den
Gang der Ereignisse, der immer wieder lehrt, daß Gottes Wege
unerforschlich sind, dennoch immer wieder bestimmt und be-
stimmen wird. Jenem mit innerer Notwendigkeit geschehenden
Wachstum des Reichs gegenüber bildet der Islam eine höchst
bezeichnende Lehre aus, die Lehre von den Imamen. Jedes
Zeitalter, jedes »Jahrhundert« seit Muhamed hat seinen
»Imam«, seinen geistlichen Vorsteher;, der wird den Glauben
seines Zeitalters auf den rechten Weg leiten. Die Zeitalter
untereinander werden also dabei in gar keine Beziehung ge-
288
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
setzt: es ist kein Wachstum von einem zum andern, kein
»Geist«, der durch sie alle hindurchgeht und sie zur Einheit
verbindet, und außer dem Rückgriff auf die noch vom Pro-
pheten selbst herrührende Erblehre bleibt, wo sie die Zeit-
bedürfnisse im Stich läßt, diesen nur die Zuflucht zum Con-
sensus der lebenden Gesamtheit — »Idschma« —; »meine
Gemeinde wird nie in einem Irrtum übereinstimmen«, soll Mu-
hamed verheißen haben. Diese Übereinstimmung ist also
wieder etwas rein Gegenwärtiges, gar nicht zu vergleichen
oder vielmehr genau entgegengesetzt dem Gedanken der un-
fehlbaren Kirche, die unfehlbar nur ist als lebendige Hüterin
der Erblehre, ebenso entgegengesetzt dem rabbinischen Begriff
der mündlichen Lehre, der dem gegenwärtigen, rein logisch
ermittelten Entscheid einen unmittelbaren Ursprung in der
Sinaioffenbarung selber zuschreibt. Aber deutlich ist hier wie
bei der Imamlehre die auffallende Analogie zur spezifisch
»modernen« Auffassung des »Fortschritts« in der Geschichte
und der Stellung des »großen Manns« darin.
Das Wesentliche dieser Analogie ist nun, daß gegenüber dem
notwendigen und dennoch, durch das Mitwirken jenes erwähn-
ten »andern«, unberechenbaren Wachstum des Reichs hier der
Gedanke der Zukunft in der Wurzel vergiftet ist. Denn zur
Zukunft gehört vor allem das Vorwegnehmen, dies, daß das
Ende jeden Augenblick erwartet werden muß. Erst dadurch
wird sie zur Zeit der Ewigkeit. Denn wie sich ja die Zeiten über-
haupt in ihrem Verhältnis zur Gegenwart gegeneinander unter-
scheiden, so erhält erst hier der gegenwärtige Augenblick, der
von der Vergangenheit das Geschenk des Immerwährenden,
der Dauer, von der Gegenwart selbst das Sein in jeder Zeit
empfangen hatte, die Gabe der Ewigkeit. Daß jeder Augenblick
der letzte sein kann, macht ihn ewig. Und eben daß jeder
Augenblick der letzte sein kann, macht ihn zum Ursprung der
Zukunft als einer Reihe, von der jedes Glied durch das erste
vorweggenommen wird.
Dieser Gedanke der Zukunft nun, dies daß das Reich
»mitten unter euch« ist, daß es »heute« kommt, diese Ver-
ERLÖSUNG
289
ewigung des Augenblicks erlischt in dem islamischen wie im
modernen Begriff der Zeitalter. Hier bilden die Zeiten zwar
eine unendliche Reihe, aber unendlich ist nicht ewig, unendlich
ist nur »immerzu«. Im islamischen Zeitbegriff, wie er in der
Imamlehre und im Idschmabegriff verborgen ist, wird die Folge
der Zeiten in die unendliche Gleichgültigkeit einer Abfolge aus-
einandergezogen, so daß, wenngleich jedes einzelne Glied ganz
augenblicklich ist, ihre Summe, wenn man sie bildet, eher einer
Vergangenheit als einer Zukunft gliche. Daß jedes Zeitalter
gleich unmittelbar zu Gott sei, ist ja eben auch der echte Ge-
danke des reinen, zum bloßen Werkzeug der Erkenntnis des
Gewesenen ausgelöschten Historikers. Und im Gedanken des
Fortschritts scheint zwar zunächst wenigstens der Zusammen-
hang, das Wachstum, die Notwendigkeit genau wie im Ge-
danken des Reichs Gottes lebendig zu sein. Aber alsbald ver-
rät er sein Inneres durch den Begriff der Unendlichkeit; wenn
von »ewigem« Fortschritt auch geredet wird — in Wahrheit
ist immer nur »unendlicher« Fortschritt gemeint, ein Fort-
schritt, der so immer weiter fort schreitet und wo jeder Augen-
blick die verbürgte Gewißheit hat, noch an die Reihe zu
kommen, also seines Daseinwerdens so sicher sein darf wie
ein vergangener seines Schondaseins. Gegen nichts sträubt
sich also dieser echte Fortschrittsgedanke so wie gegen die
Möglichkeit, daß das »ideale Ziel« vielleicht schon im nächsten,
ja in diesem Augenblick erreicht werden könnte und müßte. Es
ist gradezu das Schiboleth, an dem man den Gläubigen des
Reichs, der nur um die Zeitsprache zu sprechen das Wort
Fortschritt gebraucht und in Wahrheit das Reich meint, von
dem echten Fortschrittsanbeter unterscheiden kann: ob er sich
gegen die Aussicht und Pflicht der Vorwegnahme des »Zieles«
im nächsten Augenblick nicht zur Wehr setzt. Ohne diese
Vorwegnahme und den inneren Zwang dazu, ohne das »Her-
beiführenwollen des Messias vor seiner Zeit« und die Ver-
suchung, das »Himmelreich zu vergewaltigen«, ist die Zukunft
keine Zukunft, sondern nur eine in unendliche Länge hin-
gezogene, nach vorwärts projizierte Vergangenheit. Denn ohne
19
290
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
solche Vorwegnahme ist der Augenblick nicht ewig, sondern
ein sich immerwährend Weiterschleppendes auf der langen
Heerstraße der Zeit.
Von zwei Seiten also wird an das verschlossene Tor der
Zukunft gepocht. In dunklem, aller Rechnung entzogenem
Wachstum drängt das Leben der Welt heran; in heißem
Herzensüberfluß sucht die sich heiligende Seele den Weg zum
Nächsten. Beide, Welt wie Seele, pochen an das verschlos-
sene Tor, jene wachsend, diese wirkend. Auch alles Wirken
geht ja in die Zukunft, und der Nächste, den die Seele sucht, ist
ihr immer bevorstehend und wird nur in denrgrade augen-
blicklich vor ihr stehenden vorweg^genommen. Wachsen wie
Wirken werden durch solche Vorwegnahme ewig. Was aber
ists, was sie vorwegnehmen? Nichts andres als — einander.
Das in Tat und Bewußtsein ganz dem augenblicklich Nächsten
zugewandte Wirken der Seele nimmt bei diesem Wirken doch
im Wollen alle Welt vorweg. Und das Wachsen des Reichs
in der Welt, wenn es hoffend das Ende schon für den nächsten
Augenblick vorwegnimmt — auf was wohl wartet es für diesen
nächsten Augenblick, wenn nicht auf die Tat der Liebe? Dies
Warten der Welt ist ja selbst ein Erzwingen jener Tat. Würde
das Reich nur mit stummem, stumpfem, treibendem Triebe
wachsen und so ins Unendliche der Zeit immer fort, immer
fortschreitend, ein Ende vor sich nur in der Unendlichkeit, so
wäre die Tat gelähmt, und weil ihr das Fernste unendlich fern
wäre, so wäre ihr auch das Nächste und der Nächste unerreich-
bar. So aber, wo das Reich in der Welt mit unberechenbarem
Schritte fortschreitet und jeder Augenblick bereit sein muß, die
Fülle der Ewigkeit aufzunehmen, ist das Fernste das in jedem
nächsten Augenblick Erwartete, und so wird das Nächste, das
ja nur der Platzhalter des Fernsten, des Höchsten, des Ganzen
ist, in jedem Augenblick greifbar.
So wirken Mensch und Welt hier in unauflösbarer Wechsel-
wirkung aufeinander und miteinander. Das ist ja das in allem
Handeln Unlösbare: daß die Freiheit gebunden ist an den
ERLÖSUNG
291
Gegenstand ihrer Tat, daß das Gute nur möglich wäre in einer
Welt, die schon gut ist, daß der Einzelne nicht gut sein kann,
ohne daß Alle gut sind — und daß doch andrerseits es in der
Welt, nach dem großen Wort der preußischen Königin, nur gut
werden kann durch die Guten. Es ist unlösbar; denn Mensch
und Welt sind nicht voneinander zu lösen. Das Wirken ent-
bindet die Tat aus dem Menschen, aber bindet die entbundene
auch wieder hinein in die Welt. Und das Warten entbindet
das Reich aus der Welt; denn wartete sie nicht, so schritte sie
»fort« ins Unendliche und das Reich käme nimmer; aber dies
Warten bindet auch wieder das Entbundene an das Wirken
des Menschen. Aus dieser wechselweisen Bindung können sie
also selber sich nicht lösen; denn indem sie sich selber ent-
binden, binden sie sich nur fester in- und aneinander. Sie
können sich selber nicht von einander lösen, sie können nur
miteinander — erdöst werden, erlöst von einem dritten, der
eines am andern, eines durch das andere erlöst. Zu Mensch
und Welt gibt es nur Einen Dritten, nur Einer kann ihnen
Erlöser werden.
Solch Miteinander gibt es nur hier. Von Gott zur Welt, von
Gott zum Menschen — das war jedesmal ein Gang in eindeu-
tiger Richtung. Gott mußte sie schaffen, damit die Welt als ent-
zauberte Kreatur sich unter die Fittiche seiner Vorsehung
schmiegen konnte. Gott mußte ihn beim Namen rufen, damit
der Mensch als erschlossene Seele den Mund auftat. Hier
allein sind die beiden Pole von vornherein aufeinander ver-
wiesen, und alles, was zwischen ihnen vorgeht, geht gleich-
zeitig in beiden vor. Die Entdeckung des Dings geschah in der
Reihe der Worte vom Stammwort der Dinghaftigkeit bis hin
zum vollendeten Ding. Die Erweckung der Seele geschah in
der Wechselrede, die anhub beim erwachenden Stamm-Ich
ihres Erweckers. Aber die Erlösung der Seele an den Dingen,
der Dinge durch die Seele geschieht im gleichatmenden Zwie-
gesang der beiden, im Satz, der aus den Stimmen der beiden
Worte zusammenklingt. In der Erlösung schließt das große
Und den Bogen des All.
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
2£
Aus dem Und bricht also kein Stammwort hervor, sowie es
selber schon für sich kein Urwort war, sondern schon selber
nur die Brücke der beiden Urworte, das Und zwischen Ja und
Nein. Das vor=sprachliche Und offenbart sich nicht in einem
Stammwort, sondern jm Stammsatz, also in einem Satz aus
den zwei Stammworten. Das Und ist, wie wir uns wohl noch
aus der Rolle entsinnen, die es bei den drei Elementen der Vor-
welt jeweils spielte, nicht ursprünglich. Es entsteht kein Etwas
in ihm, es ist nicht wie Ja und Nein unmittelbar zum Nichts,
sondern es ist das Zeichen des Prozesses, der zwischen den im
Ja und Nein Entstandenen die fertige Gestalt wachsen läßt. Es
ist also etwas ganz andres als die idealistische »Synthesis«;
diese ist, wie man in ihrem historischen Ursprung bei Kant am
besten beobachten kann, wirklich schöpferische Synthesis an
einem bloß »gegebenen« toten »Material«; so wird sie im Ver-
lauf der idealistischen Bewegung schließlich zur Wiederher-
stellerin der Thesis, also zum eigentlich schöpferischen Prinzip
der Dialektik; die Antithesis wird zur bloßen Vermittlung
zwischen der Erstellung und der Wiederherstellung der
Thesis, und in diesem ständigen Wiederfinden der Thesis
vollzieht sich der Gang des Wissens zu immer tieferem
Erkennen — eine unendliche Ausführung und zugleich absolut
idealistische Wendung des platonischen Grundgedankens vom
Erkennen als einem Wiedererkennen, der bei seinem Urheber
noch durchaus unidealistisch gemeint war als ein denkmäßiges
Nachschaffen des ungeschaffenen Seins. Diese Auffassung
der Synthesis schließt also ganz wesentlich eine Mediatisie-
rung der Antithesis ein; die Antithesis wird nur zum Übergang
von der Thesis zur Synthesis, sie ist selbst nicht ursprünglich.
Das Verhältnis wird sofort anschaulich, wenn man etwa an
Hegels Auffassung des Trinitätsdogmas denkt, wo ihm das
Wesentliche ist, Gott als Geist zu erkennen, und der Gott-
mensch nur das Wie dieser Gleichung zwischen Gott und Geist
bedeutet. Oder auch an dem obersten Dreitakt seiner Enzy-
klopädie, wo die Natur nur Brücke ist zwischen Logik und
Geist und aller Nachdruck auf der Verkoppelung dieser beiden
liegt.
ERLÖSUNG
293
Wie nun bei uns die dem Ja allermindestens gleichwertige
Ursprünglichkeit des Nein, die der Schöpfung gleichwertige
»Tatsächlichkeit« der Offenbarung, gradezu die Grundkonzep-
tion ist, so muß demnach auch unsre Synthesis, das Und, eine
ganz andre Bedeutung kriegen; sie darf, eben weil Thesis und
Antithesis beide an sich »schöpferisch« sein sollen, selber
nicht schöpferisch sein; sie darf nur das Ergebnis ziehen; sie
ist wirklich nur das Und, nur der Schlußstein des übrigens auf
eigenen Pfeilern errichteten Gewölbes. Sie kann so auch nicht
wieder zur Thesis werden, der Schlußstein kann sich nicht,
wie er das bei Hegel muß, wieder in einen Grundstein ver-
wandeln, es kommt zu keinem dialektischen Prozeß, sondern
soweit diese einmalige Reihe der Zeiten des Welttags kate-
goriale Bedeutung annimmt, gelten diese Kategorien nur für
Kategorien im alten Sinn, Maßstäbe, an denen eine Wirklich-
keit gemessen und gegliedert wird, nicht innere Kraft, mit der
sie sich selber bewegt. Im strengen und unmittelbaren Sinn
gibt es nur die eine garnicht allgemeinbegriffliche, sondern ganz
einmalige und besondere Reihe Schöpfung=Offenbarung=Er-
lösung. Das Ende ist wirklich Ende und hat als solches keine
ausgezeichnete Beziehung zu einem der beiden Hervorgänge
im Anfang, sondern höchstens zum Anfang selber; die Er-
lösung steht zur Schöpfung nicht intimer als zur Offenbarung
und zur Offenbarung nicht intimer als zur Erlösung; nur zu
dem, von dem Schöpfung wie Offenbarung ausgehen, hat sie
ein engeres Verhältnis: zu Gott. Gott ist der Erlöser in viel
stärkerem Sinn als er Schöpfer und Offenbarer ist. Denn in
der Schöpfung macht er sich zwar zum Schöpfer, aber schafft
das Geschöpf, und in der Offenbarung macht er sich zwar zum
Offenbarer, aber offenbart sich der Seele, in der Erlösung hin-
gegen ist er nicht bloß Erlöser, sondern, indem das Werk der
Schöpfung und die Tat der Offenbarung gewissermaßen hinter
ihm liegen und nun selbständig und als ob er nicht da wäre
aufeinander wirken, erlöst er, wie wir noch sehen werden,
letzthin — sich selbst.
Doch wir greifen vor. Hier halten wir erst bei der Ent-
stehung der Gestalt, die das unterweltliche Und beim Eintritt
294
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
in die Oberwelt der Sprache annimmt, beim Stammsatz. Er
soll die Stammworte der Schöpfung und der Offenbarung zu-
sammenschließen, jenes Nichts=als=Prädikat, das »Gut!«, mit
jenem Nichts=als=Subjekt, dem göttlichen Ich. Und da es ein
Satz werden muß, der von beiden Seiten gleichzeitig — wirk-
lich zweistimmig — gesprochen werden muß, so kann jenes
Ich nicht Ich bleiben; Mensch und Welt müssen es gleichen
Atems singen können; an Stelle des göttlichen Ichs, das nur
Gott selber sprechen konnte, muß der göttliche Name treten,
den auch Mensch und Welt im Herzen tragen können, und
von ihm muß es heißen: er ist gut.
Dies ist der Stammsatz der Erlösung, das Dach über dem
Hause der Sprache, der an sich wahre Satz, der Satz, der
wahr bleibt, einerlei wie er gemeint ist und aus welchem
Munde er kommt. Daß zwei mal zwei vier ist, kann unwahr
werden, etwa wenn man es einem Papagei gelehrt hat und der
es nun »spricht«; denn was ist dem Papageien die Mathe-
mathik? Aber der Satz, daß Gott gut ist, kann selbst in die*
sem skurrilsten aller möglichen Fälle seines Lautwerdens keine
Unwahrheit werden; denn auch den Papageien hat Gott ge*
schaffen, und auch auf ihn geht schließlich seine Liebe. An die*
sen Satz müssen alle andern Sprachformen anzuknüpfen sein.
Und zwar, während dem Stammwort der Schöpfung die For-
men folgen in der Reihe einer sachlichen Entwicklung wie die
einzelnen Sätze einer Geschichte und während das Stamm-
wort der Offenbarung ein Wechselgespräch eröffnet, müssen
hier die Sprachformen alle den Sinn des einen Satzes tragen
und erläutern. Es müssen lauter Formen sein, die den Zu-
sammenhang der beiden Satzteile deuten und kräftiger
schließen. Durch jede Form muß der Grundbaß des Satzes
durchtönen und die Formen selber müssen in steter Steigerung
den Satz immer hymnischer heben. Statt als Erzählung, die
vom Erzähler zur Sache strebt, statt als Zwiegespräch, das
zwischen zweien hin und her geht, tritt die Grammatik diesmal
auf als strophisch sich steigernder Gesang. Und Urgesang, der
ERLÖSUNG
m
stets Gesang von mehreren ist; der Einzelne singt nicht; erst
wenn das Lied als Lied der Vielen entstanden ist, füllt es nach-
träglich die unsanglichen Formen der Erzählung und des
Wechselliedes an und wird zur Ballade des Sängers am
Königshofe und zum Lied der Liebe. Aber ursprünglich ist
der Gesang vielstimmig gleichen Tons und Atems, und über
allem Inhalt des Gesanges steht die Form dieser Gemeinsam-
keit. Ja der Inhalt ist selbst weiter gar nichts als die Begrün-
dung für diese seine Form. Man. singt nicht gemeinsam um
eines bestimmten Inhalts willen, sondern man sucht sich einen
gemeinsamen Inhalt, damit man gemeinsam singen kann. Der
Stammsatz, wenn er Inhalt gemeinsamen Gesanges sein soll,
kann nur als eine Begründung solcher Gemeinsamkeit auf-
treten; das »er ist gut« muß erscheinen als ein »denn er ist
gut«.
Was ist nun das erste, was also begründet wird? Es kann
nur die Gemeinsamkeit des Gesanges sein, und diese Gemein-
samkeit nicht als die vollendete Tatsache, nicht als ein Indi-
kativ, sondern erst als eine grade eben begründete Tatsache. So
muß die Stiftung der Gemeinsamkeit dem Inhalt des Gesanges
vorangehn, als eine Aufforderung also zum gemeinsamen
Singen, Danken, Bekennen, »daß Er gut ist«, oder vielmehr, wie
man in Anbetracht dessen, daß dies Singen, Danken, Bekennen
selber die Hauptsache ist und das Besungene, Verdankte, Be-
kannte nur Begründung dafür, richtig übersetzt: eine Auffor-
derung zum Singen, Danken, Bekennen »weil Er gut ist«. Und
diese Aufforderung wiederum darf kein Imperativ sein, keine
Aufforderung des Auffordernden an einen Aufgeforderten, der
der Aufforderung nachzukommen hätte, sondern die Auffor-
derung muß selbst unter dem Zeichen der Gemeinsamkeit
stehen, der Auffordernde muß zugleich selber Aufgeforderter
sein, sich selber mit auffordern: die Aufforderung muß im
Kohortativ stehen, einerlei ob dieser Unterschied vom Impe-
rativ äußerlich erkennbar ist oder nicht; auch die scheinbare
Aufforderung, das »Danket«, darf nur den Sinn eines »Laßt uns
danken« haben; der Auffordernde dankt selber mit, ja er
296
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
fordert nur auf, um selber mit danken zu können; der Auffor-
dernde, indem er seine Seele und was in ihm ist, aufruft zu
loben, ruft unmittelbar zugleich damit alle Welt auf, Meere
und Flüsse und alle Heiden und die welche Qott fürchten:
Lobet den Herrn! Schon was in ihm ist, gilt ihm ja, weil es
»ist«, für ein Äußeres, das er erst aufrufen muß, und hinwieder-
um ist das Entfernteste, alle Welt, ihm kein Äußeres, sondern
ein brüderlich mit ihm Einstimmendes in Lob und Dank.
Lob und Dank, die Stimme der zum Einklang mit aller Welt
erlösten Seele und der zu Mitsinn und Mitsang mit der Seele
erlösten Welt — wie kann die Doppelstimme zur einen zu-
sammenklingen? Wie konnten sich die Getrennten finden,
außer in der Einheit dessen, vor dem sie singen, den sie loben,
dem sie danken? Was verbindet die eine Stimme des Auf-
fordernden mit aller Welt? Er ist verschieden von aller Welt,
zweierlei Subjekte, zweierlei Nominative; und auch was er
hat und sieht, ist verschieden von dem, was alle Welt hat und
sieht, zweierlei Objekte, zweierlei Akkusative. Nur der, dem
er dankt, der nicht Objekt für ihn ist und also an ihn gebunden,
sondern ein ihm und allem, was für ihn Objekt werden kann,
»Jenseitiges«, nur das ist der gleiche, dem alle Welt dankt; im
gegen alles jenseitigen Dativ finden sich die Stimmen der dies-
seits getrennten Herzen. Der Dativ ist das Bindende, Zu-
sammenfassende; wem etwas gegeben wird, wie hier der
Dank, der wird dadurch nicht Eigentum dessen, was ihm ge-
geben wird; er bleibt jenseits des Gebers, und weil er jenseits
des einzelnen Gebers bleibt, so kann er der Punkt sein, wo
alle Geber sich vereinigen können; der Dativ als dies wahrhaft
Bindende kann das wahrhaft Lösende für alles unwahrhaft,
alles unwesentlich Gebundene sein, das Erlösende, — Gott sei
Dank.
Im Dativ vereinigt sich aller Dank; der Dank dankt für die
Gabe; indem Gott Dank gezollt wird, bekennt man ihn als den
Geber und erkennt ihn als den Erfüller des Gebets. Das Gebet
des Einzelnen, das Stoßgebet, war das Höchste, wozu sich der
Einzelne als Einzelner aufschwingen konnte; aber die Erfül-
ERLÖSUNG
297
lung lag jenseits; nur insofern sie in der Seele des Einzelnen
geschah, war das Gebet, als Betenkönnen, schon selber seine
eigene Erfüllung. Aber das Reich, nach dessen Kommen alles
Gebet, auch das Stoßgebet des Einzelnen, unbewußt schreit, die
sichtbare Darstellung des bloß im Allerheiligsten der Seele
Erlebten, kommt nicht in der Offenbarung, und so bleibt das
Gebet ein Seufzer in Nacht. Jetzt ist die Erfüllung unmittel-
bar da; in der im Dank geschehenen Vereinigung der Seele
mit aller Welt ist das Reich Gottes, das ja eben nichts ist als
die wechselweise Vereinigung der Seele mit aller Welt, ge-
kommen und alles jemals mögliche Gebet erfüllt. Der Dank
für die Erfüllung jeglichen Gebets geht allem Gebet, das nicht
Stoßgebet aus der zweieinsamen Nähe der Seele zu Gott ist,
voraus; die allgemeinsame Anerkennung der väterlichen. Güte
Gottes ist der Grund, auf dem sich alles gemeinsame Beten
erhebt. Von diesem gemeinsamen Gebet gilt also, daß es er-
füllt ist, nicht wie das Stoßgebet aus der einsamen Tiefe der
Not, indem es sich hervorringt, indem die Seele beten kann;
sondern es ist erfüllt, ehe es gebetet wird; seine Erfüllung
wird in Dank und Lob vorweggenommen; der gemeinsame
Dank ist schon die Erfüllung alles dessen, worum gemeinsam
gebetet werden kann, und das Kommen dessen, um wessent-
willen allein alle einzelnen Bitten mit der zwingenden Macht
der Gemeinsamkeit sich vor das Angesicht Gottes wagen
dürfen: nämlich des Reichs. Das gemeinsame Bekenntnis und
Lob muß allem gemeinsamen Beten vorangehen als seine Er-
füllung.
Aber freilich diese Erfüllung geht nur voran, sie ist nur
vorweggenommen. Wäre es möglich, nur um das Kommen
des Reichs und um weiter nichts zu beten, so wäre diese im
Dank vorweggenommene Erfüllung nicht vorweggenommen,
sondern dann w,äre Preis und Dank nicht bloß das erste Ge-
fühl, sondern das einzige; denn dann — wäre das Reich schon
da; die Bitte um sein Kommen brauchte nicht gebetet zu
werden, das Gebet wäre zu Ende mit seinem ersten Wort, dem
Lob. Aber so ist es nicht; es ist noch nicht möglich, der Ge-
2q8
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
meinschaft und dem Menschen in der Gemeinschaft noch nicht
möglich, nur um das Kommen des Reichs zu beten; dies Gebet
ist noch verdunkelt und verwirrt von mancherlei andern
Bitten, um Vergebung der Sünde, um das Reifen der Erdfrucht,
kurz um alles das, was die Rabbinen sehr tief als Bedürfnisse
des Einsamen bezeichnen. Ja es sind Bedürfnisse des Ein-
samen. Wäre der Einzelne schon wirklich vereinigt mit aller
Welt, wie er es in Preis und Dank vorwegnimmt, so würden
all diese Bedürfnisse von ihm abgefallen sein. Sie sind das
Zeichen, daß er das Erdöstsein von den Banden des Bedürf-
nisses in der allgemeinen Verbindung seiner Seele mit aller
Welt in Preis und Dank nur vorwegnimmt und daß also die
Erlösung ganz und gar ein noch Kommendes, Zukunft ist.
Die Zukunft also hat hier die Bedeutung, die für die Offen-
barung die Gegenwart, für die Schöpfung die Vergangenheit
hat. Aber während die Gegenwart für die Offenbarung ein
Grundbegriff ist und also ganz zu Beginn der »Wechselrede«
erschien, und die Vergangenheit für die Schöpfung der ab-
schließende Begriff war und also das Ziel der ganzen »Erzäh-
lung«, taucht die Zukunft für die Erlösung nur so mitteninne
und fast nebenbei auf. Es ist eben für die Zukunft entschei-
dend, daß sie vorweggenommen werden kann und muß. Diese
Vorwegnahme, dies Heute, diese Ewigkeit des Danks für
Gottes Liebe — denn sie »währet ewiglich« —, Ewigkeit, wie
wir es erklärten, nicht »sehr lange«, sondern »heute schon«:
das ist der eigentliche melodische Inhalt der Strophe des ge-
meinsamen Gesangs, in der die Zukunft nur wie eine regel-
mäßig die Melodie umspielende Begleitfigur auftrat.
Wenn nun ein Nochnicht über aller erlösenden Vereinigung
geschrieben steht, so kann das nur dazu führen, daß für das
Ende zunächst der grade gegenwärtige Augenblick, für das
Allgemeine und Höchste zumächst das jeweils Nächste ein-
tritt. Das Band der vollendeten und erlösenden Verbindung
von Mensch und Welt ist zunächst der Nächste und immer
wieder nur der Nächste, das zumächst Nächste. In den Gesang
Aller fügt sich hier also eine Strophe, die nur von zwei ein-
ERLÖSUNG
299
zelnen Stimmen gesungen wird, — von meiner und meines
Nächsten. Statt des Plural, der die Dinge als einzelne Ver-
treter ihrer Art enthält, und statt des Singular, in welchem die
Seele ihre Geburt erlebt, herrscht also hier der Dual, jene
Form, die in den Sprachen nicht von Dauer ist, sondern im
Laufe der Entwicklung vom Plural aufgesogen wird; denn frei-
lich haftet sie nirgends fest außer höchstens an den wenigen
Dingen, die an sich paarweise auftreten; sonst gleitet sie von
einem Träger zum andern, nächsten weiter, von einem Näch-
sten zum nächsten Nächsten, und hat keine Ruhe, ehe sie nicht
den ganzen Kreis der Schöpfung ausschritt. Aber nur schein-
bar gibt sie so ihre Herrschaft an den Plural ab; in Wahrheit
hinterläßt sie bei dieser Wanderung überall ihre Spuren, in-
dem sie in dem Plural der Dinge allenthalben das Zeichen der
Singularität setzt; wo einmal der Dual gehaftet hat, wo einer
oder etwas zum Nächsten einer Seele geworden ist, da ist ein
Stück Welt geworden, was es vorher nicht war: Seele.
Aber welche Reihenfolge in dieser Weltwanderung ein-
gehalten wird, das ist ganz unbestimmt. Immer antwortet dem
Weckruf die nächste Stimme; welche das ist, das steht nicht
in der Wahl des Weckers; er sieht immer nur das Nächste,
nur den Nächsten. Ja eigentlich sieht er kaum den Nächsten;
oer fühlt nur in sich den überquellenden Drang zur Liebestat;
welches und ein wie beeigenschaftetes Etwas aus der Fülle des
Etwas sich ihm bieten mag, das ist ihm gleichgültig; genug, er
weiß, daß jedes Etwas ihm in seiner Eigenschaftlichkeit und
Eigenartigkeit durch die Kraft seiner ihm selber entquellenden
Tat zum Einzigartigen, Subjektiven, Substantivischen werden
wird. Das Verbum erst, indem es als selber unbestimmte Ko-
pula den Satz zusammenbindet, gibt der adjektivischen All-
gemeinheit des Prädikats substantivische Festigkeit und Ein-
zigartigkeit und macht das Substantiv zum Subjekt. Wie es
denn auch, wenn es als Tatwort selber inhaltliche Bestimmung
angenommen hat, immer noch wahllos vom Subiekt aus auf
jedes ihm vorgelegte Objekt sich richtet, aber gleichwohl in
dieser Wahllosigkeit das Objekt aus seiner passivischen Starr-
300
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
heit zur Bewegung, das Subjekt aus seiner Insichverschlossen-
heit zur Tat erlöst.
Unbestimmtheit also ist das Zeichen, unter dem die Tat der
Liebe sich ihren Gegenstand zum Nächsten schafft. In der
Schöpfung wurde das Bestimmte auf dem Hintergründe seines
Unbestimmten im Zusammenwirken der beiden Artikel ge-
schaffen; in der Offenbarung wird das ganz und nur Be-
stimmte, der Eigenname des Einzelnen, der einzig in seiner
Art, in seiner eigenen und nur ihm eigenen Art ist, angerufen.
Jetzt erscheint das Unbestimmte, das Irgendeiner, als solches,
ohne sich wie in der Schöpfung auf ein ihm zugeordnetes Be-
stimmtes, sein Besonderes, zu beziehen. Dennoch gilt auch für
es eine Beziehung auf ein Bestimmtes. Aber dies Bestimmte
ist ihm nicht unter-, sondern übergeordnet. Das vollkommen
Unbestimmte des »Irgendeiner« bezieht sich auf ein ebenso
vollkommen Bestimmtes, wie es selbst vollkommen Un-
bestimmtes ist. Vollkommen bestimmt aber ist nichts Ein-
zelnes, sondern nur das Ganze alles Bestimmten, das All. Aus
diesem Zusammengehören des »Irgendeiner« und des »Alle
Welt«, wie es durch die Liebe zum »Nächsten« getätigt wird,
entspringt für die Welt der Erlösung eine Tatsächlichkeit, die
durchaus der im Zusammenwirken des beschränkt Allgemeinen
und beschränkt Besonderen für die Schöpfung bewirkten Wirk-e
lichkeit entspricht. Die absolute Tatsächlichkeit, die für die
Welt der Erlösung daraus hervorwächst, daß hier jeder grade
mir Nächste mir vollgültig alle Welt vertritt, gerinnt nun in
der Schlußstrophe des Gesanges, in der sich die zu Anfang
einzeln wechselseitig jede die andern zum Danken auf-
fordernden Stimmen zum mächtigen Unisono des »Wir«
einigen.
Das Wir ist stets »Wir alle«. Jedenfalls: »Wir alle, die wir
hier beisammen sind«. Das Wort Wir ist ja daher nicht ohne
Geberde zu verstehen. Wenn einer Er sagt, so weiß ich, daß
einer gemeint ist, und das gleiche weiß ich auch im Dunkeln,
wenn ich eine Stimme Ich oder Du sagen höre. Aber wenn
einer Wir sagt, so weiß ich, auch wenn ich ihn sehe, nicht, wen
ERLÖSUNG
301
er meint, ob sich und mich, sich und mich und irgendwelche
andern, sich und irgendwelche andere ohne mich, schließlich
welche andern. An sich bezieht das Wir stets den aller-
weitesten noch denkbaren Kreis ein und erst die sprechende
Geberde oder der Zusatz — wir Deutsche, wir Philologen —
schränkt diesen größten Kreis von Fall zu Fall auf einen klei-
neren Ausschnitt ein. Wir ist kein Plural; der Plural entsteht
in der dritten Person des Singular, die nicht zufällig die
Geschlechtergliederung zeigt; in den Geschlechtern wird ja
iri mythischer Vereinfachung die erste begriffliche Ordnung in
die Welt der Dinge gebracht und dadurch die Mehrheit als
solche sichtbar gemacht. Das Wir hingegen ist die aus dem
Dual entwickelte Allheit, die — anders als die nur erweiterbare
Singularität des Ichs und seines Gefährten, des Du, — nicht zu
erweitern, nur zu verengern ist. Im Wir also hebt die Schluß-
strophe des Gesangs der Erlösung an; im Kohortativ hatte er
mit dem Aufruf der Einzelnen, die aus dem Chor hervortraten,
und den Responsen des Chors darauf begonnen; im Dual ging
es in einem zweistimmigen Fugato, an dem sich immer neue
Instrumente beteiligten, fort; im Wir endlich sammelt sich
alles zum choralmäßig gleichen Takt des vielstimmigen Schluß-
gesangs. Alle Stimmen sind hier selbständig geworden, jede
singt die Worte nach der eigenen Weise ihrer Seele, doch alle
Weisen fügen sich dem gleichen Rhythmus und binden sich
zur einen Harmonie.
Doch immer noch sind es Worte, ist es Wort, auf was sich
die Stimmen der beseelten Welt einen. Das Wort, das sie
singen, ist Wir. Als Gesang wäre es ein letztes, ein voller
Schlußakkord. Aber als Wort kann es so wenig wie irgend
ein Wort letztes sein. Das Wort ist nie letztes, ist nie bloß
Gesprochenes, sondern immer ist es auch Sprechendes. Das
ist ja das eigentliche Geheimnis der Sprache, dieses ihr eigenes
Leben: das Wort spricht. Und so spricht aus dem gesungenen
Wir das gesprochene Wort und spricht: Ihr. Das Wir umfaßt
alles, was es ergreifen und erreichen, ja noch was es sichten
kann. Aber was es nicht mehr erreichen und auch nicht mehr
302
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
sichten kann, das muß es um seiner eigenen Geschlossenheit
und Einigkeit willen aus seinem hellen, tönenden Kreise hinaus
ins kalte Grauen des Nichts stoßen, indem es zu ihm spricht: Ihr.
Ja, das Ihr ist grauenhaft. Es ist das Gericht. Das Wir kann,
nicht vermeiden, dies Gericht zu halten; denn nur in diesem
Gericht gibt es der Allheit seines Wir bestimmten Inhalt, der
doch kein besonderer Inhalt ist, ihm nichts von seiner Allheit
nimmt; denn das Gericht sondert ihm gegenüber keinen be-
sonderen Inhalt ab, — keinen andern Inhalt als das Nichts; so
daß das Wir alles, was nicht Nichts ist, zum Inhalt gewinnt, alles
Wirkliche, alles — Tatsächliche. So muß das Wir Ihr sagen,
und je stärker es anschwillt, um so stärker dröhnt aus seinem
Munde auch das Ihr. Das Wir muß es sagen, obwohl es doch
nur vorwegnehmend es sagen kann, und letzte Bestätigung
aus anderm, letztem Munde erwarten muß. Das ist die ent-
scheidende Vorwegnahme, dieses scheidende Gericht, worin
das kommende Reich als kommendes wirklich und dadurch
die Ewigkeit Tatsache ist. Der Heilige des Herrn muß das Ge-
richt Gottes vorwegnehmen; er muß seine Feinde für die
Feinde Gottes erkennen. Es ist furchtbar für ihn selbst; denn
indem er es tut. unterstellt er sich selbst dem Gericht Gottes:
Herr, richte mich, sieh zu — du erforschest mich und kennest
mich —, so prüfe mich und erfahre, wie ichs meine, und sieh,
ob Falsch in meiner Seele sei.
Gott selbst muß das letzte Wort sprechen — es darf kein
Wort mehr sein. Denn es muß Ende sein und nicht Vorweg-
nahme mehr. Und alles Wort wäre noch Vorwegnahme des
nächsten Worts. Für Gott sind die Wir wie die Ihr — Sie.
Aber er spricht kein Sie, sondern er vollbringts. Er tuts. Er
ist der Erlöser. In seinem Sie sinken das Wir und das Ihr
zurück in ein eines blendendes Licht. Aller Name schwindet.
Das letzte, in aller Ewigkeit vorwegnehmende Gericht tilgt
die Scheidung, nachdem und indem es sie bestätigt, und löscht
die Feuer der Hölle. Im letzten Gericht, das Gott selber in
seinem eignen Namen richtet, geht alles All ein in Seine All-
heit, aller Name in Sein namenloses Eins. Die Erlösung läßt
ERLÖSUNG
3°3
den Welttag jenseits der Schöpfung wie der Offenbarung
enden in den gleichen mitternächtigen Glockenschlag, der ihn
begonnen, — aber von dieser zweiten Mitternacht gilt, was ge-
schrieben steht, daß die Nacht Licht ist bei Ihm. Der Welttag
offenbart sich in seinem letzten Augenblick als das, was er in
seinem ersten war: als Gottestag, als Tag des Herrn.
Die Erlösung hat also zu ihrem letzten Ergebnis etwas,
was sie über den Vergleich mit Schöpfung und Offenbarung
hinaushebt, nämlich Gott selbst. Er ist — wir sagten es
schon — Erlöser in viel schwererem Sinn als er Schöpfer und
Offenbarer ist; denn er ist es nicht bloß, der erlöst, sondern
auch der erlöst wird. Gott erlöst in der Erlösung, der Welt
durch den Menschen, des Menschen an der Welt, sich selber.
Mensch und Welt verschwinden in der Erlösung, Gott aber
vollendet sich. Gott wird erst in der Erlösung das, was der
Leichtsinn menschlichen Denkens von je überall gesucht,
überall behauptet und doch nirgends gefunden hat, weil es
eben noch nirgends zu finden war, denn es war noch nicht:
All und Eines. Das All der Philosophen, das wir bewußt zer-
stückelt hatten, hier in der blendenden Mitternachtssonne der
vollendeten Erlösung ist es endlich, ja wahrhaft endlich, zum
Einen zusammengewachsen.
So wird es auch klar, daß das Reich Gottes und das Reich
der Welt nicht (wie der Schöpfungsbegriff des Glaubens und
der Erzeugungsbegriff des Idealismus) miteinander rivalisieren,
obwohl doch die Erlösung anders als die Offenbarung, die nur
dem Menschen wird, an der Welt geschieht gleich wie die
Schöpfung. Aber sie geschieht eben genau so gut dem Men-
schen, und so ist das Reich durchaus kein bißchen mehr welt-
lich als menschlich, nicht mehr äußerlich als innerlich; so wird
schon dadurch ein Vergleich zwischen beiden Reichen ausge-
schlossen. Sie stehen nie nebeneinander. Das Reich Gottes
setzt sich durch in der Welt, indem es die Welt durchsetzt
Von der Welt aus ist ohnehin, wie zum Zeichen dieser Unver-
gleichbarkeit, nur ein Teil des kommenden Gottesreichs über-
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
3°4
haupt wahrnehmbar, nämlich nur der Mittelteil, der »Dual«
der Nächstenliebe. Für den Anfangsteil, das »Danket«, ist der
Welt das mithörende Ohr nicht geöffnet, für den Schluß, das
»Wir«, nicht das vorschauende Auge. So sieht sie nur die Tat
der Liebe und vergleicht sie ihrer eigenen Tat. Und hier sieht
und hört sie zwar, aber mit blinden Augen und mit tauben
Ohren. Denn was da geschieht, die Durchseelung des wach-
senden Lebens der Welt, das ist von der Welt her unsichtbar,
weil sie zwar, anders als beim »Danket« und beim «Wir»,
hier wohl sieht, daß etwas geschieht, aber nicht wras. So sieht
sie nur Anarchie, Unordnung, Störung ihres ruhig wachsenden
Lebens. Denn um auch das Was zu sehen, müßte sie den Aus-
gangspunkt dieses Geschehens der Beseelung erblicken
können, die Seele des Menschen. Und das kann sie nicht; denn
der Mensch, in welchem die Seele erwacht, gehört ihr nicht
an, ehedenn sie selber beseelte Welt wird — in der Erlösung.
Die Liebestat des ^Menschen ist ja nur scheinbar Tat. Es
ist ihm von Gott nicht gesagt, seinem Nächsten zu tun, was er
sich selbst getan haben möchte. Diese praktische Form des
Gebots der Nächstenliebe zum Gebrauch als Regel des Han-
delns bezeichnet in Wahrheit nur die untere negative Grenze,
die es im Handeln zu überschreiten verbietet, und wird des-
halb auch besser schon äußerlich in negativer Form auszu-
sprechen sein. Sondern der Mensch soll seinen Nächsten lieben
wie sich selbst. Wie sich selbst. Dein Nächster ist »wie du«.
Der Mensch soll sich nicht verleugnen. Sein Selbst wird eben
hier im Gebot der Nächstenliebe erst endgültig an seiner
Stätte bestätigt. Die Welt wird ihm nicht als ein unendliches
Gemeng vor die Augen gerückt, und mit dem hinweisenden
Finger auf dies ganze Gemeng ihm gesagt: das bist du. Das
bist du — höre also auf, dich davon zu unterscheiden, gehe in
es ein, in ihm auf, verliere dich daran. Nein, sondern ganz
anders: aus dem unendlichen Chaos der Welt wird ihm ein
Nächstes, sein Nächster, vor die Seele gestellt, und von die-
sem und zumächst nur von diesem ihm gesagt: er ist wie du.
»Wie du«, also nicht »du«. Du bleibst Du und sollst es bleiben.
ERLÖSUNG
305
Aber er soll dir nicht ein Er bleiben und also für dein Du bloß
ein Es, sondern er ist wie Du, wie dein Du, ein Du wie Du,
ein Ich, — Seele.
So macht Liebe die Welt zur beseelten, nicht eigentlich
durch das, was sie tut, sondern weil sie es aus Liebe tut. Daß
dabei doch etwas geschieht, ein Getanwerden also ohne daß
ein eigentliches Tun dabei wäre, das kommt nicht mehr auf
Rechnung des Menschen, sondern der Welt, denn sie bewegt
sich der Liebestat entgegen. Es ist ein Gesetz wirksam in der
Reihenfolge, in der sich die Dinge so der Liebestat des Men-
schen zubewegen. Nur vom Menschen aus ist dies Gesetz
nicht sichtbar. Ihm muß jedes Nächste, was ihm vorkommt,
»irgend« eines sein, Vertreter jedes andern, aller andern; er
darf nicht fragen, nicht unterscheiden, es ist ihm sein Nächstes.
Aber von der Welt aus gesehen, ist umgekehrt grade die
Liebestat des Menschen das Ungeahnte, Unverhoffte, die große
Überraschung. In sich selbst trägt die Welt das Gesetz ihres
wachsenden Lebens. Aber wie dies Leben, das ihr zuwächst
und in jedem neu sich gliedernden Glied Dauer beansprucht,
wirklich zu Dauer kommen soll, ob ihm Unsterblichkeit be-
schieden sein wird: das ist von der Welt her dunkel. Die
Welt weiß nur, oder glaubt zu wissen, daß alles Lebendige
sterben muß. Und wenn sie Ewigkeit beansprucht, so tut sie
es in Erwartung einer Einwirkung von draußen, die dem
Leben Unsterblichkeit verleiht. Sie selber treibt ihre Äste,
Zweige, Blätter, Blüten und Früchte des Lebens in gesetz-
mäßigem Wachstum aus ihrem uralten Stamme hervor, dessen
Wurzeln täglich neu aus dem immer frischen Brunnen des
Daseins bewässert werden. Erst wenn und wo die Glieder
dieses wachsenden Lebewesens von dem beseelenden Hauch
der Liebe zum Nächsten angeweht werden, erst da gewinnen
sie zu ihrem Leben, was ihnen das Leben selber nicht geben
konnte: Beseelung, Ewigkeit.
Die Tat der Liebe wirkt sich also nur scheinbar am Chaos
eines »Irgend« aus. In Wahrheit setzt sie ohne es zu wissen
voraus, daß die Welt, alle Welt mit der sie zu tun hat, wach-
3oö ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
sendes Leben sei. Daß sie kreatürliches Dasein habe, genügt
ihr mit nichten; sie verlangt mehr von ihr: gesetzmäßige
Dauer, Zusammenhang, Gliederung, Wachstum, — kurz all
das, was sie selbst in der anarchischen Freiheit, Unmittelbar-
keit, Augenblicklichkeit ihrer Tat zu verleugnen scheint.
Grade weil sie es bewußt verleugnet, setzt sie es unbewußt
voraus. Die Seele verlangt als Gegenstand ihrer Beseelung ein
gegliedertes Leben; an ihm übt sie dann ihre Freiheit aus und
beseelt es in all seinen einzelnen Gliedern und sät in diesen
Boden der lebendigen Gestalt überall Keime aus von Name,
seelenhaftem Eigensein, Unsterblichkeit.
So sind alle menschlichen Beziehungen, schlechthin alle,
Blutsverwandtschaft, Brüderschaft, Volkstum, Ehe, alle be-
gründet in der Schöpfung; es ist da nichts, was in seinen
Wurzeln nicht von uran ist und schon im Tierreich vorge-
bildet, und alle werden durch die Neugeburt der Seele aus der
Offenbarung dann doch in der Erlösung erst beseelt. Sie alle
wurzeln in der Blutsgemeinschaft, die unter ihnen wieder das
Schöpfungsnächste ist, und beseelt in der Erlösung streben
sie alle, zu arten nach dem großen Gleichnis der Ehe, die
unter ihnen das Erlösungsnächste ist: ganz allsichtbar da-
seiende Gestalt gewordnes Geheimnis der Seele, ganz mit
Seele erfülltes gegliedertes Leben. Deswegen war es, daß die
Seele auf dem Gipfel der Liebe nach der geschaffnen Bluts-
gemeinschaft sich hinübersehnte; erst in der schicksalshaften,
nein gottgegebenen Vereinigung jener und dieser, in der Ehe,
findet sie ihre Erlösung. Und über die gleichzeitigen Verhält-
nisse der Menschen untereinander hinaus: das Reich der Welt,
das in sich gegliederte, in sich wachsende nach eigenem Ge-
setz, der Weltgeschichte in sich selber weitertreibender Gang,
der Völker Leben und der diesem Leben umgelegte harte
Panzer von Recht und staatlicher Ordnung — das alles ist
Schöpfungsgrund, den die Erlösung zum Reich Gottes braucht.
Die Liebe greift, erschütternd scheinbar, ein in diesen Glieder-
bau und löst bald hier und dort ein Glied zu eignem Leben,
das den Zusammenhalt des Ganzen zu zersprengen droht. In
ERLÖSUNG
3 o?
Wahrheit aber ist es nicht bloß nicht in ihr Belieben gestellt,
welches Glied sie so mit ihrer Macht ergreift und aus dem Zu-
sammenhang des Lebens zu seiner Ewigkeit erdöst. Sondern
das Gesetz des Wachstums, das ebenso vom Schöpfer her der
Welt eingesetzt ist, wie ihr selbst vom Offenbarer her der
iiberfließende Drang ihrer Liebe, dies Gesetz bestimmt, dem
Menschen selber unbewußt, der Liebe ihren Weg und ihren
Gegenstand. Der blühende Baum des Lebens streckt der be-
seelenden Liebe immer nur die aufgegangenen Knospen ent-
gegen. Von Gott also nimmt die Erlösung ihren Ursprung, und
der Mensch weiß weder Tag noch Stunde. Er weiß nur, daß
er lieben soll und stets das Nächste und den Nächsten; und die
Welt, sie wächst in sich nach scheinbar eignem Gesetz; und
ob sich Welt und Mensch nun heute finden oder morgen oder
wann — die Zeiten sind unberechenbar, sie weiß nicht Mensch
noch Welt; die Stunde weiß allein Er, der das Heute jeden
Augenblick erlöst zur Ewigkeit.
Die Erlösung ist also Ende, vor dem alles Angefangene in
seinen Anfang zurücksinkt. Nur dadurch ist sie Vollendung.
Alles was noch unmittelbar an seinem Anfang hängt, ist noch
nicht im vollen Sinne tatsächlich; denn der Anfang, aus dem
es entsprang, kann es auch immer wieder in sich zurück-
saugen. Das gilt für die als Ja des Nichtnichts entstandene
Sache wie für die als Nein des Nichts entstandene Tat. Wahre
Dauerhaftigkeit ist stets Dauer in die Zukunft hinein und auf
die Zukunft zu. Nicht was immer war, ist dauerhaft: die Welt
war immer; auch nicht was allzeit erneuert wird: das Erleb-
nis wird allzeit erneuert; einzig was ewig kommt: das Reich.
Nicht die Sache, nicht die Tat, erst die Tatsache ist sicher vor
dem Rückfall ins Nichts.
Diese gestaltgründende, vertatsächlichende Macht des Und
ist uns ja wohlbekannt aus der Bedeutung, die es im
ersten Teil für die Fertigstellung der »Elemente« hatte: Wir
brauchen es jetzt sowenig mehr ausdrücklich zu sagen, wie
wir es damals, auch wenn wir wollten, hätten sagen können,
20*
3Q 8
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
daß schon dort gewissermaßen vor* oder unter=weltlich eine
innere Selbstschöpfung, Selbstoffenbarung, Selbsterlösung
jedes einzelnen Elements, Gott, Welt, Mensch, in sich selber
geschah. So war, was wir dort am Und beobachteten, das
gleiche, was wir jetzt für die Erlösung feststellen: daß erst in
ihr das Fertigwerden geschieht. Noch deutlicher wird dies Ver-
hältnis, wenn wir uns nun auch in diesem Buch wieder der
Welt zuwenden, in der unsre Grundbegriffe bloß kategoriale
Geltung haben, der Kunst.
Auch in der Kunst begreift die Erlösungskategorie das
Eertigwerden. Die Schöpfungskategorien hatten durchweg
den breiten Grund gelegt, indem sie den Bogen schlugen von
einem irgendwie vorausgesetzten Ganzen zu einer der Kunst-
welt angehörigen Menge von Einzelheiten. Die Offenbarungs-
kategorien schlugen dann von dem gleichen vorausgesetzten
Ganzen einen neuen Bogen, diesmal zur einzelnen Einzelheit,
die dadurch gehaltvoll wurde. Von diesem gehaltvollen be-
seelten Einzelnen zum breiten Ganzen aller Einzelheit wölben
nun die Erlösungskategorien den dritten Bogen, indem nun ein
gehaltvoller beseelter Zusammenhang und dadurch ein im
ästhetischen Sinn Fertiges, Abschließendes zustande kommt.
Das Werk steht da in seiner Einmaligkeit, seiner Los-
gerissenheit vom Urheber, seiner unheimlichen lebensvollen
und doch lebensfremden Lebendigkeit. Ja, es ist wirklich un=
heimlich; es hat kein Heim, kein Zuhause; es weiß kein Dach
einer Gattung, wo es unterkriechen könnte; es steht ganz für
sich, — seine eigene Art, seine eigene Gattung; keinem an-
deren Ding, auch keinem anderen Kunstwerk verschwistert.
Auch der Urheber gibt ihm keine Unterkunft mehr bei sich; er
hat sich zu andern Werken gewandt; er ist ja mehr als alle
seine Werke, ist die ganze Breite, aus der Werke hervorgehen
können; das einzelne Werk ist sein, solange er sich damit
trug; es ist für ihn erledigt, wenn er sich seiner entledigt hat.
Kaum zum Genießen des eigenen Werkes ist er mehr fähig; an
eigenen Kohlen wärmt er sich kaum je; eine Übersetzung etwa
ERLÖSUNG *
309
kann dem Dichter den Abstand zum eigenen Werk geben, die
ihm den Genuß möglich macht. Wer also schlägt nun die
Brücke vom Werk zum Urheber? Denn daß in beiden die Welt
der Kunst erst anfängt, das weist am Werk der Umstand, daß
es nur einzelnes Werk, am Urheber der, daß er nur möglicher
Urheber ist. Wer schlägt also die Brücke, auf der das Werk
aus seiner umheimlichen Vereinsamkeit einzieht in ein geräu-
miges menschliches Zuhause, aus dem es nicht mehr heraus-
gerissen werden kann und wo es sich zusammenfindet mit
vielen seinesgleichen, die hier gemeinsam und dauernd mit-
einander leben? Dieser Ort, wo die Werke ein breites, leben-
diges, dauerndes Dasein im Schönen gründen und wo die Be-
seeltheit der einzelnen Werke selber nach und nach ein reiches
Ganzes von menschlichem Leben ästhetisch beseelt, ist der
Betrachter.
Im Betrachter ist die leere Menschlichkeit des Urhebers
und die gehaltreiche, seelenvolle Unheimlichkeit des Werks
zusammengewachsen. Ohne den Betrachter wäre das Werk,
da es ja zum Urheber nicht »spricht« und Pygmalion ver-
gebens sich den selbstgebildeten Marmor zu beleben sucht,
stumm, nur Gesprochenes, nicht Sprache; erst zum Betrachter
»spricht« es. Und ohne den Betrachter wäre es ohne alle
dauernde Auswirkung in die Wirklichkeit. In der Herstellung
bemalter Leinwände, behauener Steine, beschriebener Blätter
geht die Kunst ja wahrhaftig nicht ins wirkliche Leben über.
»Vandalen« haben noch immer nur Totes getötet. Sondern
um in die Wirklichkeit überzugehen, muß die Kunst Menschen
umschaffen. Die Künstler, diese paar Unmenschen, die einzeln
verstreut unter der Menge leben, sind das aber durchaus nicht.
Schon weil ihre Urheberschaft ähnlich wie das kreatürliche
Dasein der Welt immer nur in dem Augenblick der Schöpfung
des einzelnen Werks wirklich ist; woher es ja auch kommt,
daß zwischen den einzelnen Werken dies Künstlertum des
Künstlers wie erloschen zu sein scheint, bis es in einem neuen
Werk zeigt, daß es immer noch da ist. In den Künstlern, den
Bohemevierteln der Großstädte, den Künsterkolonien auf dem
■510
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
Lande manifestiert sich also die Kunst genau so wenig wie in
den Sammlungen und Aufführungen der Werke. Wirklichkeit
wird sie erst, indem sie sich Menschen zu Betrachtern erzieht
und sich ein dauerndes »Publikum« schafft. Nicht Bayreuth
bezeugt die Lebendigkeit Wagners und seines Werks, sondern
die Tatsache, daß die Namen Elsa und Eva Modenamen wur-
den und daß der Gedanke des Weibs als Erlöserin die Form
männlicher Erotik in Deutschland jahrzehntelang stark gefärbt
hat. Erst einmal Publikum geworden, ist die Kunst nicht mehr
aus der Welt auszuschalten; solange sie bloß Werk und bloß
Künstler ist, lebt sie nur ein höchst prekäres Leben von einem
Tag zum andern.
Greifen wir nun noch einmal auf den Urheber zurück. Wir
hatten ihn als Schöpfer und Künstler erkannt. Wiederum sind
beide einer ohne den andern nicht lebensfähig. Die Bedeutsam-
keit, die der Inhalt des einzelnen Augenblicks in der bewußten
Arbeit des »Künstlers« gewinnt, muß sich über den ganzen
Bereich der schöpferischen Phantasie des »Dichters« ver-
breiten. Erst wenn so der Schöpfer nicht mehr dem blind
speienden Eeuerberg gleicht, dem wahllos Bild um Bild ent-
schießt, sondern ihm seine Inhalte alle erfüllt sind mit sym-
bolischem Gewicht, erst dann ist er mehr als bewußter
Künstler, mehr als blinder Schöpfer; erst dann ist er — wenn
auch immer in den Grenzen, welche die Kunst nun einmal dem
Menschen zieht, — ein Mensch. Nur zur Verdeutlichung sei
etwa beigefügt, daß also beispielsweise Shakespeare, wie ihn
die Stürmer und Dränger sahen, nur Schöpfer gewesen wäre;
Shakespeare, wie ihn die Hamburgische Dramaturgie nahm,
nur Künstler; aber Shakespeare, wie ihn Brandes darstellte
— in der Lebenseinheit von Phantasie und bewußter Kunst, so
daß jene in der Entwicklung des inneren Lebens dieser
entgegenwuchs, diese nach Auswirkung am Stoffe jener
drängte — ein Mensch.
Für jedes Werk hatten wir grundsätzlich die Begriffe des
»Epischen« und »Lyrischen« aufgestellt, unter jenem die stoff-
lichen, von der Einheit der Form umschlossenen, unter diesem
ERLÖSUNG
311
die seelischen, die Einheit der Form sprengenden Qualitäten
des Kunstwerks verstanden. Schon dies gegensätzliche Ver-
hältnis zur Form weist darauf hin, daß sie beide Halt erst ge-
winnen, wenn noch ein Drittes über ihnen sich hebt, worin
das »Epische« der breiten Stofftille und das »Lyrische« der
unmittelbar zündend überspringenden Gegenwärtigkeit sich
verbindet, indem alle Punkte der epischen Brette zu solcher
Unmittelbarkeit belebt werden. Wenn wir dies Dritte das
»Dramatische« nennen, so bedarf das Wort, das also ebenso
gut das »Dramatische« einer Symphonie, eines Gemäldes,
einer Tragödie, eines Liedes bezeichnen soll, wohl keiner
weiteren Erklärung.
Immerhin steht die Poesie ihrem Wesen nach in einer
engeren Beziehung zu dieser Qualität des »Dramatischen« als
bildende Kunst und Musik. Das hängt damit zusammen, daß
jene, weil im Elemente des Raums, ganz von selbst in die
»Breite« ging, also zum »Epischen« neigte, diese, weil in der
Zeit, zur »lyrischen« Unterstreichung und erfühlenden Erfül-
lung des einzelnen Augenblicks; während die Poesie unmittel-
bar weder im Raum noch in der Zeit zu Hause ist, sondern
dort, wo Raum wie Zeit beide ihren inneren Ursprung nehmen,
im vorstehenden Denken. Die Poesie ist nicht etwa Gedanken-
kunst, aber das Denken ist ihr Element, so wie der Raum das
der bildenden Kunst, die Zeit das der Musik; und vom Denken
her macht sie sich durch die Vorstellung dann auch die Welt
der äußeren und inneren Anschauung, Raum und Zeit, »episch«
extensive Breite wie »lyrisch« intensive Tiefe, dienstbar. So
kommt es, daß sie die eigentlich lebendige Kunst ist. Wie
denn auch zum großen Dichter noch unbedingter eine gewisse
menschliche Reife gehört als zum Maler oder Musiker und
selbst schon das Verständnis von Dichtung stark bedingt ist
durch einen gewissen Reichtum an Erlebnis. Bildende Kunst
und Musik haben immer noch etwas Abstraktes; jene scheint
gewissermaßen stumm, diese blind zu sein, so daß jener die
sprachliche Offenbarung von Moses ab, dieser das gestalt-
befriedigte Heidentum von Platon ab nie ganz ohne Mißtrauen
312
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
gegenübersteht. Der Dichtung gilt solches Mißtrauen nicht;
in ihrer Ausübung begegnen sich der Dichter des neunzigsten
Psalms und des Epigramms auf Aster. Denn die Dichtung
gibt Gestalt wie Rede, weil sie mehr als beides gibt: das vor-
stehende Denken, in dem beides in einem lebendig ist. Die
Dichtung ist darum, weil die lebendigste, die unentbehrlichste
Kunst; und während es nicht nötig ist, daß jeder Mensch Sinn
für Musik oder Malerei hat oder in einer dieser beiden repro-
duktiv oder produktiv dilettiert, muß jeder volle Mensch Sinn
für Poesie haben, ja eigentlich ist es sogar notwendig, daß er
in ihr dilettiert; das mindeste ist, daß er einmal gedichtet hat;
denn wenn einer allenfalls ein Mensch sein kann ohne zu
dichten, ein Mensch werden kann er nur, wenn er einmal eine
Zeit lang gedichtet hat.
Für die bildende Kunst ist es ohne weiteres klar, daß weder
Vision noch Form für sich allein schon das Kunstwerk machen.
Jene ist bloß die unsichtbare Untermalung des schließlich dem
Beschauer sichtbaren Werks im Geist des Künstlers, diese ist
die stets nur einer bestimmten Einzelheit zugewandte Ausfüh-
rung in ihrem Verhältnis zur Natur. Erst wenn diese liebevolle
Ausführung die ganze Breite des geistig Geschauten durch-
messen hat, an dem allein doch ihr ins Einzelne versenktes
»Gefühl« Gesetz und Richtung gewinnen kann, erst dann ist die
sichtbare Gestalt des Kunstwerks da. Wo ein Überschuß von
Vision über den Willen zur Formung ist, droht die Gestalt im
Ornamentalen stecken zu bleiben. Wo andrerseits der natur-
nahe Wille zur Formung des Einzelnen überwiegt und die
Vision schwach ist, da bleibt die Gestalt im Modell stecken;
das Werk »geht nicht zusammen«.
Ganz ähnlich hebt sich in der Musik über die stumme das
Ganze durchziehende Bewegung des Rhythmus und die tönend
das einzelne beseelende Harmonie die so bewegte wie tönende
Linie des Melos. Die Melodie ist das Lebendige an der Musik.
Von einem Musikstück mehr als den »Charakter« — meist der
Rhythmus — und die »Stimmung« — meist die Harmonie —
behalten, heißt den Gang seines Melos behalten. Die Melodie
ERLÖSUNG
313
ist so sehr das Wesentliche, daß wir mit Recht Anlehnungen
an fremde Rhythmen, Aufnahme fremder Harmonien bei einer
Komposition nicht als unzulässiges Plagiat empfinden, sondern
einfach als »Verwandtschaft«, während wir die geringste Ent-
lehnung einer Melodie sofort als Diebstahl zu brandmarken
geneigt sind.
Die Poesie hat zu ihrer Grundlage etwas, was man wohl
als Metrum bezeichnen dürfte, wenn dies Wort nicht eine zu
enge Bedeutung hätte. Es fehlt in der Theorie der Dichtung
eine Unterscheidung, wie sie die Musik zwischen Rhythmus
und Takt setzt; wo Rhythmus ist, da ist auch Takt, aber nicht
umgekehrt. So ist das Metrum nur eine äußerlich meßbare
Teilerscheinung von dem, was wir als Ganzes Klang nennen
möchten. Der Klang ist das, was als die das Ganze in seiner
ganzen Breite umfassende Urkonzeption dem poetischen Werk
zugrunde liegt, der Klang sowohl in rhythmischer wie in kolo-
ristischer Beziehung, also sowohl die Bewegung, die durch das
Ganze hindurchgeht, wie das Verhältnis, in welchem Vokal-
klänge sowie auch Konsonantengeräusche untereinander stehen.
Es handelt sich dabei um die nur wenig ins Bewußtsein
tretende eben wirklich zugrunde liegende Eigenart des einzelnen
Werks, die es als Ganzes von allen andern Werken schon vor
aller weiteren Bestimmung unterscheidet. Es muß einem feinen
Ohr möglich sein, an inhaltlich ganz unbezeichnenden Sätzen
rein auf Grund des »Klanges« zu unterscheiden, ob sie bei
Schiller oder bei Kleist, ja ob sie im Don Carlos oder im Wal-
lenstein stehen. Oder noch deutlicher: ein guter Schauspieler
müßte den Satz »die Pferde sind gesattelt« ganz anders
sprechen, wenn er in der Penthesilea als wenn er in
der Natürlichen Tochter vorkäme.
Zu diesem Charakter des Ganzen, den der Klang bestimmt,
tritt nun die Versenkung ins Einzelne, die in der Wortwahl
geschieht. Dies ist das, was man als die individuelle »Sprache«
des einzelnen Dichters bezeichnet, etwas äußerlich infolge
unserer Schriftgewohntheit leichter zu Fassendes und deshalb
auch schon viel länger Beobachtetes als der ebenso indivi-
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
3H
duelle »Klang«, den eben nur hört, wer sich des Dichters Mah-
nung »Nur nicht lesen, immer singen!« zu Herzen nimmt.
Aber beides für sich allein wäre noch nicht das Gedicht.
Schöner Klang allein wäre bloßer Ohrenschmaus, schöne
Sprache allein bloße Phrase. Erst die »Idee« gibt der Dichtung
Leben. Die Dichtung hat wirklich eine »Idee«. Bloß die An-
wendung dieses Ausdrucks auf Musik und Malerei hat ihn mit
Recht verdächtig gemacht. Denn freilich die einzige »Idee«
des bildenden Kunstwerks wäre die Gestalt, die einzige des
Musikwerks sein Melos. Denn die Idee gilt uns nicht für
etwas, was hinter dem Werk steckt, sondern im Gegenteil
grade für das ästhetisch-sinnlich Wahrnehmbare, das eigent-
lich Wirkliche und Wirkende des Werks. Und das ist für die
Poesie, für die eben das Denken die gleiche Bedeutung hat
wie das Auge für die bildende Kunst, das Ohr für die Musik,
wirklich nichts andres als die Idee. Die Idee ist das, was aus
der Dichtung zum Beschauer »spricht«, wie die Melodie aus
dem Musikwerk, die bildhafte Gestalt aus dem Werk der Augen-
kunst. Sie steht nicht irgendwo hinter der Dichtung, sondern
darinnen. Auch hier ist die Dichtung wieder unter den Künsten
die, welche mitten auf den Markt des Lebens hinaustritt, ohne
ihre Würde ängstlich wahren zu müssen. Das Element, in wel-
chem sie existiert, ist eben das gleiche, worin auch das Leben
selber zumeist sich verweilt: denn auch das Leben spricht
mehr die Prosasprache des Denkens als die erhöhte des Ge-
sangs und bildhafter Gebärde.
Diese Umlenkung ins Leben, wie wir sie ja überall unter
der Kategorie der Erlösung in der Kunstlehre wahrnahmen
und wie sie uns erst späterhin in ihrem Sinn ganz aufgehen
wird, geschah für die Kunst überhaupt im Publikum, im Be-
trachter. In ihm wird noch einmal alles an- und aufgeregt,
was in das Kunstwerk hineingesenkt war, und indem es in ihm
aufgeregt wird, fließt es ins Leben hinüber. Der Grund der
Seele des Betrachters wird in seiner ganzen Weite ausgefüllt
mit der Summe der Vorstellungen, welche die Kunst in ihm
erregt hat. Er ist, wie das Schöpferische im Urheber, »innerlich
ERLÖSUNG
315
voller Figur«. Indem er sich nun der einzelnen Einzelheit zu-
wendet, wird er an dieser zum Kenner, gewinnt Bewegtheit.
Auch hier entwickelt sich im Betrachter etwas Entsprechendes
wie beim Urheber die Bewußtheit des Künstlertums. Und so
wenig wie dort Schöpfer und Künstler für sich allein bestehen
konnten, so wenig jetzt Phantasie und Bewußtheit. Die unge-
ordnete Breite des Besitzes an künstlerischen Vorstellungen
muß ganz von Bewußtsein durchmessen werden, damit die
Kunst dem Betrachter nicht ein lästiger oder gleichgültiger
Besitz von zufällig erworbenen Vorstellungen ist, sondern der
köstliche, in langem Leben aufgesammelte und liebevoll ge-
ordnete innere Besitz und Schatz der Seele. So geht die Türe
auf vom Eigenreich der Kunst und es öffnet sich der Weg ins
Leben.
So war es ja durchweg gewesen: Immer fiel unter die
Kategorie der Schöpfung eine gewissermaßen naturhafte
Grundlage, immer unter die Kategorie der Offenbarung das
Fachmäßige, Schwierige, mit Müh und Fleiß zu erwerbende,
das spezifisch »Ästhetische«, und immer unter die der Er-
lösung das Eigentliche, das Sichtbare, das was schließlich
»herauskommen« muß und um wessentwillen allein alles andere
vorangehen mußte. Der Urheber, das Genie, muß da sein, man
kann es nicht erzwingen, und im Genie ist wiederum das
Schöpferische, die Phantasie, so wenig zu kommandieren wie
die aufnehmende Phantasie des Betrachters, gegen die auch,
wenn sie einmal sich nicht auftun will, schlechthin nichts zu
machen ist. Innerhalb des Werks wiederum ist das »Epische«
des Stoffes das Gegebene, und unter den Künsten ist die bil-
dende wohl in der Geschichte der Menschheit wie in der Ent-
wicklung des Einzelnen die älteste. Und wiederum sind Vision,
Rhythmus, Klang die eigentlichen Inhalte des Augenblicks der
Konzeption und einfürallemal gegeben, so daß nichts daran zu
ändern ist. Und andrerseits ist das Werk das, woran die Welt
der Kunst sofort nach außen erkennbar wird; es ist ihr Merk-
mal mehr als der Urheber und der Betrachter — Genie wie
Publikum gibt es auch außerhalb der Kunst. Im Urheber wie-
ji6
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
derum wie im Betrachter ist die Bewußtheit, des Künstlertums
dort, der Kennerschaft hier, das was er nicht hat, sondern sich
erwerben muß. Und unter den Qualitäten des Kunstwerks ist
die »lyrische« die innerlichste, unter den Künsten die Musik
die, welche in dem Ruf steht, die schwierigste zu sein, weil sie
die höchstentwickelte und gesichertste und infolgedessen lehr-
barste Theorie besitzt. Und Form, Harmonie und Sprache sind
das, was in den Künsten nur der »gelernte« Künstler be-
herrscht und anzuwenden weiß, während die innere optische
Vision, das rhythmische Motiv, der klangliche Ur-Einfall eines
Gedichts wohl auch einmal dem gewöhnlichen Menschen kom-
men mag und wirklich kommt. Und endlich: wie im Betrachter
und seinem Lebenstiefgang die Kunst überhaupt, wie in seiner
Menschhaftigkeit das Genie, in seinem »Dramatischen« das
Kunstwerk überhaupt, in der Poesie die Künste, in Gestalt,
Melos, Idee die Kunstarten wieder im Leben enden, im
gleichen Augenblick, wo sie sich zu völliger Sichtbarkeit volb
enden, also in echter Volbendung — das haben wir gesehen.
Hier aber treten wir heraus aus dieser Episode, in die wir
in diesem Teil immer wieder, nur um sie als bloße Episode zu
erweisen, hatten hineinsteigen müssen. Wenn uns die Kunst
nun noch einmal begegnet, dann nicht wieder als Episode.
Denn es war selbst der Episode letzte Weisheit, daß sie nicht
Episode bleiben dürfe. Das Schattenreich der Kunst, das den
Idealismus über die Leblosigkeit seiner eigenen Welt hatte
hinwegtäuschen müssen, — es verlangt selber nach Leben.
Pygmalion selbst kann seinem Werk kein Leben einbilden, so
sehr er sich müht; erst wenn er den Meißel des Bildners weg-
legt und, ein armer Mensch, auf seine Kniee sinkt, erst dann
neigt sich die Göttin ihm hernieder.
Wie die Schöpfung uns in diesem Teil nicht mehr Vor=welt
war, sondern Inhalt der Offenbarung, so war uns auch
die Erlösung noch nicht Uber=welt, sondern wir nahmen sie
gleichfalls nur als Offenbarungsinhalt. So wie die Schöpfung
als Inhalt der Offenbarung uns aus einer Welt zu einem Ge-
ERLÖSUNG
3!7
schehen, einem Schomgeschehen=sein wurde, so die Erlösung
ebenfalls aus einer Überwelt zu einem Geschehen, einem
Noch=geschehen=werden. Die Offenbarung sammelt so alles in
ihre Gegenwärtigkeit hinein, sie weiß nicht bloß von sich
selbst, nein: es ist »alles in ihr«. Sie selber ist sich unmittelbar
gegenwärtiger lyrischer Monolog zwischen Zweien. Die
Schöpfung wird in ihrem Mund Erzählung. Und die Erlö-
sung? Nicht etwa Weissagung. Die Weissagung ist das Band,
das diese ganze Mit- und Umwelt des Wunders, als die wir
die Offenbarung ansprachen und zu der auch Schöpfung und
Erlösung als wunderbare Inhalte der Offenbarung gehörten, in
ihrer lebendigen Tatsächlichkeit mit der Vor- und Unterwelt
der stumpfen, stückwerklichen Tatsächlichkeit verknüpft. Auch
die Erlösung ist, insofern sie ein notwendiger Inhalt der Offen-
barung ist, mit der Vor=welt der Schöpfung verbunden, als
Deutung der in dieser Vor=welt verborgenen Zeichen; hebt
doch die Erlösung nur in den Anblick alles Lebendigen, was
in der eigentlichen Offenbarung als unsichtbares Erlebnis in
der eigenen Seele vor=gegangen war.
Nicht die Prophezeiung also ist die besondere Form, in der
die Erlösung Inhalt der Offenbarung sein kann, sondern es
muß eine Form sein, die der Erlösung ganz eigen ist, die also
das Nochnicht'geschehemsein und Doch=noch=einsLgeschehen=
werden ausdr'ückt. Das ist aber die Form des gemein-
samen Gesangs der Gemeinde. Die Gemeinde ist nicht,
noch nicht, Alle; ihr Wir ist noch beschränkt, es ist noch
verbunden mit einem gleichzeitigen Ihr; aber sie bean-
sprucht, Alle zu sein — dennoch. Dies Dennoch ist das Wort
der Psalmen. Es macht die Psalmen zum Gemeindegesang-
buch, obwohl die meisten in der Ichform sprechen. Denn das
Ich der Psalmen ist, obwohl ganz wirkliches einzelnes Ich und
in allen Nöten eines einsamen Herzens verstrickt, in alle Engen
einer armen Seele gefesselt, dennoch, ja dennoch ein Glied,
nein mehr als Glied, der Gemeinde: »Israel hat dennoch Gott
zum Trost« ist der Leitspruch des Psalms, der für den indivi-
duellsten gilt. Das Ich kann nur deswegen ganz Ich sein, ganz
318
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
in die Tiefen seiner Einsamen — so nennt der Psalmist seine
Seele — hinabsteigen, weil es sich erkühnt, als Ich, das es ist,
aus dem Mund der Gemeinde zu sprechen. Seine Feinde Gottes
Feinde, seine Not unsre Not, seine Rettung unser Heil. Diese
Steigerung der eigenen Seele zur Seele Aller gibt erst der
eigenen Seele die Kühnheit, ihre eigene Not auszusprechen —
weil es eben mehr ist als bloß die eigne. In der Offenbarung
wird die Seele stille; sie gibt ihre Eigenheit preis, auf daß sie
ihr vergeben werde; der von Gottes Liebe Erwählte verliert
seinen eignen Willen, Freundschaft, Haus und Heimat, indem
er Gottes Befehl vernimmt, das Joch der Sendung auf seine
Schultern auflädt und hinausgeht in ein Land, das Er ihm zei-
gen wird. Indem er aber damit aus dem Zauberkreis der Offen-
barung in das Reich der Erlösung eintritt und sein unter der
Offenbarung aufgegebenes Ich zum Wir Alle erweitert, erst da
kehrt ihm all sein Eignes wieder, aber nun nicht mehr als sein
Eignes, nicht mehr als seine Heimat, Freundschaft und Ver-
wandtschaft, sondern als das Eigne der neuen Gemeinschaft,
die Gott ihm zeigt und deren Nöte seine Nöte, deren Wille
sein Wille, deren Wir sein Ich, deren — Nochnicht sein
Dennoch wird.
So ist es in dem Buch der Psalmen die Gruppe der reinen
Wir-Psalmen, in denen der tiefste Sinn des Psalms ganz licht
und offenkundig wird, jene Gruppe vom hundertelften bis zum
hundertachtzehnten, das große Lobsingen, dessen Kehrreim
wir schon als den Stammsatz der Erlösung kennen lernten.
Das Wort Psalm selbst heißt ja in der heiligen Sprache nichts
andres als »Lobgesang«, ein Wort von der gleichen Wurzel
wie jenes »Lobsingen«. Und in dieser Gruppe ist es wieder das
mittelste Stück, der hundertundfünfzehnte.
Er beginnt und schließt als einziger unter allen Psalmen
überhaupt mit einem gewaltigen betonten Wir. Und von diesen
beiden Wir steht das erste im Dativ, im Dativ schlechtweg,
nämlich unmittelbar abhängig von dem Wort »Geben«. Es
wird um das Kommen des Reichs gebetet; denn die Wir setzen
ERLÖSUNG
319
sich und die Ehre, die sichtbare Herrlichkeit, die sie für sich
erbeten, gleich mit der Ehre des göttlichen Namens; sie tun es
in der einzig zulässigen Form: indem sie die Gleichsetzung
zugleich ausdrücklich verneinen: Nicht uns, o Herr, nicht uns,
sondern deinem Namen gib Ehre! Sö wird das Wir in einem
Atemzug in die Vollendung der unmittelbaren Nähe zu dem
göttlichen Namen gerückt und von diesem Ende wieder in das
Nochnicht der Gegenwart — »nicht uns, sondern« — zurück-
gezogen. Diese Nähe aber, dieses bei Gott Sein des Wir ist
ganz objektiv gemeint, ganz sichtbar: nicht bloß »um seiner
Liebe willen« soll Gott das Gebet erfüllen; in der vertrauten
Zweisamkeit seiner Liebe stiftete ja schon die Offenbarung
solche Nähe; sondern »um seiner Wahrheit willen«; die Wahr-
heit ist offenkundig, sichtbar vor den Augen alles Lebendigen;
es ist eine Forderung an die göttliche Wahrheit, daß den Wir
dereinst Ehre gegeben wird.
Aber weil sie ihnen in der Zeit noch nicht selber gegeben
werden darf, weil also die Wir noch nicht Wir alle sind, so
scheiden sie aus sich aus die Ihr. Und weil der Psalm das bei
Gott Sein der Wir vorwegnimmt, so sieht er die Ihr unwill-
kürlich mit Gottes Auge an und sie werden zu Sie. Es ist dies
der einzige Zusammenhang, in welchem die Psalmen den bei
den Propheten vielfach wiederkehrenden Spott gegen die
Götzenbilder übernehmen, in denen das Leben der göttlichen
Liebe zur taub=blinden Tat- und Sprachlosigkeit erstarre; aber
die Kampfstimmung, welche die Gegenüberstellung der toten
Götzen einer »gleich also« toten Welt und de£ lebendigen
Schöpfers Himmels und der Erde anfangs noch beherrscht, er-
lischt mitsamt dem Spott in dem mächtigen Triumph des Ver-
trauens. Hoffendes Vertrauen ist das Grundwort, worin die
Vorwegnahme der Zukunft in die Ewigkeit des Augenblicks
geschieht. Gegen das betrogene Vertrauen der Ihr erhebt sich
in drei Stufen, das Vertrauen der Wir auf den Gott, der auf
jeder der drei »Hülfe und Schild« ist: Israel traut, die Ge-
meinde der Wir, wie sie als Gottes erstgeborener Sohn unterm
Herzen seiner Liebe ruhte; es traut Aarons Haus, die Ge-
320
ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
meinde, wie sie sich priesterlich verfaßt für den Weg durch
Welt und Zeit der Ihr; und es trauen — der feststehende Name
für die Proselyten: — die den Ewigen fürchten, die einstige
messianische Gemeinde der Menschheit, der Wir Alle. Aus
dem Triumph des Vertrauens, das die künftige Erfüllung vor-
wegnimmt, steigt nun in genau entsprechendem Aufbau das
Gebet, das sie erbetet, wieder Israel, Aarons Haus, die Ehr-
fürchtigen Alle — »Klein und Groß«.
Und nun singt der Chor das Wir dieser Erfüllung: das
Wachstum des Segens Schritt für Schritt, »je mehr und mehr«,
von einem zum nächsten, von einem Geschlecht zum nächsten;
er mehre, füge zu, euch, euch und euren Kindern. Denn wohl
gegründet ist dies lebendige Wachstum des Segens von uran
im Geheimnis der Schöpfung: gesegnet seid ihr dem Herrn,
der Himmel und Erde geschaffen. Aber frei gegen dieses stille,
selbsttätige Wachstum der Schöpfung bleibt das Liebeswerk
des Menschen auf der Erde; er wirke es, als ob es keinen
Schöpfer gäbe, keine Schöpfung ihm entgegenwachse: Die
Himmel sind des Ewigen Himmel, aber die Erde gab er den
Menschenkindern. Den Menschenkindern — nicht der Ge-
meinde Israels; in der Geliebtheit und im Vertrauen weiß sie
sich allein, in der Tat der Liebe weiß sie sich nur als Men-
schenkinder schlechtweg, kennt sie nur den Irgendjemand, den
andern schlechtweg, den — Nächsten.
Und so kommt die weltfreie Liebestat über die lebendig
wachsende Schöpfungswelt. Aber dies Leben ist ja von der
Schöpfung her dem Tod als seinem Vollender verfallen. Und
wie denn? Nimmermehr stimmt doch das gestorbene Leben
noch ein in den Lobgesang der Erlösung! Das gestorbene
nimmermehr. Aber — und nun in diesem Aber steigert sich
der Chor zum ungeheuren Unisono des allstimmigen, alle künf-
tige Ewigkeit ins gegenwärtige Nun des Augenblicks kohorta-
tiv hineinreißenden Wir: Nicht die Toten, wahrhaftig nicht —
»aber Wir, wir loben Gott von nun an bis in Ewigkeit«. Dies
siegende Aber, — »Aber Wir sind ewig« — hat unser großer
Meister als seiner Weisheit letzten Schluß ausgerufen, als er
ERLÖSUNG
321
das letzte Mal vor Vielen über das Verhältnis seines Wir zu
seiner Welt sprach. Die Wir sind ewig; vor diesem Triumph-
geschrei der Ewigkeit stürzt der Tod ins Nichts. Das Leben
wird unsterblich im ewigen Lobgesang der Erlösung.
Dies ist die Ewigkeit im Augenblick. Ja im AugemBlick.
Dies ist das Schauen des Lichts, davon es heißt: in deinem
Lichte schaun wir Licht. Das sei, so lehren die Alten, im Be-
griff der Erlösung Schöpfung und Offenbarung tiefsinnig ver-
knüpfend, das Licht, das Gott ausschied in der Schöpfung, wo
es heißt: Gott schied; damals habe er es ausgeschieden und
aufgespart für seine Frommen zum Genuß in der künftigen
Welt. Denn also allein wagen die Alten die ewige Seligkeit des
künftigen Reichs zu beschreiben, die eine andre ist als der all-
zeit erneuerte Friede, den die einsame Seele in der göttlichen
Liebe fand: es sitzen die Frommen, Kronen auf den Häuptern,
und schaun in den Lichtglanz der offenbarwordenen Gottheit.
SCHWELLE
DEM Versinken in das unterirdische Reich, wo die Ge-
stalten einzeln, einander fremd, ein in Stücke ge-
borstenes All, hausten, war das Steigen gefolgt, —
das Steigen über die Wölbung des sichtbaren Himmels. In
diesem Steigen waren die im Versinken auseinandergefallenen
Stücke des All wieder zusammengeführt, aber nicht wieder zu
einer Einheit, wie sie die Philosophie zuvor gesucht und in-
folgedessen vorausgesetzt hatte, nicht zur Einheit der überall
in sich selbst zurücklaufenden Kugel. Denn was in ihren ersten
Anfängen die Philosophie mit naiver Offenheit ausgesprochen
hatte, daß sie das »Sein« als Kugel, zum mindesten als Kreis,
erkennen wollte, davon blieb sie beherrscht bis an ihren Aus-
gang in Hegel. Noch Hegels Dialektik glaubt sich selbst recht-
fertigen zu können und zu müssen, indem sie in sich selbst
zurückführt. Eine andere Einheit ist es, in die jetzt die Stücke
des All miteinander treten. Jene Einheit des in sich selber, in
den eigenen Anfang Zurücklaufens, die Umendlichkeit in dem
Sinn, daß das Ende sofort wieder sich in den Anfang ver-
wandelt und so nie als Ende greif- und begreifbar wird, jene
Einheit lag uns nur an den äußersten Grenzen unsrer Welt;
nur im Glockenschlag der beiden Mitternächte, gewissermaßen
nur vor dem Anfang, nur nach dem Ende breitete sich das
Meer der Unendlichkeit aus; der Anfang selbst, die erste
Stunde, war wirklich im Anfang; das Ende selbst, die zwölfte
Stunde, war wirklich am Ende der Tage; diese beiden, erste
wie letzte Stunde, gehörten wirklich noch zum Tag des
Lebens, genau so gut wie der Lebensmittag des Erlebnisses.
Ja in Abweichung von diesem Vergleich ist nicht der Lebens-
mittag die feierlichste Zeit, sondern die letzte, die »höchste«
Zeit; wie ia auch nur die Mitternacht des Anfangs dunkel ist,
aber die des Endes Licht.
SCHWELLE
n
Die Welt also, wie sie uns im Steigen zusammenwächst,
kreist nicht in sich selbst zurück, sondern bricht aus dem Un-
endlichen hervor und taucht wieder ins Unendliche zurück,
beides ein Unendliches außer ihr, dem gegenüber sie selbst ein
Endliches ist, während die Kreislinie oder auch die Kugel das
Unendliche in sich selber hatte, ja es selber war, und also alles
scheinbar Endliche in ihr aus ihrer eigenen Unendlichkeit her-
vorging, in ihrer eigenen mündete. Um diese nicht in sich zu-
rückgekrümmte, also nach der philosophischen Ansicht grade
»schlechte«, Unendlichkeit sichtbar zu machen, deshalb hatten
wir die in sich selber zurückgekrümmte Unendlichkeit des
Idealismus zerschlagen müssen; indem wir nämlich an
Stelle der durch das Verhältnis eines eignen Punktes zu einem
Beziehungspunkte vollständig bestimmten Kreislinie die gegen-
einander vereinzelten Punkte setzten, von denen keiner ein-
deutig als Beziehungspunkt für die anderen gelten konnte,
erzwangen wir die Konstruktion der Linie durch diese drei
Punkte und nur durch diese, ohne daß ein Konstruktionsgesetz
eine gedanklich=absolut gültige Beziehung zwischen »jedem
beliebigen« Punkte der Linie und einem gemeinsamen Be=
ziehungspunkt setzte; durch eine solche Beziehung, nämlich
in der durch sie möglichen Formel, wird ja selbst die an sich
»schlechte«, nämlich ungeschlossene Unendlichkeit etwa einer
Hyperbel zur »guten«, nämlich eben zur geschlossen formu-
lierbaren.
Diese Unformulierbarkeit des Bahnverlaufs, den wir hier
suchen, ist also schon durch die Art, wie wir die drei Punkte
fanden — als einzelne unter sich zusammenhanglose und von
sich aus nur willkürlich, nur wechselvoll, nur unterm Zeichen
des Vielleicht zusammenzubringende —, bedingt. Wenn hier
zwischen den einzelnen Punkten eine Beziehung bestand, so
kann sie offenbar nicht einfach nach Art einer geometrischen
Beziehung sein. Und wirklich waren ja die drei Linien, mit
denen wir in den drei Büchern dieses Teils die drei im ersten
Teil entstandenen Punkte verbanden, nicht Linien im Sinne
der Geometrie, nicht kürzeste Verbindungen zwischen zwei
21*
324
SCHWELLE
Punkten, sondern sie waren durch einen in der Entstehungs-
geschichte der Punkte begründeten, aber in sich selbst grund-
losen Akt der Umkehrung aus ihnen entsprungen — also wirk-
liche, nicht mathematische Linien. Wodurch aber wäre diese
Wirklichkeit, diese Tatsächlichkeit der Verbindungslinien nun
wohl zu kennzeichnen?
Wohl, weil sie eben doch »Linien« sein müßten, nur da-
durch, daß man den Begriff der mathematischen Linie, wo-
nach sie eben kürzeste Verbindung zweier Punkte ist, aus-
drücklich und anschaulich stört. Das müßte, wenn es mit
selber gewissermaßen wieder mathematischer Anschaulichkeit
geschehen sollte, so geschehen, daß die Linie selber, obwohl
sie als jnathematische schon durch die zwei Punkte zureichend
bestimmt ist, noch durch einen eigenen Punkt bezeichnet
würde, und zwar müßten diese drei neuen Punkte, die also,
wenn jene drei ersten den Elementen Gott Welt Mensch ent-
sprechen, für die Bahnstrecken Schöpfung Offenbarung Er-
lösung eintreten, so liegen, daß ein von ihnen gebildetes
Dreieck nicht innerhalb des ersten Dreiecks zu liegen käme;
denn dann würden sie dadurch eine Beziehungslosigkeit und
Fürsichselberexistenz zu bekommen scheinen, die sie grade
nicht haben; vielmehr muß die Verbindung von einem Punkt
zu den beiden anderen wieder selbst die Linie des ursprüng-
lichen Dreiecks durchlaufen, so daß also die beiden Dreiecke
einander überschneiden. So aber entsteht nun wirklich eine
zwar geometrisch aufgebaute, selber aber der Geometrie
fremde Figur, »nämlich überhaupt keine »Figur«, sondern —
eine Gestalt. Denn dadurch unterscheidet sich Gestalt von
Figur, daß die Gestalt zwar aus mathematischen Figuren zu-
sammensetzbar sein mag, daß aber in Wahrheit ihre Zu-
sammensetzung nicht geschehen ist nach einer mathematischen
Regel, sondern nach einem übermathematischen Grund; die-
sen Grund gab hier der Gedanke, die Verbindungen der Ele-
mentarpunkte als Symbole eines wirklichen Geschehens statt
bloßer Verwirklichungen einer mathematischen Idee zu kenn-
zeichnen.
SCHWELLE
325
Das so entstehende sternförmige Gebilde bildet nun rück-
wärts auch die geometrischen Elemente, aus denen es zu-
sammengesetzt ist, zu Gestalten um. Einfache geometrische
Gebilde aber, wie Punkte und Linien, können Gestalt nur da-
durch gewinnen, daß sie aus dem Lebenselement der Mathe-
matik herausgehoben werden; dies Lebenselement ist die all-
gemeine Relativität. Die Mathematik kennt außer ihren
Grenzbegriffen keine absoluten Größen; auf waslür eine Wirk-
lichkeit etwa eine bestimmte Zahl anwendbar sei, das hängt
ganz davon ab, wie groß man die Einheit setzt, auf die man
die Zahl bezieht; was für eine Richtung eine Linie, was für
eine Lage ein Punkt habe, das hängt ab von der Richtung
einer ursprünglich willkürlich angenommenen Beziehungs-
linie, eines ursprünglich willkürlich festgelegten Koordinaten-
ausgangspunktes. Sollen die Punkte und Linien der beiden
Dreiecke, mit denen wir es hier zu tun haben, zu entmathe-,
matisierten Gestalten werden, so müssen sie absolute Lage,
absolute Richtung bekommen. Grade das war es, was wir
ihnen am Übergang vom ersten zum zweiten Teil nicht hatten
geben können.
Grade das können wir ihnen nun geben, ja haben wir ihnen
eigentlich jetzt schon gegeben. Denn indem wir Gott als den
Schöpfer und Offenbarer, die Welt zuerst als Geschöpf, den
Menschen zuerst als geliebte Seele erkannten, steht es nun
über alles Vielleicht hinaus fest, daß Gott oben steht; und da
ferner Gott beides, Schöpfer und Offenbarer, gleich ursprüng-
lich ist, so steht es auch fest, daß die beiden Punkte, welche
Welt und Mensch bezeichnen, von dem Punkt, der für Gott
steht, in der gleichen Weise, nur in verschiedener Richtung
erreichbar sein müssen. Und da weiter Mensch und Welt
untereinander sich nicht ferner stehen als jedes für sich zu
Gott, im Gegenteil die Welttat des Menschen seinem Offen-
barungsempfangen gegenüber nur die andere Seite seines
Aussichheraustretens ist und das Wachstum des Lebens der
Welt ihrem Kreatursein gegenüber genau so, so bleibt für
die drei Punkte nur die eine Dreiecksform: die gleichseitige.
32Ö
SCHWELLE
Und mit der Gleichseitigkeit dieses ersten, des vorweltlichen
Dreiecks ist die Gleichseitigkeit des zweiten, des weltlichen,
ohne weiteres gegeben. Denn seine Punkte sind nur Symbole
für die Linien des ersten. Und ebenso notwendig wie im Vor-
weltsdreieck Gott oben steht, muß im Weltdreieck die Er-
lösung unten stehen und die von Schöpfung und Offenbarung
auslaufenden Linien in ihr Zusammenkommen. Denn schon
durch seine feste Stellung im Raum, durch diese mathematisch
ganz sinnlosen und grade dadurch gestaltgründenden Begriffe
des Oben und Unten, wird ein jedes Element der Vorwelt so-
wohl wie ein jedes Stück der Bahn in seinem Verhältnis zu
den beiden andern festgelegt: steht es oben, so ist es Ur-
sprung, steht es unten, so ist es Ergebnis.
Jene inneren »geheimen« Vorgeschichten der vorweltlichen
Elemente, jene im ersten Teil dargestellten Theo-, Kosmo-,
Psychogonien werden uns jetzt in ihrem Gange nachträglich
erst ganz verständlich. Es waren innere Selbstschöpfungs=,
Selbstoffenbarungs*, Selbsterlösungsgeschichten Gottes, der
Welt, des Menschen. Sie gingen schon in sich selber von ihrem
Ursprung im Nichts bis zu ihrer Vollendung in der fertigen
geschlossenen Gestalt den gleichen Weg, den sie nachher bei
ihrem Heraustreten zueinander und miteinander gingen; die
dunkeln Wege der Vorwelt enträtseln sich zu Vorzeichen des
offenbaren Weges der Welt. Der glühende Dreifuß, der uns
auf unserm Weg zu den Müttern im ersten Teil endlich kund
tat, wir seien im tiefsten allertiefsten Grund, er ist es
zugleich, der seinen Schein uns auf den Weg zurück zur Ober-
welt wirft, den wir im zweiten Teil gingen.
Dieser Weg war — wir sagten es schon — ein Weg zur
Einheit. Die Einheit, die von der Philosophie wie eine Selbst-
verständlichkeit voraussetzungsmäßig für das All beansprucht
wurde, — für uns ist sie erst letztes Ergebnis, ja Ergebnis
des Ergebnisses, ein Punkt, der schon so jenseits der »Bahn«
liegt wie ihr göttlicher Ursprung jenseits ihres Anfangs. Die
Einheit ist also in Wahrheit nur Werden zur Einheit, sie ist
SCHWELLE
3£7
nur indem sie wird. Und sie wird nur als Einheit Gottes; nur
Gott ist — nein eben: nur Gott wird die Einheit, die alles
vollendet.
Wie ist es denn aber mit der Welt, mit dem Menschen?
Gibt es für sie keine eigene Einheit als die des Eingehens in
den Welttag des Herrn? Bedeutet ihnen Schöpfung, Offen-
barung, Erlösung das gleiche, was es Gott bedeutet? Denn
zwar für Gott sind die Zeiten jenes Tages eigne Erlebnisse;
ihm ist die Schöpfung der Welt das Schöpferwerden, die Offen-
barung das Offenbarwerden, die Erlösung das Erlöserwerden.
So wird er bis zum Ende. Alles was geschieht, ist an ihm
Werden. Und da doch alles, was geschieht, gleichzeitig ge-
schieht und in Wahrheit die Offenbarung ja nicht jünger als
die Schöpfung ist und schon deswegen auch die Erlösung nicht
jünger als beide, so ist jenes Werden Gottes für ihn kein Sich-
verändern, kein Wachsen, kein Zunehmen, sondern er ist von
Anfang an und ist in jedem Augenblick und ist immer im
Kommen; und nur wegen dieses Zugleichs seines Immer-
während-, Allzeit- und Ewigseins muß man das Ganze als ein
Werden bezeichnen. Also nur, daß Gott nicht bloß einmal
gewesen ist, und sich nun bescheiden hinter ewigen Gesetzen
verbärge, oder daß Gott nicht bloß in den Augenblicken ist,
wo einer ganz von der Himmelsglut des Gefühls selig ist, —
nur dies, nicht etwa, daß er »erst noch werden müßte«, sagen
wir, indem wir sagen daß er in Ewigkeit wird. Die Ewigkeit
macht eben den Augenblick zum Immerwährenden; sie ist die
Verewigung. »Gott ist ewig« bedeutet also: für ihn ist die
Ewigkeit seine Vollendung. Aber noch einmal: ist sie das
auch für die Welt, für den Menschen?
Mit nichten. Um ewiges Leben zu erlangen, müssen sie
freilich in den Welttag des Herrn eingehn. Die Unsterblichkeit
wird ihnen erst in Gott. Aber der Grund ihrer Vollendung ist
ihnen nicht erst in der Ewigkeit der Erlösung gelegt, dort
blüht die Pflanze des ewigen Lebens auf, aber gepflanzt ist sie
in anderem Boden.
Gepflanzt ist nämlich die Pflanze der Ewigkeit dort, wo
der gemeinsame Grund liegt, dessen Festigkeit es allein er-
328
SCHWELLE
laubt, daß sich die Ja- und die Neinäußerung getrennt von
einander und gar in zeitlichem Nacheinander äußern. Wenn
trotz solchen Eingehens der Elemente in die Form der Zeit-
lichkeit dies Eingehen selber ihnen den Weg zur Ewigkeit be-
deutet, so muß ja die Möglichkeit der Trennung unterwölbt
sein von der Gewißheit der Verbindung und der Welttag des
Herrn in sich selber schon die Anlage tragen zum Gottestag
der Ewigkeit. Diese Gewähr der Ewigkeit trotz der Zeitlich-
keit des Sichoffenbarens liegt für Gott in der Erlösung; sie
bindet Schöpfung und Offenbarung, und da sie nicht bloß die
Gewähr, sondern selber auch die erfüllende Verwirklichung
der Ewigkeit ist, so wird eben für Gott sein Welttag ohne wei-
teres zu seinem eigenen Tag. Daß diese unmittelbare Einer-
leiheit von Gewähr und Erfüllung der Ewigkeit für die beiden
andern »Elemente« nicht gilt, das macht sie zu den »andern«
und Gott zum Einen. Es ist also der eigentliche Grund dafür,
daß Gott uns »oben« sitzt im Regimente und Welt und Mensch
ihm in ewiger Ordnung untergetan sind.
Des Menschen Ewigkeit ist gepflanzt in den Boden der
Schöpfung. Die Schöpfung wäre das Und zwischen den beiden
vor Gott getrennten und doch im Menschen vereinigten Augen-
blicken seines Lebens, der Geliebtheit und dem Lieben. Jene,
die ihm von Gott her kommt, diese, die sich der Welt zu-
wendet, — wie anders dürften sie ihm für eins gelten, wie
anders dürfte er sich bewußt sein, Gott zu lieben indem er den
Nächsten liebt, als weil er zu innerst und von vornherein weiß,
daß der Nächste Gottes Geschöpf und seine Liebe zum Näch-
sten Liebe zu den Geschöpfen ist. Und wie anders dürfte er
sich bewußt sein, von Gott geliebt zu werden als der gleiche,
den er selbst im Nächsten liebt, als weil Gott das ihm und dem
Nächsten Gemeinsame, dies daß dieser ist »wie er« und also
sie beide »Menschen sind«, nach seinem Ebenbilde geschaffen
hat. Seine Gottgeschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit sind
in ihm von der Schöpfung her gelegter Grund, auf dem er das
Haus seines ewigen Lebens im zeitlichen Hin- und Widerstrom
von Gottes- und Nächstenliebe sich bauen kann.
SCHWELLE
329
Der Welt ist es zweierlei, bloß dazusein und lebendig zu
wachsen. Erst in beidem zusammen ist sie Welt; aus jenem
kommt ihr die Blutfülle der Erscheinung, in diesem hat sie das
Rückgrat ihrer Dauer. Um jenes ersten willen kehrt die Kre-
atur das Gesicht vertrauend der göttlichen Vorsehung zu; um
des andern willen schaut das Leben erwartungsvoll nach dem
Menschen aus; der allein vermag ihm eben die »Dauer zu ver-
leihen«. So scheint sie den Blick also bald nach jener, bald
nach dieser Seite zu richten, bald Zuflucht in den ewigen
Armen des Schöpfers zu suchen, bald alles von dem irdischen
Herrn der Schöpfung zu erwarten. Die Welt — und der
Mensch selber mit ihr, insofern auch er ein Mitbewohner und
Bürger der Welt ist. Das Vertrauen auf den göttlichen
Schöpfer, das Warten auf die menschliche Tat, Natur und
Kultur, scheint ein ewiger Gegensatz. Die Welt scheint in ihm
bleiben zu müssen. Ein ewiger Gegensatz? Wir wissen, daß
er der Welt in der Ewigkeit des Tags des Herrn, in dem
erlösenden Kommen des Reichs, verschwindet. Also kein
ewiger Gegensatz. Doch wie kann solche Einigung von
Menschentat und Gotteswerk statthaben, wenn anders nicht
auch die Menschentat selber als Tat aus Gott kommt und
Gottes Schöpferwerk sich steigert und erfüllt in der Erweckung
des Menschen? Die Offenbarung Gottes an den Menschen ist
so die Gewähr, die der Welt für ihre Erlösung gegeben ist, der
Grund, auf dem für die Welt die Gewißheit beruht, daß der
Zweifel — und aller Zweifel ist Zweifel zwischen Schöpfungs-
vertrauen und Taterwartung, und von dem Zwiespalt dieses
Zweifels lebt die Welt — einst gelöst sein wird. Die Offen-
barung ist der Welt die Bürgschaft ihres Eingehens in die
Ewigkeit.
So wäre also für die Welt ihr Sein im Licht eingebettet in
den Zeitraum »zwischen« Offenbarung und Erlösung, für den
Menschen aber in den ganzen zwischen Schöpfung und Erlö-
sung, und nur Gott selber lebte allein in der Erlösung in seinem
reinen Licht. Oder mit andern Worten: Gott lebt sein reines
Leben nur in der Ewigkeit, die Welt ist zuhause in aller. Zeit,
330
SCHWELLE
der Mensch aber war immer der gleiche. Für den Menschen
gibt es keine Prähistorie — und alle Geschichte ist bloß Prä-
historie —, die Sonne Homers leuchtet auch uns, und das
Wundergeschenk der Sprache ward ihm in der Schöpfung an-
erschaffen, er hat sie sich nicht gemacht, noch ist sie ihm ge-
worden; als er Mensch ward, tat er den Mund auf; als er den
Mund auftat, war er Mensch geworden. Aber für die Welt und
so dann freilich auch für ihren Bürger, den Menschen, gibt es
Historie. Während der Mensch zum Übermenschen geschaffen
ward, wird die Welt erst in der Offenbarung Gottes an den
Menschen zur Überwelt, und ehe diese Offenbarung in einen
Kreis der Welt eintritt, ist dieser Kreis dem Gesetz der Ent-
wicklung untertan, das ihn reif zur Überweltlichkeit werden
läßt. So hat alles Weltliche in aller Zeit seine Geschichte:
Recht und Staat, Kunst und Wissenschaft, alles was sichtbar
ist; und erst im Augenblick, wo in ein solches Es der Welt das
Echo des Weckrufs der Offenbarung Gottes an den Menschen
hineinhallt, stirbt ein Stück Zeitlichkeit den Auferstehungstod
der Ewigkeit. Die Sprache aber, weil sie menschlich ist, nicht
weltlich, stirbt nicht und ersteht freilich auch nicht auf. In der
Ewigkeit ist Schweigen.
Gott selbst aber pflanzt den Setzling seiner eigenen Ewig-
keit weder in den Anfang noch in die Mitte der Zeit, sondern
schlechthin jenseits der Zeit in die Ewigkeit. Bei ihm liegt
nichts zwischen Aussaat des Samens und reifender Frucht. In
seiner Ewigkeit ist beides eins. Seine Erlöstheit ist etwas,
was so ganz über alle Welt hinaus liegt, wie seine Urgeschaf-
fenheit etwas war, was vor aller Zeit lag. Die Urgeschaffen-
heit des Menschen lag vor dem, daß ihm die Offenbarung
ward, und also noch mitten in der Zeit, und die Urgeschaffen-
heit der Welt wird erst ganz von ihr genommen sein in der
vollendeten Erlösung, also an der äußersten Grenze der Zeit,
aber Gottes Urgeschaffenheit war, ehe er sich zur Schöpfertat
entschloß. Von dieser Urgeschaffenheit der drei »Elemente«
handelten wir im ersten Teil. Und so handelte der zweite
Teil von ihrem Sichselbstoffenbaren; daher kam es, daß im
SCHWELLE
331
Schöpfungsbuch mehr von der in der Vorsehung geborgenen
und allmorgendlich darin erneuten Welt die Rede war als vom
Schöpfer, im Offenbarungsbuch mehr von Gottes Liebe als von
des Menschen Geliebtheit, im Erlösungsbuch mehr von der
Liebestat des Menschen am Nächsten als vom wachsenden
Leben der Welt. Und wenn wir nach jenem Niederstieg in die
urgeschaffene Vorwelt und nach jenem Steigen durch die offen-
bare Welt nunmehr den Ausblick suchen in die erlöste Über-
welt, so wissen wir, welche Schau uns dort erwartet. Den
Menschen, den vom Weibe gebornen, werden wir dort sehen
ganz erlöst von aller Eigenheit und Selbstischkeit zum ge-
schaffnen Ebenbilde Gottes, die Welt, die Welt aus Fleisch und
Blut und Stein und Holz, ganz erlöst von aller Dinglichkeit zu
lauter Seele, und Gott, erlöst von aller Arbeit des Sechstage-
werks und aller lieben Not um unsere arme Seele, als den
Herrn.
Solche Schau aber wäre mehr als Wunder. Sie be-
dürfte keiner Weissagung mehr, und wo sie uns ge-
geben werden mag, da wandeln wir im Lichte selber.
Die Geheimnisse der Vorwelt sinken zurück in
Nacht, die Zeichen der Umwelt verlieren ihren
Glanz, der Strahl der Überwelt saugt die dun-
keln Schatten des Geheimnisses wie die
farbigen Lichter des Zeichens in sich
auf. Wir schreiten hinan über die
Schwelle der Uberwelt, die
Schwelle vom Wunder
zur Erleuchtung.
DRITTER TEIL
DIE GESTALT
ODER
DIE EWIGE ÜBERWELT
EINLEITUNG
UBER DIE MÖGLICHKEIT
DAS REICH ZU ERBETEN
in tyrannos!
ASS man Gott versuchen könne, ist vielleicht die ab-
surdeste der vielen absurden Behauptungen die der
-A—" Glaube in die Welt gesetzt hat. Gott den Schöpfer,
vor dem, nach der Behauptung eben des Glaubens, Völker sind
wie der Tropfen am Eimer, ihn sollte — wieder mit den
Worten dieses Glaubens gesprochen — der Mensch, die Made,
und der Menschensohn, der Wurm, versuchen können! Und
wenn auch etwa nicht so sehr dabei an den allmächtigen
Schöpfer gedacht wäre, sondern mehr an den Offenbarer, wie
könnte auch von ihm, wenn anders er wirklich der Gott der
Liebe ist, vorgestellt werden, daß der Mensch ihn versuchen
könne; müßte dieser Gott da nicht in seiner Liebe beengt sein,
und gebunden an das was der Mensch tut, und nicht, wie es
wieder doch der Glaube selbst meint, unbeschränkt frei und
nur dem Drang der eigenen Liebe folgend? Oder endlich den
Erlöser, sollte ihn der Mensch versuchen können? Ihn wohl
noch am ehesten. Denn ihm gegenüber hat ja der Mensch
nach der Vorstellung des Glaubens wirklich eine Freiheit, die
er als Geschöpf und Kind Gottes nicht hat, die Freiheit zur Tat
oder allermindestens doch die Freiheit zum Entschluß, das
Gebet. Aber grade im Gebet nun wiederholen Jude wie Christ
ohne Unterlaß die Bitte: Führe uns nicht in Versuchung! Um-
gekehrt also wird da grade Gott die doppelte Verleugnung
seiner Vorsehung sowohl wie seiner Vaterliebe zugeschoben.
Er selber soll es nun sein, dem man zutraut, daß er sich mit
seinem Geschöpf und Kind das frevle Spiel erlaubt, es zu »ver-
suchen«. Wenn also das Gebet wirklich die Gelegenheit wäre,
Gott zu versuchen, so wäre dem Beter diese Gelegenheit
immerhin arg eingeschränkt durch die nie schweigende Angst,
336 DRITTER TEIL: EINLEITUNG
daß vielleicht, indem er zu versuchen meint, er selber schon
versucht wird. Oder beruhte etwa jene Möglichkeit, Gott zu
versuchen, auf der Tatsache, daß Gott den Menschen versucht?
Und wenn anders in jener Möglichkeit — wohlgemerkt: Mög-
lichkeit — sich die Freiheit bekundet, die der Mensch dem
Erlösergott gegenüber wenigstens, wenn auch nicht dem
Schöpfer und Offenbarer gegenüber hat — denn zwar ge-
schaffen wird er ohne seinen Willen, und die Offenbarung wird
ihm ohne sein Verdienst, aber erlösen will ihn Gott »nicht
ohne ihn« —: wenn anders also sich diese Freiheit des Gebets
in der Möglichkeit, Gott zu versuchen, bekundet, wäre dann
also etwa die Versuchung des Menschen durch Gott die not-
wendige Voraussetzung dieser seiner Freiheit?
So ist es. Eine rabbinische Legende fabuliert von einem
Fluß in fernem Lande, der so fromm sei, daß er am Sabbat
sein Fließen einstelle. Wenn statt des Mains dieser Fluß durch
Frankfurt flösse — ohne Zweifel würde die ganze Judenschaft
dort den Sabbat streng halten. Aber Gott tut solche Zeichen
nicht. Es graut ihm offenbar vor dem unausbleiblichen Erfolg:
daß dann grade die Unfreisten, die Ängstlichen und Kümmer-
lichen, die »Frömmsten« sein würden. Und Gott will offenbar
nur die Freien zu den Seinen. Um so zwischen den Freien
und den Knechtseelen zu scheiden, genügt aber kaum die bloße
Unsichtbarkeit seines Waltens; denn die Ängstlichen sind
ängstlich genug, im Zweifel sich lieber auf die Seite zu
schlagen, zu der zu halten »in jedem Falle« nicht schadet und
möglicherweise — mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit — sogar
nützt. Gott muß also, um die Geister zu scheiden, nicht bloß
nicht nützen, sondern gradezu schaden. Und so bleibt ihm gar
nichts übrig: er muß den Menschen versuchen; er muß ihm
nicht bloß sein Walten verbergen, nein er muß ihn darüber
täuschen; er muß es dem Menschen schwer, ja unmöglich
machen, es zu sehen, auf daß dieser Gelegenheit habe, ihm
wahrhaft, also in Freiheit, zu glauben und zu vertrauen. Und
umgekehrt muß auch der Mensch mit dieser Möglichkeit, daß
Gott ihn bloß »versuche«, rechnen, damit er immerhin einen
VOM REICH
337
Antrieb habe, sich in allen Anfechtungen sein Vertrauen zu be-
wahren, und nicht auf die unsterbliche Stimme von Hiobs
Weib höre, die ihm zuredet: fluche Qott und stirb!
Der Mensch muß also wissen, daß er bisweilen versucht
wird um seiner Freiheit willen. Er muß lernen, an seine Frei-
heit zu glauben. Er muß glauben, daß sie, wenn sonst viel-
leicht auch überall beschränkt, Gott gegenüber ohne Grenzen
ist. Gottes Gebot selber, gegraben in steinerne Tafeln, es muß
ihm, nach einem unübersetzbaren Wortspiel der Alten, »Frei-
heit auf Tafeln« sein. Alles, heißt es ebenda, alles liegt in
Gottes Hand, nur eines nicht: die Furcht Gottes. Und diese
Freiheit, worin soll sie sich kühner bekunden als in der Gewiß-
heit, Gott versuchen zu können? So kommen wirklich im Gebet
von beiden Seiten, von Gottes wie von der Seite des
Menschen, die Möglichkeiten des Versuchens zusammen; das
Gebet ist eingespannt zwischen diese zwei Möglichkeiten; in-
dem es sich vor Gottes Versuchung fürchtet, weiß es doch in
sich die Kraft, Gott selber zu versuchen.
Aber was ist es mit dieser Kraft des Gebets? Hat also wirk-
lich der Mensch Gewalt über Gott und kann im Gebet dem
Schöpfer in den ausgereckten Arm fallen, der Liebe des Offen-
barers sein Gesetz auflegen? Unmittelbar doch schwerlich,
sonst wäre der Schöpfer nicht Schöpfer, der Offenbarer nicht
Offenbarer. Aber anders könnte es sein, insofern das Werk
des Schöpfers und die Tat des Offenbarers sich zueinander
finden in der Erlösung. Da allerdings könnte es wohl ge-
schehen, daß der Mensch gewalttätig eingriffe in das Walten
der göttlichen Macht und Liebe; denn die Erlösung ist ja eben
nicht unmittelbar Gottes Werk oder Tat, sondern wie Gott der
Schöpfung die Kraft gab, in sich selber lebendig zu wachsen,
so befreite er in seiner Liebe die Seele zur Freiheit der
Liebestat.
Aber nicht jene Freiheit der Liebestat eigentlich ist es, die
in Gottes Walten eingriffe. Sie ist ja selber von Gott gewollt;
es ist Gottes Gebot, den Nächsten zu lieben. Sondern wirklich
22
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
erst in der Beziehung der Liebestat auf jenes wechselnde
Leben der Welt, nirgend sonst vorher, steckt die Möglichkeit,
Gott zu versuchen. Und diese Beziehung wird hergesteilt
durch das Gebet, das Gebet schon des einsamen Herzens aus
der Not des einsamen Augenblicks. Denn die Tat der Liebe
selber ist noch blind, sie weiß nicht, was sie tut, und sie soll
es nicht wissen; sie ist rascher als das Wissen; sie tut das
Nächste, und was sie tut, dünkt sie das Nächste. Aber das
Gebet ist nicht blind, es stellt den Augenblick und in ihm die
soeben getane Tat und den grade entschlossenen Willen,
Nächst=Vergangenes also und Nächst=Zukünftiges dieses einen
einsamen Augenblicks, in das Licht des göttlichen Antlitzes.
Es ist Bitte um Erleuchtung. Erleuchte meine Augen — sie sind
blind solange die Hände schaffen; den Nächsten und das
Nächste macht nicht das suchende Auge ausfindig, sondern die
tastende Hand entdeckt ihn, wie er grade vor ihr steht. Die
Liebe handelt so, als ob es im Grunde nicht bloß keinen Gott,
sondern sogar keine Welt gäbe. Der Nächste vertritt der
Liebe alle Welt und verstellt so dem Auge die Aussicht. Aber
das Gebet, indem es um Erleuchtung bittet, sieht — zwar nicht
am Nächsten vorbei, aber über das Nächste hinweg und sieht,
soweit sie ihm erleuchtet wird, die ganze Welt. So befreit es
die Liebe von der Gebundenheit an den Tastsinn der Hand und
lehrt sie, ihr Nächstes mit den Augen zu suchen. Was ihr bis-
her unausweichlich als das Nächste schien, wird ihr nun viel-
leicht ferngerückt, und ganz Ungekanntes erscheint plötzlich
nah. Das Gebet stiftet die menschliche Weltordnung.
Die menschliche Weltordnung — aber auch die göttliche?
Offenbar hat ja Gott selbst, indem er zwar nur eine Welt
schuf, aber sich vielen Menschen schenkt, den Grund dazu ge-
legt, daß beide Ordnungen nicht ohne weiteres eine sein
können. Gegenüber der einen Ordnung des wachsenden
Lebens gibt es viele Ordnungen, jeweils vom Hier=stehedch der
einzelnen gotterweckten Seele aus. Schon weil es viele Ord-
nungen sind, können sie nicht ohfie weiteres eins sein mit der
einen göttlichen. Um es zu sein, müßten sie ja erst unter-
VOM REICH
339
einander eins sein. Und das sind sie nicht, solange eine jede
der vielen noch zurückgeht auf fein einsames Gebet einer ein-
samen Seele. Wohl wird dies Gebet des Einsamen eingefügt
in das Gebet der Vielen um das Kommen des Reichs, aber des-
wegen bleibt der Einsame um nichts weniger in seiner Ein-
samkeit. Sein eigenes Hier=stehedch bleibt ihm der Grund
seines Nicht=andersskönnen, und er kann nur beten, daß Gott
ihm helfe; er selbst kommt von der Vereinzeltheit seines Stand-
punkts, und damit sein Gebet von dem Zwang, eine eigene
Weltordnung zu stiften, nicht los.
Was ist nun aber denn für eine Gefahr dabei? Wenn nun
auch wirklich das Gebet, indem es dem Beter einen Blick auf
die Welt öffnet, sie ihm in besonderer Ordnung zeigt, sollte das
irgendwelche Folgen haben für diese eine göttliche Weltord-
nung selbst? Läge denn etwa im Gebet eine Kraft, die tyran-
nisch eingreifen könnte in den gottentsprungenen Lauf der Welt
von der Schöpfung her? Wenn das Gebet wesentlich nichts
weiter ist als Gebet um Erleuchtung und also Erleuchtung auch
das höchste ist, was dem Beter durch die Kraft des Gebets
werden kann, wie soll dann wohl das Gebet eingreifen können
in den Gang des Geschehens? Die Erleuchtung scheint doch
nur dem Beter zu werden, seine Augen werden erleuchtet —
was kümmert das die Welt?
Die Erleuchtung freilich braucht sie nicht zu kümmern. Die.
Erleuchtung unmittelbar wirkt nicht. Das schlechtweg Wirk-
same ist nicht sie, sondern die Liebe. Die Liebe kann nicht
anders als wirken. Es gibt keine Tat der Nächstenliebe, die
ins Leere fällt. Grade weil die Tat blind getan wird, muß sie
irgendwo als Wirkung zum Vorschein kommen. Irgendwo,
ganz unberechenbar wo. Würde sie sehend getan, wie die
Zwecktat, dann freilich wäre es möglich, daß sie spurlos unter-
ginge; denn die Zwecktat geht nicht breit, offen, unbedeckt und
unbedacht in die Welt, sondern sie ist zugespitzt auf ein be-
stimmtes gesehenes Ziel, und indem sie den Weg zu diesem
Ziel mitsieht und, zweckvoll wie sie ist, ihn mit in ihre Rech-
nung einrechnen muß, sucht sie, außerdem daß sie sich auf ihr
22*
340
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
Ziel hin zu=spitzt, auch ihre durch diese Zuspitzung entstan-
denen langen offenen Flanken zu decken gegen alle etwaigen
ablenkenden oder störenden Einflüsse, die sie auf dem Wege
voraussehen muß. So wird sie zur zugespitzten, bedachten
und bedeckten Tat, und wenn sie überhaupt an ihr Ziel kommt,
so mündet sie ein in ihren Erfolg. Ihr weiteres Schicksal ist
dann abhängig von dem Schicksal dessen, woran sie Erfolg
hatte; stirbt es, so stirbt sie mit ihm. Denn weil sie ihren Weg
bis hin zum Ziel, je reinere und vollkommenere Zwecktat sie
war, möglichst gedeckt gegangen ist, so ist sie als Tat selbst
wirklich ungesehen geblieben, und je reiner zweckvoll, um so
gewisser zu ihrem Ziel gelangt, ohne irgendwelche ungewollte
Wirkungen unterwegs ausgeübt zu haben.
Ganz anders also die Liebestat. Es ist sehr unwahrschein-
lich, daß sie wirklich den Gegenstand erreicht, dem sie zulief.
Sie war ja blind, nur ein das Nächste ertastendes Gefühl hat
ihr Kunde von dem Gegenstand gebracht; sie weiß nicht, wo
sie am besten in ihn eindringen mag; sie weiß den Weg nicht.
Wie sie sich ihn so blindlings sucht, ohne Deckung, ohne Zu-
spitzung: was ist wahrscheinlicher, als daß sie den Weg ver-
liert? und daß sie — zwar irgendwo anlangt und infolge ihres
breiten Ausströmens sogar bei mehr als einem einzigen Irgend-
wo, aber ihren ursprünglichen Gegenstand, dem sie zugedacht
war, nie zu sehen bekommt.
Vielleicht ist es nicht zuviel gesagt, daß die eigentlichen
Wirkungen der Liebe alles Nebenwirkungen sind. Und ganz
ohne solche bleibt sie auf keinen Fall, während diese Freiheit
von Nebenwirkungen bei der Zwecktat wohl Vorkommen mag
und jedenfalls immer angestrebt wird. Denn jeder Gegenstand
hängt so lückenlos zusammen mit andern und schließlich mit
der Unendlichkeit der Gegenstände, daß es einer Tat gar nicht
möglich ist, nicht mindestens auf dem Wege zu ihm auch auf
andere Gegenstände zu wirken. — sie müßte denn es gradezu
hindern, indem sie, wie eben die Zwecktat, auf dem kürzesten
und heimlichsten Weg hinausgeht. Und wenn unter diesen
Gegenständen, die ihre Wirkungen empfangen haben, auch
VOM REICH
341
mancher noch, ja selbst die meisten, den Zoll der Sterblichkeit
einmal zahlen mögen, weil sie noch nicht reit waren für
die beseelende Wirkung der Liebe, irgendwie kommt doch
durch den lückenlosen Zusammenhang aller Gegenstände die
Wirkung auch jenem Gegenstand zugute, der im Augenblick
wirklich der »nächste« ist, sei es nun, daß das wirklich der
war, den das blind tastende Gefühl dafür halten mußte, sei es
irgend ein anderer; und der ist dann als der wahrhaft nächste
reif zur Empfängnis der Seele. Dieser wahrhaft nächste, für
den also alles davon abhängt, daß die Liebe ihn auch wirklich
findet, denn er ist in dem wachsenden Leben der Welt grade
so weit getragen, daß für ihn die Zeit, seine Zeit, gekommen
ist — dieses Nächste wird auch immer wirklich gefunden. Es
könnte nur in einem Falle nicht gefunden werden: wenn die
Liebe, statt als blinde vom Gefühl geleitete Liebe Schritt für
Schritt vom Menschen aus hinauszuströmen, einen ihr in plötz-
licher Erleuchtung gezeigten Gegenstand im Sprung zu er-
reichen suchte. Denn der Sprung überspringt. Und wäre in
dem Übersprungenen das, dessen Zeit grade gekommen wäre,
dann allerdings würde eine Tat der Liebe ins Leere verströmt
sein. Denn der Weg rückwärts ist der Weg, den sie, rück-
sichtslos wie sie ist, nie gehen kann. Und diese Gefahr liegt
im Gebet.
Das Gebet nämlich, wenn es erleuchtet, zeigt dem Auge
das fernste Ziel; aber weil der Beter auf dem bestimmten
Standpunkt seiner Persönlichkeit steht, so erscheint dies allen
gemeinsame fernste Ziel hinter einem Vordergründe von ganz
persönlicher Perspektive, eben der Perspektive dieses Stand-
punkts. Die Unmittelbarkeit nun, mit der statt der gefühlten
Nähe des Nächsten jetzt die gesichtete Ferne des Fernsten er-
fahren wird — denn sie erscheint nicht dem vom verlangenden
Zweckwillen aufgerissenen, sondern dem in der Empfänglich-
keit des Gebets erleuchteten Auge — diese Unmittelbarkeit er-
möglicht freilich der Liebe, sich unmittelbar auf diesen Gegen-
stand zu richten. Er ist ihrem erleuchteten Auge so nah wie
dem fühlenden Herzen sein Nächster. Aber da ihr in der Er-
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
342
leuchtung zugleich der Weg, und zwar im Gegensatz zu der
Allgemeinsamkeit des Ziels ihr persönlicher Weg, erleuchtet
wird, so richtet sie sich nun zunächst auf die Stationen dieses
Wegs. Und diesen gesichteten Stationen eilt sie nun zu, so
rasch wie möglich, jeden Verzug scheuend, ja alle Gefahr im
Verzüge wähnend. Das Nächste des Gefühls wird nun über-
sprungen; die Station, die in der Erleuchtung als die erste am
Wege zum Fernsten erkannt ist, tritt nun für jenes Nächste
ein; ihr möchte die Liebe im Sprunge zueilen. An Stelle des
Nächsten tritt der Liebe das Übernächste. Den Nächsten ver-
drängt ihr der Übernächste. Sie übersieht und überhört den
einen, um in gewaltig=gewaltsamem Überspringen den andern
zu erreichen. Und weil sie Liebe ist und also immer wirkt, so
muß es ihr auch gelingen.
Und so kommt das Gebet, das an sich keine magischen
Kräfte hat, dennoch, indem es der Liebe den Weg erleuchtet,
zu magischen Wirkungsmöglichkeiten. Es kann in die göttliche
Weltordnung eingreifen. Es kann der Liebe die Richtung geben
auf etwas, was noch nicht reif zur Liebe, noch nicht reif zum
Beseeltwerden ist. Und es kann so, indem es Fernes heran-
beschwört, schuld sein, daß der Mensch sein Nächstes,
wenigstens insofern es nur sein und keines andern Nächstes
ist, vergißt, ja verleugnet und so wenigstens er keinen Rück-
weg mehr zu seinem Nächsten findet. Indem das Gebet um das
Kommen des Reichs Gebet des Einzelnen ist, kommt es in
Gefahr, das Übernächste vor dem Nächsten zu bevorzugen.
Solche Bevorzugung ist aber in Wahrheit Bevorzugung, Her-
vorziehen der zögernd hergezogen kommenden Zukunft, ehe
diese Zukunft nächst gegenwärtiger Augenblick und als solcher
reif zur Verewigung geworden ist. Das Gebet des Einzelnen
ist so, grade wenn es erfüllt wird und seinen Beter also
erleuchtet, stets in Gefahr — Gott zu versuchen.
Die Möglichkeit, Gott zu versuchen, widerspricht also nicht
der göttlichen Weltordnung. Das würde sie nur, wenn der
Mensch nun wirklich die Kraft hätte, seinen Übernächsten
nicht bloß zu lieben, sondern ihn dadurch auch zu verewigen.
VOM REICH
343
So aber ist es nicht. Wohl möchte der im Gebet erleuchtete
Mensch das Himmelreich mit Gewalt vor der bestimmten Zeit
herbeiführen; aber das Himmelreich läßt sich nicht vergewal-
tigen, es wächst. Und so fällt die magische Kraft des einzelnen
Beters, wenn sie weiter schweift als zum Nächsten, ins Leere.
Der Übernächste, zu dem sie sich zu schwingen suchte, nimmt
sie nicht in sich auf, und weil sie so weder in ihm Boden noch
von ihm den Rückweg findet, so ist ihr auch der Weg vor-
wärts versagt; denn um weiter vorwärts sich zu verbreiten,
müßte sie erst einmal wieder Grund unter ihren Füßen gespürt
haben. Das ist das Unglückliche der Liebe zum Übernächsten;
obwohl sie doch echte Liebestat wirkt, verendet sie in ihrem
erreichten Ziel ganz ähnlich wie die Zwecktat; die Gewalt-
samkeit ihres Anspruchs rächt sich an ihr selbst. Der Schwär-
mer, der Sektierer, kurz alle Tyrannen des Himmelreichs,
statt das Kommen des Reichs zu beschleunigen, verzögern es
eher; indem sie ihr Nächstes ungeliebt lassen und nach dein
Übernächsten langen, schließen sie sich aus von der Schar
derer, die in breiter Front vorrückend Stück für Stück des
Erdbodens, ein jeder das ihm nächste, erobern, besetzen, —
beseelen; und ihr Vorgreifen, ihr persönliches Bevorzugen
des Übernächsten leistet den Nachfolgenden keinen Pionier-
dienst; denn es bleibt ohne Auswirkung; das vom Schwärmer
vorzeitig bestellte Ackerland trägt keine Frucht; erst wenn
seine Zeit gekommen ist — und sie kommt auch für es —, erst
dann trägt es; da aber muß die ganze Arbeit des Bestehens
wieder von frischem getan werden; die erste Aussaat ist ver-
fault, und es gehört schon die eigensinnige Torheit der Ge-
lehrten dazu, um angesichts der verfaulten Reste zu behaup-
ten, dies wäre »eigentlich« »schon« das gleiche, was später
zur Frucht gereift sei. Zeit und Stunde sind um so mächtiger,
je weniger der Mensch sie weiß.
Zeit und Stunde — sie sind ja nur vor Gott ohnmächtig.
Denn für ihn allerdings ist die Erlösung so alt wie Schöpfung
und Offenbarung, und so prallt, grade insofern er nicht bloß
344
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
Erlöser, sondern auch Erlöster, die Erlösung also ihm Selbst-
erlösung ist, jede Vorstellung eines zeitlichen Werdens, wie
sie eine freche Mystik und ein hochtrabender Unglaube ihm
gern andichten, von seiner Ewigkeit ab. Nicht er selbst für
sich selbst, sondern er als Erlöser von Welt und Mensch
braucht Zeit, und nicht weil er sie braucht, sondern weil
Mensch und Welt sie brauchen. Denn für Gott ist die Zukunft
keine Vorwegnahme; er ist ewig und der einzige Ewige, der
Ewige schlechtweg; »Ich bin« ist in seinem Munde wie »Ich
werde sein« und findet erst darin seine Erklärung.
Aber für Mensch und Welt, denen das Leben von Haus
aus nicht ewig ist, sondern die im bloßen Augenblick oder in
breiter Gegenwart leben, ist die Zukunft nur faßbar, indem sie,
die zögernd herangezogen kommende, in die Gegenwart vor-
gezogen wird. So wird ihnen die Dauer höchst wichtig, weil
sie es ist, an der sich die Zukunft, indem sie in den Augenblick
vorweggenommen wird, immerfort reibt. Und deshalb kommt
für das Gebet schließlich alles darauf hinaus, ob die Zukunft
des Reichs dadurch beschleunigt oder verzögert wird. Oder
genauer gesagt: da beides, Beschleunigung wie Verzögerung,
nur in den Augen des Menschen und der Welt, nicht vor Gott
gilt, und Mensch und Welt die Zeit nicht messen nach einem
außer oder über ihnen liegenden Maß, sondern aneinander, der
Mensch also am ihm entgegenreifenden Wachstum der Welt,
die Welt an der ihr in den Schoß geschütteten Fülle der Liebe:
so kommt es für das Gebet darauf an, ob der Lichtschein, den
es in das Dunkel der Zukunft wirft und der in seinen letzten
Ausläufern immer in die fernste Ferne reicht, an der Stelle
seines ersten Auftreffens, an dem,nächsten Punkt also, den er
dem Beter erleuchtet, der Liebe vorauseilt, hinter ihr zurück-
bleibt, oder mit ihr Schritt hält. Nur im letzten Falle wird das
Gebet erfüllt; nur dann geschieht es in der »angenehmen Zeit«,
der »Gnadenzeit«; in diesem seltsamen Ausdruck, den wir
nun zu verstehen beginnen, macht der Glaube den Gedanken
lebendig, den als eine tote Erkenntnis schon die heidnische
Frömmigkeit besaß: daß man die Götter nur bitten dürfe um
VOM REICH
345
das, was sie zu gewähren geneigt seien, und daß also für den
Fall, daß man um »Unrichtiges« bitte, man selbst von vorn-
herein um Nichterfüllung bitten müsse.
Über diesen leeren Gedanken des »richtigen« Gebets-
inhalts erhöht der Glaube den Gedanken der rechten Zeit. Es
gibt keinen an sich unrichtigen Gebetsinhalt. Das, was schein-
bar kraß unrichtiger Inhalt ist und was zu beten dem frommen
Heiden ein Greuel wäre, das Gebet um eigenen Vorteil, das
egoistische Gebet — es ist nicht von seinem Inhalt her un-
richtig; denn Gott will, daß der Mensch sein Eigenes habe, er
gönnt ihm, was er zum Leben braucht, ja mehr: was er im
Leben zu brauchen glaubt, ja was er nur immer wünschen
kann. All das gönnt ihm Gott, und weil er es gönnt, deshalb
gibt er es ihm, ja deshalb hat er es ihm schon gegeben, ehe er
noch darum bitten kann; es gibt dem Inhalt nach keine sün-
dige Bitte; selbst eine so verbrecherische wie etwa die um
den Tod eines andern, wäre von Gott dem Beter schon er-
füllt, ehe er sie bittet, indem er den Beter zum Einzelnen ge-
schaffen hat; es ist ja schon so, ohne alles Gebet: der andre
muß sterben. Denn nur Andre können sterben; nur als Andrer,
nur als Er stirbt der Mensch. Das Ich kann sich nicht gestorben
denken; seine Angst vor dem Tode ist die Angst, das zu
werden, was es an gestorbenen Andern allein mit Augen sehen
kann: ein gestorbener Er, ein gestorbenes Es; nicht den
eigenen Tod fürchtet der Mensch, denn den kann das Ich, das
in der Offenbarung erweckte, in seinem Vorstellen, wie es
ist, gebunden an die Formen der Schöpfung, sich gar nicht
vorstellen, sondern den eigenen Leichnam. Der Schauder, der
ihn, den Lebendigen, angeweht hat, so oft er einen Toten sah,
befällt ihn, sowie er sich, den Lebendigen, selber als einen
Toten vorstellt, wo doch streng genommen der Tote nie als
»man selbst«, sondern stets nur als ein »andrer« vorgestellt
werden kann. Man selbst überlebt also ohnehin den andern,
jeden andern; denn der andre, jeder andre, ist tot schon als
andrer, schon von der Welt her; er ist als andrer geschaffen,
und als Geschaffener vollendet er sich zum Geschaffenen im
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
346
Tod, als Geschaffener ist er letzthin nicht bestimmt, irgend
einen andern zu überleben; denn das Leben ist nicht das
Höchste in der Schöpfung, sondern seine Bestimmung ist, sich
zu über=sterben; der Tod, nicht das Leben, vollendet das ge-
schaffene Ding zum einzelnen einsamen Ding; er verleiht ihm
die höchste Einsamkeit, deren es als Ding unter Dingen fähig
ist. Das Gebet um den Tod des andern verlangt also, der
andre solle in Ewigkeit bleiben, was er schon von der Welt
her ist: geschaffenes Ding, — Andrer; indes man selber Selbst,
zu eigenem Leben erwecktes, und also Überleber schlecht-
weg, Überleber alles ewig »Andern« sein möchte. Eine ewige
Scheidewand soll zwischen dem Ich bestehen bleiben und
allen andern. Die Brücke, die vom Ich zum Er, von der Offen-
barung zur Schöpfung führt und über der geschrieben steht:
Liebe deinen Andern, er ist kein Andrer, kein Er, sondern ein
Ich wie Du, »er ist wie du«, — diese Brücke weigert sich das
Ich, das um den Tod des andern bittet, zu betreten; es will
genau wie der Mystiker, dessen heimliche Sünde der ehrliche
Sünder, der Verbrecher, frei ausspricht, durchaus in der Offen-
barung bleiben und die Schöpfung den »andern« überlassen;
so leugnet der Sünder, der offene Verbrecher wie der
mystische Heimlichtuer, die Erlösung; denn was ist die Erlö-
sung sonst als dies, daß das Ich zum Er Du sagen lernt?
Dies Gebet, daß der Andre sterben möge, ist also schon
vor allem Beten erfüllt; denn der Mensch ist schon von der
Welt her in seinem Eigenen. Nicht also der Inhalt der Bitte ist
sündhaft; er ist, wie schon die Schöpfung zeigt, gar nicht gegen
Gottes Willen; sondern daß der Mensch, statt diesen Inhalt in
seinem Gebet als schon erfüllten zu behandeln und also für
sein durch das menschlich=geschöpfliche Anderssein aller
Andern bedingtes Eigensein Gott zu danken, darum.bittet und
es also als ein noch Unerfülltes behandelt. Denn damit betet
er zur Unzeit; er hätte vor seiner Schöpfung darum bitten
müssen; nachdem er geschaffen ist, kann er für das Eigene nur
noch danken; und bittet er gleichwohl darum, so versäumt er
die Gnadenzeit für das Erbeten dessen, was ihm gegenwärtig
VOM REICH
HZ
zu erbeten nottut, und indem er um das in Schöpfung und
Offenbarung ihm schon gewährte »Eigene« bittet, verpaßt er
den Augenblick, wo er um sein »Nächstes« bitten müßte. Der
Strahl des Scheinwerfers traf allzunah auf seinen Gegenstand,
nämlich noch innerhalb des Kreises des Eigenen, statt auf das,
was dem Selbst nicht mehr Eigenes ist, sondern bloß »wie«
sein Eigenes, »wie« er selbst, — das Nächste.
So ist es, wenn das Gebet hinter der Liebe zurückbleibt,
wenn also der Sünder in uns betet. Das Gebet des Sünders
verzögert so das Kommen des Reichs, indem es aus der Fülle
der Liebe, die der Augenblick der angenehmen Zeit erwartet
und braucht, sich selber durch Bleiben im Eigenen ausschließt.
Das Entgegengesetzte sehen wir am Gebet des Schwärmers,
der in dem Verlangen, die Zukunft des Reichs zu beschleu-
nigen, daß sie komme vor der Zeit, das Reich an dem Punkt,
den ihm der Scheinwerfer seines Gebets als den nächsten
zeigt und der immer nur ein übernächster ist, mit Gewalt ein-
zunehmen sucht. Ihm verdorrt sein Gebet und seine Liebe,
und so hat auch er schließlich sich selbst dem gnadenreichen
Augenblick, der auf seine wie auf jedes andern Tat wartete,
entzogen und das Kommen des Reichs, das er beschleunigen
wollte, verzögert. So wird also nur das Gebet das Kommen
des Himmelreichs nicht verzögern, das zur rechten Zeit getan
wird Wie aber wird dies Gebet getan? Und gäbe es nur ein
Nichtverzögern? hätte der Schwärmer ganz Unrecht? gäbe es
wirklich gar keine Möglichkeit, das Kommen des Reichs nicht
bloß zu verzögern, sondern zu beschleunigen? Ist sein Gebet
ein bloßes Versuchen der — mit den Worten der Kabbalah
gesprochen — göttlichen Kurzmut, so wie das Gebet des
Sünders die göttliche Langmut versucht? Ist in unserem
Herzen, wenn unser Mund betet, niemand anders außer dem
Sünder und dem Schwärmer? Beten nicht noch andre Stim-
men in uns?
»Schaff, das Tagwerk meiner Hände, hohes Glück, daß ichs
vollende« — scheint es doch auf den ersten Blick, dies Gebet
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
348
des jungen Goethe wäre kaum unterschieden von dem Gebet
Moses des Mannes Gottes: ja das Werk unsrer Hände wollest
du fördern. Und ist doch verschieden von ihm — so ver-
schieden wie die beiden letzten Gestalten des Gebets, die wir
nun finden werden. Das Gebet Goethes, des Mannes des
Lebens, geht an sein eigenes Glück, ihm legt er das Tagwerk
der eigenen Hände zu Füßen und bittet, daß er selber es vol-
lenden möge. Das ist das Gebet, das dieser große Beter in
immer neuen Worten Jahre und Jahrzehnte lang wiederholt
hat, bis ihm große sichtbare Erfüllung wurde. Was ists mit
diesem Gebet des Menschen zum eigenen Schicksal? Wer ist
dies Schicksal, vor dem er das freie Haupt demütig neigt und
vor dem sein Herz auf die Kniee fällt?
Es wäre eine unzulässige Umdeutung, wenn man im
»Schicksal« etwa nur einen Verlegenheitsausdruck für den
göttlichen Erhörer des Gebets, zu dem alles Fleisch kommt,
sehen wollte. Nein, zu diesem Schicksal kommt nicht alles
Fleisch und legt ihm das Werk seiner Hände vor, sondern nur
ein einsamer Einzelner tritt vor es hin, und nur einem ein-
samen Einzelnen ist es Erhörer des Gebets, nur ihm und
keinem andern. Es ist ein Schicksal, so persönlich wie der
Beter selbst, ja es ist eben des Beters persönliches Schicksal.
Und sollte dieses Gebet erfüllt werden? sollte es zur an-
genehmen Zeit gesprochen werden können? Ist es nicht ein
Verwandter des Gebets, das um das Eigene betet und das
stets zu spät kommt? dessen Gnadenzeit in dem Augenblick
liegt, da die Welt ward? und das nimmermehr erfüllt wird,
weil es schon erfüllt war vor aller Bitte? Aber nein — betet
es denn um das Eigene? Betet es nicht vielmehr im Eigenen?
Ob Eigenes oder Fremdes seinem Leben und seiner Liebe zum
Inhalt wird, das kümmert diesen Beter wenig. Ihm geht es
nur darum, daß, was auch kommt, in sein Leben münde, daß
alles, Eignes wie Fremdes, Fremdes wie Eignes, alles ihm im
Heiligtum seines eigenen Schicksals darzubringen vergönnt
sein möge. Darum betet er. Er verlangt mit nichten, sein
Eigenes zu bewahren; er ist wohl bereit, sich ins Draußen zu
VOM REICH
349
verströmen, sein enges Dasein hier zur Ewigkeit zu er-
weitern, und er tuts; aber er fühlt sich in diesem Verlangen
als Diener seines eignen Geschicks, und wenn er bereit ist, die
Mauern der eigenen Person niederzulegen, — den heiligen Be-
reich des eigenen Schicksals glaubt er nicht verlassen zu
können und zu dürfen. Was ists also — abermals fragen wir
es — mit dem eigenen Schicksal?
Der Mensch ist ein unteilbarer Teil der teilereichen Welt.
Die Welt wächst durch ihre Alter. Sie hat ihr eigenes Schick-
sal. Das Schicksal des Menschen ist ein Teil in diesem Schick-
sal. Aber es geht nicht darin auf. Es löst sich nicht darin. Es
ist zwar ein Teil, aber ein unteilbarer. Der Mensch ist Mikro-
kosmos. Und so ist sein Schicksal im Schicksal der Welt, das
in den Altern ihres Wachstums heranreift, gleich einem be-
stimmten Augenblick im Stronie der Zeit: man kann ihn nicht
vertauschen, nicht verschieben, nicht auflösen in dem Ganzen
des Stroms, er ist ein Teil dieses Ganzen, aber ein unauflös-
barer, unteilbarer. Ein Augenblick in den Altern der Welt,
deutlicher vielleicht: eine Stunde; denn dies Schicksal ist voll
von mannigfaltigem Inhalt, und die Stunde, die geschlagene
Stunde, ist ja die Zeit, die der Mensch selber in den Zeitlauf
der himmlischen Zeichen wie ein Stehendes hineinstellt als
Gefäß des eignen zusammenhängenden Erlebens, dessen klein-
stes, noch nicht eigenes, erst anzueignendes Element bloß,
nichts weiter, der Augenblick ist. Diese eigene Stunde in den
wachsenden Altern der Welt, die Stunde, die ihm geschlagen,
sie also ist es, die der Mensch erfaßt, der zum eigenen Schick-
sal betet. Und weil das so ist, so wird dies Gebet stets erfüllt.
Indem es gebetet wird, schlingt es sich hinein in das Welt-
schicksal und ist nie fehl am Ort, nie überreif, nie unreif. Weil
es in der eigenen Stunde geschieht und gar nicht zu einer
fremden Stunde geschehen kann, denn es ist eben Gebet zum
eigenen Schicksal, und nicht zu einem fremden, so ist es stets
in der angenehmen Zeit, der Zeit der Gnade, und ist erfüllt,
wie es gebetet wird. Es wird erfüllt von der Welt her; es ist,
indem der Mensch darin in das eigene Schicksal eingeht, zu-
35Q
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
gleich das vertraute Eingehn des Menschen in das, was von
der Welt her ist, in die Schöpfung.
Dies ist ein großer Augenblick in der Geschichte des
Menschen, wo zum ersten Mal der Mensch so seine Arme
betend zum eigenen Schicksal erhebt. Nicht gefühllos hat dem
der Mensch Goethe, in welchem dieser große Augenblick her-
vorbrach, gegenübergestanden. Er hat es gewußt und hat es
als Greis in einem überkühnen, aber bis auf den Grund
blickenden Wort ausgesprochen: er, so meinte er, sei vielleicht
in seiner Zeit noch der einzige Christ, so wie ihn Christus ge-
wollt habe. Was ist der Sinn dieses hart an lästernden Wahn-
sinn grenzenden Ausspruchs? Denn indem er sich in seiner
Zeit als den »vielleicht« einzigen bezeichnet, gibt er sich
selber — »ob ihr mich gleich für einen Heiden haltet« — eine
einzigartige Stellung in der Geschichte des Christentums, über
alle Möglichkeit des Erkennens und Verstehens hinaus. Christ
sein heißt ja nicht: irgendwelche Dogmen angenommen haben;
sondern sein Leben unter die Herrschaft eines andern Lebens,
des Lebens Christi stellen und, dies einmal geschehen, fortan
das eigene Leben nur in Auswirkung der von dort zuströ-
menden Kraft zu leben. Wenn also Goethe sich als den viel-
leicht einzigen Christen seiner Zeit bezeichnet, so kann das
nur heißen, daß die ganze von Christus ausströmende Kraft
sich »heutzutage« in ihm angesammelt habe und in ihrem
lebendigen Fortströmen irgendwie an ihn und sein scheinbares
Heidentum gebunden sei. Denn dies ist das einzige, wodurch
nun dennoch jenes sich unter das Leben Christi Stellen in ge-
wisser Weise dogmatische Folgerungen erzwingt: die Voraus-
setzung, daß jenes Leben einzig in der Welt sei und seine
Wirkungen nur aus ihm und also, von den unwichtigen be-
wußten Vergewisserungen der Einzelnen abgesehen, in ihrer
unbewußten Lebendigkeit in einem einzigen ununterbrochenen
Strome nur von ihm ausgehen können; und in diesem Sinn
wäre freilich das Leben Christi ein oder vielmehr das Dogma
der Christenheit; wie denn in der klassischen Form des Dog-
mas, der Dreieinigkeitslehre, das Leben Christi, nach rückwärts
VOM REICH
22
in seiner Einzigartigkeit in der geschaffenen Welt, nach vor-
wärts in seiner ununterbrochen in der zu erlösenden Mensch-
heit fortwirkenden Kraft vorstellig gemacht, wirklich den ein-
zigen Inhalt bildet. Was meint denn also dem allem gegenüber
der Goethesche Ausspruch mit seiner merkwürdigen Verflech-
tung des Goetheschen »Heidentums« mit der Nachfolge
Christi?
Die Nachfolge Christi hatte zunächst, wenn der Christ sein
Leben ebenso unbedingt, ebenso dem Schicksal der ganzen
Welt verbunden leben wollte, bedeuten müssen, daß er für
ein solches Leben erst einmal die äußere Möglichkeit schuf.
Denn zunächst sah das Christentum, indem es mit dem Willen
zu solchem Leben hinaus in die Welt trat, in dieser das ent-
gegengesetzte Lebensgesetz auf dem Throne sitzen. Zwar trat
es nicht, wie es noch wenige Jahrhunderte zuvor und wieder
wenige Jahrhunderte hernach geschehen wäre, in eine in Völ-,
ker, Stämme, Städte auseinandergebrochene Welt, eine Welt,
deren Teile schon als Teile jeder für sich ein eigenes, in sich
selber bedingtes, weltfremdes Leben führten; sondern die
Welt, wenigstens die westliche, nach der ja die Sendboten des
Christentums allein hinauszogen, war geeinigt unter dem
Szepter des Cäsar. Aber in dieser Einheit bot sie nur schein-
bar und nur äußerlich dem Christentum günstigen Boden. Denn
ihre Einheit war nicht die Einheit der Welt; die Grenzen des
Imperiums umspannten nicht, wie es wohl prahlerisch sich
selber vorzureden suchte, die Ökumene, die menschenbesiedelte
Welt. Und daß sie das nicht taten, war nicht etwa nur eine
Unzulänglichkeit gegenüber der eigenen, dennoch grundsätz-
lich festgehaltenen Absicht. Sondern in den Grundstein dieses
Staatsbaus hatte sein Baumeister, der Kaiser Augustus, den
Gedanken der Beschränkung auf den Vorgefundenen Besitz
hineingelegt; nur grenzsichernde Abrundungen sollten ge-
stattet sein; nur um den Umwohnenden den Geschmack an
Angriffen zu nehmen, wurden die Adler über die Grenzen ge-
tragen; dem großen Reich des fernen Ostens gleich, das ja
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
352
ebenfalls sich selbst unbefangen mit der Welt gleichsetzte,
sicherte sich auch dies mittelländische Kaiserreich durch fest-
land=durchschneidenden Wall und Graben sein Dasein gegen
den Rest der Erde, den zu erobern es verzichtete.
Und wie so das Ganze des Reichs das Schicksal der Welt
von seinen Schultern wälzte, so war auch im Innern das
Schicksal des Einzelnen nur sehr obenhin dem Schicksal
des Ganzen verbunden. Wie die Geschichte der Haupt-
stadt durchaus nicht die Geschichte der Provinzen ist, so
wird auch das Leben des einzelnen Menschen vom Leben
der Gesamtheit eigentlich kaum berührt. Es ist kein Zufall,
daß schließlich als das Ergebnis dieser mehrhundertjährigen
Reichsgeschichte eine Verbuchung des privaten Rechts übrig
blieb: der römische Bürger litt am Staat so wenig, wie er an
ihm wirkte; das einzige, was ihm vom Ganzen kam, war Ein-
grenzung und Schutz seiner privaten Rechtssphäre, — ein
Zaun gewissermaßen, der jeden gegen alle andern abschloß,
wie der große Grenzwall das Reich gegen die Welt. In dieses
Schein- und Widerbild eines Weltreichs setzten nun die Christen
sein vollkommenes Gegenstück, das, äußerlich angelehnt an
seine Gliederung, seinen unterm Andrang der vergebens durch
Wall und Graben ausgeschlossenen Völkerwelt geschehenden
Einsturz überdauerte und überdauert bis zum heutigen Tag:
die römische Kirche.
Die Sendboten des Nachfolgers Petri haben den Limes
überschritten; sie sind hinausgegangen und haben alle Völker
gelehrt. Die Kirche setzt sich keine äußeren Grenzen mehr,
•wie es das Reich tat; sie gibt sich grundsätzlich an keiner
Grenze zufrieden, sie weiß von keinem Verzicht. Und wie sie
nach außen um aller Welt Schicksal ihren schützenden Mantel
schlägt, so darf auch in ihrem Schoße keiner für sich bleiben.
Von jedem verlangt sie unmittelbar das Opfer seines Selbst,
aber jedem erstattet sie es in ihrer bemutternden Liebe reich-
lich zurück; ein jeder ist ein kostbares und unersetzliches, ein
trotz aller andern stets einziges Kind. So hängt durch sie das
Leben des Einzelnen unmittelbar am Leben aller Welt. Das
VOM REICH
353
Band, das ihn, wie die Mutter Kirche selbst, mit dem Schick-
sal der Welt verknüpft, ist die Liebe. In der Liebe des Mis-
sionars zu denen, die noch im Finstern sitzen, geschieht das
Hinausrücken der äußeren Grenzen, die Erweiterung des
äußeren, sichtbaren Baus; im sichtbaren Opfer des frommen
Werks, in der sichtbaren Spende der leiblichen wie der geist-
lichen Wohltat ist es auch im Innern der Kirche die Liebe, die
den Menschen mit ihr und dadurch mit dem Ganzen verbindet.
So schafft die petrinische Kirche einen sichtbaren Leib, sich
selber zunächst und den Menschen, die ihre Glieder sind und
sofern sie ihre Glieder sind; doch weiterhin auch der Welt
draußen, die sie stufenweise durchgestaltet und durchwaltet,
in der Einheit des Kaisertums über den Königtümern der Na-
tionen; im Bau der Stände und Berufe über den Einzelnen
gliedert sie schließlich auch den Menschen, sofern er noch
draußen ist und draußen bleibt, sich an und damit doch eben-
falls sich ein. Scheint da nicht die Bedingung der Möglichkeit
christlichen Lebens erfüllt? Was bedarf es noch weiter? In
allem, was er tun mag, ist der Mensch eingefügt in das Ganze
der Welt, das Schicksal seiner Tat mit dem Schicksal aller
Welt unlöslich verknotet. Das Schicksal seiner Tat wohl, nicht
aber das Schicksal seines Gedankens.
Denn die römische Kirche hatte zwar die leibliche Welt
der lebendigen Völker durchdringen und sich im Kampf gegen
das andrängende Heidentum des Halbmonds in siegreichem
Gegenangriff behaupten können; hier schuf sie sich wirklich
ihre eigene, ihre neue Welt. Aber gegen das innere, genauer
das erinnerte Heidentum, den heidnischen Gedanken in der
Gestalt der Erinnerung, war sie auf die Verteidigung be-
schränkt geblieben. Nur in den ersten Anfängen, bis zum Aus-
gang der Patristik, also genau so lange als der heidnische Ge-
danke noch nicht bloße Erinnerung war, sondern noch leben-
dige Äußerung, hatte sie ihn angriffsweise überwältigt. Aber
so sieghaft kühn wie Augustin wagt kein Scholastiker des
Mittelalters mit der Weisheit der Hellenen umzuspringen. Mit
heidnischen Philosophen zu kämpfen war die Liebe kräftig;
23
m
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
gegen heidnische Philosophie war ihre Waffe stumpf. Die
Schließung der Philosophenschulen in Athen durch die christ-
lich gewordene Obrigkeit bezeichnet das Ende der kirchlichen
Antike und den Beginn des kirchlichen Mittelalters, oder an-
ders gesagt: das Ende der Patristik und den Beginn der Scho-
lastik. Denn von da an ist die heidnische Antike für die Kirche
ein gespenstisch ungreifbarer und doch höchst farbig sicht-
barer, gewissermaßen wandgemäldehafter Gegner geworden,
den siegreich zu bekämpfen die Kraft der Tat — und das ist
die Kraft der Liebe — nicht ausreicht. Wie könnte wohl ein
Bild durch Liebe bekehrt werden! es hat ja kein Leben. Soll
es bekehrt werden, so muß es zuvor von ganz eingenom-
menem Auge aufgenommen, von ganz fassungsloser Seele er-
faßt werden; erst die so zur Ketzerin gewordene Seele — sie
kann alsdann sich zum Glauben bekehren. Die mittelalterliche
Scholastik hatte vor dem Bild an der Wand einen Vorhang
zum Auf- und Zuziehen angebracht; denn nichts andres war
jener bedenklichste — grade im christlichen Sinne bedenk-
lichste, weil missionshemmende — Gedanke einer zwiefachen
Wahrheit, einer Wahrheit der Vernunft gegenüber der Wahr-
heit des Glaubens. Erst als die gemalten Gestalten von der
Wand herniederstiegen und sich als lebendige Erinnerungen
des Heidentums unter das christliche Volk mischten, erst da
wuchsen der Kirche wieder die Kräfte der Liebe gegen sie.
Aber weil diese Neuheiden doch nur Neu=Heiden waren,
Heiden in einer schon christlichen Welt, erinnerte Heiden also
in einem schon christlichen Außen, heidnische Seelen in einem
christianisierten Weltleib, so mußte die Kraft, die sie zu be-
kehren sich unterwand, eine Kraft sein, die nicht mehr, wie die
Liebe, aus der Seele allein in ein leibliches Außen wirkte; es
mußte eine Kraft sein, die in der Seele selbst an der Seele tätig
war. Eine innere Tätigkeit also der Seele an sich selber, eine
Selbstbekehrung des Menschen, die von der Welt ab=sah, um
dafür die Seele und allein die Seele, die einsame Seele, die
Seele des Einzelnen zu gewinnen ohne alle Welt.
VOM REICH
M
Diese Kraft überkam die Welt in der als Kirche grundsätz-
lich unsichtbaren, nur als Zeit, als weltgeschichtliche Epoche,
als Säkulum, sichtbaren Gestalt der paulinischen Jahrhunderte.
Das sind die Jahrhunderte, wo die von der petrinischen Kirche
begründete Welteinheit aller Enden zu zerbrechen schien, wo
überall die heidnischen Gestalten wieder lebendig wurden, wo
' die Nationen die Christenheit, die Staaten das Reich, die Indi-
viduen den Stand, die Persönlichkeiten den Beruf zu sprengen
versuchten. Der christliche Weltleib schien in diesen drei, ja
mit den Auswirkungen vier Jahrhunderten sich wieder zu zer-
setzen; es war der Preis, um den die Christianisierung der
Seele, die nachträgliche Bekehrung des nie ganz gestorbenen,
nun wiedererweckten heidnischen Geistes gelang. Als die Zeit
um war, da gab es keine zwiefache Wahrheit mehr; dem
Glauben war gelungen, woran die Liebe versagen mußte: die
Taufe der weltlosen, unsichtbaren, sich erinnernden Seele.
Ihre ganze Erinnerung, ihren ganzen Imhalt brachte jetzt die
Seele wie in der petrinischen Kirche ihre ganze Gegenwärtig-
keit, die ganze Urmwelt ihres Tuns, Gott zum unsichtbaren
Opfer und empfing es in der unsichtbaren Spende des Glau-
bens von ihm zurück. So war auch die Seele nun aus allen
Zäunen und Mauern befreit und lebte im Unbedingten.
Aber es war der »Glaube allein«, der sie in dieses Leben
geführt hatte. Es war die Seele allein, die es lebte. Wie die
petrinische Kirche die schwache Stelle ihres allzuleibhaftigen
Wesens verraten hatte in dem bösen Gedanken der zwiefachen
Wahrheit, so machte die deutsche idealistische Bewegung am
Ausgang der drei Jahrhunderte die Schwäche des allzusehr
bloß seelenhaften, besser: bloß geistigen Wesens des Glaubens
offen kund. Der Geist meinte so sehr »allein« zu sein, daß er
wirklich aus sich allein alles und alles aus sich allein erzeugen
könnte. Der Glaube hatte eben doch über dem Geiste den
Leib vergessen. Die Welt war ihm entglitten. Er hatte die
Lehre von der zwiefachen Wahrheit freilich abgetan. Aber
dafür handelte er in einer zwiefachen Wirklichkeit, nämlich der
rein inneren des Glaubens und der rein äußeren einer mehr und
356
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
mehr verweltlichten Welt; je größer die Spannung zwischen
beiden, um so wohler fühlte sich dieser Protestantismus, der
am Ende diesen wechselseitigen Protest des Glaubens gegen
die Welt, der Welt gegen den Glauben zu seinem Hauptstück
erhub. Mit andern Worten: die neue Kirche verzichtete auf
die Tat, die recht eigentlich die höchste Tat der alten gewesen
war und es grade jetzt im Gegensatz zu der neuen wieder
wurde: auf die Mission. Als zum ersten Mal von einer im
Luthertum gewachsenen Richtung das Werk der Heidenbekeh-
rung aufgenommen wurde, da war es das Zeichen, daß hier, im
Pietismus, etwas Neues heraufzog. Die Sterbestunde des alten
Protestantismus war eingeläutet.
Leib und Seele waren noch geschieden; jedes blieb dem
andern etwas schuldig, der Seele der Leib ihre Wahrheit, dem
Leib die Seele seine Wirklichkeit. Der ganze Mensch war
beides und mehr als beides. Und solange nicht der ganze
Mensch, sondern immer nur ein Teil von ihm bekehrt war, so
lange war die Christenheit noch in der Vorbereitung, noch
nicht am Werk selber. Der Mensch ist Mikrokosmos; was
innen ist, ist außen. Über Leib und Seele wölbt sich, höher als
beide, von beiden getragen, das Leben. Das Leben nicht als
Leben des Leibes oder der Seele, sondern als etwas für sich,
das Leib und Seele in sich, in sein Schicksal hineinreißt. Das
Leben ist der Lebenslauf. Das eigentliche Wesen des Menschen
ist weder in seinem leiblichen noch in seinem geistigen Sein,
es vollendet sich erst im ganzen Ablauf seines Lebens. Es ist
überhaupt nicht, es wird. Das Eigenste des Menschen ist eben
sein Schicksal. Leib wie Seele hat er noch irgendwie mit
andern gemein; sein Schicksal hat er für sich selber. Das
eigene Schicksal ist zugleich Leib und Seele, es ist das, was
man »am eigenen Leibe — erfährt«. Zugleich, indem es den
Menschen in sich selber eins macht, einigt es ihn doch auch
mit der Welt. Er hat es nicht mit der Welt gemein, wie doch
sein Leib Teil der geschaffenen Welt, seine Seele Miterbin
der göttlichen Offenbarung ist; aber er hat es ganz in der
Welt; er ist in der Welt, indem er es hat. Er wächst in die
VOM REICH
m.
Welt ein, indem er in sich selber wächst. Der einzelne Lebens-
tag bekommt Sinn, indem er eingefügt wird in den ganzen
Gang des eigenen Lebens. Das Heute vollendet sich zu einem
Morgen und Übermorgen, das doch ebensogut schon heute
sein kann; das Leben kann ja jeden Augenblick enden, aber als
eigenes Schicksal vollendet es sich im Augenblick des von
außen gesehen zufälligen Endes und ist vollbracht. Wäre
dies Verhältnis des Teils zum Ganzen bloß innerhalb des
Lebens zwischen der einzelnen Stunde und dem Lebenslauf, so
wäre dies Leben noch nichts andres als das Selbst des heid-
nischen Menschen. Aber diese innere Verknüpfung ist die
gleiche, die auch das menschliche Leben als Ganzes dem
Ganzen des weltlichen Lebens verknüpft, es ist eben Schick-
sal. Lind indem es als Schicksal empfunden wird, indem das
eigene Schicksal als etwas erkannt wird, das man nicht bloß
erfährt, sondern zu dem man beten kann, ist schon das Neue
da, was über die gegenseitige Verschuldetheit von Nurleib und
Nurseele hinausliegt. Und damit hat eine neue, die volLendende
Zeit des Christentums begonnen.
Es ist diesmal nicht wie bei den beiden vorbereitenden
Zeiten, wo der Heide dem Christentum in Person gegenüber-
steht, der leiblich äußerliche zuerst, nachher der geistig
erinnerte Heide, sondern Bekehrer und Bekehrter sind hier ein
und derselbe Mensch. Goethe ist wirklich in einem zugleich
der große Heide und der große Christ. Er ist das eine, indem
er das andre ist. Im Gebet zum eigenen Schicksal ist zugleich
der Mensch ganz und gar in seinem Selbst eingewohnt und
grade darum auch ganz in der Welt zuhause. Dies Gebet des
Unglaubens, das doch zugleich ein ganz gläubiges, nämlich ge-
schöpflich=gläubiges Gebet ist, betet hinfort jeder Christ, wenn
auch zum Unterschied von Goethe nicht als einziges Gebet.
Und dieses Gebet beten hinfort auch die Völker und alle welt-
lichen Ordnungen der Christenheit. Sie alle wissen nun, daß
ihr Leben Eigenleben sein muß und grade als solches eingefügt
ist in den Gang der Welt; sie alle finden die Rechtfertigung
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
ihres Daseins in der Lebendigkeit ihres Schicksals. Es gibt nun
erst christliche Völker, während es in der paulinischen Epoche
weltliche Obrigkeiten, in der petrinischen die dem einen heb
ligen Reich untergetanen Nationen gab. Staaten wie Stämme
bedurften einer Ergänzung ihres Lebens, die einen am Glauben
des Einzelnen und der Verwaltung des Worts, die andern am
Reich und der sichtbaren Kirche; so allein hatten sie tragfähiger
Boden für den Samen des Christentums sein können. Nun erst
haben die Völker in sich selbst ganze sich vollendende Leben-
digkeit; seit jedes Volk weiß und glaubt, es habe »seinen Tag
in der Geschichte«; und bedürfen sie darüber hinaus noch einer
irdischen Vollendung, so gibt sie ihnen der gleichfalls rein welt-
liche, ja allzuweltliche Begriff der Gesellschaft.
Und wie nun das Leben in sich selber, nein in seiner eigenen
Unvollendetheit, eben in seinem Wachstum bleibt, indem es
sich vollendet, so ist jetzt auch sein Opfer und was ihm dafür
gespendet wird, nicht mehr zweierlei. Der äußere Heide
opferte seinen Leib und empfing dafür die Liebe; der erinnerte
Heide opferte seinen Geist und empfing dafür den Glauben.
Der lebendige Heide aber, der große Heide opfert sein Leben
und empfängt dafür nichts anderes als dies: es opfern zu dürfen
und zu können. Sein Leben aber opfern dürfen und können,
das ist von Gott aus gesehen die Gabe des Vertrauens. Wer
vertraut und hofft, für den gibt es kein Opfer, das ihm ein
Opfer wäre; es ist ihm ganz natürlich zu opfern, er weiß es gar
nicht anders. Die Liebe war sehr weiblich, der Glaube sehr
männlich, erst die Hoffnung ist immer kindlich; erst in ihr be-
ginnt sich das »Werdet wie die Kinder« in der Christenheit zu
erfüllen. Und so ist Goethe »immer kindlich«. Er traut seinem
Schicksal. Er hofft auf seine eigene Zukunft. Er kann sich
nicht vorstellen, daß es ihm »die Götter« nicht gewähren
würden, das Werk seiner Hände zu vollenden. Er hofft, wie
Augustin liebt, wie Luther glaubt. Und so tritt die ganze
Welt unter dies neue Zeichen. Die Hoffnung wird nun die
größeste. In die Hoffnung fügen sich die alten Kräfte, fügen
sich Glaube und Liebe ein. Vom Kindersinn der Hoffnung her
VOM REICH
359
kriegen sie neue Kraft, daß sie wieder jung werden wie die
Adler. Es ist wie ein neuer Weltmorgen, Wie ein großes Von-
vornanfangen, so als ob vorher noch nichts gewesen wäre.
Der Glaube, der sich in der Liebe bewährt, die Liebe, die den
Glauben in ihrem Schoße trägt, sie werden nun beide auf den
Fittichen der Hoffnung emporgetragen. Über tausend tausend
Jahre hofft nun der Glaube, sich in der Liebe bewährt, die
Liebe, den wahren Glauben ans ein und allgemeine Licht der
Welt gebracht zu haben. Der Mensch spricht: Ich hoffe zu
glauben.
Die Hoffnung wird dem Menschen nur geschenkt, wenn er
sie hat; während die Liebe grade dem harten Herz, der
Glaube dem Ketzer geschenkt wird, schenkt Gott die Hoffnung
nur dem, der hofft. Deswegen stiftet die Hoffnung keine neue
Kirche. Denn hier tritt ja kein neuer Heide auf, sondern nur
der lebendige, der die kleinen Heidentümer des Leibes und der
Seele sich zum großen Heidentum des Lebens vereint; und
schon diese Vereinigung, das bloße Auftreten des Heiden also,
bedeutet seihe Bekehrung. Die johanneische Vollendung hat
keine eigene Form; sie ist eben selber kein Stück mehr, son-
dern nur noch Vollendung des bisher Stückwerklichen. So wird
sie in den alten Gestalten leben müssen. Es ist ja in dieser
Zeit eine dritte christliche Kirche mit ihren Völkern in den
Kreis der Christenheit eingetreten, uralt wie jene beiden —
denn sie sind nur scheinbar nacheinander, in Wahrheit alle
gleich alt —, die östliche. Aber nicht als eine neue Kirche ist
sie für die Christenheit lebendig geworden, sondern den alten
Kirchen ist aus dem Rußland Aljoscha Karamasows eine
Erneuerung der Kräfte des Glaubens und der Liebe gekommen,
und als Nährboden einer unendlichen Kraft der Hoffnung hat
Rußlands Kirche sich nur dem eigenen Volk erwiesen, und auch
dem doch erst, als es aus ihrem Dämmerraum heraustrat. Und
auch das andre große kirchengeschichtliche Ereignis neben der
Einreihung der Russen in den christlichen Kreis, die Befreiung
und Aufnahme der Juden in die christliche Welt, wirkt sich
gleichfalls nicht in einer neuen kirchlichen Bildung aus, sondern
36o DRITTER TEIL: EINLEITUNG
wieder nur in einer Neubelebung der alten Kirchen, und hier
allerdings, aus dem ewigen, von Haus aus gotteskindlichen Volk
der Hoffnung, strömt unmittelbar die Grundkraft der neuen
vollendeten Welt, die Hoffnung, den in Liebe und Glaube mehr
als in der Hoffnung geübten christlichen Völkern zu, und weil
diesmal, statt daß der Christ einen Heiden bekehren müßte,
der Christ unmittelbar sich selber, den Heiden in sich, bekehren
muß, so ist es in dieser beginnenden Erfüllung der Zeiten wohl
der in die christliche Welt aufgenommene Jude, der den Heiden
im Christen bekehren muß. Denn nur im jüdischen Blute lebt
blutmäßig die Hoffnung, deren die Liebe wohl gern vergißt,
der Glaube entbehren zu können meint. Aber auch solche Be-
kehrung geschieht innerhalb der alten Kirchen. Die Johannes-
kirche selbst nimmt keine eigene sichtbare Gestalt an. Sie
wird nicht gebaut; sie kann nur wachsen. Wo gleichwohl ver-
sucht wird, sie zu bauen, wie in der Freimaurerei und allem was
dieser verwandt ist, da ist den lebendig in ihr fortwirkenden
Kräften des Glaubens und der Liebe der Eintritt versperrt, die
nur vor den Altären und Kanzeln der alten Kirchen ihr tagtäg-
liches Brot des Lebens finden; nur die Hoffnung, die sich von sich
selber nähren kann, darf in den freigemauerten Neubau, der in
einer bedeutsamen Verwechslung nicht dem Apostel Johannes,
sondern seinem vorchristlichen Namensvetter geweiht wurde,
hinein; aber ohne andern Inhalt als sich selber verblaßt sie zur
grenzenlosen leeren Selbstbespiegelung eines öde kraftlosen
»Ich hoffe — immerfort weiter zu hoffen« und fällt, auch wenn
sie die Wahrheit in Gottes Rechten weiß, demütig in seine
Linke.
In dieser gestaltlosen, notwendig unverfaßten und deshalb
der verfaßten Kirchen stets bedürftigen Johanneskirche ist
Goethe der erste ihrer Väter, obwohl er doch für einen Heiden
gelten mußte — und es auch war. In seinem Gebet zum eigenen
Schicksal, das nun alle Welt ihm nachbetet, vollendet sich die
Belebung des Toten, welche die unerläßliche Vorbedingung
seines Ewigwerdens ist. In den Gebeten des Leibes um Liebe
— Gott sei mir Sünder gnädig —, der Seele um Glauben
VOM REICH
361
— wie kriege ich einen gnädigen Gott — sind die Teile des
Teils, die in ihrer Zusammensetzung ihn zum Unteilbaren
machen, jeder für sich lebendig geworden. Im Gebet des so
»Individuum«, nämlich Ganzes aus Leib und Seele, gewordenen
Menschen um das, was er schon besitzt, das eigene Schicksal,
wird nun auch dieses ganze Einzelne als solches belebt; es
bettet sich ein in Alles und hört dabei doch nicht auf, Einzelnes
zu sein. Wo dies Gebet gesprochen wird, da ist jene Lebendig-
keit des geschöpflichen Lebens angebrochen, die dies Leben
unmittelbar reif macht für den Einbruch des ewigen göttlichen
Lebens.
Denn indem jenes Gebet gesprochen wird, macht es ein
Stück Leben reif zur Ewigkeit. Es macht es nicht selbst schon
ewig, es macht es nur lebendig; insbesondere Goethe ist ein
Heide geblieben sein Leben lang, und daß er es geblieben ist,
bezeichnet seine weltgeschichtlicheScheidestellung, die er selbst
unbefangen in jenem Wort ausspricht, von dem wir her-
kommen. Dies ists, was ihm keiner nachmachen kann ohne
den Hals zu brechen. Goethes Leben ist wirklich eine Kamm-
wanderung zwischen zwei Abgründen; er hat es fertig ge-
bracht, keinen Augenblick seines Lebens den Boden der wohl-
gegründeten dauernden Erde unter seinen Füßen zu verlieren.
Jeder andre, den nicht die Arme der göttlichen Liebe
ergriffen und ihn den Flug ins Ewige tun ließen, würde mit
Notwendigkeit in einen der beiden Abgründe stürzen, die zu
beiden Seiten des Grates gähnen, zu dem doch jeder fortan um
der Lebendigkeit des Lebens willen hinansteigen muß. Die
Frömmigkeit des Gebets zum eigenen Schicksal grenzt unmit-
telbar an das Gebet des Sünders, der sich alles zu beten erlaubt
wähnt, und des Schwärmers, der um des fernen Einen, was ihm
der Augenblick des Gebets als notwendig zeigt, alles außer
diesem Einen, alles Nächste, sich verboten meint. In keinen
dieser beiden Abgründe ist Goethe ausgeglitten; er kam durch
— »machs einer nach!« Ein Bildtäfelchen ist auf dem Kamme
errichtet; es schildert an Zarathustras Nieder- und Untergang,
wie man ein alle alten Tafeln zerschlagender Immoralist und
3Ö2
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
ein den Nächsten wie sich selbst um des Übernächsten willen,
seinen Freund um die neuen Freunde vergewaltigender Tyrann
— Sünder und Schwärmer in einer Person — werden kann.
Das Täfelchen verwarnt fortan jeden Wanderer, der den
Kamrn erstiegen hat, den Goetheweg nach Goethe noch ein
zweites Mal gleich ihm allein in hoffnungsvollem Vertrauen zum
Schritt der eigenen Füße, ohne die Flügel des Glaubens und der
Liebe, ein reiner Sohn dieser Erde, schreiten zu wollen.
Vor solchem Ausgleiten in die zwiefache Verfälschung der
Zeit, die im Zuspät des Sünders und die im Zufrüh des
Schwärmers, kann das Goethesche Gebet, das Gebet des Un-
gläubigen, sich nicht selber schützen. Es erfaßt zwar den
genauen Augenblick der richtigen Zeit, der angenehmen, der
Gnadenzeit. Und erst seit es gebetet wird, beginnt die Zeit
sich wirklich zu erfüllen. Erst seitdem kommt das Reich
Gottes wirklich in ihr. Es ist ja kein Zufall, daß nun zum ersten
Mal ernsthaft begonnen wurde, die Forderungen des Gottes-
reichs zu Zeitforderungen zu machen. Erst seitdem wurden
alle jene großen Befreiungswerke unternommen, die, so wenig
sie an sich schon das Reich Gottes ausmachen, doch die not-
wendigen Vorbedingungen seines Kommens sind. Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit wurden aus Herzwvorten des Glau-
bens zu Schlag=worten der Zeit und mit Blut und Tränen, mit
Haß und eifervoller Leidenschaft in die träge Welt hinein-
gekämpft in ungeendeten Kämpfen.
Solange die alte Petruskirche allein war, wuchs bloß der
Raum — »hin in alle Welt«. Nur am Wachstum des Raums
war der Zeigerstand der Zeit abzulesen. So wie Dante, als er
im Paradies in der Versammlung der Heiligen nur noch wenige
Sitze leer fand, daraus schließen zu dürfen glaubte, daß das
Ende der Welt nun nahe sei, und gar nicht daran dachte, daß
vielleicht das Einnehmen dieser wenigen Sitze länger dauern
könnte als das der vielen bisher, so war die Kirche gewöhnt,
das Wachstum des Reichs gewissermaßen an der Missions-
landkarte abzulesen. Gegen solche Verbreitung der Zeit ins
Räumliche stellte die paulinische Epoche die Versenkung der
VOM REICH
363
Zeit in sich selber dar; sie blieb nun gewissermaßen stehen, in
jedem Menschen, der glaubte. Wie denn wirklich die Paulus-
kirche die räumliche Ausbreitung des Glaubens, an der die
Zeit — denn ohne Zifferblatt keine Uhr — allein abgelesen
werden konnte, einfach vergaß. Erst die johanneische Welt
schuf im Gebet an das Schicksal wirklich eine lebendige Zeit,
einen in sich selber fließenden Strom, der den einzelnen Augen-
blick, statt in ihm weggeschlürft zu werden, vielmehr auf
seinem Rücken ozeanwärts trägt und die Breite des Raums,
statt in ihr auseinanderziriaufen und zu versickern, vielmehr in
tausend Verzweigungen durchströmt und bewässert.
In diesem Fluß der lebendigen Zeit ist die Zeitlichkeit des
Lebens vollendet. Ginge das Leben ganz in dieser seiner Zeit-
lichkeit auf, wäre also das Gebet an das Schicksal sein höchstes
und ganzes Gebet, so würde das Kommen des Reichs durch
dieses Gebet, das ja stets den richtigen Augenblick trifft und
also stets der Erfüllung gewiß sein kann, nicht bloß weder be-
schleunigt noch verzögert, sondern — wohlgemerkt: wenn es
möglich wäre, jenes Gebet als einziges zu beten — gradezu
stillgelegt. Von dem kurzen unnachahmlichen Augenblick aus,
wo es so scheinen konnte, als ob wirklich hier dies geschöpf-
liche Gebet für sich allein gebetet werden dürfte, von dem
Leben Goethes, diesem seligsten Menschenleben her gesehen,
scheint ja wirklich die Zeit stillzustehen, und aus der Stadt
Gottes dringt wie aus einem versunkenen Vineta nur ein leises
Nachhallen verklungener Glocken an die Oberfläche des Lebens.
Aber Zeitlichkeit ist nicht Ewigkeit. Das rein zeitlich lebendige
Leben Goethes, des lebendigsten der Menschenkinder, war
schon in der reinen Zeitlichkeit nur ein einziger, nur mit
Lebensgefahr nachzumachender Augenblick. Das Zeitliche
braucht den Halt des Ewigen. Aber freilich: ehe nicht das
Leben ganz zeitlich oder, anders gesagt, die Zeit ganz lebendig,
ganz wirklicher, durch den weiten Raum hindurch über die
Klippe des Augenblicks hinweg strömender Strom geworden
ist,'eher kann die Ewigkeit nicht über sie kommen. Das Leben,
und alles Leben, muß ganz zeitlich, ganz lebendig geworden
364
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
sein, ehe es ewiges Leben werden kann. Zur genauen Zeit-
lichkeit des reinen Lebens, das immer genau an der rechten
Stelle der Zeit ist, immer grade recht kommt, nicht zu früh
und nicht zu spät, muß eine beschleunigende Kraft hinzutreten.
Die Ewigkeit muß nämlich beschleunigt werden, sie muß
stets »heute« schon kommen können; nur dadurch ist sie Ewig-
keit. Wenn es keine solche Kraft, kein solches Gebet gibt,
v/elches das Kommen des Reichs beschleunigen kann, so
kommt es nicht in Ewigkeit, sondern — in Ewigkeit nicht.
Welches Gebet also beschleunigt das Kommen des Reichs in
Wahrheit und nicht etwa bloß im ohnmächtigen und tyrannisch
gewaltsam doch nur das Gegenteil des eigenen Wunsches be-
wirkenden Gebet des Schwärmers? Wie, wo und wann wird
das Gebet dessen gebetet, auf das zwar die Götter stumm
bleiben mögen, dem aber Gott Antwort geben muß: das Gebet
dessen, der die Andacht des Ungläubigen vor dem reinen Leben
ergänzt zur Bitte um das ewige Leben, — das Gebet des
Gläubigen?
Diese positive Beschleunigung kann nun nach allem, was
wir jetzt wissen, nur auf eine Weise geschehen: es muß das
Reich vorweggenommen werden und zwar nicht bloß in der
persönlichen Erleuchtung, in der die Ewigkeit zwar sichtbar
wird, aber nicht greifbar nah kommt; nah, nächst, als Nächstes
wurde in der Erleuchtung des Schwärmers beschienen- irgend
eine Station auf seinem persönlichen Wege zum Ewigen, und
indem er seine ganzen magischen Liebeskräfte an die Er-
reichung dieses scheinbar Nächsten, in Wahrheit Übernächsten
setzte, vergeudete er seine Kräfte ins Leere und wurde aus
einem gewaltigen Beschleuniger ein Verzögerer der Zukunft.
Solcher persönlichen Tyrannisierung des Himmelreichs setzt
sich unmittelbar entgegen das, was wir hier suchen. Das
Gebet des Gläubigen darf unmöglich bloß im guten Willen
stecken bleiben. Wie es Ergänzung ist zu dem von ihm schon
vorausgesetzten Gebet des Ungläubigen, das stets zu seiner
Zeit, weil stets zur angenehmen Zeit des Schöpfers kommt,
VOM REICH
365
und wie es wirksam ist nur als solche Ergänzung, so ist, daß
es weder zu früh noch zu spät komme, das mindeste, was von
ihm verlangt werden muß.
Aber es ist mehr von ihm zu verlangen, nämlich daß es
wirklich erreiche, was das Gebet des Ungläubigen nicht er-
reichen will und das des Schwärmers nicht erreichen kann:
die Zukunft zu beschleunigen, die Ewigkeit zum Nächsten, zum
Heute zu machen. Solche Vorwegnahme der Zukunft in den
Augenblick müßte eine richtige Umschaffung der Ewigkeit in
ein Heute sein. Wie sähe ein solches Heute aus? Vor allem
dürfte es wohl nicht vergehen; denn wenn wir sonst nichts von
Ewigkeit wissen, dies ist sicher: daß sie das Unvergängliche
ist. Dieser Bestimmung durch ein unendliches Nun muß also
das zur Ewigkeit geschaffene Heute zuvörderst entsprechen.
Ein unvergängliches Heute — aber ist es nicht wie jeder Augen-
blick pfeilschnell verflogen? und soll nun unvergänglich sein?
Da bleibt nur ein Ausweg: der Augenblick, den wir suchen,
muß, indem er verflogen ist, im gleichen Augenblick schon
wieder beginnen, im Versinken muß er schon wieder anheben;
sein Vergehen muß zugleich ein Wiederangehen sein.
Dazu genügt es nicht, daß er immer neu kommt. Er darf
nicht neu kommen, er muß wiederkommen. Es muß wirklich
der gleiche Augenblick sein. Die bloße Unerschöpflichkeit des
Gebarens ändert nichts an der Vergänglichkeit der Welt, ja
mehrt sie noch. So muß dieser Augenblick mehr zu seinem
Inhalt haben als den bloßen Augenblick. Der Augenblick zeigt
•dem Auge, so oft es sich öffnet, immer Neues. Das Neue, das
wir suchen, muß ein Nunc stans sein, kein verfliegender also,
sondern ein »stehender« Augenblick. Ein solches stehendes
Jetzt heißt man zum Unterschied vom Augenblick: Stunde. Die
Stunde, weil sie stehend ist, kann in sich selber schon die Viel-
fältigkeit des Alten und Neuen, den Reichtum der Augenblicke
haben; ihr Ende kann wieder in ihren Anfang münden, weil sie
eine Mitte, nein viele Augenblicke der Mitte zwischen ihrem
Anfang und ihrem Ende hat. Mit Anfang, Mitte und Ende kann
sie werden, was die bloße Abfolge einzelner immer neuer
366
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
Augenblicke nie werden kann: ein in sich zurücklaufender
Kreis. Nun kann sie 'in sich selber reich an Augenblicken und
doch immer wieder sich selber gleich sein. Indem eine Stunde
herum ist, beginnt nicht bloß »eine neue« Stunde, wie ein neuer
Augenblick den alten ablöst, sondern es beginnt »wieder eine«
Stunde. Dies Wiederbeginnen aber wäre der Stunde nicht
möglich, wenn sie bloß eine Folge von Augenblicken wäre,
wie sie es in ihrer Mitte ja wirklich ist, sondern nur weil sie
Anfang und Ende hat. Nur der Glockenschlag, nicht das Ticken
des Pendels stiftet die Stunde. Denn die Stunde ist ganz
menschliche Stiftung. Die Schöpfung weiß nichts von ihr; erst
in der Welt der Erlösung beginnen Glocken sie zu schlagen.
Erst da beginnt sich auch das Wort für Stunde von den Worten
für Zeit, Zeitabschnitt loszulösen, mit denen es vorher eins
war.
In der Stunde also wird ein Augenblick zum stets, wenn er
vergehen sollte, wieder neu Angehenden und also Unvergäng-
lichen, zum Nunc stans, zur Ewigkeit umgeschaffen. Und nach
dem Bild der selbstgestifteten Stunde, in welcher der Mensch
sich von der Vergänglichkeit des Augenblicks erlöst, schafft
er nun die Zeiten um, welche die Schöpfung seinem Leben
gesetzt hat. Auch Tag und Jahr, auch Woche und Monat
werden nun aus Sonnen- und Mondzeiten zu Stunden des
menschlichen Lebens. Auch sie erhalten nun ihren Anfang und
ihr Ende, und ein Ende, das unmittelbar wieder zum Anfang
wird. Nicht die Kreise, welche die beiden Lichter, das große
und das kleine, am Himmel beschreiben, machen sie zu Zeit-
weisern für den Menschen; der Kreis allein ohne den festen
Punkt des Anfangs und Endes wäre noch nichts als die bloße
Folge der Augenblicke; erst durch die Festlegung jenes
Punktes, das Fest, wird die Wiederholung, die im Durchlaufen
der Kreisbahn geschieht, wahrnehmbar. Nicht der himmlische
Kreislauf, sondern die irdische Wiederholung macht diese
Zeiten zu Stunden, zu Bürgen der Ewigkeit in der Zeit. Was
Gott dem Vater des neuen Menschengeschlechts versprach, als
er den ersten und allgemeinsten Grund seines Bundes mit
VOM REICH
3£7
dieser Menschheit legte, — es solle nicht aufhören der Wechsel
von Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter,
Tag und Nacht —, das erst, die immer neue Wiederholung,
macht die Himmelszeiten zu »Stunden«: die kleinste, die wir
am Himmel ablesen können, durch Wachen und Schlafen, die
größte durch Saat und Ernte. Denn die noch größeren Zeiten
als das Jahr der Sonne sind keine Zeiten mehr, die den immer
wiederholten Wechsel der Erdarbeit und des menschlichen
Lebens fühlbar bestimmen. Im täglich und jährlich immer
wiederholten Dienst der Erde spürt der Mensch in der Ge-
meinschaft der Menschen seine irdische Ewigkeit; in der Ge-
meinschaft — nicht als Einzelner; als Einzelner spürt er sie
stärker in dem Wechsel der Alter und im Kreislauf von Gat-
tung und Geburt.
Zwischen Tag und Jahr ist die Woche gesetzt, am Himmel
begründet durch den Lauf des Mondes, doch längst von ihm
gelöst, selbst dort wo der Wechsel des Monds noch die Mes-
sung der Zeiten bestimmt, und so zu einer eigenen rein mensch-
lichen Zeit geworden. Und rein menschlich, ohne Grund in der
Schöpfungswelt, wie er beim Tag im Wechsel von Wachen
und Schlafen, beim Jahr im Wechsel von Saat und Ernte vor*
lag, von der Schrift deshalb nur als Gleichnis des Werks der
Schöpfung selber erklärt, ist der Wechsel, der dem Menschen
die Woche zum nunc stans macht, gesetzt als Wechsel von
Werk- und Ruhetag, Arbeit und Beschaulichkeit. So ist die
Woche mit ihrem Ruhetag das rechte Zeichen der menschlichen
Freiheit, für welches sie denn auch die Schrift erklärt, da-wo
sie nicht den Grund, sondern den Zweck sagt. Sie ist die
wahre »Stunde« unter den Zeiten des gemeinsamen mensch-
lichen Lebens, für den Menschen allein gesetzt, freigeworden
vom Weltlauf der Erde und doch ganz und gar Gesetz für die
Erde und die wechselnden Zeiten ihres Dienstes. Den Dienst
der Erde, die Arbeit der »Kultur« soll sie rhythmisch regeln
und so im kleinen, in der immer wiederholten Gegenwart, das
Ewige, darin Anfang und Ende Zusammenkommen, im Heute
das Unvergängliche abbilden. In ihr als dem vom Menschen
368
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
und für den Menschen frei gesetzten Gesetz der Kultur der
Erde ist das Ewige bloß abgebildet, bloß als irdische Ewigkeit.
Aber nicht umsonst ist das Wort für Kultur und Kult, Erd-
dienst und Gottesdienst, Bau des Ackers und Bau des Reichs
in der heiligen Sprache ein und dasselbe. Die Woche ist mehr,
als was sie als menschgesetztes Gesetz der Kultur ist:
irdisches Gleichnis des Ewigen; als gottgesetztes Gesetz des
Kults zieht sie das Ewige nicht bloß gleichnishaft, sondern in
Wirklichkeit hinein ins Heute. Sie kann Keimzelle des Kults
sein, weil sie die erste reife Frucht der Kultur ist. Weil sie
die rein menschlichdrdische Befestigung des flüchtigen Augen-
blicks ist, deshalb geht von ihr alle göttlich=überirdische Ver-
ewigung des Augenblicks aus. Von ihr aus werden dann auch
der Tag, auch das Jahr Menschenstunden, zeitliche Behau-
sungen, in die das Ewige eingeladen wird. In der alltäglich»
allwöchentlich-alljährlichen Wiederholung der Kreise des kul-
tischen Gebets macht der Glaube den Augenblick zur »Stunde«,
die Zeit aufnahmebereit für die Ewigkeit; und diese, indem sie
Aufnahme in der Zeit findet, wird selber — wie Zeit.
Wie aber wohnt denn im Gebet diese Kraft, zu erzwingen,
daß die Ewigkeit der Einladung Folge leistet? Ist denn der
Kult mehr als bloß ein Zurüsten der Speisen und Getränke, ein
Decken des Tischs, ein Aussenden des Boten, der den Gast
bitten soll? Wohl verstehen wir, daß die Ewigkeit im Kult
Zeit werden kann, aber daß sie es werden muß, daß sie mit
magischer Gewalt genötigt ist, es zu werden — wie sollen wir
das-verstehen? Auch der Kult scheint nur das Haus zu bauen,
worin Gott Wohnung nehmen mag, aber kann er den hohen
Gast wirklich nötigen, einzuziehen? Ja, er kanns. Denn die
Zeit, die er bereitet zum Besuch der Ewigkeit, ist nicht die
Zeit des Einzelnen, nicht meine, deine, seine geheime Zeit; sie
ist die Zeit Aller. Tag, Woche, Jahr gehören allen gemeinsam,
sind gegründet im Weltlauf der alle geduldig tragenden Erde
und im Gesetz der allen gemeinsamen Arbeit an ihr. Der
Glockenschlag der Stunden kommt zu jedem Ohr. Die Zeiten,
die der Kult bereitet, sind keinem eigen ohne alle andern. Das
3
369
VOM REICH
Gebet des Gläubigen geschieht inmitten der gläubigen Ge-
meinde. In Versammlungen lobt er den Herrn. Die Erleuch-
tung, die dem Einzelnen wird, — hier kann sie keine andre
sein als die, welche allen andern auch geschehen kann. In der
Erleuchtung nun also, da sie allen gemeinsam sein soll, soll
allen das Gleiche erleuchtet werden. Dies für alle Gemeinsame,
über alle Standpunkte der Einzelnen und die durch die Ver-
schiedenheit dieser Standpunkte bedingte Verschiedenheit der
Perspektive hinaus, kann aber nur eines sein: das Ende aller
Dinge, die letzten Dinge. Alles was auf dem Wege liegt, würde
sich jedem nach dem Ort, wo er steht, anders darstellen, alle
Tage haben für jeden nach dem Tag, den er lebt, verschiedenen
Inhalt; nur das Ende der Tage ist allen gemeinsam. Der
Scheinwerfer des Gebets erleuchtet jedem nur, was er allen
erleuchtet: nur das Fernste, das Reich.
Alles, was davor liegt, bleibt im Dunkel; das Reich Gottes
ist das Nächste. Indem so der sonst in der Ferne der Ewigkeit
aufleuchtende Stern hier als das Nächste erscheint, wendet
sich die ganze Liebeskraft ihm zu und zieht sein Licht mit
zaubrischer Gewalt durch die Nacht der Zukunft hinein ins
Heute der betenden Gemeinde. Das kultische Gebet, das alles
an die eine Bitte um das Kommen des Reichs setzt und zu dem
alle andern sonst näheren Bitten nur um dieser einen willen
beiläufig mitgebetet werden, erzwingt, indem es der Liebe das
Ewige als das Nächste zeigt und so die unwiderstehliche Kraft
der Liebe des Nächsten auf es losläßt, das erlösende Kommen
des Ewigen in die Zeit. Gott kann nicht anders, er muß der
Einladung folgen. Das Gebet des Gläubigen, weil es in der
Versammlung der Gläubigen geschieht, ergänzt das Gebet des
Ungläubigen, das stets Gebet des Einzelnen sein muß.
Nur um die Gunst des eigenen Schicksals konnte der Un-
gläubige bitten, nur darum, das Tagwerk seiner Hände voll-
enden zu dürfen. Nur das Mehr=als=Nächste, das Eigene,
wurde seiner Liebe durch sein Gebet erleuchtet; der Schein-
werfer warf seinen Schein in den Kreis des Eigenen, dessen
Grenzen sich freilich, anders als beim Sünder wo sie eng und
24
37°
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
starr blieben, aus dem engen Hier zur Ewigkeit erweiterten.
Den Mehr=als=Nächsten, sein Selbst, lernte der Beter, also
betend, lieben; sein Selbst nicht als verschlossenes starres
Selbst, sondern als die in das Schicksal der Welt mit dem
eignen Schicksal eingewobene Persönlichkeit. Betete er nicht
um dieses Vollendendürfen des Tagwerks seiner Hände, — es
würde ihm wohl erfüllt, worum er bittet, denn er bittet nur um
das, was ihm reif zur Erfüllung ist, und jedem andern würde
gleichfalls das Seine erfüllt, aber aus all diesen einzelnen
Erfüllungen wüchse nicht die ewige Erfüllung; aus allem ein-
zelnen Leben nicht das ewige Leben; es ist dafür gesorgt, daß
bei allem Wachstum durch die Zeit der Baum des Lebens nicht
in den Himmel wachse. Aber das Gebet der Gemeinde, nicht
zum eignen Schicksal, sondern unmittelbar zum Ewigen, der
das Werk nicht meiner und deiner und seiner, sondern
»unserer« Hände fördern möge, auf daß Er, nicht auf daß »ichs
vollende«, — dies Gebet, das über alles Einzelne hinweg auf
das Allgemeinsame und nur auf es schaut, reißt das Ewige mit
starkem Griff herein in den Augenblick und beschenkt das
einzelne, in diesem Augenblick im ungläubigen Gebet ganz
lebendig gewordene Stück Leben mit dem herabgeholten Fun-
ken des ewigen Lichts, der in ihm bleibt als Same ewigen
Lebens.
Das Gebet um das Rommen des Reichs vermittelt also
zwischen Offenbarung und Erlösung, oder richtiger zwischen
Schöpfung und Offenbarung einerseits und Erlösung andrer-
seits, ähnlich wie das Wunderzeichen zwischen Schöpfung
und Offenbarung. Und wie dies Verhältnis innerhalb der Welt
der Offenbarung zugleich auch das Verhältnis der urgeschaf-
fenen Vorwelt zur offenbaren Welt umschrieb, so nun auch
das dieser offenbaren Welt einerseits, einschließlich der ja
eben durch das Wunder in sie eingegangenen Vorwelt, zur er-
lösten Überwelt. Das Gebet ist die Kraft, die über die
»Schwelle« aus dem stummgeschaffnen Geheimnis des Eigen-
wachstums des Lebens und dem sprachbegabten Wunder der
VOM REICH
m
Liebe hinanträgt zur schweigenden Erleuchtung des voll er-
füllenden Endes, So wird die Liturgik für diesen dritten Teil
eine ähnliche Organonstellung einnehmen wie für den ersten
die Mathematik, für den zweiten die Grammatik. Allerdings
wird das Verhältnis zwischen dem Organon und dem kraft
ihm zu erkennenden Sein hier ein anderes sein müssen als es
für Mathematik und Grammatik war, wie ja auch diese beiden
schon in verschiedenem Verhältnis, zu dem von ihnen her zu
Erkennenden standen.
Die mathematischen Symbole waren wirklich nur Symbole
gewesen; sie waren das Geheimnis im Geheimnis, stumme
Schlüssel, die im Innern dieses Schreins der Urwelt selber in
einem Geheimfach aufbewahrt wurden; sie staken in und
hinter den Dingen und galten dieser urgeschaffenen Welt sel-
ber wieder für etwas Vergangenes, »apriorische« Erbstücke
einer Vorschöpfung. Die Formen der Grammatik hingegen
sprechen das Wunder unmittelbar aus, sie stecken nicht mehr
in irgend einem geheimnisvollen Hintergrund der ihnen an-
gehörigen Welt, sondern sie sind ganz eins mit ihr; sie sind
innerhalb des Wunders selber wieder das Wunder, offenbare
Zeichen einer offenbaren Welt. Sie sind ihrer Welt genau
gleichzeitig; wo sie ist, da ist auch die Sprache, die Welt ist
nie ohne das Wort, ja sie ist nur im Wort, und ohne das Wort
wäre sie selber auch nicht. Die Gestalten der Liturgik aber
besitzen diese Gleichzeitigkeit zu dem in ihnen zu Erkennenden
nicht; sie nehmen ja vorweg; es ist ein Zukünftiges, das sie
zum Heute machen. So sind sie nicht Schlüssel und nicht Mund
ihrer Welt, sondern Vertreter. Sie vertreten die erlöste Über-
weit dem Erkennen; das Erkennen erkennt nur sie; es sieht
nicht über sie hinaus; das Ewige verbirgt sich hinter ihnen.
Sie sind das Licht, in welchem wir das Licht schauen, stille
Vorwegnahme einer im Schweigen der Zukunft leuchtenden
Welt.
Die Vorwelt enthielt nur die stummen Elemente, aus denen
sich die Bahn des Sterns aufbaute; die Bahn selber war eine
Wirklichkeit, aber in keinem Augenblick mit Augen zu er-
24*
3Zi
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
blicken; denn der Stern, der die Bahn läuft, steht keines Augen-
blicks Dauer still. Mit dem Auge erblickt kann nur werden,
was mehr als eines Augenblicks Dauer hat; erst der durch
seine Verewigung stillgelegte Augenblick erlaubt den Augen,
die Gestalt in ihm zu erblicken. Die Gestalt ist also das mehr
als Elementare, mehr als Wirkliche, das unmittelbar Anschau-
liche. Solange wir nur Bahnelemente und Bahngesetz eines
Sterns kennen, haben ihn unsre Augen noch nicht gesehn;
er ist bloß ein materieller Punkt, der sich im Raume bewegt.
Erst wenn ihn Fernrohr und Spektralapparat uns heranholen,
kennen wir ihn, wie wir ein Gerät unsres Gebrauchs, ein Bild
in unserm Zimmer kennen: in vertrauter Anschauung. Erst im
Anschaulichen vollendet sich die Tatsächlichkeit; da hört man
nichts mehr von Sache noch von Tat.
Was angeschaut werden kann, ist der Sprache überhoben,
über sie hinausgehoben. Das Licht redet nicht, es leuchtet.
Es verschließt sich mit nichten etwa in sich selbst; es strahlt
ja nicht nach innen, sondern nach außen. Aber sein Ausstrahlen
ist auch nicht ein Sichselberpreisgeben, wie es die Sprache ist;
das Licht verschenkt, veräußert sich nicht wie die Sprache,
wenn sie sich äußert, sondern es ist sichtbar, indem es ganz
bei sich selber bleibt; es strahlt eigentlich nicht aus, es strahlt
nur auf; es strahlt nicht wie ein Brunnen, sondern wie ein
Antlitz, wie ein Auge strahlt, das beredt wird ohne daß sich
die Lippen zu öffnen brauchen. Hier ist ein Schweigen, das
nicht wie die Stummheit der Vorwelt noch keine Worte hat,
sondern das des Worts nicht mehr bedarf. Es ist das Schwei-
gen des vollendeten Verstehens. Ein Blick sagt da alles. Daß
die Welt unerlöst ist, nichts lehrt es deutlicher als die Vielzahl
der Sprachen. Zwischen Menschen, die eine gemeinsame
Sprache sprechen, genügt wohl ein Blick, um sich zu verstän-
digen; sie sind, grade weil sie eine gemeinsame Sprache haben,
der Sprache überhoben. Aber zwischen verschiedenen
Sprachen vermittelt nur das stammelnde Wort, und die Ge-
berde hört auf, unmittelbare Verständigung zu sein, wie sie
es im stummen Blick des Auges war, und wird zerstört zum
VOM REICH
373
Stammeln der Qeberdensprache, dieser kümmerlichen Not-
brücke der Verständigung. Daher kommt es, daß das Höchste
der Liturgie nicht das gemeinsame Wort ist, sondern die ge-
meinsame Qeberde. Die Liturgie erlöst die Geberde von der
Fessel, unbeholfne Dienerin der Sprache zu sein, und macht
sie zu einem Mehr als Sprache. In der liturgischen Geberde
allein ist die »geläuterte Lippe« vorweggenommen, die den all-
zeit sprachgeschiedenen Völkern für »jenen Tag« verheißen
ist. In ihr wird die karge Stummheit der ungläubigen Glieder
beredt, die überfließende Redseligkeit des gläubigen Herzens
stille. Unglaube und Glaube vereinen ihr Gebet.
Sie vereinen es im Schweigen der liturgischen Geberde —
vereinen sie es nie im weltlichen Wort? Gibt es kein leben-
diges Werk — und sei es auch bloß ein einzelnes, bloß ein
Zeugnis der Zusammengehörigkeit —, worin die beiden Ge-
bete, das des Mannes des* Lebens und das des Manns Gottes,
sich in eins fügen? Erinnern wir uns, was wir in der Einleitung
des vorigen Teils über Theologie und Philosophie sagten. Sie
erschienen uns wechselweise auf einander angewiesen. Das
war eine Wechselbedürftigkeit zweier Wissenschaften. Ist
es nicht mehr? Wer Wissenschaft treibt, ist ja mehr als das,
was er treibt. Der Philosoph muß mehr sein als die Philo-
sophie. Wir hörten: er muß Mensch sein, Fleisch und Blut.
Aber es genügt nicht, daß er das bloß ist. Er muß als Fleisch
und Blut, das er ist, das Gebet der Geschöpfe beten, das Gebet
zum eigenen Schicksal, worin eben das Geschöpf sich unge-
wußt als Geschöpf bekennt. Die Weisheit, die in ihm, in seinem
Fleisch und Blut wohnt, — Gott hat sie ihm anerschaffen; als
reife Frucht hängt sie nun am Baum des Lebens. Und der
Theolog muß mehr sein als Theologie. Wir hörten: er muß
wahrhaftig sein, er muß Gott lieben. Und es genügt nicht, daß
er es für sich in seinem Kämmerlein tut. Er muß als einsamer
Liebender, der er ist, das Gebet der Kinder Gottes sprechen,
das Gebet der gottesfürchtigen Gemeinde, worin er sich be-
wußt als Glied ihres unsterblichen Leibes bekennt. Die Weis-
heit, die in ihm, in seinem ehrfürchtigen Herzen wohnt, —
374
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
Gott hat sie in der Offenbarung seiner Liebe in ihm erweckt;
als zündender Funke vom ewigen Licht fährt sie nun aus sei-
nem Munde, der bereit ist, Gott in Versammlungen zu preisen.
Die göttliche Wahrheit verbirgt sich dem, der nur mit einer
Hand nach ihr langt, einerlei ob diese langende Hand die der
sich voraussetzungslos wähnenden, über den Dingen schwe-
benden Sachlichkeit des Philosophen ist, oder die der erlebnis-
stolz sich vor der Welt verschließenden Blindheit des Theo-
logen. Sie will mit beiden Händen angefleht werden. Wer sie
mit dem doppelten Gebet des Gläubigen und des Ungläubigen
anruft, dem wird sie sich nicht versagen. Gott gibt von seiner
Weisheit diesem wie jenem, dem Glauben wie dem Unglauben,
aber beiden nur, wenn ihr‘Gebet vereint vor ihn kommt. Es
ist der gleiche Mensch, der doch mit zwiefältiger Bitte kommt
und mit zwiefachem Dank, ungläubiges Welt- und gläubiges
Gotteskind in einem, treten muß vor Ihn, der von seiner Weis-
heit verschenkt so an Fleisch und Blut wie denen die ihn
fürchten.
ERSTES BUCH
DAS FEUER
ODER
DAS EWIGE LEBEN
GEPRIESEN sei, der ewiges Leben gepflanzt hat mitten
unter uns. Inmitten des Sterns brennt das Feuer. Erst
aus dem Feuer des Kerns brechen die Strahlen her-
vor und fließen unwiderstehlich ins Außen. Das Kernfeuer muß
brennen ohne Unterlaß. Seine Flamme muß sich ewig aus sich
selber nähren. Es begehrt keiner äußeren Nahrung. Die Zeit
muß machtlos an ihm vorüberrollen. Es muß seine eigene Zeit
erzeugen. Es muß sich selbst ewig fortzeugen. Es muß sein
Lejpen verewigen in der Folge der Geschlechter, deren jedes
das nachkommende erzeugt, wie es selber hinwiederum von
den Vorfahren zeugt. Das Bezeugen geschieht im Erzeugen.
In diesem doppelsinnigen, tateinigen Zusammenhang des Zeu-
gens verwirklicht sich ewiges Leben. Vergangenheit und Zu-
kunft, sonst einander fremd, jene zurücksinkend, wenn diese
herankommt, — hier wachsen sie in eins: das Erzeugen der
Zukunft ist unmittelbar Bezeugen der Vergangenheit? Der
Sohn wird gezeugt, damit er vom hingegangenen Vater seines
Erzeugers zeuge. Der Enkel erneuert den Namen des Ahns.
Die Erzväter rufen den spätesten Sproß bei seinem Namen, der
der ihre ist. Über dem Dunkel der Zukunft brennt der Sternen-
himmel der Verheißung: so wird dein Same sein.
Es gibt nur eine Gemeinschaft, in der ein solcher Zusammen-
hang ewigen Lebens vom Großvater zum Enkel geht, nur
eine, die das »Wir« ihrer Einheit nicht aussprechen kann, ohne
dabei in ihrem Innern das ergänzende »sind ewig« mitzuver-
nehmen. Eine Gemeinschaft des Bluts muß es sein, denn nur
das Blut gibt der Hoffnung auf die Zukunft eine Gewähr in der
376
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
Gegenwart. Jede andre, jede nicht blutmäßig sich fortpflan-
zende Gemeinschaft kann, wenn sie ihr Wir für die Ewigkeit
festsetzen will, es nur so tun, daß sie ihm einen Platz in der
Zukunft sichert; alle blutlose Ewigkeit gründet sich auf den
Willen und die Hoffnung. Die Blutgemeinschaft allein spürt die
Gewähr ihrer Ewigkeit schon heute warm durch ihre Adern
rollen. Ihr allein ist die Zeit kein zu bändigender Feind, über
den sie vielleicht, vielleicht auch nicht — doch sie hofft es —
obsiegen wird, sondern Kind und Kindeskind. Was andern
Gemeinschaften Zukunft und also ein der Gegenwart jeden-
falls noch Jenseitiges ist, — ihr allein ist es schon Gegenwart;
ihr allein ist das Zukünftige nichts Fremdes, sondern ein
Eigenes, etwas was sie in ihrem Schoße trägt, und jeden Tag
kann sie es gebären. Während jede andre Gemeinschaft, die
auf Ewigkeit Anspruch macht, Anstalten treffen muß, um die
Fackel der Gegenwart an die Zukunft weiterzugeben, bedarf
die Blutsgemeinschaft allein solcher Anstalten der Überliefe-
rung nicht; sie braucht den Geist nicht zu bemühen; in der
natürlichen Fortpflanzung des Leibes hat sie die Gewähr ihrer
Ewigkeit.
Was vom Volk überhaupt als der Vereinigung der Bluts-
familien gegenüber allen Gemeinschaften des Geistes gilt, das
gilt nun in ganz besonderer Weise von dem unsern. Das jü-
disch£ Volk ist unter den Völkern der Erde, wie es sich selber
auf der allsabbatlichen Höhe seines Lebens nennt: das eine
Volk. Die Völker der Welt können sich nicht genügen lassen
an der Gemeinschaft des Bluts; sie treiben ihre Wurzeln in die
Nacht der selber toten, doch lebenspendenden Erde und neh-
men von ihrer Dauer Gewähr der eigenen Dauer. Am Boden
und an seiner Herrschaft, dem Gebiet, klammert sich ihr Wille
zur Ewigkeit fest. Um die Erde der Heimat fließt das Blut ihrer
Söhne; denn sie trauen nicht der lebendigen Gemeinschaft des
Bluts, die nicht verankert wäre in dem festen Grund der Erde.
Wir allein vertrauten dem Blut und ließen das Land; also
sparten wir den kostbaren Lebenssaft, der uns Gewähr der
eigenen Ewigkeit bot, und lösten allein unter allen Völkern
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
El
der Erde unser Lebendiges aus jeder Gemeinschaft mit dem
Toten. Denn die Erde nährt, aber sie bindet auch, und wo ein
Volk den Boden der Heimat mehr liebt als das eigene Leben,
da hängt stets die Gefahr über ihm — und sie hängt über allen
Völkern der Welt —, daß, mag neunmal jene Liebe den Boden
der Heimat gegen den Feind retten und mit dem Boden das
Leben des Volks zugleich, doch ein zehntes Mal der Boden
als das Mehrgeliebte bleibt und das eigne Leben des Volks auf
ihm verströmt. Wer das Land erobert, dem gehören zuletzt
auch die Leute; es kann ja gar nicht anders sein, wenn eben
die Leute mehr am Land hängen als an ihrem Eigenleben als
Volk. So verrät die Erde das Volk, das ihrer Dauer die seine
anvertraut; sie selbst dauert wohl, aber das Volk auf ihr
vergeht.
Deshalb beginnt die Stammessage des ewigen Volks, an-
ders als die der Völker der Welt, nicht mit der Autochthonie.
Erdentsprossen ist, und selbst er nur dem Leibe nach, bloß
der Vater der Menschheit; der Stammvater Israels aber ist zu-
gewandert; mit dem göttlichen Befehl, herauszugehen aus dem
Lande seiner Geburt und hinzugehen in ein Land, das Gott
ihm zeigen wird, hebt seine Geschichte, wie sie die heiligen
Bücher erzählen, an. Und zum Volke wird das Volk, so im
Morgendämmer seiner Urzeit wie nachher wieder im hellen
Licht der Geschichte, in einem Exil, dem egyptischen wie nach-
her dem in Babel. Und die Heimat, in die sich das Leben eines
Weltvolks einwohnt und einpflügt, bis es beinahe vergessen
hat, daß Volk sein noch etwas andres heißt als im Lande
sitzen, — dem ewigen Volk wird sie nie in solchem Sinn eigen;
ihm ist nicht gegönnt, sich daheim zu verliegen; es behält
stets die Ungebundenheit eines Fahrenden und ist seinem Lande
ein getreuerer Ritter, wenn es auf Fahrten und Abenteuern
draußen weilt und sich nach der verlassnen Heimat zurück-
sehnt, als in den Zeiten wo es zuhause ist. Das Land ist ihm
im tiefsten Sinn eigen eben nur als Land seiner Sehnsucht, als
— heiliges Land. Und darum wird ihm sogar wenn es daheim
ist, wiederum anders als allen Völkern der Erde, dies volle
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
378
Eigentum der Heimat bestritten: es selbst ist nur ein Fremd-
ling und Beisaß in seinem Lande; »mein ist das Land«, sagt
ihm Gott; die Heiligkeit des Landes entrückt das Land seinem
unbefangenen Zugriff, solange es zugreifen konnte; sie stei-
gert seine Sehnsucht nach dem verlorenen ins Unendliche und
läßt es hinfürder in keinem andern Land mehr ganz heimisch
werden; sie zwingt es, die volle Wucht des Willens zum Volk
in den einen Punkt zu sammeln, der bei den Völkern der Welt
nur einer unter andern ist, dem eigentlichen und reinen Lebens-
punkt, der Blutsgemeinschaft; der Wille zum Volk darf sich
hier an kein totes Mittel klammern; er darf sich verwirklichen
allein durch das Volk selber; das Volk ist Volk nur durch das
Volk.
Aber ist denn das eigne Land, das Gebiet, das einzige
worauf sich außer auf dem Blut die Volksgemeinschaft
gründet? Tragen die Völker nicht, unter welchen Himmel
sich ihre Kinder auch entfernen, mit sich ein lebendigeres
Merkmal der Zusammengehörigkeit, die eigne Sprache? Die
Sprache der Weltvölker ist, so scheint es, nicht an irgend ein
Totes, Äußeres gebunden; sie lebt mit dem Menschen zu-
sammen, mit dem ganzen Menschen, mit der, solange er lebt,
unzertrennlichen Einheit seines leiblich=geistigen Lebens. So
wäre die Sprache freilich nicht gebunden an irgend ein Äuße-
res. Aber wäre sie deshalb weniger vergänglich? Wenn sie
gebunden ist unmittelbar an das Leben des Volkes, wie ge-
schieht ihr dann, wenn dies Leben stirbt? Nicht anders als ihr
auch geschieht, solang es lebt: sie lebt auch dieses Letzte
seines Lebens mit, sie stirbt mit. Die Sprache der Völker folgt
bis ins allerfeinste dem lebendigen Wechsel der Schicksale des
Volks, aber diese Nachfolge des Lebendigen reißt sie auch mit
hinein in das Schicksal des Lebendigen, zu sterben. Sie ist
lebendig, weil sie — sogar sterben kann. Ewigkeit wäre ihr
ein böses Geschenk; nur weil sie nicht ewig ist, nur weil sie
getreu die wandelnden Zeiten des durch seine Lebensalter
wachsenden Volks und seine Schicksale unter den Völkern
spiegelt, nur deshalb verdient sie das Lebendigste des Volks,
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
379
ja sein Leben selbst, zu heißen. Die Völker haben also wohl
recht, um ihre eigne Sprache zu kämpfen; aber sie müßten
wissen, daß sie damit nicht um ihre Ewigkeit kämpfen, son-
dern daß, was sie in solchem Kampf gewinnen, immer nur
etwas andres als Ewigkeit ist: Zeit.
Und so kommt es, daß das ewige Volk seine eigne Sprache
verloren hat und überall die Sprache seiner äußern Schicksale
spricht, die Sprache des Volks, bei dem es etwa zu Gaste
wohnt; und wenn es nicht das Gastrecht beansprucht, sondern
in geschlossener Siedlung für sich selber lebt, so spricht es die
Sprache des Volks, aus dem auswandernd es die Kraft zu sol-
chem Siedeln empfing, die es in der Fremde nie als es selber
hat, nie bloß auf Grund des eigenen blutmäßigen Zusammen-
hangs, sondern stets nur als die von irgendwoher Zugewan-
derten; das »Spaniolisch« in den Balkanländern, das »Tatsch«
im europäischen Osten sind nur die heute bekanntesten Fälle.
Während also jedes andre Volk mit der ihm eigenen Sprache
eins ist und ihm die Sprache im Munde verdorrt, wenn es auf-
hört Volk zu sein, wächst das jüdische Volk mit den Sprachen,
die es spricht, nie mehr ganz zusammen; selbst wo es die
Sprache des Gastvolks spricht, verrät ein eigener Wortschatz
oder mindestens eine eigne Auswahl aus dem Wortschatz der
Allgemeinheit, eigene Wortstellung, eigenes Gefühl für sprach-
schön und -häßlich, daß die Sprache — nicht die eigene ist.
Die eigene Sprache aber ist seit unvordenklicher Zeit nicht
mehr die Sprache des täglichen Lebens, und dennoch, wie
schon ihr ständiges Hineinregieren in die Sprache des täglichen
Lebens zeigt, alles andre als eine tote Sprache. Sie ist nicht
tote, sondern, wie das Volk selbst sie nennt, »heilige« Sprache.
Die Heiligkeit der eigenen Sprache wirkt ähnlich wie die Hei-
ligkeit des eignen Landes: sie lenkt das Letzte des Gefühls ab
aus dem Alltag; sie hindert das ewige Volk, jemals ganz einig
mit der Zeit zu leben; ja sie hindert es überhaupt, eben durch
jene Einzäunung des letzten, höchsten Lebens, des Gebets, in
einen heiligen Sprachbezirk, jemals ganz frei und unbefangen
zu leben. Denn alle Freiheit und Unbefangenheit des Lebens
380
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
beruht darauf, daß der Mensch alles sagen, kann, was er meint,
und daß er weiß, daß er es kann; wo er dies verliert, wo er
etwa meint, in seiner Qual verstummen zu müssen, weil nur
dem »Dichter« gegeben sei, zu sagen was er leidet, da ist nicht
bloß die Sprachkraft eines Volks gebrochen, sondern auch
seine Unbefangenheit hoffnungslos verstört.
Eben diese letzte und selbstverständlichste Unbefangenheit
des Lebens ist nun dem Juden versagt, weil er mit Gott eine an-
dere Sprache spricht als mit seinem Bruder. Mit seinem Bru-
der kann er deshalb überhaupt nicht sprechen, mit ihm ver-
ständigt ihn der Blick besser als das Wort, und es gibt nichts
im tieferen Sinn Jüdisches als ein letztes Mißtrauen gegen die
Macht des Worts und ein inniges Zutrauen zur Macht des
Schweigens. Die Heiligkeit der heiligen Sprache, in der er nur
beten kann, läßt sein Leben nicht im Boden einer eignen
Sprache Wurzel schlagen; ein Zeugnis dafür, daß sich sein
Sprachleben stets in der Fremde fühlt und seine eigentliche
Sprachheimat anderswo, in dem der täglichen Rede unzugäng-
lichen Bezirk der heiligen Srache weiß, ist der merkwürdige
Umstand, daß die Sprache des Alltags wenigstens in den
stummen Zeichen der Schrift die Verbindung mit der dem All-
tag übrigens längst verlorenen altheiligen Sprache aufrecht-
zuerhalten sucht; ganz anders als bei den Völkern der Welt,
wo eher die Sprache eine verlorene Schrift als umgekehrt die
Schrift eine dem Alltag entschwundene Sprache überlebt:
grade im Schweigen und den schweigenden Zeichen der Rede
fühlt der Jude auch seinen Sprachalltag noch heimisch in der
heiligen Sprache seiner Feierstunden.
So drängt auch die Sprache, sonst den Völkern Trägerin
und Ründerin des zeitlichen, wandelnden und wechselnden und
darum freilich auch vergänglichen Lebens, das ewige Volk
grade zurück auf sein eigenstes, jenseits des äußeren Lebens,
nämlich nur in den Adern seines leiblichen Lebens selber krei-
sendes und darum unvergängliches Leben. Ist ihm so der
eigene Boden und die eigene Sprache versperrt, wie viel mehr
noch wird ihm da auch das sichtbare Leben versagt sein, das
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN 381
die Völker der Welt in der eignen Sitte leben und im eignen
Gesetz. Denn in diesen beiden, in Sitte und Gesetz, in dem von
gestern mit der Macht der Gewohnheit Überkommenen und
dem für morgen Festgesetzten, lebt ein Volk seinen Tag. Der
Tag steht zwischen dem von gestern und dem von morgen, und
alles Leben bewährt seine Lebendigkeit darin, daß es nicht
beim Tag stehen bleibt, sondern ihn täglich ins Gestern rückt
und an seine Stelle den Tag von morgen treten läßt und so
immer fort. So sind auch die Völker lebendig, indem sie immer-
fort ihr Heute in neue Sitte, neues Ewig=Gestriges, verwandeln
und gleichzeitig aus ihrem Heute heraus neues Gesetz für das
Morgen setzen. Das Heute wird so im Leben der Völker zum
pfeilschnell verfliegenden Augenblick. Und so lange dieser
Pfeil fliegt, solange sich immerfort neue Sitte zur alten fügt,
neues Gesetz das alte überholt, so lange fließt der Fluß des
Lebens im Volk lebendig weiter; solange kann der Augenblick
nicht zum Festen erstarren, sondern bleibt bloß die allzeit
weitergeschobene Scheide zwischen der allzeit gemehrten Ver-
gangenheit und der allzeit überholend herübergeholten Zukunft.
Solange leben die Völker in der Zeit. Solange ist die Zeit
ihnen Erbteil und Acker. Zum eignen Boden und der eignen
Sprache gewinnen sie sich in der gemehrten Sitte und dem
erneuerten Gesetz die letzte und stärkste Gewähr des eignen
Lebens: die eigne Zeit. Solange ein Volk seine eigne Zeit
rechnet — und es rechnet sie nach dem Alter des noch leben-
digen Besitzes an Sitte und Erinnerung und nach der steten
Erneuerung seiner gesetzgebenden Mächte, seiner Vorsteher
und Könige, — solange ist es mächtig über die Zeit, solange
ist es nicht gestorben.
Und wieder erkauft sich das ewige Volk seine Ewigkeit um
den Preis des zeitlichen Lebens. Ihm ist die Zeit nicht seine
Zeit, nicht Acker und Erbteil. Ihm erstarrt der Augenblick und
steht fest zwischen unvermehrbarer Vergangenheit und un-
beweglicher Zukunft; so hört der Augenblick auf zu verfliegen.
Sitte und Gesetz, Vergangenheit und Zukunft, werden zu zwei
unveränderlichen Massen; und indem sie das werden, hören
382 DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
sie auf, Vergangenheit und Zukunft zu sein, und werden, also
erstarrt, nun gleichfalls eine unveränderliche Gegenwart. Sitte
und Gesetz rinnen, unvermehrbar und unabänderlich geworden,
in das eine Sammelbecken des so gegenwärtig als ewig Gül-
tigen; eine einzige, Sitte und Gesetz in eins schließende
Lebensform erfüllt den Augenblick und macht ihn ewig. Aber
so wird der Augenblick freilich dem Strom der Zeit enthoben,
und indem das Leben geheiligt wird, ist es nicht mehr lebendig.
Während der Mythos der Völker sich ständig wandelt, ständig
Teile der Vergangenheit vergessen, ständig andre zu Mythos
erinnert werden, ist hier der Mythos verewigt und ändert sich
nicht mehr; und während die Völker in Revolutionen leben, in
denen das Gesetz ständig seine alte Haut abstreift, herrscht
hier das Gesetz, das von keiner Revolution abgeschafft wird,
und dem man wohl entlaufen, nicht aber es ändern kann.
Indem so die heilige Gesetzeslehre — denn beides, Lehre
und Gesetz in einem, umschließt der Name Thora — das Volk
aus aller Zeit- und Geschichtlichkeit des Lebens heraushebt,
nimmt sie ihm auch die Macht über die Zeit. Das jüdische Volk
zählt nicht die Jahre einer eigenen Zeitrechnung. Weder die
Erinnerung seiner Geschichte noch die Amtszeiten seiner
Gesetzgeber dürfen ihm zum Maß der Zeit werden; denn die
historische Erinnerung ist kein fester Punkt in der Vergangen-
heit, der jedes Jahr um ein Jahr vergangener wird, sondern
eine immer gleich nahe, eigentlich gar nicht vergangene, son-
dern ewig gegenwärtige Erinnerung: jeder einzelne soll den
Auszug aus Egypten so ansehen, als wäre er selbst mit aus-
gezogen; und Gesetzgeber, die das Gesetz im lebendigen Laufe
der Zeit erneuerten, gibt es hier nicht; selbst was vielleicht der
Sache nach Neuerung ist, muß sich doch stets so geben, als
stünde es schon in dem ewigen Gesetz und wäre in seiner
Offenbarung mitoffenbart. Die Zeitrechnung des Volkes kann
also hier nicht die Rechnung der eigenen Zeit sein; denn es
ist zeitlos, es hat keine Zeit. Sondern es muß die Jahre zählen
nach den Jahren der Welt. Und abermals, zum dritten Male,
sehen wir hier am Verhältnis zur eignen Geschichte wie vor-
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN 383
her am Verhältnis zur Sprache und zum Land, wie dem Volk
das zeitliche Leben versagt ist um des ewigen Lebens willen;
wieder kann es das geschichtliche Leben der Weltvölker nicht
voll und schöpferisch mitleben, es steht immer irgendwie
zwischen einem Weltlichen und Heiligen, von beiden durch
das jeweils andre getrennt und so letzthin lebendig nicht wie
die Völker der Welt in einem sichtbar in die Welt gestellten
volksmäßigen Leben, in einer tönend seine Seele aus*
sprechenden volkstümlichen Sprache, in einem fest auf der
Erde begrenzten und gegründeten volkseigenen Gebiet, sondern
einzig und allein in dem, was den Bestand des Volks über die
Zeit, die Unvergänglichkeit seines Lebens, sichert: im Schöpfen
der eigenen Ewigkeit aus den dunkeln Quellen des Bluts.
Darum aber, weil es nur auf die selbstgeschaffene Ewigkeit
vertraut und auf sonst nichts in der Welt, glaubt dies Volk auch
wirklich an seine Ewigkeit, während die Völker der Welt im
Grunde alle ähnlich wie der einzelne Mensch mit ihrem eigenen
Tode für irgend einen sei es noch so fernen Zeitpunkt doch
rechnen. Ja ihre Liebe zum eignen Volkstum ist süß und
schwer von diesem Vorgefühl des Todes. Nur zum Sterblichen
ist die Liebe ganz süß, nur in der Herbigkeit des Todes ist das
Geheimnis dieser letzten Süße beschlossen. So sehen die
Völker der Welt einmal eine Zeit voraus, wo ihr Land mit
seinen Bergen und Flüssen wohl noch unterm Himmel liegt
wie heute, aber andre Menschen wohnen darin; ihre Sprache
ist in Büchern bestattet und ihre Sitten und Gesetze haben die
lebendige Macht verloren. Wir allein können uns solche Zeit
nicht vorstellen; denn alles, worin die Völker der Welt ihr
Leben verankerten, uns ist es schon vorlängst geraubt; Land
Sprache Sitte und Gesetz ist uns schon lang aus dem Kreise
des Lebendigen geschieden und ist uns aus Lebendigem zu
Heiligem erhoben; wir aber leben noch immer und leben ewig;
mit nichts Äußerem mehr ist unser Leben verwoben, in uns
selbst schlugen wir Wurzel, wurzellos in der Erde, ewige Wan-
derer darum, doch tief verwurzelt in uns selbst, in unserm
eignen Leib und Blut. Und diese Verwurzelung in uns selbst
und allein in uns selbst verbürgt uns unsre Ewigkeit.
384
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
Was bedeutet das aber — Verwurzelung im eigenen
Selbst ? Was bedeutet es, daß hier ein Einzelnes, ein
Volk, Gewähr seines Bestehens in nichts Äußerem sucht
und grade darin, grade in seiner Beziehungslosigkeit, Ewiges
sein will? Es bedeutet nicht mehr und nicht weniger als
den Anspruch, als Einzelnes dennoch Alles zu sein. Denn
das Einzelne an sich ist deswegen nicht ewig, weil es das
Ganze außer sich hat und sich in seiner Einzelheit nur be-
haupten kann, indem es sich dem Ganzen irgendwie als Teil
einfügt. Ein Einzelnes also, das gleichwohl ewig sein wollte,
müßte das All ganz in sich haben. Und so hieße das, daß das
jüdische Volk in seinem eigenen Innern die Elemente Gott
Welt Mensch, aus denen ja das All besteht, versammelt. Der
Gott, der Mensch, die Welt eines Volkes sind eines Volkes
Gott, Mensch, Welt nur dadurch, daß sie sich von andern
Göttern, Menschen, Welten genau so unter- und abscheiden
wie das Volk selbst. Eben in diesem Sichabscheiden des ein-
zelnen Volks von andern einzelnen Völkern hängt es mit ihnen
zusammen. Alle Grenze hat zwei Seiten. Indem etwas sich
abgrenzt, grenzt es sich an etwas andres an. Indem ein Volk
einzelnes Volk ist, ist es Volk unter Völkern. Sein Sichab-
schließen bedeutet dann ebensosehr Sichanschließen. Nicht so,
wenn das Volk es verweigert, einzelnes Volk zu sein, und »das
eine Volk« sein will. Dann darf es sich nicht in Grenzen ein-
schließen, sondern es muß die Grenzen, die es ja durch ihre
Zweiseitigkeit zum einzelnen Volk unter den andern Völkern
machen würden, in sich einschließen. Und genau so seinen
Gott, seinen Menschen, seine Welt. Auch die darf es nicht
gegen andre unterscheiden, sondern es muß ihren Unterschied
in seine eigenen Grenzen mithineinziehen. Gott, Mensch, Welt
müssen den Unterschied, durch den sie zu Gott, Mensch, Welt
des einen Volkes werden, da dieses eine Volk ein einziges Volk
sein soll, in sich selber haben. Sie müssen in sich selber pol-
hafte Gegensätzlichkeit bergen, um einzeln, bestimmt, etwas
Besonderes, ein Gott, ein Mensch, eine Welt, und doch zugleich
Alles, Gott, der Mensch, alle Welt, sein zu können.
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
Gott scheidet sich in sich selber in den Schöpfer und den
Offenbarer, den Gott der allmächtigen Gerechtigkeit und den
der erbarmenden Liebe. ^ Der Mensch scheidet sich in die gott-
geliebte Seele und den Liebenden der Liebe des Nächsten. Die
Welt scheidet sich in das Dasein der nach Gottes Schöpfung
verlangenden Kreatur und das eigne Wachstum des Lebens
hinein ins Reich. Alle diese Scheidungen waren uns bisher
nicht als Scheidungen erschienen, sondern als einander fol-
gende Einsätze der Stimmen der großen Fuge des Gottestags.
Nicht die Scheidung, sondern vielmehr die Vereinigung, ihr
Zusammenklingen in die eine Harmonie, war uns bisher das
Wesentliche. Jetzt zum ersten Mal, wo wir uns anschicken,
die Ewigkeit nicht als den zwölften Glockenschlag der Welt-
uhr, sondern als das stündlich Gegenwärtige zu schauen,
werden uns jene Einsätze zu Gegensätzen. Denn in der reinen,
stündlich wiederkehrenden Gegenwart haben sie nicht mehr
die Möglichkeit, sich in kontrapunktierter Bewegung an-
einander vorbei und ineinander zu schieben, sondern liegen
hart auf hart einander gegenüber.
Gott der Herr gilt seinem Volk zugleich als der Gott der
Vergeltung und der Gott der Liebe, er wird in einem Atemzug
angerufen als »unser Gott« und als »König der Welt« oder
— im noch engeren Kreis der gleiche Gegensatz — als »unser
Vater« und »unser König«. Er will, daß man ihm diene »mit
Zittern«, und freut sich, wenn seine Kinder die Angst vor
seinen Wunderzeichen überwanden. Wo die Schrift von seiner
»Erhabenheit« redet, da redet sie alsbald im nächstfolgenden
Verse schon von seiner »Demut«. Er verlangt die sichtbaren
Zeichen der seinem Namen dargebrachten Opfer und Gebete
und der vor ihm geschehenden Kasteiung; und im gleichen
Atemzug fast verschmäht er beides und will nur geehrt werden
durch die namenlosen Werke der Nächstenliebe und Gerech-
tigkeit, denen niemand ansieht, daß sie um seinetwillen ge-
schehen, und durch das heimliche Glühen des Herzens. Er hat
sein Volk erwählt, aber um an ihm zu strafen alle seine
Sünden. Er will, daß jegliches Knie sich ihm beuge, und thront
25
386
DRITTER TEIL: ERSTES BUCE1
doch auf den Lobgesängen Israels. Für die Sünde der Völker
tritt Israel vor ihm ein, und wird mit Krankheit geschlagen, auf
daß jene Heilung finden, — vor Gott stehen sie beide, Israel
sein Knecht und die Könige der Völker, und unentwirrbar für
menschliche Hände schlingt sich der Knoten von Leiden und
Schuld, von Liebe und Gericht, von Sünde und Versöhnung.
Der Mensch, der in Gottes Ebenbild geschaffene, auch er
ist, wie er als jüdischer Mensch vor seinen Gott tritt, eine Her-
berge von Widersprüchen. Als Gottes Liebling, als Israel,
weiß er sich von Gott erwählt und mag wohl vergessen, daß
er nicht allein mit Gott ist, daß Gott noch andre kennt, mag
nun er selber sie kennen oder nicht, und daß Gott auch zu
Egypten und Assur spricht: »mein Volk«. Er weiß sich ge-
liebt — was kümmert ihn die Welt. Er mag in seliger Zwei-
einsamkeit mit Gott sich dem Menschen überhaupt gleichsetzen
und verwundert um sich schauen, wenn ihn die Welt daran
zu erinnern sucht, daß nicht in allen das gleiche Gefühl der un-
mittelbaren Gotteskindschaft lebt wie in ihm. Und dennoch,
niemand wiederum weiß genauer als er, daß Gottes Liebling
zu sein nur einen Anfang bedeutet und daß der Mensch noch
unerlöst bleibt, solang bloß dieser Anfang verwirklicht ist.
Gegen Israel, den ewig Gottgeliebten, ewig Treuen, ewig Voll-
endeten, steht der ewig Kommende und ewig Wartende, ewig
Wandernde, ewig Wachsende, steht Messias. Gegen den
Menschen des Anfangs, Adams des Menschen Sohn, steht der
Mensch des Endes, der Sohft Davids des Königs, gegen den aus
dem Stoff der Erde und dem Hauch des göttlichen Mundes
Geschaffnen das Reis aus gesalbtem Königsstamm, gegen den
Erzvater der späteste Sproß, gegen den Ersten, der sich ein-
hüllt in den Mantel der göttlichen Liebe, der Letzte, von dem
das Heil geht zu den Enden der Erde, gegen die ersten Wunder
die letzten, davon es heißt, sie würden größer sein als jene.
Die Welt, die jüdische, wie sie unter der Kraft des unend-
lich verzweigten, über jedem Ding gesprochenen Segens ganz
entdinglicht ist und ganz beseelt, auch sie ist doch eine dop-
pelte und voller Zwiespalt in jedem Ding. Alles was in ihr
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
geschieht, hat eine doppelt^ Beziehung, einmal aut »diese« und
dann auf die »kommende« Welt. Dies Beieinander der zwei
Welten, dieser und jener, bestimmt alles; das im Segensspruch
beseelte Ding selber hat eine zwiefache Bestimmung; in
»dieser« Welt dient es zum gemeinen Gebrauch, kaum anders
als ob es ungesegnet geblieben wäre, aber gleichzeitig ist es
jetzt einer der Steine geworden, aus denen sich die »kom-
mende« Welt erbaut. Der Segen spaltet die Welt, um sie ins-
künftige wieder zu einen, aber gegenwärtig ist nur die Spal-
tung sichtbar. Diese Spaltung durchdringt das ganze Leben,
als Gegensatz von Heilig und Gemein, Sabbat und Werktag,
»Thora und Weg der Erde«, Leben im Geist und Geschäft. Sie
zerfällt, wie den Lebenstag Israels selber in Heilig und Gemein,
so auch den ganzen Erdkreis wieder in Israel und die Völker.
Und wieder ist es nicht einfach so, daß das Heilige das Gemeine
draußen ließe, sondern der Gegensatz ist ganz ins Innere hin-
eingenommen, und wie der Segen alles Gemeine erfaßt und
nichts mehr gemein bleiben läßt, sondern alles heiligt, so
werden auch des ewigen Lebens der künftigen Welt, das eben
noch Israel allein Vorbehalten schien, plötzlich nicht anders
auch die Frommen und Weisen der Völker teilhaftig und die
Gesegneten selber ein Segen.
Ein solcher Wirrwarr von Widersprüchen entsteht, wenn
man die Elemente des jüdischen Lebens als ruhende Elemente
anzuschauen versucht. Die Frage nach dem Wesen läßt sich
nur durch solche Aufzeigung von Widersprechendem beant-
worten, also eigentlich gar nicht. Aber das lebendige Leben
fragt ja nicht nach dem Wesen. Es lebt. Und indem es lebt,
beantwortet es sich selbst alle Fragen, noch ehe es sie stellen
kann. Was bei der Wesensschau ein Wirrwarr von Wider-
sprüchen scheint, ordnet sich im Jahresringe des Lebens zum
durchsichtigen Reigen; der in sich selber zurückkehrende Kreis
des Menschenlebens wird dem Auge zum anschaulichen Bilde
dessen, was am Himmel des All im einmaligen, unwiederhol-
baren, jedes Augenmaß überschreitenden Ablauf des Gottes-
tages die nacheinander einfallenden Stimmen dem auf das große
Sphärenklingen horchenden Ohre tönen.
25*
388
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
Weil in der Ewigkeit das Wort erlischt im Schweigen
des einträchtigen Beisammenseins — denn nur im
Schweigen ist man vereint, das Wort vereinigt, aber die
Vereinigten schweigen — darum muß der Brennspiegel, der
die Sonnenstrahlen der Ewigkeit im kleinen Kreis des
Jahres sammelt, die Liturgie, den Menschen in dieses
Schweigen einführen. Auch in ihr freilich kann das gemein-
same Schweigen erst das Letzte sein, und alles was vorher-
geht, ist nur die Vorschule auf dies Letzte. In solcher Erzie-
hung waltet noch das Wort. Das Wort selber muß den
Menschen dahin führen, daß er gemeinsam schweigen lerne.
Der Anfang dieser Erziehung ist, daß er lerne zu hören.
Es scheint nichts leichter als das. Aber es ist ein andres
Hören hier notwendig als das in der Wechselrede. In der
Wechselrede spricht ja auch der, welcher grade hört, und nicht
bloß, wenn er spricht, ja nicht einmal am meisten dann, wenn
er spricht, sondern ebensosehr indem er durch sein lebendiges
Zuhören, durch den einstimmenden oder zweifelnden Blick
seines Auges dem, der grade spricht, das Wort auf die Lippen
hebt. Nicht dies Hören des Auges ist hier gemeint, sondern
wirklich das Hören des Ohrs. Ein Hören also, das nicht den
Sprecher zum Sprechen anregt, ist es, was hier gelernt werden
soll, sondern ein Hören ohne Widerrede. Viele sollen hören.
Da darf der Eine, der spricht, nicht der Sprecher seiner eigenen
Worte sein, denn wo nähme er seine »eigenen« Worte als aus
dem sprechenden Blick seiner Hörer? Selbst der Redner vor
Vielen ist ja, solange er wirklich lebendiger Redner ist, nur
Unterredner; das zuhörende Volk, dieses vielköpfige Un-
geheuer, gibt auch dem Volksredner noch mit Zustimmung und
Mißfallen, mit Zwischenruf und Unruhe und seinem Gegen-
einander von Stimmungen, in welchem es ihn Partei zu nehmen
zwingt, in jedem Augenblick das Stichwort. Will der Volks-
redner sich unabhängig von den Hörenden machen, so muß er,
auf die Gefahr hin daß sie ihm einschlafen, ihnen statt der freien
Rede, die er spräche, die fertige auswendig gelernte »halten«.
Die freie Rede erweckt, je freier sie ist, um so sicherer zwei
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
389
Parteien unter den Hörern, also grade das Gegenteil des allen
Anwesenden gemeinsamen Hörens. Es ist das Wesen der
»Programmrede«, daß sie »gehalten«, nicht gesprochen wird;
da soll eine Versammlung, koste es was es wolle, zur ge-
schlossenen Übereinstimmung gebracht werden; notwendig
muß sich da der Redner zum bloßen Vortragenden eines
fertigen Programms machen. Das gemeinsame Hören, das
nichts als Hören wäre, das Hören, wo eine Menge »ganz Ohr«
wird, entsteht nicht durch den Sprecher, sondern nur durch
das Zurücktreten des lebendig sprechenden Menschen hinter
den bloßen Vorleser, ja noch nicht einmal hinter den vor-
lesenden Menschen, sondern hinter das verlesene Wort. Daß
die Predigt über einen »Text« gehen muß, hat hier seinen
Grund; nur der Zusammenhang mit dem Text sichert ihr das
»andächtige« Zuhören aller; das freie Wort des Predigers
dürfte eine solche Andacht gar nicht erzielen wollen; es müßte
als eine Kraft der Scheidung in die Hörer fahren; aber der
Text, welcher der versammelten Gemeinde als das Wort ihres
Gottes gilt, schafft dem, der ihn verliest, das gemeinsame Hören
aller Versammelten; indem er dann alles, was er zu sagen hat,
als Ausführung jenes Textes gibt, hält er sich jenes gemeinsame
Hören während seiner ganzen Predigt lebendig. Denn eine
Predigt, die Zwischenrufe hervorrufen würde, oder bei der die
Hörer nur mit Mühe sich solcher enthielten, eine Predigt, bei
der sich das Schweigen der Hörer noch anders als im gemein-
samen Lied entladen möchte, wäre eine ebenso mangelhafte
Predigt, wie sie etwa eine gute politische Ansprache wäre, und
wiederum wäre es eine schlechte politische Rede, die ganz
ohne Zwischenrufe, ohne »Hört«, ohne Beifall, ohne Heiterkeit
und Unruhe bliebe. Die Predigt wie der verlesene Text selber
ist dazu da, das gemeinsame Schweigen der versammelten
Gemeinde zu schaffen. Und ihr Wesen ist also nicht, daß sie
Rede, sondern daß sie Exegese ist; die Verlesung des Schrift-
worts ist die Hauptsache; denn in ihr allein wird die Gemein-
samkeit des Hörens und damit der feste Grund aller Gemein-
samkeit der Versammelten geschaffen.
390
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
Geschaffen nur, nur begründet. Aber als solche Begrün-
dung wird sie zum liturgischen Brennpunkt des Fests, in
welchem das geistliche Jahr gegründet wird, der Wiederkehr
in seiner Wiederkehr, des Sabbats. In dem Kreislauf der
Wochenabschnitte, der jährlich einmal die ganze Thora durch-
läuft, wird das geistliche Jahr ausgeschritten, und die Schritte
dieses Laufs sind die Sabbate. Jeder Sabbat gleicht im großen
und ganzen jedem andern, aber der Wechsel des Schrift-
abschnitts unterscheidet jeden von jedem, und in diesem, was
sie unterscheidet, lassen sie erkennen, daß sie nicht ein letztes
sind, sondern nur die einzelnen Glieder einer höheren Ord-
nung, des Jahres; denn erst im Jahr schließt sich dies, was die
einzelnen unterscheidet, selber wieder zu einem Ganzen. Der
Sabbat verleiht dem Jahr Dasein. Dies Dasein muß all-
wöchentlich neu erschaffen werden. Das geistliche Jahr ist
allemal ganz befangen in dem Wochenabschnitt der grade
laufenden Woche; es weiß sozusagen nur, was in diesem
Wochenabschnitt grade »vorkommt«, aber es wird gleichwohl
zum Jahr erst dadurch, daß jede Woche nur ein vorüber-
gehender Augenblick ist; erst in der ablaufenden Folge der
Sabbate rundet sich das Jahr zum Kranz. Grade die Regel-
mäßigkeit in der Folge der Sabbate, gerade dies daß, bis auf
den Wochenabschnitt, im wesentlichen einer dem andern
gleicht, macht sie zu Grundsteinen des Jahrs; das Jahr als
geistliches wird durch sie überhaupt erst einmal geschaffen:
sie gehen allem, was etwa noch kommt, voran; sie gehen auch
ungestört neben allem diesen, unter allem Reichtum der Feste
ihren gleichmäßigen Gang; unter dem Aufbranden von Freude
und Schmerz, von Leid und Seligkeit, das mit den Festen
kommt und geht, zieht der gleichmäßige Fluß der Sabbate,
dessen gleichmäßiges Fließen erst jene Wirbel der Seele mög-
lich macht. Im Sabbat geschieht die Schöpfung des Jahrs, und
so ist er selber schon an sich in seiner innerliturgischen Stel-
lung das, was ihm auch als seine Bedeutung zuallernächst bei-
gelegt wird: das Erinnrungsfest der Schöpfung.
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
39*
Denn in sechs Tagen hat Gott Himmel und Erde geschaffen
und am siebenten hat er geruht. So wird der siebente Tag
als »Ruhetag«, als »Sabat«, zur Feier der »Erinnerung an das
Werk des Anfangs«, genauer an die Vollendung jenes Werks
— »und es waren vollendet der Himmel und die Erde und ihr
ganzes Heer«. Der Sabbat spiegelt die Schöpfung der Welt
ins Jahr. Gleich wie die Welt immer schon da ist und ganz
da ist, ehe irgend ein Ereignis in ihr eintritt, so geht auch die
Ordnung der Sabbate allen irgend Ereignisse vergegenwär-
tigenden Festen voran und läuft ungestört durch jene ihren
Lauf. Und gleich wie die Schöpfung nicht erschöpft ist darin,
daß die Welt einmal geschaffen wurde, sondern erst in ihrer
allmorgendlichen Erneuerung sich ganz erfüllt, so darf auch
der Sabbat als das Fest der Schöpfung kein einmaliges Fest im
Jahre sein, sondern muß, allwöchentlich dasselbe und doch all-
wöchentlich durch den Wochenabschnitt ein andres, sich durch
den ganzen Kreislauf des Jahres erneuen. Und gleich wie die
Schöpfung schon ganz vollendet ist und also die Offenbarung
ihr nichts herzubringt, was nicht als eine Weissagung schon
in ihr verborgen liegt, so muß auch das Fest der Schöpfung
schon den ganzen Inhalt der Offenbarungsfeste in sich tragen;
in seinem eigenen inneren Ablauf von Abend bis Abend muß es
ganz Weissagung sein.
Das dreimal täglich wiederholte große Gebet enthält am
Sabbat zum Unterschiede von den Werktagen poetische Ein-
lagen, die aus der einfachen Wiederholung einen geschlossen
zusammenhängenden Ablauf machen. Das Gebet des Vor-
abends wird durch seinen Zusatz auf die Stiftung des Sabbats
bei der Schöpfung der Welt bezogen. Das Schlußwort der
Schöpfungsgeschichte — »und es waren vollendet« — wird
hier gesprochen; so wird es auch nach der Heimkehr vom
öffentlichen Gottesdienst in den heiligen Lichtkreis des Hauses
gesagt, ehe in dem Segen über Brot und Wein als die gött-
lichen Gaben der Erde die Gottgeschaffenheit des Irdischen
unterm Schein der Sabbatkerzen bezeugt und damit der ganze
begonnene Tag zum Fest der Schöpfung geweiht wird. Brot
392
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
und Wein sind nämlich höchst vollkommene und gar nicht
mehr zu übertreffende Gebilde des Menschen und dennoch
nicht zu vergleichen seinen andern Gebilden, in denen sein
erfindrischer Geist die Gaben der Natur künstlich zusammen-
setzt und in der Zusammensetzung immerfort sich selber zu
höherer Künstlichkeit überbietet, sondern sie sind gar nichts
als veredelte Gaben der Erde; sie sind der geschaffene Grund
aller Lebenskraft das eine, aller Lebensfreude das andre; beide
fertig von der Welt her und vom Menschen auf ihr, und beide
werden nimmer alt; jeder Bissen Brot und jeder Schluck Wein
schmeckt uns so herrlich, wie uns der erste schmeckte, und
sicher nicht weniger herrlich als er vor unvordenklichen Zeiten
den Menschen schmeckte, die zum ersten Mal das Brot von
der Erde ernteten und die Frucht des Weinstocks lasen.
Wurde so der Vorabend insbesondere zur Feier der Schöp-
fung, so wird nun der Morgen zur Feier der Offenbarung. Die
Einlage zum großen Gebet singt hier die Freude Moses über
das Gottesgeschenk des Sabbats. Und dem Jubel des großen
Empfängers der Offenbarung, mit dem Gott redete von An-
gesicht zu Angesicht wie ein Mann redet mit seinem Freund
und den er erkannte wie hinfort keinen Propheten in Israel, folgt
nun in der Ordnung des Tages die Verlesung des Wochen-
abschnitts vor der Gemeinde durch die Abgeordneten der Ge-
meinde. Am Vorabend war es das Wissen um die Geschaffen-
heit alles Irdischen, die den Spruch der Weihe formte, am
Morgen ist es das Bewußtsein der Erwähltheit des Volks durch
die Gabe der Thora und der in dieser Gabe geschehenen Ein-
pflanzung ewigen Lebens in seiner Mitte. Mit jenem, dem Be-
wußtsein der Erwähltheit, tritt der Aufgerufene aus der
Gemeinde an das Buch der Offenbarung heran, mit diesem,
dem Bewußtsein ewigen Lebens, kehrt er ihm den Rücken und
taucht wieder unter in der Gemeinde. Mit diesem Bewußtsein
ewigen Lebens aber steigt er auch innerhalb des Sabbats über
die Schwelle, welche Offenbarung wie Schöpfung noch von der
Erlösung scheidet. Das Gebet des Nachmittags wird zum
Gebet der Erlösung.
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
393
In der Einlage dieses Gebets ist Israel mehr als das
erwählte, hier ist es das »eine«, das »einzige« Volk, das Volk
des Einen. Alle das Reich herbeizwingende Inbrunst, mit der
dies heilige Wort »eins« im Munde des betenden Juden gefüllt
ist, wird hier lebendig. So wird alltäglich zweimal, abends
und morgens, im Wort des Bekenntnisses, nachdem vorerst in
der Aufforderung zum »Hören« die Gemeinschaft Israels ge-
schaffen, in der Anrufung Gottes als »unsres Gottes« seine
unmittelbare Gegenwart bezeugt ist, Gottes »Einheit« aus-
gerufen als sein ewiger Name jenseits alles Namens, jenseits
aller Gegenwärtigkeit; und wir wissen, daß dieses Ausrufen
mehr ist als ein flüchtiges Wort, daß in ihm, indem der Ein-
zelne also das »Joch des Himmelreichs auf sich nimmt«, die
ewige Einigung Gottes mit seinem Volk, seines Volks mit der
Menschheit geschieht. Das alles klingt mit in dem Gebet des
Sabbatnachmittags in dem Hymnus auf das eine Volk des
Einen. Und die Gesänge des »dritten Mahls«, zu dem sich im
Dämmer des versinkenden Tages Greise und Rinder am langen
gedeckten Tische vereinen, sind ganz trunken von dem Rausch
der gewißlich nahenden Zukunft des Messias.
Aber diese ganze durchlaufene Bahn des Gottestags ist ein-
geschlossen in den Tageskreislauf des einzelnen Sabbats nur
wie ein Vorblick, dem erst weiterhin in eignen Festen die
Erfüllung werden kann. Im Sabbat selbst geschieht die Erfül-
lung noch nicht. Er bleibt ein Fest des Rühens und Betrach-
tens. Er bleibt die ruhende Grundlage des Jahres, in das, ab-
gesehen von der Folge der Wochenabschnitte, erst der Fest-
zyklus Bewegung hineinbringt. Wie Ornamente nur erscheinen
in diesen Rahmen eingeschnitzt schon die Vordeutungen auf
jene Inhalte der Offenbarung, die bestimmt sind, der Reihe
nach als Bilder in ihn eingespannt zu werden. Er selber ist gar
nicht ausschließlich Fest, sondern mindestens so sehr ein
bloßer Tag der Woche. Er hebt sich nicht wie die eigentlichen
Feste aus dem Jahr heraus, das ja vielmehr erst von ihm her
sich.aufbaut, sondern aus der Woche. Und so taucht er auch
wieder in die Woche zurück. Wie die Gemeinde ihn — der
394
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
Bräutigam die Braut — jubelnd begrüßte, als er ins Gotteshaus
einzog, so entschwindet er wieder wie ein Traum in den Alltag.
Der kleinste menschgesetzte Kreislauf, die Arbeitswoche, heb!
wieder an. Ein Kind hält den Brand, den ein Greis beim
letzten mit geschlossnem Auge geleerten Becher erwachend
aus dem Traum der Vollendung, den das Fest des siebenten
Tags gewoben, entzündet. Aus dem Heiligtum gilt es wieder
den Weg zu finden in den Alltag. Auf den Wechsel von Hei-
ligem und Gemeinem, von siebentem und erstem Tag, von
Vollendung und Anfang, Greis und Kind baut sich das Jahr,
baut sich das Leben. Der Sabbat ist der Traum von Voll-
endung, aber nur ein Traum. Und erst indem er dies beides
ist. wird er wirklich der Grundstein des Lebens, und grade als
Pest der Vollendung seine immer erneuerte Schöpfung.
Denn dies ist das Letzte: Seiner Einsetzung gemäß war der
Sabbat zuvörderst Erinnerung an das Werk des Anfangs und
als solche dauernder, fester Grund des geistlichen Jahres;
andrerseits war seine Einsetzung selber doch innerhalb der
Schöpfung schon das erste Zeichen der Offenbarung — er-
scheint doch in den Worten der Einsetzung verhüllt zum ersten
Mal in der Schrift der offenbarte Name Gottes; endlich aber ist
er nun grade darin, daß er beides, sowohl Zeichen der Schöp-
fung wie erste Offenbarung ist, auch und sogar vor allem die
Vorwegnahme der Erlösung. Was denn andres wäre die
Erlösung als dies, daß sich Offenbarung und Schöpfung ver-
söhnten! Und was wäre die erste unerläßliche Vorbedingung
solcher Versöhnung als die Ruhe des Menschen nach getaner
Weltarbeit. Sechs Tage hat er gearbeitet und alle seine
Geschäfte verrichtet, aber am siebenten ruht er; sechs Tage
hat er viel Nützes und Unnützes gesprochen, wie es ihn der
Werktag hieß, aber am siebenten läßt er nach dem Geheiß des
Propheten seine Zunge ruhen von alltäglichem Gerede und
lernt das Schweigen und Hören. Und diese Heiligung des
Ruhetags durch das schweigende Hören der Stimme Gottes
muß seinem ganzen Hause gemeinsam sein; es darf picht
gestört werden durch den Lärm des Befehls; auch Knecht und
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
395
Magd müssen ruhen, ja grade um ihrer Ruhe willen, heißt es,
sei der Ruhetag eingesetzt; denn wenn die Ruhe auch bis zu
ihnen gedrungen ist, dann wird in Wahrheit das ganze Haus
vom geschwätzigen Lärm der Werktage zur Ruhe erlöst sein.
Erlösung soll die Ruhe bedeuten, nicht Sammlung zu neuer
Arbeit. Die Arbeit ist allemal wieder ein Anfang; der erste
Werktag ist der erste Tag der Woche, der Ruhetag aber der
siebente. Das Fest der Schöpfung ist das Fest der Vollendung.
Indem wir es feiern, treten wir in der Schöpfung über Schöp-
fung und Offenbarung hinaus. Im großen Gebete am Sabbat
entfallen jene ganzen mittleren Bitten um die »Bedürfnisse des
Einzelnen«, nicht bloß die Bitten des Geschöpfs wie die um
gutes Jahr und Gedeihen der Feldfrucht, um Gesundheit, eigne
Einsicht und gutes Regiment, sondern auch die des Gottes-
kindes um Vergebung seiner Sünden und um endliche Erlösung;
und es bleibt außer der Bitte um Kommen des Reichs und um
Frieden, die Bitten des Einzelnen sind wie Bitten der Gemein-
schaft, nur Lob und Dank. Denn am Sabbat fühlt sich die
Gemeinde, soweit sie es in solcher Vorwegnahme irgend kann,
als erlöste — heute schon. Der Sabbat ist das Fest der Schöp-
fung, aber einer Schöpfung, die um der Erlösung willen
geschah. Er ist offenbart am Ende der Schöpfung und als der
Schöpfung Sinn und Ziel. Deswegen feiern wir das Fest des
uranfänglichen Werks nicht am ersten Schöpfungstag, sondern
an ihrem jüngsten, — am siebenten Tag.
Das schweigende Hören war nur der Anfang der Gemein-
schaft. Sie wurde darin gestiftet, und wie stets war auch
hier die ursprüngliche Stiftung das, worauf dauernd zurück-
gegriffen werden mußte, um durch solch zum Sammeln Blasen
immer wieder aus des Ursprungs Tiefen neue Kraft zu
schöpfen. Aber die seelenhafte Lebendigkeit der Gemeinschaft
kann nicht schon in diesem ihrem Ursprung, nicht im schwei-
genden Hören, beschlossen sein. Dieses Leben wird geboren
erst in einer Erneuerung, die nichts weiter ist als Erneuerung,
nicht bloße Wiederholung des einmal geschaffenen Anfangs,
396
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
sondern wesentlich Erneuerung, nicht bloße Neuschöpfung,
sondern Umschaffung des Veralteten in der augenblicklichen
Tat. Das gemeinsame Leben, das also geboren wird, soll ein
schweigendes Leben, lebendiges Schweigen sein; so können
wir es nur im leiblichen Leben zu finden erwarten. Die Um-
schaffung, die Umwechslung des veralteten Stoffes geschieht
im Mahl. Essen und Trinken ist schon für den Einzelnen die
Neugeburt seines leiblichen Menschen. Das gemeinsame Mahl
ist auch für die Gemeinschaft die Handlung, in der sie wieder-
geboren wird zum bewußten Leben.
Die schweigende Gemeinsamkeit des Hörens und Gehor-
chens stiftet schon die kleinste Gemeinschaft, die des Hauses;
daß dem Wort des Hausvaters ge=horcht wird, ist der Grund,
auf dem das Haus steht. Aber das gemeinsame Leben des
Hauses lebt nicht im gemeinsamen Gehorchen, sondern im
Mahl, zu dem sich alle Glieder des Hauses um den Tisch ver-
sammeln; hier ist jeder dem andern gleich, jeder indem er für
sich lebt dennoch mit allen andern vereint: nicht das Tisch-
gespräch begründet diese Einheit, wie es denn auf dem Lande
vielfach gar nicht üblich, ja wider den Anstand ist; jedenfalls
begründet es die Einheit nicht, sondern ist höchstens ihre
Äußerung. Gesprochen werden kann auch auf Straße und Platz,
so wie sich Leute zufällig begegnen; gemeinsames Mahl da-
gegen bedeutet immer eine wirkliche, bewirkte und wirkende
Gemeinschaft; in dieser an sich wortlosen Gemeinsamkeit des
gemeinsamen Mahls ist die Gemeinschaft als eine wirkliche im
Leben lebendige dargestellt.
Wo gemeinsames Mahl ist, da ist solche Gemeinschaft. So
im Haus, so aber auch in Klöstern, Logen, Kasinos, Verbin-
dungen. Und wo sie fehlt, etwa wie in Schulklassen oder gar
in bloßen Vorlesungen oder selbst in Seminarübungen, da ist
sie nicht, obwohl doch die Grundlage der Gemeinschaft, das
gemeinsame Hören, hier durchaus da ist; erst gesellige Ver-
anstaltungen wie Schulausflüge, Seminarabende erbauen auf
solch bloßer Grundlage das wirkliche Gemeinschaftsleben. Jene
Scham, die sich bei Naturvölkern dem Gedanken des gemein-
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
397
samen Essens entgegensetzt, wie jene Verruchtheit des AUein-
essenwollens, wie sie sich in den Gastwirtschaften, am meisten
bei dem der beim Essen »seine Zeitung« liest, breit macht, sind
beides Zeichen einer sei es noch unreifen und sauren, sei es
schon überreifen und angefaulten Menschlichkeit. Die süße
Vollreife Frucht der Menschlichkeit verlangt grade in der Er-
neuerung des leiblichen Lebens nach Gemeinsamkeit von
Mensch und Mensch; sonst mag es wohl noch die Zucht des
gemeinsamen Gehorchens geben, wie denn der Wilde sich
durch seine mißtrauisch einsame Mahlzeit so wenig von den
Gesetzen seines Stammes loslösen will wie der verstockte
Junggeselle in der Gastwirtschaft von der Pünktlichkeit seines
Berufs; aber was es dann nicht gibt, ist das Gefühl der Frei-
heit, das vor dem nie schwindenden Hintergründe jener ge-
meinsamen Zucht erst ein gemeinsames Leben hervorzaubert.
Das Letzte freilich ist solch gemeinsames Leben, wie es sich
im gemeinsamen Mahle darstellt, auch noch nicht, so wenig
wie das gemeinsame Hören. Aber auf dem Weg der Erziehung
zu diesem Letzten, dem gemeinsamen Schweigen, ist es die
zweite Station, wie jenes die erste. Im Sabbat selbst wie in
allen Festen ist das gemeinsame Mahl mit als ein wesentlicher
Teil enthalten. Aber als der eigentliche Boden der Festfeier be-
gegnet es uns erst beim ersten der Feste, die in ihrer Abfolge
zusammen in dem festen Rahmen des Jahres das Wandelbild
des ewigen Weltgangs des Volkes erscheinen lassen.
Die drei Wallfahrtsfeste, zu denen einst alles vom Lande
nach dem gemeinsamen Heiligtum zog, das Fest der Befreiung
aus Egypten, das Fest der Offenbarung des Zehnworts, das
Fest der Hütten in der Wüste, bilden zusammen ein Bild vom
Geschick des Volks als des Trägers der Offenbarung. In der
Offenbarung sind Schöpfung und Erlösung mitoffenbart, jene,
weil sie um der Offenbarung willen geschah und also im
engeren Sinn gradezu Schöpfung der Offenbarung ist, diese
weil die Offenbarung lehrt, ihrer zu harren; so sind auch im
Schicksalsgang des offenbarungserwählten Volks um den
398
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
Augenblick und Tag des eigentlichen Empfangens der Offen-
barung die breiten Festzeiten gelagert, in denen das Volk sich
seiner Bestimmung zum Offenbarungsempfänger bewußt wird;
diese Bestimmung entfaltet sich in den drei Stufen seiner
Schöpfung zum Volk, seiner Begabung mit dem offenbarten
Wort, seiner Wanderung mit der empfangenen Thora durch
die Wüste der Welt. Um den Doppeltag des Wochenfestes
liegen die achttägigen Feierzeiten des Fests der Befreiung aus
Egypten und des Fests der Laubhütten. In diesen dreien
schreitet über den gewissermaßen naturhaft ewigen Boden des
Jahrs mit seinen Sabbaten der Schritt der ewigen Geschichte.
Denn nur scheinbar sind es Feste der Erinnerung; in Wahrheit
ist das Geschichtliche in ihnen ganz dichte Gegenwart, und es
gilt für sie alle, was jedem Teilnehmer an dem ersten gesagt
wird: er müsse das Fest feiern, als sei er selber es, der aus
Egypten befreit worden. Anfang Mitte und Ende dieser natio-
nalen Geschichte, Stiftung, Höhe und Ewigkeit des Volks — mit
jedem neuen Geschlecht, nein mit jedem neuen Jahrgang und
mit jedem neuen Jahre der alten werden sie neu geboren.
Die Schöpfung eines Volks zum Volk geschieht in seiner
Befreiung. So ist das Fest des Anfangs der nationalen
Geschichte ein Befreiungsfest. Mit Recht konnte deshalb schon
der Sabbat sich geben als eine Mahnung an den Auszug aus
Egypten. War doch die Freiheit des Knechts und der Magd im
Volk, die er verkündet, bedingt durch die Befreiung des Volks
als Volk aus dem Diensthause Egypten, und erneuert doch das
Gottesgesetz bei jedem Befehle, die Freiheit auch des Knechts,
auch des Fremdlings im Volk zu achten, das Bewußtsein dieses
Zusammenhangs der gottgewollten Freiheit im Volk mit der
gottgewirkten Befreiung des Volks aus egyptischer Knecht-
schaft. Auch die Schöpfung des Volks trägt so, gleich der
Schöpfung überhaupt, schon in sich das letzte Ziel, den letzten
Zweck, um dessentwillen sie geschah. Und dem Gefühl des
Volks ist darum dies Fest unter den dreien das lebendigste
geworden; es trägt in sich den Sinn auch der beiden andern.
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
399
Das Abendmahl, zu dem der Hausvater an ihm die Seinen
vereint, ist recht eigentlich unter den vielen Mählern des geist-
lichen Jahres das Mahl schlechtweg; es ist das einzige, das
von Anfang bis zu Ende eine gottesdienstliche Handlung dar-
stellt und so von Anfang bis zu Ende — in Wahrheit, wie wir
es nennen, »Ordnung« — liturgisch geregelt ist. Das Wort der
Freiheit leuchtet über ihm von Anfang an. Die Freiheit des
Mahls, bei dem alle gleich frei sind, zeigt sich an in dem, was
mit andrem noch »diese Nacht unterscheidet von allen
Nächten«: dem »angelehnten« Sitzen; sie zeigt sich, lebendiger
noch als in dieser Erinnerung an das antike zu Tische Liegen
der Gäste beim Symposion, darin, daß grade das jüngste Kind
zu Worte kommt und daß sich nach ihm, nach seiner A/t und
Reife, die Tischreden des Hausvaters richten; das ist ja das
Zeichen der echten freien Geselligkeit im Gegensatz zu allem
Unterricht, der stets herrschaftlich, nie genossenschaftlich ver-
faßt ist, daß grade der verhältnismäßig noch am nächsten dem
Rande des Kreises Stehende das Gesetz für die Höhenlage der
Unterhaltung gibt; ihn muß sie noch einziehen; keiner, der
leiblich anwesend ist, darf geistig ausgeschlossen bleiben; die
Freiheit der Genossenschaft ist stets die Freiheit aller, die ihr
angehören. So wird dies Mahl ein Zeichen der Berufung des
Volks zur Freiheit. Daß diese Berufung nur Anfang, nur die
Schöpfung des Volks ist, das zeigt sich nun wieder in der
andren Seite dieses Hervortretens des jüngsten Kinds: das
Ganze nimmt dadurch, daß das Jüngste allein eigene Stimme
gewinnt, nun doch die Form des Unterrichts an: der Hausvater
spricht, und das Haus hört zu und gewinnt erst im Laufe des
Abends mehr und mehr gemeinsame Selbständigkeit, bis sich
in den Lobgesängen und den zwischen göttlichem Geheimnis
und weinseligem Scherz mitteninne schwebenden Tischliedern
des zweiten Teils alle ursprünglich in der Mahlgenossenschaft
selbst noch herrschaftliche Ordnung, ganz in der Gemeinsam-
keit gelöst hat.
Von der Stiftung des Volks eröffnet sich der Ausblick in
seine ferneren Schicksale, doch nur als Ausblick. Sie scheinen
400
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
alle vorgebildet in jenem Ursprung. Nicht erst heute stand
man gegen uns auf, uns zu vertilgen, nein, in jeglichem
Geschlecht bis hinauf zu jenem ersten, das aus Egypten zog,
— und in jeglichem Geschlecht hat uns Gott gerettet. Und was
er damals an uns in Egypten wirkte, die Befreiung aus dem
Diensthause, uns hätte es genügt; aber ihm, dem nur er selber
genügt, ihm war es nicht genug: er führte uns an den Sinai und
weiter an die Stätte der Ruhe in seinem Heiligtum. Erst die
letzten Tage des Festes eröffnen dann auch in den vorgelesenen
Schrifttexten den Ausblick vom Ursprung aus auf das, was der
Ursprung, die Schöpfung des Volks, schon in sich barg: die
Offenbarung und die endliche Erlösung. Auf die Offenbarung
deutet,die Verlesung des Hohen Lieds; den Fernblick auf die
Erlösung erschließt die jesajanische Weissagung vom Sproß aus
der Wurzel Isai, der die Erde schlagen wird mit dem Stabe
seines Mundes, des Tages da Wolf und Lamm beisammen
wohnen werden und die Erde voll sein wird der Erkenntnis
des Herrn, wie Wasser das Meer bedecken; die Wurzel aber
wird stehn, ein Panier der Völker, und Heiden werden ihr
nachgehn. Und dies ist der tiefste Sinn des Abschieds, mit
dem sich die Teilnehmer des Abendmahls der Befreiten grüßen:
künftiges Jahr in Jerusalem. Dem Propheten Elias, dem Vor-
boten jenes Reises aus der Wurzel Isai, der allzeit kehrt das
Herz der Väter zu den Kindern und der Kinder zu den Vätern,
auf daß der Fluß des Bluts unversiegend hin durch die lange
Nacht der Zeiten dem einstigen Morgen zurolle, ihm steht in
jedem Hause, wo das Mahl gefeiert wird, ein gefüllter Becher
bereit.
Zwei kurze Feiertage nur währt unter den drei Festen des
Offenbarungsvolkes das Fest der Offenbarung im engeren Sinn.
So steht die Offenbarung als der Augenblick der Gegenwart
zwischen dem langen immerwährenden Gewesen der Ver-
gangenheit und dem ewigen Kommen der Zukunft. Und gleich
wie die Offenbarung mit der Schöpfung aufs engste zusammen-
hängt, also daß sie ganz in ihr enthalten ist, die ihrerseits
wiederum wie Weissagung auf sie als ihre Erfüllung hinweist.
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
so folgt auch das Fest der Offenbarung im Volk dem der Stif-
tung des Volks in unmittelbarem Anschluß. Vom ersten Tag
des Befreiungsfestes beginnt im Gotteshaus wie im Heim ein
Zählen der Tage bis hin zum Fest der Offenbarung. Das Fest
selber vertieft sich mit vollkommener Ausschließlichkeit in den
einen Augenblick des zwiefachen Sinaiwunders: des Nieder-
steigens Gottes zu seinem Volk und der Verkündung des Zehn-
gebots. Im Gegensatz zu dem alles in seinem Schoße tragenden
Fest des nationalen Ursprungs weiß es fast nichts von etwas
außer ihm; das Vorher und Nachher der Offenbarung bleibt im
Schatten; das Volk ist ganz versenkt in die Zweieinsamkeit mit
seinem Gott. Auch die verlesenen Prophetenabschnitte öffnen
keinen Rück- oder Ausblick, sondern führen das nach innen
gekehrte Auge nur noch tiefer ins Innre hinein: Hesekiels
rätselvoll gestaltenreiches Gesicht der göttlichen Anfahrt und
des Habakuk stürmischer Gesang von Gottes Hereinbrausen in
die Welt, dort Hindeutung auf innere Geheimnisse des Wesens,
hier Abschilderung des übermächtigen Erscheinens, aber beide-
mal durchaus ein Bleiben im Kreise des einen größten Augen-
blicks der Offenbarung. Und so wissen sich auch die jüngeren
Gebete des Fests nicht genug zu tun in immer neuen dich-
terischen Umschreibungen des einen großen Inhalts der Offen-
barung, des Zehnworts.
Aber das Volk darf nicht unter dem bergenden Schatten des
Sinai, mit dem es Gott umhüllte, daß es mit ihm allein sei, ver-
weilen. Es muß aus der verborgenen Zweieinsamkeit mit
seinem Gott hinaus in die Welt; es muß die Wüstenwanderung
antreten, deren Ende das lebende Geschlecht, das unterm
Sinai gestanden, nicht mehr erleben wird; erst ein nach-
geborenes wird nach vollbrachter Wanderung durch die Wüste
die Ruhe im göttlichen Heiligtum der Heimat finden. Das
Hüttenfest ist das Fest der Wandrung zugleich und der Ruhe;
zum Gedenken an die einstige lange Wanderung, die dort
endlich zur Ruhe führte, vereinen sich da die Hausgenossen
zum heiteren Mahl nicht in den gewohnten Räumen des
Hauses, sondern unter leichtem, schnellgebautem Dache, das
26
%
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
den Himmel durchscheinen läßt. Da mag sich das Volk
erinnern, daß auch das Haus des jeweils heutigen Tags, mag
es noch so sehr zur Ruhe und zum sichern Wohnen verlocken,
doch nur ein Zelt ist, das vorübergehende Rast erlaubt auf der
langen Wanderung durch die Wüste der Jahrhunderte; denn
erst am Ende dieser Wanderung winkt die Ruhe, von der der
Erbauer des ersten Tempels einst, wie eben an diesem Fest
verlesen wird, sagte: Gepriesen sei, der seinem Volke
Ruhe gab.
Daß solcher Doppelsinn der Sinn dieses Festes ist, daß es
ein Fest der Erlösung nur innerhalb der drei Feste der Offen-
barung ist und die Erlösung deshalb hier nur als Hoffnung und
Gewißheit der zukünftigen Erlösung gefeiert wird, während es
an die Feste der in wirklicher Ewigkeit gegenwärtigen
Erlösung zwar nachbarlich im gleichen Monat angrenzt, aber
nicht mit ihnen zusammenfällt, das lehren wiederum, wenn
solcher Beweis noch nötig sein sollte, die Prophetenabschnitte,
die an ihm verlesen werden. Am ersten Tag ist es das ge-
waltige Schlußkapitel Sacharia vom Tag des Herrn mit der
Weissagung, die den täglichen Gottesdienst beschließt: Und
Gott wird König sein über die ganze Erde; an jenem Tag wird
Gott Einer sein und sein Name: Einer. Gleichwie dies höchste
Wort der Hoffnung alle Tage das letzte Wort der versam-
melten Gemeinde ist, so steht es auch am Schluß des geistlichen
Jahrs. Ihm gesellen sich an den andern Tagen des Fests die
Worte Salomos bei der Tempelweihe, wo das wandernde Hei-
ligtum der Bundeslade endlich zur Ruhe kommt, zu der das
Volk schon unter Josua kam, und wo das letzte Wort in
wunderbarem Miteinander die Hoffnung auf die einstige Er-
kenntnis »aller Völker der Erde, daß der Ewige Gott ist und
keiner sonst« zusammenbringt mit der Mahnung an das eine
Volk: es sei euer Herz »ganz« mit dem Ewigen. Und eben
dieses tatgetragene Ineinander von Herzenseinheit, Gottes-
einheit und Völkereinheit, wie es in dem Begriff der Heiligung
des göttlichen Namens durch das Volk für die Völker den
innersten Grund des Judentums bildet, hat in dem Hesekiel-
abschnitt dieses Fests an mehreren Stellen seinen klassischen
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
403
Ausdruck gefunden; auch das Gebet, das vornehmlich das
Gebet dieser dreifachen Heiligung ist, das Raddisch, hat ja hier
seine biblische Quelle: und Ich erhöhe mich und heilige mich
und tue mich kund vielen Völkern, auf daß sie erkennen, daß
Ich der Ewige bin.
So wird das Hüttenfest als das Fest der Ruhe des Volks
zugleich das Fest der höchsten Hoffnung. Aber doch eben
schon der Ruhe selber nur als einer Hoffnung. Die Erlösung
ist in diesem Fest der Erlösung nicht gegenwärtig; sie wird
nur erhofft, sie wird im Wandern erwartet. So kann dies
Fest, eben weil es die Erlösung noch nicht in ihrem eigenen
Reich, sondern bloß vom Berge der Offenbarung aus sieht und
sehen läßt, noch nicht das letzte Wort sein. Wie der Sabbat
wieder in den Werktag mündete, so muß dieser Schluß des
geistlichen Jahrs, ohne sich erst einmal als Schluß ausleben zu
dürfen, unmittelbar wieder in den Anfang hineinlaufen. Unmit-
telbar aus dem letzten Wort der Thora geht am Fest der
Thorafreude wiederum das erste hervor; und der Greis, der
in der Gemeinde Namen dieses Übergangs waltet, heißt nicht
»Gatte«, sondern in alle Ewigkeit nur »Bräutigam der Thora«.
Nicht umsonst doch ist grade dem Hüttenfest das Buch des zer-
setzenden Zweifels, der Prediger, zugeordnet. Die Ernüchte-
rung, die dem Sabbat in dem Augenblick, wo sein Duft zum
letzten Mal eingeatmet wurde, folgt, wenn der Wochentag
sich wieder in alter ungebrochner Macht ankündigt, — hier ist
sie durch die Verlesung des Predigerbuchs gewissermaßen ins
Fest selbst hineingenommen. Das Hüttenfest ist, obwohl es
die Erlösung zur Ruhe feiert, doch noch das Fest der Wüsten-
wanderung. In den Festen der Gemeinsamkeit des Volks im
gemeinsamen Mahl so wenig wie in denen des gemeinsamen
Hörens ist der Mensch schon in die Gemeinsamkeit des letzten
Schweigens eingekehrt. Uber der bloßen Gründung der
Gemeinschaft im ge'meinsamen Wort wie über ihrer bloßen
Auswirkung im gemeinsamen Leben muß es noch ein Höheres
geben, und sei dies Höhere auch an der äußersten Grenze der
Gemeinschaft gelegen und eine Gemeinsamkeit jenseits des
gemeinsamen Lebens.
2b*
404
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
Im gemeinsamen Hören wurde die Vorbedingung des gemein-
samen Lebens geschaffen. Die Gemeinschaft wurde bei
einem gemeinsamen Namen gerufen, und indem sie auf ihn
hörte, war sie da. Nun konnte sie sich gemeinsam an den Tisch
des Lebens setzen. Aber das gemeinsame Mahl vereinte die
Gemeinschaft immer nur zu den Stunden, wo es eingenommen
wurde. Und es vereinigte immer nur die Gemeinschaft, die es
vereinigte. Zum Mahl kommen immer nur die Geladenen. Dem
Wort kann folgen, wer es hört. Zum Mahl kann nur kommen,
wer geladen ist, — eben wer das Wort gehört hat. Ehe er zum
Mahle kommt, kennt er die andern Gäste nicht. Er selber hat
wohl die Einladung gehört, aber jeder hat sie für sich gehört.
Erst beim Mahl lernt er die andern kennen. Das gemeinsame
Schweigen der Hörer des Worts ist noch ein Schweigen jedes
Einzelnen. Erst bei Tisch lernt man sich in den Gesprächen,
die auf dem Grunde des gemeinsamen zu Tische Sitzens auf-
blühen, kennen. Geht man jetzt auseinander, so ist man nicht
mehr unbekannt. Man grüßt sich, wenn man sich begegnet.
Der Gruß ist dies höchste Zeichen des Schweigens: man
schweigt, weil man einander kennt. Damit sich alle Menschen,
alle Zeitgenossen, alle schon Gestorbenen, alle noch Un-
geborenen einander grüßten, wäre es nötig, daß sie mit-
einander, wie man sehr gut sagt, einen Scheffel Salz gegessen
hätten. Aber eben diese Vorbedingung ist unerfüllbar. Und
doch ist dieser Gruß Aller an Alle erst die höchste Gemein-
schaft, das Schweigen, das nicht mehr gestört werden kann.
In die Andacht des Hörens fällt von draußen die Stimme
aller derer, die den Ruf nicht vernommen haben; die Ruhe des
häuslichen Tisches wird nicht geachtet von dem Lärm der
Ungeladenen, die auf der Straße ahnungslos unter dem er-
leuchteten Fenster Vorbeigehen. Erst wenn alles schwiege,
wäre das Schweigen vollkommen und die Gemeinschaft alb
gemein. Der Gruß Aller an Alle, worin dies allgemeine
Schweigen sich anzeigte, hätte, wie jeder Gruß allermindestens
die Bekanntmachung und den Austausch einiger Worte, so
das gemeinsame Hören und das gemeinsame Mahl zur Vor-
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
122
aussetzung. Wie aber soll dieser Gruß Aller an Alle ge-
schehen?
Wie kann er denn geschehen? Wie geschieht er denn da,
wo er geschieht, also etwa in einer Armee? Doch nicht in dem
Gruß zweier Soldaten, die sich begegnen; der ist, wenn er
dem Vorgesetzten gilt, nur das Zeichen des gemeinsamen —
beileibe nicht etwa bloß des einseitigen — Hörens, und gilt er
dem Kameraden, so erinnert er an die Gemeinsamkeit in Tat
und Leiden, gemeinsamen Hunger und gemeinsame Wache,
gemeinsamen Marsch und gemeinsame Gefahr; der »stramme«
Gruß galt der überall und jeden Augenblick gleichmäßig herr-
schenden Disziplin als der Grundlage des Ganzen, der »kame-
radschaftliche« dem gemeinsamen Leben, das durchaus kein
Immer und Überall ist, sondern das seine Augenblicke hat, wo
es da ist, und andre, wo es ganz zurücktritt. In beidem zu-
sammen, der nie aussetzenden Zucht und dem leicht zu er-
weckenden Gefühl der Kameradschaft, jenem Dauernden und
diesem Augenblickshaften, erhält und erneuert sich der gute
Geist eines Heeres; es sind die beiden Quellen, aus denen er
sich zusammensetzt, aber das Ganze dieses Geists wird in
diesen beiden Formen des Grußes noch nicht sichtbar; er
bleibt immer ein bloßes Element des Ganzen.
Das Ganze und daß man dazu gehört, erlebt sich nur in der
Parade, im Fahnengruß, im Vorbeimarsch vor dem obersten
Kriegsherrn. Hier, wo salutiert wird vor jemand, der selber
vor niemand mehr Front zu machen hat, oder der wie die
Fahne dazu gar nicht in der Lage ist, wird nicht mehr ein
bloßes dem Untergebenen und dem Vorgesetzten gemeinsames
Gehorchen zum Ausdruck gebracht, sondern die Gemeinsam»
keit aller Angehörigen dieser Armee durch alle Zeiten; denn
Fahnentuch und Fürstengeschlecht, so fühlt der Soldat, ist
älter als die Lebenden und wird sie überleben. Und auch nicht
die Gemeinsamkeit des Lebens ist hier gemeint; denn die
Fahne so gut wie der König stirbt nicht, sondern wiederum
die Schicksalsgemeinschaft nur derer, aber derer nun ganz
allgemein durch alle Zeit hindurch, die hier salutieren. Und
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
nun erkennen wir, wie allein der Gruß Aller an Alle geschehen
kann, unabhängig davon, wie viele schon auch nur von den
Lebenden zu solchem Gruß durch die vorgängige Gemein-
schaft des Worts und Mahls bereitet sind, und unabhängig
auch davon, daß solche Gemeinschaft Aller durch alle Zeit
offenbar nie verwirklicht werden kann: der Gruß geschieht,
indem solche, die durch jene doppelte Gemeinsamkeit bereitet
sind, sich gemeinsam niederwerfen vor dem Herrn aller Zeit.
Das gemeinsame Knien vor dem Herrn der Dinge in aller Welt
und der Geister in allem Fleisch öffnet der Gemeinschaft, und
freilich nur ihr und den Einzelnen nur in ihr, den Heraustritt
in die Allgemeinschaft, wo jeder jeden kennt und ohne Wort
ihn grüßt — von Angesicht zu Angesicht.
Die »gewaltigen Tage«, diese Feste eigner Art, im Monat
des Fests gelegen, das unter den Festen der Volksgemein-
schaft das zur Ruhe Kommen zum Inhalt hat, sind ausgezeich-
net vor allen andern Festen dadurch, daß hier und nur hier
der Jude kniet. Was er dem Perserkönig weigerte, was keine
Macht der Erde ihm abtrotzen darf, was er aber auch seinem
Gott an keinem Tage des Jahres sonst und bei keiner Hand-
lung seines Lebens schuldig ist: hier tut ers. Und zwar nicht
im Bekenntnis der Schuld, nicht etwa im Gebet um Vergebung
der Sünden, welchem allen diese Festzeit doch vornehmlich
gewidmet ist, sondern nur im Schauen der unmittelbaren
Gottesnähe, also in einem Zustand, der über die irdische Be-
dürftigkeit des Heute hinausgehoben ist; ähnlich wie ja schon
das Hauptgebet am gewöhnlichen Sabbat die Bitte um Ver-
gebung der Sünden fortließ. Mit gutem Recht heißt der große
Versöhnungstag, in dem diese zehntägige Festzeit der Er-
lösung aufgipfelt, Sabbat der Sabbate. Erinnernd erschwingt
die Gemeinde das Gefühl der Gottesnähe in der Schilderung
des einstigen Tempeldiensts und vornehmlich des Augenblicks,
wo die Priester den nie ausgesprochenen, stets umschriebnen
Namen Gottes dies eine Mal im Jahre unumschrieben aus-
sprachen und das im Tempel versammelte Volk auf die Knie
DAS FEUER ODER DAS EWIQE LEBEN
407
fiel. Unmittelbar aber taucht die Gemeinde in jenes Gefühl in
dem Gebet, das auch sonst schon sich ganz verliert in die Ver-
heißung des künftigen Augenblicks, wo sich vor Gott beugen
wird jegliches Knie, wo aller Götzendienst geschwunden sein
'wird von der Erde, wo die Welt befestigt wird im Reich
Gottes und alle Kinder des Fleisches Seinen Namen rufen, alle
Frevler der Erde zu Ihm sich kehren und Alles das Joch Sei-
nes Reiches aufnimmt. Über diese sonst alltäglich den Schluß
des Gottesdienstes bildende Fassung wächst das Gebet an
den gewaltigen Tagen hinaus; jenes Flehen um die Herbei-
führung der Zukunft ist da in das Hauptgebet hineingenommen,
das an diesen Tagen mit gewaltigen Worten schreit nach dem
Tag, wo alles Geschaffene in die Knie sinkt und einen einzigen
Bund bildet, Gottes Willen zu tun mit einem ganzen Herzen.
Aber das Schlußgebet, das schon alltäglich diesen Schrei aus-
stößt, schweigt an diesen großen Tagen den Schrei und er-
greift schon in der Gegenwart, im vollen Bewußtsein, daß die
eigne Gemeinde noch nicht der Eine Bund alles Geschaffnen
ist, den Augenblick der ewigen Erlösung: und was die Ge-
meinde sonst im Jahre nur sagt, hier tut sies: sie fällt aufs
Angesicht vor dem König aller Könige.
So stellen die gewaltigen Tage, der Neujahrstag und der
Tag der Versöhnung, die ewige Erlösung mitten in die Zeit.
Die Posaune, die am Neujahrstag auf der Höhe des Fests ge-
blasen wird, macht ihn zum »Tag des Gerichts«. Das Gericht,
das sonst in die Endzeit gelegt wird, hier wird es unmittelbar
in den gegenwärtigen Augenblick gesetzt. Nicht die Welt des-
halb kann es sein, die gerichtet wird, — wo wäre sie denn
schon in dieser Gegenwart! Sondern das Gericht richtet über
den Einzelnen. Jedem Einzelnen wird nach seinem Tun sein
Schicksal bestimmt. Am Neujahrstag wird ihm das Urteil für
das vergangne und kommende Jahr geschrieben und am Ver-
söhnungstag, wenn die letzte Frist dieser »zehn Bußtage« ver-
strichen, gesiegelt. Das Jahr wird ganz und gar zum vollgül-
tigen Stellvertreter der Ewigkeit. In der jährlichen Wieder-
kehr dieses, des »jüngsten« Gerichts ist die Ewigkeit von aller
408
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
jenseitigen Ferne befreit; sie ist nun wirklich da, greifbar,
faßbar dem Einzelnen und den Einzelnen mit starker Hand
greifend und fassend. Er steht nicht mehr in der ewigen Ge-
schichte des ewigen Volks, nicht mehr in der ewig wechseln-
den Geschichte der Welt. Es gilt kein Warten, kein sich Ver-'
krjechen hinter die Geschichte. Der Einzelne unmittelbar wird
gerichtet. Er steht in der Gemeinde. Er sagt Wir. Aber die
Wir sind an diesem Tage nicht die Wir des geschichtlichen
Volks; nicht die Überschreitung der Gesetze, die dieses Volk
von den Völkern des Erdballs scheiden, ist die Sünde, um
deren Vergebung die Wir schreien. Sondern an diesen Tagen
steht der Einzelne unmittelbar in seiner nackten Einzelheit vor
Gott, in der Sünde des Menschen schlechtweg; nur diese
menschliche Sünde wird in der erschütternden Aufzählung der
Sünden, »die wir gesündigt haben«, genannt, — eine Aufzäh-
lung, die mehr bedeutet als Aufzählung: eine alle Schlupf-
winkel der Brust erleuchtende Hervorlockung des Bekennt-
nisses der einen Sünde des immer gleichen menschlichen
Herzens.
Und so können die Wir, in deren Gemeinschaft der Ein-
zelne also in seiner nackten und bloßen Menschlichkeit vor
Gott an seine Brust schlägt und in deren bekennendem Wir er
sein sündiges Ich fühlt wie nie im Leben, keine engere Ge-
meinde sein als die eine der Menschheit selbst. Wie das Jahr
an diesen Tagen unmittelbar die Ewigkeit vertritt, so Israel
an ihnen unmittelbar die Menschheit. »Mit den Sündern« ist
sich Israel bewußt zu beten. Und das heißt ja, sei der Ur-
sprung der dunkeln Formel welcher er wolle: als Ganzes der
Menschheit »mit« einem Jeden. Denn Jeder ist ein Sünder.
Mag die Seele von Gott dem Menschen rein gegeben sein, so
ist sie nun hineingerissen in den Streit der beiden Triebe
seines zwiegespaltenen Herzens. Und mag er in immer neu
gesammeltem Willen mit Vorsatz und Gelübde immer neu das
Werk der Einigung und Reinigung des zwiespältigen Herzens
beginnen, — an der Scheide zweier Jahre, die die Ewigkeit
bedeutet, wird ihm aller Vorsatz zu nichte, alle Weihe ent-
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
409
weiht; alles gottzugekehrte Gelübde zerbricht, und was Sein
wissendes Kind begann, das wird dem wähnenden — ver-
geben.
Ein vollkommen sichtbares Zeichen stellt diesen Grundton
der gewaltigen Tage, daß sie das Ewige für den Einzelnen un-
mittelbar in die Zeit hineinrücken, für ihre ganze Dauer fest.
Der Beter kleidet sich an diesen Tagen in sein Sterbekleid.
Zwar schon den Alltag lenkt der Augenblick des Anlegens des
Gebetmantels — Chlamys und Toga der antiken Tracht — auf
den Gedanken an das letzte Kleid und an das ewige Leben,
wo Gott die Seele in seinen Mantel hüllen wird. So fällt schon
vom Alltag und vom allwöchentlichen Sabbat gleich wie von
der Schöpfung her ein Lichtschein auf den Tod als die Krone
und das Ziel der Schöpfung. Aber das vollständige Sterbe-
kleid, nämlich zum Mantel auch noch der Rock — Chiton und
Tunica —, ist kein Kleid des Alltags; der Tod ist der Schöp-
fung nur Letztes, nur Grenze, ihn selber schaut sie nicht. Erst
die Offenbarung weiß, und sie weiß es als ihr erstes Wissen:
daß Liebe stark ist wie der Tod. Und so trägt der Einzelne
einmal schon im Leben das vollständige Sterbekleid: unterm
Trauhimmel, nachdem er es am Hochzeitstag aus den Händen
der Braut empfangen hat. Denn erst mit der Ehe wird er ein
ganz vollwertiges Glied des Volks; nicht umsonst betet sein
Vater bei seiner Geburt, es möge ihm vergönnt sein, ihn zu
erziehen zur Thora, zum Trauhimmel und zu guten Werken.
Thora, sie Lernen und Halten, ist die allzeit gewärtige Grund-
lage eines jüdischen Lebens; mit der Ehe beginnt die volle Ver-
wirklichung dieses Lebens; erst da sind eigentlich die »guten
Werke« möglich. Ja, der Thora bedarf als bewußter Grund-
lage nur der Mann; bei der Geburt einer Tochter hatte der
Vater nur gebetet, sie zu führen unter den Trauhimmel und zu
guten Werken: denn die Frau besitzt diese Grundlage jüdi-
schen Lebens auch ohne die dem lockerer in der Erde des Na-
türlichen wurzelnden Mann notwendige bewußte Erneuerung
des »Lernens«; ist doch nach altem Rechtssatz sie es, durch
die sich das jüdische Blut fortpflanzt; nicht erst das Kind
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
zweier jüdischer Eltern, schon das Kind einer jüdischen
Mutter ist durch seine Geburt Jude.
So ist es alsot innerhalb des einzelnen Lebens die Ehe, in
der das bloße jüdische Dasein sich erfüllt mit Seele. Die
Kammer des jüdischen Herzens ist das Haus. Und wie die
Offenbarung, indem sie etwas in der Schöpfung erweckt, was
stark ist wie der Tod, diesem und mit ihm der ganzen Schöp-
fung ihre Neuschöpfung, die Seele, im Leben selber das Über-
irdische, entgegenstellt, so trägt der Bräutigam unterm Trau-
himmel das Sterbekleid als Hochzeitskleid und sagt dem Tode,
in dem Augenblick da er ganz eingeht in das ewige Volk, Kampf
an, — stark wie er. Was aber so im Leben des Einzelnen ein
Augenblick ist, das ist nun auch ein ewiger Augenblick im
geistlichen Jahr. Auch hier trägt der Hausvater einmal das
Sterbekleid nicht als Sterbe-, sondern als Hochzeitskleid: beim
ersten der Feste der Offenbarung, beim Abendmahl der Be-
rufung des Volks zur Freiheit. Auch hier bezeichnet das Sterbe-
kleid den Übergang aus der bloßen Schöpfung in die Offen-
barung; beim ersten der drei Feste wird es getragen und zu
Wein und Mahl und ausgelassne’m Kinderscherz und frohen
Rundgesängen, — auch hier ein Trotz Tod.
Anders aber trägt es der Beter an den gewaltigen Tagen.
Hier ist es nicht Hochzeitskleid, nein wirklich Sterbekleid.
Und wie in diesem der Mensch einst, wenn man es ihm an-
ziehen wird, allein ist, so ist ers auch im Gebet dieser Tage.
Auch sie stellen ihn in nackter Einsamkeit unmittelbar vor
Gottes Thron. So wie Gott ihn einst richten wird, ihn allein
nach seinen eigenen Taten und nach den Gedanken seines
eigenen Herzens, und wird ihn nicht fragen nach den andern,
die ihn umgaben, und was wohl deren Schuld und Verdienst
an ihm sei, sondern er allein wird gerichtet: so tritt er hier in
vollkommener Einsamkeit, ein Gestorbener mitten im Leben,
und Glied einer versammelten Menschheit, die sich alle wie er
selbst mitten im Leben schon jenseits des Grabes gestellt
haben, vor das Auge des Richters. Alles liegt hinter ihm.
Schon zu Beginn des letzten Tags, auf den die neun voraus-
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
±1
gegangenen nur Bereitungen waren, hat er in jenem Gebet um
die Vernichtigung aller Gelübde, aller Selbstweihen und guten
Vorsätze sich die reine Demut erobert, nicht als sein wis-
sendes, nein bloß noch als sein wähnendes Kind vor den zu
treten, welcher ihm verzeihen möge, gleich wie er verzieh
»der ganzen Gemeinde Israel und dem Fremden, der da unter
ihnen weile, denn allem Volk geschahs im Wahne«. Nun ist
er reif zum Bekennen der eignen Schuld vor Gott in immer
neuen Wiederholungen. Es gibt da keine Schuld vor Menschen
mehr. Drückte ihn die, so müßte er sich ihrer zuvor von
Mensch zu Mensch in offnem Geständnis entledigen. Der Ver-
söhnungstag sühnt solche Schuld nicht; er weiß nichts von ihr;
ihm ist alle Schuld, auch die vor Menschen gesühnte und ent-
schuldigte, Schuld vor Gott, Sünde des einsamen Menschen,
Sünde der Seele — denn die Seele ists die sündigt. Und solch
gemeinsarmeinsamem Flehen einer Menschheit in Sterbe-
kleidern, einer Menschheit jenseits des Grabes, einer Mensch-
heit von Seelen, neigt sein Antlitz der Gott, der den Menschen
liebt vor seiner Sünde wie nachher, der Gott, den der Mensch
in seiner Not zur Rede stellen darf, warum er ihn verlassen
habe, der barmherzig ist und gnädig, langmütig, voll unver-
dienter Huld und voll Treue, der seine Liebe aufbewahrt dem
zweimaltausendsten Geschlecht und vergibt Bosheit und Trotz
und Schuld und begnadigt den, der umkehrt. Also daß der
Mensch, dem so das göttliche Antlitz sich neigte, aufjubelt in
dem Bekenntnis: Er, dieser Gott der Liebe, er allein ist Gott.
So sehr liegt alles Irdische hinter dem Ewigkeitsrausch
dieses Bekenntnisses, daß kaum vorzustellen ist, wie von hier
aus wieder ein Rückweg in den Kreislauf des Jahres gefunden
werden mag. Es ist deshalb für den Aufbau des geistlichen
Jahres höchst bedeutungsvoll, daß die Feste der unmittelbaren
Erlösung den Festmonat der Erlösung, mit dem der jährliche
Kreis der Sabbate abschließt, selber nicht abschließen; viel-
mehr folgt das Hüttenfest als das Fest der Erlösung auf dem
Boden der unerlösten Zeit und des geschichtlichen Volks ihnen
noch nach. In der Allgemeinsamkeit der einen Menschheit war
412
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
die Seele mit Gott allein gewesen; gegen solchen Vorgenuß
der Ewigkeit wird nun in jenem Fest die Wirklichkeit der Zeit
wieder in ihre Rechte eingesetzt; so kann der Kreislauf des
Jahres wieder beginnen, in welchem allein uns die Ewigkeit in
die Zeit zu beschwören erlaubt ist.
Es war der Kreislauf eines Volkes. Ein Volk war in ihm am
Ziel und wußte sich am Ziel. Es hatte für sich den Wider-
streit zwischen Schöpfung und Offenbarung aufgehoben. Es
lebt in seiner eignen Erlösung. Es hat sich die Ewigkeit vor-
weggenommen. ln dem Kreislauf seines Jahres ist die Zukunft
die bewegende Kraft; die kreisende Bewegung entsteht ge-
wissermaßen nicht durchstoß, sondern durch Zug; die Gegen-
wart verstreicht, nicht weil die Vergangenheit sie weiter-
schiebt, sondern weil die Zukunft sie heranreißt. In die Er-
lösung münden irgendwie auch die Feste der Schöpfung und
Offenbarung. Daß dann das Bewußtsein der noch unerreichten
Erlösung wieder hervorbricht und dadurch der Gedanke der
Ewigkeit über den Becher des Augenblicks, in den er schon
abgefüllt schien, wieder überschäumt, das gibt dem Jahr die
Kraft, wieder von vorne anzufangen und seinen anfangs- und
endelosen Ring einzureihen in die lange Kette der Zeiten. Aber
das Volk bleibt gleichwohl das ewige Volk. Ihm gilt seine Zeit-
lichkeit, dies daß die Jahre sich wiederholen, nur als ein War-
ten, allenfalls als ein Wandern, nicht als ein Wachsen.
Wachsen — das würde ja bedeuten, daß die Vollendung ihm in
der Zeit noch unerreicht bliebe, und wäre also eine Leugnung
seiner Ewigkeit. Denn Ewigkeit ist grade dies, daß zwischen
dem gegenwärtigen Augenblick und der Vollendung keine Zeit
mehr Platz beanspruchen darf, sondern im Heute schon alle
Zukunft erfaßbar ist.
Und so muß das Volk der Ewigkeit das Wachstum der Welt
vergessen, es darf nicht daran denken. Die Welt, seine Welt,
muß ihm für fertig gelten, nur die Seele mag noch unterwegs
sein; sie aber erreicht das Äußerste wohl auch im Sprung.
Und erreicht sie es nicht, so gilt es eben zu warten und zu
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
4D
wandern — »Geduld, und andre Karten«, nach dem tiefsinni-
gen Wort aus dem Don Quixote. Warten und Wandern sind
Geschäfte der Seele, nur das Wachsen fällt auf die Seite der
Welt. Und eben diesem Wachsen versagt sich das ewige Volk.
Sein Volkstum steht schon da, wohin die Völker der Welt
erst trachten. Seine Welt ist am Ziel. Der Jude findet in seinem
Volk das vollkommenste Eingehen in eine ihm eigene Welt, und
um dies Eingehn zu finden, braucht er keinen Deut von seiner
Eigenart preiszugeben. Es ist ein Zwist in die Völker der Welt
gelegt, seitdem die übervölkische Macht des Christentums
unter sie gekommen ist; seitdem ringt allenthalben ein Sieg-
fried mit dieser fremden, schon von Ansehen verdächtigen Ge-
stalt des gekreuzigten Mannes, einer der blond und blauäugig,
schwarz und feingliedrig, braun und dunkeläugig ist wie man
selber, mit diesem Fremden, der sich aller immer wieder ver-
suchten Angleichung an das eigne Wunschbild widersetzt.
Für den Juden allein gibt es keinen Zwiespalt zwischen dem
höchsten Bild, das vor seine Seele gestellt ist, und dem Volk,
in das sein Leben ihn hineinführt. Er allein hat die Einheit des
Mythos, die den Völkern der Welt durch das Christentum ver-
loren ging und verloren gehen mußte; mußte — denn der
Mythos, den sie besaßen, war heidnischer Mythos, der sie,
indem er sie in sich selbst hineinführte, von Gott und vom
Nachbar wegführte. Den Juden führt sein Mythos, indem er
ihn in sein Volk hineinführt, zugleich unter das Angesicht sei-
nes Gottes, der der Gott auch der Völker ist; für das jüdische
Volk gilt kein Zwiespalt zwischen dem Eigensten und dem
Höchsten, ihm wird die Liebe zu sich selbst unmittelbar zur
Liebe des Nächsten.
Weil das jüdische Volk also schon jenseits des Gegensatzes
steht, der die eigentliche bewegende Kraft im Leben der Völ-
ker bildet, des Gegensatzes von Eigenart und Weltgeschichte,
Heimat und Glaube, Erde und Himmel, so kennt es auch den
Krieg nicht. Der Krieg, wie ihn die alten Völker kannten, war
ja überhaupt nur eine unter den natürlichen Lebensäußerungen
und ist im Grunde ohne alle Schwierigkeit. Der Krieg bedeutet
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
4H
einem Volke Einsetzen des Lebens um des Lebens willen. Ein
Volk, das in den Krieg zieht, übernimmt die Gefahr des
eigenen Tods. Das bedeutet wenig, so lange sich die Völker
noch für sterblich halten. So lange will es nicht viel heißen,
daß von den beiden rechtschaffenen Kriegsgründen des großen
römischen Rhetors — »salus« und »fides«, Selbsterhaltung und
Einlösen des verpfändeten Treuworts — der zweite dem ersten
unter Umständen widerspricht. Es ist schließlich kein Grund
zu nennen, warum Sagunt und sein Volk nicht von der Erde
verschwinden soll. Aber was es bedeutet, wird klar, wenn
Augustin, von dem jene geistreiche Abführung Ciceros stammt,
nun erklärt: für die Kirche könne ein solcher Zwiespalt
zwischen dem eignen Heil und dem einem Höheren getreuen
Glauben nicht entstehen, für sie sei »salus« und »fides« eins.
Denn was Augustin hier von der Kirche sagt, das gilt in einem
gewissen Umfang nun auch von der weltlichen Gemeinschaft.,
gilt von Volk und Staat, wenn diese ihr eignes Sein einmal be-
gonnen haben unter höchstem Gesichtspunkt zu sehen.
Und mehr oder weniger sind eben durch das Christentum
solche Erwähltheitsgedanken über den einzelnen Völkern auf-
gegangen, und mit ihnen notwendig auch ein Anspruch auf
Ewigkeit. Nicht daß ein solcher Anspruch wirklich das ganze
Leben dieser Völker bestimmte; davon kann keine Rede sein;
auch der Erwähltheitsgedanke, der ihn ja allein begründen
kann, ist ihnen nur in gewissen erhöhten Augenblicken bewußt
und jedenfalls auch in ihnen noch beinahe mehr ein Fest-
gewand, in dem sie sich gefallen, als ein Amtskleid, ohne das
sie allen Ernstes nicht wirken zu können glaubten. Noch immer
schläft auf dem Grunde der Liebe zum eignen Volk das Vor-
gefühl, daß es irgend einmal in ferner Zukunft nicht mehr sein
würde, und gibt der Liebe eine süß=schmerzliche Schwere.
Aber immerhin, der Gedanke der notwendigen Ewigkeit des
Volks ist da, und schwach oder stark, ganz oder halb ernst
wirkt er irgendwie mit. Und nun gewinnt das Kriegführen
durch ihn allerdings ein sehr andres Ansehen. Das Leben des
Volks, das aufs Spiel gesetzt wird, ist etwas, was ernsthaft
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
415
gar nicht aufs Spiel gesetzt werden darf. Woran soll denn die
Welt genesen, wenn dieses Volkes Wesen aus ihr getilgt wird?
Und je ernsthafter ein Volk so die Einigung von »Salus« und
»Fides«, eigenem Dasein und eigenem Weltsinn, in sich voll-
zogen hat, um so rätselhafter wird ihm die Möglichkeit, die
ihm der Krieg erschließt: die Möglichkeit des Untergangs. Und
so rückt ihm der Krieg in den Mittelpunkt seines Lebens. Die
Staaten des Altertums hatten zum Mittelpunkt ihres staatlichen
Daseins den öffentlichen Kult, die Opfer, Feste und dergleichen;
der Krieg, der den Feind von den Grenzen wehrte, schirmte
gewiß die heimischen Altäre, aber er war nicht selbst Opfer,
nicht selbst kultische Handlung, nicht selbst Altar. Der »Glau-
benskrieg«, der Krieg als religiöse Handlung, blieb der Christ»
liehen Weltzeit Vorbehalten, nachdem ihn das jüdische Volk
entdeckt hatte.
Zu den bedeutsamsten Stücken unsres alten Gesetzes ge-
hört die Unterscheidung des gewöhnlichen Kriegs gegen ein
»sehr fernes« Volk, der nach den allgemeinen Regeln des
Kriegsrechts geführt wird, für die der Krieg eine gewöhnliche
Lebensäußerung gleichartiger Staatsgebilde ist, und des
Glaubenskriegs gegen die »sieben Völker« Kanaans, durch den
sich das Volk Gottes den ihm notwendigen Lebensraum er-
obert. In dieser Unterscheidung steckt die neue Ansicht des
Kriegs als um Gottes willen notwendiger Handlung. Die Völ=
ker der christlichen Weltzeit können jene Unterscheidung
nicht mehr aufrecht erhalten. Dem keine Grenzen duldenden
Geist des Christentums gemäß gibt es für sie keine »sehr fer-
nen« Völker. Was das jüdische Recht staatsrechtlich scheiden
konnte, Glaubenskrieg und Staatskrieg, das mischt sich ihnen
in eins. Grade weil sie nicht wirkliche Gottesvölker sind, son-
dern erst auf dem Wege, es zu werden, können sie jene
scharfe Grenze. nicht ziehen; sie können gar nicht wissen,
wie weit ein Krieg Glaubenskrieg ist, wie weit bloß weltlicher
Krieg. Aber auf jeden Fall wissen sie, daß irgendwie Gottes
Wille sich in den kriegerischen Geschicken ihres Staates ver-
wirklicht. Irgendwie — das Wie bleibt rätselhaft; das Volk
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
muß mit dem Gedanken eines möglichen Untergangs vertraut
werden; ob es als Volk zu einem Stein-im Bau des Reichs ge-
braucht werden wird, — das Bewußtsein der Einzelnen ent-
scheidet darüber nichts; der Krieg allein, der über das Be-
wußtsein der Einzelnen hinwegrast, entscheidet.
Gegenüber diesem ständigen Leben im Glaubenskrieg hat
nun das jüdische Volk seinen Glaubenskrieg in mythischer
Vergangenheit hinter sich liegen. So sind alle Kriege, die es
noch nicht erlebt, ihm rein politische Kriege. Und da es nun
doch den Begriff des Glaubenskrieges hat, so kann es sie nicht,
wie die antiken Völker, denen dieser Begriff fremd war, ernst
nehmen. Ja der Jude ist eigentlich der einzige Mensch in der
christlichen Welt, der den Krieg nicht ernst nehmen kann,
und so ist er der einzige echte »Pazifist«. So aber scheidet er
sich, grade weil er die vollkommene Gemeinschaft in seinem
geistlichen Jahr erlebt, ab von der weltlichen Zeitrechnung,
auch nachdem diese aufgehört hat, jedem Volke eine besondere
zu sein, und als christliche Zeitrechnung der ganzen Welt
grundsätzlich gemeinsam geworden ist. Was er im alljähr-
lichen Kreislauf schon als ein Ereignis besitzt, die Unmittel-
barkeit aller Einzelnen zu Gott in der vollkommenen Gemein-
schaft Aller mit Gott, das braucht er nicht mehr im langen
Gang einer Weltgeschichte zu erwerben.
Das jüdische Volk ist für sich schon an dem Ziel, dem die
Völker der Welt erst zuschreiten. Es besitzt die innere Ein-
tracht von Glauben und Leben, die als Eintracht von fides und
salus Augustin wohl der Kirche zuschreiben darf, die aber den
Völkern in der Kirche noch ein bloßer Traum ist. Freilich in-
dem es sie besitzt, steht es außerhalb der Welt, die sie noch
nicht besitzt; indem es den ewigen Frieden lebt, steht es
außerhalb einer kriegerischen Zeitlichkeit; indem es am Ziel
ruht, das es sich in der Hoffnung vorwegnimmt, scheidet es
sich aus dem Zuge derer, die sich ihm in der Arbeit der Jahr-
hunderte nahen. Seine Seele, die im Schauen der Hoffnung ge-
sättigt ist, stirbt der Arbeit, der Tat, dem Kampf um die Welt
ab. Die Weihe, die über es als ein Reich von Priestern ausge-
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
4*7
gossen ist, macht sein Leben unfruchtbar; seine Heiligkeit
hindert es, seine Seele an die noch ungeheiligte Welt der Völ-
ker hinzugeben, mag es dieser Welt noch so sehr mit dem
Leibe verhaftet sein. Es muß sich der vollen, der tätigen Teil-
nahme an ihrem Leben mit seinen täglich abschließenden Lö-
sungen aller Widersprüche versagen. Es darf die Lösung der
Widersprüche im Heute nicht anerkennen, weil es dadurch der
Hoffnung auf die endliche Lösung der Widersprüche untreu
werden würde. Es muß, um das Bild der wahren Gemeinschaft
unversehrt zu erhalten, sich die Befriedigung verbieten, die
den Völkern der Welt fortwährend im Staate wird. Denn der
Staat ist die immer wechselnde Form, unter der die Zeit sich
Schritt für Schritt der Ewigkeit zubewegt. Im Gottesvolk ist
das Ewige schon da, mitten in der Zeit. In den Völkern der
Welt ist reine Zeitlichkeit. Aber der Staat ist der notwendig
immer zu erneuernde Versuch, den Völkern in der Zeit Ewig-
keit zu geben. Wie er das unternehmen kann, das werden wir
sehen. Aber daß er es unternimmt und unternehmen muß, das
macht ihn zum Nachahmer und Nebenbuhler des in sich selber
ewigen Volkes, das kein Recht auf seine eigene Ewigkeit mehr
hätte, könnte der Staat erreichen, wonach er langt.
Ein Kreislauf, der Kreislauf des Jahres, versichert das
ewige Volk seiner Ewigkeit. Die Völker der.Welt sind in sich
ohne Kreislauf; ihr Leben rollt in breitem Strome talwärts.
Soll ihnen vom Staat her Ewigkeit kommen, so muß der Strom
aufgehalten, zum See gestaut werden. Aus dem reinen Ablauf
der Zeit, dem die Völker an sich hingegeben sind, muß der
Staat einen Kreislauf zu machen suchen; den dauernden
Wechsel ihres Lebens muß er in Erhaltung und Erneuerung
umformen und so einen Kreislauf hineinbringen, der in sich die
Fähigkeit hätte, ewig zu sein. Zwischen Erhaltung und Erneue-
rung setzt das Leben einen scheinbar unversöhnlichen Zwist.
Es will nur Wechsel. Das Gesetz des Wechsels verbietet, daß
etwas, was beharrt, sich wandle wie auch daß sich im
Wechsel etwas erhalte. Das Leben kann entweder nur Ruhe
sein oder nur Bewegung. Und da die Zeit nicht abgeleugnet
418
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
werden kann, so siegt die Bewegung. In des gleichen Flusses
Welle steigst du nicht zum zweiten Mal. In hemmungslosem
Wechsel und Wandel scheint die Geschichte zu verrauschen.
Da kommt der Staat und hängt über den Wandel sein Gesetz.
Nun ist mit einem Male etwas da, was beharrt. Ja auf den
ersten Blick scheint es, als ob nun alles festgesetzt ist, alles
beharrt. Aber bald strömt über die feste gesetzte Tafel das
rauschende Leben schon wieder fort. Das Gesetz erhält sich
nur, solange das Volk es hält. Und Recht und Leben, Dauerndes
und Wechselndes, scheinen auseinanderzugehen. Da enthüllt
der Staat sein wahres Gesicht. Das Recht war nur sein erstes
Wort. Es kann sich nicht gegen den Wechsel des Lebens be-
haupten. Nun aber spricht er sein zweites Wort: das Wort
der Gewalt.
Die Gewalt läßt das Leben zu seinem Recht gegen das
Recht kommen. Indem der Staat selber gewaltsam ist und
nicht bloß rechtlich, bleibt er dem Leben auf den Fersen. Es
ist der Sinn aller Gewalt, daß sie neues Recht gründe. Sie ist.
keine Leugnung des Rechts, wie man wohl, gebannt durch ihr
umstiirzlerisches Gehabe, meint, sondern im Gegenteil seine
Begründung. Aber es steckt ein Widerspruch in dem Ge-
danken eines neuen Rechts. Recht ist seinem Wesen nach
altes Recht. Und nun zeigt sichs, was die Gewalt ist: die
Erneuerin des alten Rechts. Das Recht wird in der gewalt-
samen Tat ständig zum neuen Recht. Und der Staat ist also
gleichsehr rechtlich und gewaltsam, Hort des alten und Quelle
des neuen Rechts; und in dieser Doppelgestalt als Rechtshort
und Rechtsquelle setzt sich der Staat über den bloßen Abfluß
des Volkslebens, in welchem sich unaufhörlich und ungewalt-
sam Sitte mehrt und Gesetz ändert. Diesem natürlichen Ver-
streichenlassen des lebendigen Augenblicks, wie es sich in der
Mehrung der Sitte und im Wandel des Rechts beim lebendigen
Volk zeigt, setzt der Staat sein gewaltiges Behaupten des
Augenblicks entgegen. Aber nicht wie beim ewigen Volk so,
daß er den Augenblick verewigte zu ein für allemal abgeschlos-
sener Sitte und unwandelbarem Gesetz. Sondern indem er den
DAS FEUER ODER DAS EWIGE LEBEN
±2
Augenblick, und jeden folgenden Augenblick neu, herrisch
ergreift und nach seinem Willen und seinem Vermögen formt.
In jedem Augenblick bringt der Staat den Widerspruch von
Erhaltung und Erneuerung, altem und neuem Recht, gewaltsam
zum Austrag. Das ist jene ständige Lösung des Widerspruchs,
die der Lebenslauf des Volks von sich aus durch das Weiter-
fließen der Zeit nur immerfort vertagt; der Staat nimmt sie in
Angriff; ja er ist weiter nichts als dies jeden Augenblick vor-
genommene Lösen des Widerspruchs.
So ist Krieg und Revolution die einzige Wirklichkeit, die
der Staat kennt, und in einem Augenblick, wo weder das eine
noch das andre statthätte — und sei es auch nur in Gestalt
eines Gedankens an Krieg oder Revolution —, wäre er nicht
mehr Staat. Er kann keinen Augenblick das Schwert aus der
Hand legen; denn er muß es jeden Augenblick wieder
schwingen, um mit ihm den gordischen Knoten des Volkslebens,
den Widerspruch zwischen Vergangenheit und Zukunft, den
das Volk in seinem natürlichen Leben nicht löst, nur weiter-
schiebt, zu zerhauen. Aber indem er ihn zerhaut, schafft er in
jedem Augenblick, und freilich nur immer für diesen einzelnen
Augenblick, den Widerspruch aus der Welt und staut so den
immerfort in alle Zeit bis zum endlichen Münden in den Ozean
der Ewigkeit sich selber verleugnenden Fluß des Lebens der
Welt in jedem Augenblick zum stehenden Gewässer. So aber
macht er jeden Augenblick zur Ewigkeit. Er schließt in jedem
den Widerspruch von alt und neu durch die gewaltsame Ver-
neuerung des Alten, die dem Neuen die rechtliche Kraft des
Alten verleiht, zum Kreis. Das Neue folgt nicht dem Alten,
sondern es schmilzt in der kühnen Verdichtung zu einem
»neuen Recht« mit dem Alten für den Augenblick unlösbar zu-
sammen. Der Augenblick bleibt durchaus Augenblick; er ver-
geht. Aber solange er nicht vergangen ist, solange ist er in
sich eine kleine Ewigkeit; denn solange hat er in sich nichts,
was über ihn hinauswill, da das Neue, das sonst immerfort über
das Alte kommt, in seinem Bannbereich für den Augenblick ge-
bändigt ist. Erst der neue Augenblick bricht die Gewalt des
27*
420
DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
alten und droht das Leben wieder als freien Fluß dahinfließen
zu lassen; aber sofort erhebt der Staat wieder sein Schwert
und bannt den Fluß aufs neue zum Stehenden, die fortlaufende
Bewegung zum Kreis. Diese vom Staat gebannten Augenblicke
sind so rechte »Stunden« des Volkslebens, das von sich aus
keine Stunden kennt; erst der Staat bringt in den unaufhör-
lichen Abfluß dieses Lebens in der Zeit Stillstände, Halte-
punkte, Ep=ochen. Die Epochen sind die Stunden der Welt-
geschichte, und nur der Staat bringt sie hinein durch seinen
kriegerischen Bannspruch, der die Sonne der Zeit Stillstehen
läßt, bis jeweils für diesen Tag »das Volk Herr geworden über
seine Feinde«. Ohne Staat also keine Weltgeschichte. Der
Staat allein läßt jene Spiegelbilder der wahren Ewigkeit in den
Zeitstrom fallen, die als Epochen die Bausteine der Welt-
geschichte bilden.
Und darum muß die wahre Ewigkeit des ewigen Volks dem
Staat und der Weltgeschichte allzeit fremd und ärgerlich
bleiben. Gegen die Stunden der Ewigkeit, die der Staat in den
Epochen der Weltgeschichte mit scharfem Schwert einkerbt in
die Rinde des wachsenden Baums der Zeit, setzt das ewige
Volk unbekümmert und unberührt Jahr um Jahr Ring auf Ring
um den Stamm seines ewigen Lebens. An diesem stillen, ganz
seitenblicklosen Leben bricht sich die Macht der Welt-
geschichte. Mag sie doch immer aufs neue ihre neuste Ewig-
keit für die wahre behaupten, wir setzen gegen alle solche Be-
hauptungen immer wieder das ruhige, stumme Bild unsres
Daseins, das dem, der sehen will, wie dem, der nicht will,
immer wieder die Erkenntnis aufzwingt, daß die Ewigkeit nichts
Neuestes ist. Der Arm der Gewalt mag das Neueste mit dem
Letzten zusammenzwingen zu einer allerneusten Ewigkeit.
Aber das ist nicht die Versöhnung des spätesten Enkels mit
dem ältesten Ahn. Und diese wahre Ewigkeit des Lebens,
diese Bekehrung des Herzens der Väter zu den Kindern, wird
immer wieder durch unser Dasein den Völkern der Welt vor
die Augen gerückt, auf daß sie stumm die weltlich-allzuwelt-
DAS FEUER ODER DAS EWIQE LEBEN
421
liehe Scheinewigkeit ihrer zu Staaten verfaßten weltgeschicht-
lichen Augenblicke Lügen strafe. Der Gang der Weltgeschichte
versöhnt, solange das Reich Gottes noch erst kommt, immer
nur die Schöpfung in sich selbst, immer nur ihren nächsten
Augenblick dem vorigen. Die Schöpfung selber als Ganzes
aber wird mit der Erlösung in alle Zeit, solange die Erlösung
noch im Kommen ist, zusammengehalten nur durch das aus
aller Weltgeschichte herausgestellte Ewige Volk. In seinem
Leben allein brennt das Feuer, das sich aus sich selber nährt
und das darum des Schwertes nicht bedarf, das seiner Flamme
aus den Gehölzen der Welt Nahrung zubrächte. Dies Feuer
brennt in sich selber. Seine Strahlen, die in die Welt hinein-
leuchten, erleuchten die Welt; ihm selber brauchen sie nicht
zu leuchten. Er weiß nichts von ihnen. Es brennt, schweigend
und ewig. Der Same des ewigen Lebens ist gepflanzt; so kann
es warten, daß er aufgehe. Von dem Baum, der aus ihm
wächst, weiß das Samenkorn nichts und wenn er die Welt
überschattete. Eines Tages wird aus den Früchten des Baums
ein Same kommen, der ihm gleicht. Gepriesen sei, der ewiges
Leben pflanzte in unsrer Mitte.
ZWEITES BUCH
DIE STRAHLEN
ODER
DER EWIGE WEG
ES mag keines Menschen Kraft die Gedanken des Schöp-
fers erfassen; denn seine Wege sind nicht unsre Wege
und seine Gedanken nicht unsre Gedanken. Mit diesem
Wort über Gottes Wege beginnen am Schluß der großen Auf-
zeichnung des ganzen mündlichen und schriftlichen Lehr-
inhalts, die uns Maimonides als »Wiederholung des Gesetzes®
geschenkt hat, die folgenden Sätze über den Weg des wahren
Messias und jene große Irreleitung, neben Gott einen andern
zu verehren, die nach der Prophezeiung im Buch Daniel über
die Welt kam durch »abtrünnige Söhne deines Volks, die sich
vermessen, zu erfüllen die Gesichte, — und kommen zu Fall«.
So also fährt unser großer Lehrer fort: Dies alles hat nur den
Weg geebnet für den königlichen Messias, der die Welt grün-
den wird auf den Dienst Gottes, wie es heißt: dann gebe ich
den Völkern geläuterte Lippen, daß sie alle gemeinsam
Gott anrufen und ihm dienen einträchtiglich. Ist doch in-
zwischen die ganze Welt voll worden vom messianischen Ge-
danken und von den Worten der Lehre und der Gebote; ver-
breitet haben sich jener Gedanke und diese Worte auf fernen
Inseln und unter vielen Völkern unbeschnittenen Herzens und
unbeschnittenen Fleisches; alle beschäftigen sie sich jetzt mit
den Worten der Thora und mit der Frage ihrer Gültigkeit; es
behaupten die einen, jene unsre Gebote seien wohl wahr, doch
nicht mehr in Gültigkeit, und andre behaupten, es seien Ge-
heimnisse darin verborgen und nichts im schlichten Wortsinn
zu verstehen, und einst sei der Messias gekommen und habe
das Geheime offenbar gemacht. Wenn aber erst der wahre
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
Messias kommen wird, und es wird ihm gelingen und er wird
hoch sein und erhaben, dann kehren sie alle heim und er-
kennen, was Wahn gewesen.
Aus dem feurigen Kern des Sterns schießen die Strahlen.
^Sie suchen sich ihren Weg durch die lange Nacht der
Zeiten. Es muß ein ewiger Weg sein, kein zeitlicher, ob er
gleich durch die Zeit führt. Er darf die Zeit nicht verleugnen;
er soll ja durch sie hindurchführen. Und dennoch darf die Zeit
nicht Gewalt über ihn kriegen. Und hinwiederum darf er sich
auch nicht, wie es das in sich selber sich fortzeugende ewige
Volk tut, seine eigene Zeit schaffen und sich dadurch von der
Zeit frei machen. So bleibt ihm nur eins: er muß der Zeit Herr
werden. Wie aber könnte das geschehen? Wie könnte ein
Weg, der die Zeit durchläuft, statt von der Zeit abgeteilt zu
werden, selber die Zeit abteilen?
In der Frage liegt schon die Antwort. Doch nur deswegen
bestimmt der Takt der Zeit alles, was in ihr geschieht, weil
die Zeit älter und jünger ist als alles, was geschieht. Wenn
ihr ein Geschehen entgegenträte, das seinen Anfang und sein
Ende außer ihr hätte, so könnte der Pulsschlag dieses Ge-
schehens den Stundenschlag der Weltuhr regeln. Solch Ge-
schehen müßte von jenseits der Zeit kommen und in ein
Jenseits der Zeit münden. In jeder Gegenwart zwar
wäre es in der Zeit; aber weil es sich in seiner Ver-
gangenheit und in seiner Zukunft unabhängig von der Zeit
weiß, so fühlt es sich stark gegen sie. Seine Gegenwart steht
zwischen Vergangenheit und Zukunft; der Augenblick aber
steht nicht, sondern verfliegt pfeilschnell und ist infolgedessen
nie »zwischen« seiner Vergangenheit und seiner Zukunft, son-
dern ehe er zwischen etwas sein könnte, ist er schon ver-
flogen. Ein Zwischen kennt der Weltlauf nur in der Ver-
gangenheit; nur der vergangene Zeitpunkt ist Zeit*punkt, Ep*
oche, Haltestelle. Die lebendige Zeit weiß nichts von Punkten;
jeder Punkt ist, indem ihn der Augenblick pfeilschnell zu
durchfliegen beginnt, schon durchflogen. Aber in der Ver-
424
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
gangenheit gibt es jenes stehende Nebeneinander der Stunden;
hier gibt es Epochen, Haltepunkte in der Zeit, und sie sind
daran zu erkennen, daß ihnen Zeit vorangeht, Zeit folgt; sie
sind zwischen Zeit und Zeit.
Nur als solches Zwischen aber gewinnt die Zeit Gewicht,
also daß sie nicht mehr pfeilschnell verfliegen kann. Die
Epoche geht nicht mehr vorüber, ehe ichs gewahr werde, und
verwandelt sich, ehe ichs merke. Sondern sie bedeutet etwas.
»Etwas« — also sie hat Dinghaftigkeit, sie ist wie ein Ding.
In der Vergangenheit formt sich der Weltlauf zu unverrück-
baren »Dingen«, zu Zeitaltern, Epochen, großen Augenblicken.
Und er kann es nur, weil in der Vergangenheit die verfliegen-
den Augenblicke als Haltepunkte festgehalten werden, gehalten
zwischen einem Vor und einem Nach. Als Zwischen entgleiten
sie nicht mehr, als Zwischen haben sie Bestand, stehen sie
gleich Stunden. Über die Vergangenheit, die aus lauter
Zwischen besteht, hat die Zeit ihre Macht verloren; der Ver-
gangenheit kann sie nur noch zufügen, aber ändern kann sie
an ihr höchstens noch durch das Zugefügte; in ihren inneren
Zusammenhang kann sie nicht mehr eingreifen, der steht fest,
jeder Punkt zwischen andern Punkten; der chronikalische
Gleichtakt der Jahre, der die Gegenwart so zu beherrschen
scheint, daß vergebens die Ungeduld des Weltverbesserers,
der Notschrei des seiner Schicksalswende gewärtigen Un-
glücklichen sich dagegen aufbäumen, — in der Vergangenheit
verliert er seine Macht; hier beherrschen die Ereignisse die
Zeit, nicht umgekehrt. Epoche ist, was zwischen seinem Vor
und Nach — steht; wieviel Jahre die Chronik ihr zuweist, das
kümmert sie wenig; jede Epoche wiegt gleichviel, einerlei ob
sie Jahrhunderte oder Jahrzehnte oder nur Jahre dauerte. Die
Ereignisse regieren hier die Zeit, indem sie ihre Kerben in sie
schlagen. Ereignis aber ist nur innerhalb der Epoche, Ereignis
steht zwischen Vor und Nach. Und stehendes Zwischen gibt
es nur in der Vergangenheit. Sollte auch die Gegenwart also
zur Freiherrin der Zeit erhoben werden, so müßte auch sie ein
Zwischen sein; die Gegenwart müßte epoche=machend wer-
den, jede Gegenwart. Und die Zeit als Ganzes müßte Stunde
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG 425
werden, — diese Zeitlichkeit; und als solche eingespannt in die
Ewigkeit; die Ewigkeit ihr Anfang, die Ewigkeit ihr Ende,
und alle Zeit nur das Zwischen zwischen ienem Anfang und
jenem Ende.
Das Christentum ist es, das also die Gegenwart zur Epoche
gemacht hat Vergangenheit ist nun nur noch die Zeit vor
Christi Geburt. Alle folgende Zeit von Christi Erdenwandel
an bis zu seiner Wiederkunft ist nun jene einzige große Gegen-
wart, jene Epoche, jener Stillstand, jene Stundung der Zeiten,
jenes Zwischen, worüber die Zeit ihre Macht verloren hat.
Die Zeit ist nun bloße Zeitlichkeit. Als solche ist sie von
jedem ihrer Punkte aus ganz zu übersehen; denn jedem ihrer
Punkte ist Anfang und Ende gleich nah; die Zeit ist ein ein-
ziger Weg geworden, aber ein Weg, dessen Anfang und Ende
jenseits der Zeit hegt, und also ein ewiger Weg; während auf
Wegen, die aus Zeit in Zeit führen, immer nur ein nächstes
Stück zu übersehen ist. Auf dem ewigen Wege wiederum ist,
weil doch Anfang und Ende gleich nah sind, einerlei wie die
Zeit auch vorrückt, jeder Punkt Mittelpunkt. Nicht weil er
grade im Augenblick der gegenwärtige ist, — durchaus nicht.
Dann wäre er ja bloß für einen Augenblick Mittelpunkt und
im nächsten schon nicht mehr. Solche Lebendigkeit wäre die,
womit die Zeit ein Leben belohnt, das sich ihr untertan macht:
eine rein zeitliche Lebendigkeit. Das ist die Lebendigkeit eines
Lebens im Augenblick: daß es Leben in der Zeit ist, sich von
der Vergangenheit davontragen läßt und die Zukunft heran-
ruft. So leben Menschen und Völker. Diesem Leben entzog
Gott den Juden, indem er die Brücke seines Gesetzes himmel-
hoch über den Strom der Zeit wölbte, unter deren Bogen sie
nun in alle Ewigkeit machtlos dahinrauscht.
Der Christ aber nimmt den Wettkampf mit dem Strom auf.
Er zieht neben ihm das Geleise seines ewigen Wegs. Wer auf
dieser Bahn fährt, der mißt die Stelle des Flusses, die er grade
sieht, nur nach der Entfernung von der Abgangs- und End-
station. Er selbst ist immer nur auf der Strecke und sein
eigentliches Interesse ist nur, daß er noch immer unterwegs,
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
noch immer zwischen Abgang und Ziel ist. Daß er es ist,
mehr nicht, sagt ihm, so oft er aus dem Fenster schaut, der
noch immer draußen vorüberziehende Strom der Zeit. Wer
auf dem Strom selber fährt, sieht immer nur von einer Krüm-
mung bis zur nächsten. Wer auf dem eisernen Wege fährt,
dem ist der Strom im ganzen nur ein Zeichen, daß er noch
unterwegs ist, nur ein Zeichen des Zwischen. Er kann nie
über dem Anblick des Stromes vergessen, daß sowohl der Ort,
von dem er kommt, wie der Ort, zu dem er fährt,
jenseits des Stromgebiets liegen. Fragt er sich, wo denn
er jetzt, in diesem Augenblick sei, so gibt ihm darauf
der Strom keine Antwort; die Antwort aber, die er sich
selber gibt, ist immer nur: unterwegs. Solange der Strom
dieser Zeitlichkeit überhaupt noch fließt, solange ist er selber
in jedem Augenblick mitten zwischen Anfang und Ende seiner
Fahrt. Beide, Anfang und Ende, sind ihm in jedem Augenblick
gleich nah, weil beide im Ewigen sind; und nur dadurch weiß
er sich in jedem Augenblick als Mittelpunkt. Als Mittelpunkt
nicht eines Horizonts, den er übersieht, sondern als Mittel-
punkt einer Strecke, die aus lauter Mittelpunkt besteht, ja die
ganz Mitte, ganz Zwischen, ganz Weg ist. Nur weil sein Weg
ganz Mitte ist und er das weiß, nur deshalb kann und muß er
jeden Punkt dieses Wegs als Mittelpunkt empfinden; die ganze
Strecke, indem sie aus lauter Mittelpunkten besteht, ist eben
nur ein einziger Mittelpunkt. Das Wort des Cherubinischen
Wandersmanns »Wär’ Christus tausendmal in Bethlehem
geboren und ists nicht auch in dir, so bist du doch verloren«
ist dem Christen nur in der kühnen Prägnanz des Ausdrucks,
nicht im Gedanken paradox. Nicht als Augenblick also wird
der Augenblick dem Christen zum Vertreter der Ewigkeit,
sondern als Mittelpunkt der christlichen Weltzeit; und diese
Weltzeit besteht, da sie nicht vergeht sondern steht, aus
lauter solchen »Mittelpunkten«; jedes Ereignis steht mitten
zwischen Anfang und Ende des ewigen Wegs und ist durch
diese Mittelstellung im zeitlichen Zwischenreich der Ewigkeit
selber ewig.
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
427
So wird das Christentum, indem es den Augenblick zur
epochemachenden Epoche macht, gewaltig über die Zeit. Von
Christi Geburt an gibt es nun nur noch Gegenwart. Die Zeit
prallt an der Christenheit nicht ab wie am jüdischen Volk,
aber die flüchtige ist gebannt und muß als ein gefangener
Knecht nun dienen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft,
die immerfort sich ineinander schiebenden, immerfort wan-
delnden, sind nun zu ruhigen Gestalten geworden, zu Ge-
mälden an den Wänden und Gewölben der Kapelle. Vergan-
genes, ein für alle Mal Stillstehendes, ist nun alles, was vor
Christi Geburt liegt, sind Sybillen und Propheten. Und
Zukunft, zögernd aber unausweichlich hergezogen Kommendes,
ist das Jüngste Gericht. Dazwischen steht als eine einzige
Stunde, ein einziger Tag, die christliche Weltzeit, in der alles
Mitte, alles gleich taghell ist. Die drei Zeiten der Zeit sind so
auseinandergetreten in ewigen Anfang, ewige Mitte, ewiges
Ende des ewigen Wegs durch diese Zeitlichkeit. Die Zeitlich-
keit selber verlernt ihr Zutrauen zu sich selber und läßt sich
in der christlichen Zeitrechnung diese Gestalt aufzwingen. Sie
hört auf zu glauben, daß sie älter wäre als die Christenheit,
sie zählt ihre Jahre vom Geburtstag der Christenheit an. Sie
duldet, daß alles, was davor liegt, als verneinte, gewisser-
maßen als unwirkliche Zeit erscheint. Das Zählen der Jahre,
durch das sie bisher die Vergangenheit er-zählt hatte, wird
jetzt zum Vorrecht der Gegenwart, des ewig gegenwärtigen
Wegs. Und die Christenheit schreitet diesen Weg, auf dem ihr
die Zeit nun als gehorsame Schrittzählerin folgt, schreitet ihn
gelassen und ihrer ewigen Gegenwart sicher, immer in der
Mitte des Geschehens, immer im Ereignis, immer auf dem
Laufenden, immer mit dem Herrscherblick des Bewußtseins,
daß es der ewige Weg ist, den sie schreitet.
Die Christenheit — aber sind das nicht Menschen, Ge-
schlechtsfolgen, Völker, Reiche? Menschen verschieden an
Alter, Stand, Geschlecht, an Farbe, Bildung und Gesichtskreis,
an Gaben und Kräften? Und sollen nun doch in jedem Augen-
428
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
blick eins sein, versammelt in einen einzigen Mittelpunkt und
dieser Mittelpunkt wiederum Mittelpunkt aller der andern
Mittelpunkte dieser einen großen Mitte? Die Frage geht auf
das Gemeinschaftsbildende in dieser Gemeinschaft der
Christenheit. Mit der dogmatischen Antwort »Christus« ist uns
hier nicht geholfen, so wenig wir uns im vorigen Buch mit der
Antwort »die Thora« begnügen durften, die eine jüdische Dog-
matik auf die Frage nach dem Gemeinschaftsbildenden im
Judentum wohl hätte geben dürfen. Sondern wir wollen ja
grade wissen, wie denn die auf den dogmatischen Grund ge-
gründete Gemeinschaft sich Wirklichkeit gibt. Genauer noch:
wir wissen, es muß eine ewige Gemeinschaft sein; so fragen
wir, was wir auch schon im vorigen Buch fragten: wie sich
eine Gemeinschaft für ewig gründen könne. Für die Gemein-
schaft des ewigen Lebens haben wir es erkannt. Nun fragen
wir es für die Gemeinschaft des ewigen Wegs.
Nicht darin schon kann der Unterschied liegen, daß an
jedem Punkt des Wegs Mittelpunkt ist. So war ja auch in
jedem Augenblick des Lebens des Volks das ganze Leben.
Jeden Einzelnen hat Gott aus Ägypten herausgeführt — :>nicht
mit euch allein schließe ich diesen Bund, sondern mit dem, der
hier mit uns steht heute wie mit dem, der nicht hier mit uns
ist heute«. Das ist beiden, dem ewigen Leben wie dem ewigen
Weg gemeinsam: daß sie ewig sind. Und daß alles an jedem
Punkt und in jedem Augenblick ist, das heißt ja Ewigkeit.
Darin liegt also kein Unterschied. Er muß schon in dem liegen,
was ewig ist, nicht in dem Ewigsein. Und so ist es. Ewiges
Leben und ewiger Weg — das ist verschieden wie die Un-
endlichkeit eines Punkts und einer Linie. Die Unendlichkeit
eines Punkts kann nur darin bestehen, daß er nie ausgewischt
wird; so erhält er sich in der ewigen Selbsterhaltung des fort-
zeugenden Bluts. Die Unendlichkeit einer Linie aber hört auf,
wenn es nicht mehr möglich wäre, sie zu verlängern; sie be-
steht in dieser Möglichkeit ungehemmter Verlängerung. Das
Christentum als ewiger Weg muß sich immer weiter aus-
breiten. Bloße Erhaltung seines Bestandes bedeutete ihm den
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
429
Verzicht auf seine Ewigkeit und damit den Tod. Die Christen-
heit muß missionieren. Das ist ihr so notwendig wie dem
ewigen Volk seine Selbsterhaltung im Abschluß des reinen
Quells des Bluts vor fremder Beimischung. Ja das Missio-
nieren ist ihr gradezu die Form ihrer Selbsterhaltung. Sie
pflanzt sich fort, indem sie sich ausbreitet. Die Ewigkeit wird
Ewigkeit des Wegs, indem sie nach und nach die Punkte des
Wegs alle zu Mittelpunkten macht. Das Zeugnis für die Ewig-
keit, das im ewigen Volk die Erzeugung ablegt, muß auf dem
ewigen Weg wirklich als Zeugnis abgelegt werden. Jeder
Punkt des Wegs muß einmal bezeugen, daß er sich als Mittel-
punkt des ewigen Wegs weiß. Statt des fleischlichen Fort-
strömens des einen Bluts, das im gezeugten Enkel den Ahn be-
zeugt, muß hier die Ausgießung des Geistes in dem ununter-
brochenen Wasserstrom der Taufe von einem zum andern
weiterfließend die Gemeinschaft des Zeugnisses stiften. An
jedem Punkt, den diese Geistausgießung erreicht, muß der
ganze Weg als eine ewige Gemeinschaft des Zeugnisses über-
sehbar sein. Er wird übersehbar nur, wenn Inhalt des Zeug-
nisses der Weg selber ist. Im Bezeugen der Gemeinschaft
muß zugleich der Weg bezeugt werden. Die Gemeinschaft
wird Eine durch den bezeugten Glauben. Der Glaube ist der
Glaube an den Weg. Jeder der in der Gemeinschaft ist, weiß,
daß es keinen andern ewigen Weg gibt als den Weg, den er
geht. Zur Christenheit gehört, wer sein eigenes Leben auf dem
Weg weiß, der vom gekommenen zum wiederkommenden
Christus führt.
Dies Wissen ist der Glaube. Es ist der Glaube als Inhalt
eines Zeugnisses. Es ist der Glaube an etwas. Das ist genau
das Entgegengesetzte wie der Glaube des Juden. Sein Glaube
ist nicht Inhalt eines Zeugnisses, sondern Erzeugnis einer
Zeugung. Der als Jude Gezeugte bezeugt seinen Glauben, in-
dem er das ewige Volk fortzeugt. Er glaubt nicht an etwas, er
ist selber Glauben; er ist in einer Unmittelbarkeit, die kein
christlicher Dogmatiker für sich je erschwingen kann, gläubig.
Es liegt diesem Glauben wenig an seiner dogmatischen Fest-
43Q
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
legung; er hat Dasein — das ist mehr als Worte. Aber die
Welt hat ein Anrecht auf Worte. Ein Glaube, der die Welt ge-
winnen will, muß Glaube an etwas sein. Schon die geringste
Vereinigung einiger, die sich vereinigen, um ein Stück Welt
zu gewinnen, bedarf eines gemeinsamen Glaubens, eines
Losungsworts, woran sich die Vereinigten erkennen. Jeder,
der sich in der Welt ein Stück eigenen Wegs schaffen will,
muß an etwas glauben. Bloß Gläubigsein würde ihn nie zum
Etwas in der Welt gelangen lassen. Nur wer an Etwas glaubt,
kann ein Etwas, eben das woran er glaubt, erobern. Und das
gilt genau so vom christlichen Glauben. Er ist im höchsten
Sinne dogmatisch und muß es sein. Er darf nicht auf Worte
verzichten. Im Gegenteil: er kann sich gar nicht genug tun an
Worten, er kann nicht genug Worte machen. Er müßte wirk-
lich tausend Zungen haben. Er müßte alle Sprachen sprechen.
Denn er muß wollen, daß alles sein eigen würde. Und so muß
das Etwas, woran er glaubt, kein Etwas, sondern Alles sein.
Und eben darum ist er der Glaube an den Weg. Indem er an
den Weg glaubt, bahnt er ihn in die Welt. So ist der zeugnis-
ablegende christliche Glaube erst der Erzeuger des ewigen
Wegs in der Welt, während der jüdische Glaube dem ewigen
Leben des Volks nachfolgt als Erzeugnis.
Der christliche Glaube also, das Zeugnis vom ewigen Weg,
ist schöpferisch in der Welt; er vereint die, welche das Zeug-
nis ablegen, zu einer Vereinigung in der Welt. Er vereinigt sie
als Einzelne; denn Zeugnis ablegen ist immer Sache des Ein-
zelnen. Und überdies soll hier der Einzelne Zeugnis ab-
legen über seine Stellung zu einem Einzelnen; denn das Zeug-
nis geht ja auf Christus; Christus ist der gemeinsame Inhalt
aller Zeugnisse des Glaubens. Aber die als Einzelne Vereinig-
ten richtet nun der Glaube auf gemeinsame Tat in der Welt.
Denn die Bahnung des Wegs ist gemeinsames Werk aller Ein-
zelnen; jeder Einzelne kann ja nur einen Punkt, seinen Punkt,
des ewigen Wegs betreten und ihn zu dem machen, was der
ganze Weg werden muß um ewiger Weg zu sein: Mitte. Und
so stiftet der Glaube die Vereinigung der Einzelnen als Ein-
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
431
zelner zu gemeinsamem Werk, welche mit Recht genannt
wird Ekklesia. Denn dieser ursprüngliche Name der Kirche
ist genommen aus dem Leben der antiken Freistaaten und be-
zeichnet die zur gemeinsamen Beratung zusammenberufenen
Bürger; mit einem ähnlichen Wort bezeichnet wohl das Volk
Gottes seine Feiertage als »heilige Einberufung«; sich selber
aber nannte es Volk, Gemeinde, — mit Worten, die einmal den
Heerbann bezeichnet haben, also das, worin das Volk als ein
geschlossenes Ganzes erscheint, in welchem die Einzelnen
aufgegangen sind. In der Ekklesia aber ist und bleibt der Ein-
zelne Einzelner, und nur der Beschluß ist gemeinsam und wird
— res publica.
Und grade diesen Namen der Ekklesia gibt sich nun die
Christenheit, den Namen einer Versammlung der Einzelnen zu
gemeinsamem Werk, das doch nur dadurch zustande kommt,
daß jeder an seinem Platz als Einzelner handelt, wie in der Ver-
sammlung der gemeinsame Beschluß nur dadurch entsteht, daß
jeder als ganzer Einzelner seine Meinung sagt und seine
Stimme abgibt. So setzt auch die Gemeinsamkeit der Kirche
die Persönlichkeit und Ganzheit — sagen wir doch ruhig: die
Seele ihrer Glieder voraus. Das paulinische Gleichnis der Ge-
meinde als des Leibs Christi meint keinerlei arbeitsteiliges
Werk wie etwa des Menenius Agrippa berühmtes Gleichnis
vom Magen und den Gliedern, sondern geht grade auf diese
vollkommene Freiheit jedes Einzelnen in der Kirche; es wird
erhellt durch das große »Alles ist euer, ihr aber seid Christi«.
Indem die Christenheit, und jeder einzelne Christ in ihr, auf dem
Wege von dem Gekreuzigten her ist, ist ihr alles untertan;
jeder Christ darf sich nicht bloß irgendwo auf dem Wege
wissen, sondern schlechtweg in des Weges Mitte, der selber
ja ganz Mitte, ganz Zwischen ist. Aber indem die Christenheit
und der Einzelne die Wiederkunft noch erwartet, wissen sich
die eben noch zu Herren aller Dinge Freigesprochenen gleich
wieder als jedermanns Knecht; denn was sie an dem Ge-
ringsten Seiner Brüder tun, das tun sie dem, der als Welt-
richter wiederkehren wird.
432
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
Wie wird sich also auf dem Grund jener zu erhaltenden
Freiheit und Ganzheit der Einzelnen die Ekklesia verfassen?
Wie mag das Band aussehen, das Mensch und Mensch in ihr
verknüpft? Es muß ja, indem es bindet, die Einzelnen auch
frei lassen, ja in Wahrheit erst frei machen. Es muß jeden so
lassen, wie es ihn findet, den Mann als Mann, das Weib als
Weib, die Alten alt, die Jungen jung, den Herrn als Herrn, den
Knecht als Knecht, den Reichen reich, den Armen arm, den
Weisen weise und den Toren töricht, den Römer römisch und
den Barbaren barbarisch; es darf keinen in die Stellung des
andern setzen, und doch muß es die Kluft zwischen Mann und
Weib, zwischen Eltern und Kind, zwischen Herrn und Knecht,
zwischen Reich und Arm, Weisem und Toren, Römer und
Barbar zudecken und so einen jeden in dem was er ist, in allen
seinen natürlichen und gottgegebenen Abhängigkeiten, mit
denen er in der Welt der Schöpfung steht, freimachen und ihn
hinstellen in die Mitte des Wegs, der aus Ewigkeit in Ewig-
keit führt.
Dies Band, das so die Menschen nimmt, wie es sie findet,
und sie dennoch über die Unterschiede der Geschlechter,
Alter, Klassen, Rassen hinweg verbindet, ist das Band der
Brüderlichkeit. Die Brüderlichkeit verknüpft in allen ge-
gebenen Verhältnissen, die ruhig weiter bestehen bleiben, die
Menschen unabhängig von diesen Verhältnissen als gleiche,
als Brüder, »im Herrn«. Der gemeinsame Glaube an den ge-
meinsamen Weg ist der Inhalt, auf den hin sie aus Menschen
zu Brüdern werden. Christus ist in diesem Bruderbünde der
Christenheit sowohl Anfang und Ende des Wegs, und des-
wegen Inhalt und Ziel, Stifter und Herr des Bundes, als auch
Mitte des Wegs, und deswegen überall gewärtig, wo zwei in
seinem Namen beisammen sind. Wo zwei in seinem Namen
beisammen sind, da ist Mitte des Wegs, da ist der ganze Weg
überschaubar, Anfang und Ende gleich nah, weil der, der An-
fang und Ende ist, hier mitten unter den Versammelten weilt.
So auf der Mitte des Wegs ist Christus nicht Stifter noch Herr
seiner Kirche, sondern Glied, er selber Bruder seines Bundes.
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
433
Als solcher kann er auch bei dem Einzelnen sein; in der
Brüderlichkeit mit Christus weiß sich sogar der Einzelne —
nicht erst zweie, die beisammen sind — schon als Christ und,
obwohl anscheinend mit sich allein, dennoch, weil dies Allein-
sein Beisammensein mit Christus ist, als Glied der Kirche.
Diesem Einzelnen ist Christus nahe in der Gestalt, auf die
sich am leichtesten seine brüderlichen Gefühle richten können;
denn der Einzelne soll ja bleiben, was er ist, der Mann Mann,
das Weib Weib, das Kind Kind; so ist Christus dem Mann
Freund, dem Weib Seelenbräutigam, dem Kind das Christ-
kindlein. Und wo Christus durch die Bindung an die ge-
schichtliche Person Jesu diesem Eingehen in die vertraute
Gestalt des Nächsten und brüderlich zu Liebenden sich ver-
sagt, da treten, wenigstens in der Kirche, die ihre Gläubigen
am innigsten auf dem Wege festhält und sie des Anfangs und
des Endes weniger gedenken läßt, in der Liebeskirche Petri,
für Christus selber seine Heiligen ein, und es wird dem Manne
vergönnt, in Maria die reine Magd, dem Weibe, in ihr die
göttliche Schwester, und jedem aus seinem Stande und sei-
nem Volke heraus den Heiligen seines Standes und Volkes, ja
jedem aus seinem engsten in den Eigennamen eingeschlossenen
Ich heraus seinen Namensheiligen brüderlich zu lieben. Und
selbst vor den gestorbenen Gott am Kreuz, von dem der Weg
anhebt, schiebt sich in dieser Kirche der Liebe, die noch
eigentlicher als die andern Kirche des Wegs ist, die Gestalt
des lebendig auf Erden Wandelnden, der hier mehr als in den
Schwesterkirchen Vorbild wird, dem man nachfolgt als einem
vorbildlichen Menschenbruder; wie andrerseits vor den Rich-
ter des iüngsten Gerichts, bei dem der Weg mündet, hier sich
die ganze Schar der für ihre in Schwachheit befangenen Brü-
der und Schwestern fürbittenden Heiligen drängt.
Die Brüderlichkeit schlingt so ihr Band zwischen den Men-
schen, die keiner dem andern gleichen; sie ist gar nicht Gleich-
heit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, sondern Ein-
mütigkeit gerade von Menschen verschiedensten Antlitzes.
Nur allerdings dies eine ist von nöten: daß die Menschen
28
434
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
überhaupt ein Antlitz haben, — daß sie sich sehen. Die Kirche ist
die Gemeinschaft aller derer, die einander sehen. Sie verbindet
die Menschen als Zeitgenossen, als Gleichzeiter an getrenn-
ten Orten des weiten Raums. Gleichzeitigkeit ist etwas, was
es in der Zeitlichkeit garnicht gibt. In der Zeitlichkeit gibt es
nur Vorher und Hernach; der Augenblick, wo einer sich selbst
erblickt, kann dem Augenblick, wo er einen andern erblickt,
nur voraufgehen oder folgen; gleichzeitiges Erblicken seiner
selbst und des andern im gleichen Augenblick ist unmöglich.
Das ist der tiefste Grund, weshalb es in der heidnischen Welt,
die ja eben die Zeitlichkeit ist, unmöglich war, seinen Nächsten
zu lieben wie sich selbst. Aber in der Ewigkeit gibt es Gleich-
zeitigkeit. Daß von ihrem Ufer aus alle Zeit gleichzeitig ist,
bedarf keiner Worte. Aber auch die Zeit, die als ewiger Weg
von Ewigkeit zu Ewigkeit führt, läßt Gleichzeitigkeit zu. Denn
nur insofern sie Mitte ist zwischen Ewigkeit und Ewigkeit, ist
es möglich, daß sich Menschen in ihr begegnen. Wer sich also
auf dem Weg erblickt, der ist im gleichen Punkte, nämlich im
genauen Mittelpunkte, der Zeit. Die Brüderlichkeit ist es, die
die Menschen in diesen Mittelpunkt versetzt. Die Zeit wird
ihr schon überwunden vor die Füße gelegt; nur noch den tren-
nenden Raum hat die Liebe zu überfliegen. Und so überfliegt
sie die Feindschaft der Völker wie die Grausamkeit des Ge-
schlechts, den Neid der Stände wie die Schranke des Alters;
so läßt sie alle die Verfeindeten, Grausamen, Neidischen, Be-
schränkten sich einander als Brüder erblicken in dem einen
gleichen mittleren Augenblick der Zeit.
In der Mitte der Zeit erblicken sich die Gleichzeitigen. So
trafen sich an den Grenzen derZeit die, denen die Unterschiede
des Raums keine erst zu überwindende Trennung bedeuteten;
denn diese Unterschiede waren dort in der angeborenen Ge-
meinschaft des Volks schon von vornherein überwunden; die
Arbeit der Liebe, sowohl der göttlichen an den Menschen als
der menschlichen untereinander mußte da einzig gerichtet sein
auf die Erhaltung dieser Gemeinschaft hin durch die Zeit, auf
die Herstellung der Gleichzeitigkeit der in der Zeitlichkeit ge-
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
M
trennten Abfolgen der Geschlechter. Das ist das Bündnis
zwischen Enkel und Ahn; durch dieses Bündnis wird das Volk
zum ewigen Volk; denn indem sich Enkel und Ahn erblicken,
erblicken sie im gleichen Augenblick ineinander den spätesten
Enkel und den ersten Ahn. So sind der Enkel und der Ahn,
beide einander, und beide zusammen für den, der zwischen
ihnen steht, die wahre Verkörperung des ewigen Volks; wie
der zum Bruder gewordene Mitmensch dem Christen die
Kirche verkörpert. An Greisen und an Kindern erleben wir un-
mittelbar unser Judentum. Der Christ erlebt sein Christentum
im Gefühl des Augenblicks, der ihm den Bruder zuführt mitten
auf der Höhe des ewigen Wegs; dort drängt sich ihm die
ganze Christenheit zusammen; sie steht wo er, er wo sie, —
auf der Mitte der Zeit zwischen Ewigkeit und Ewigkeit.
Anders zeigt uns der Augenblick die Ewigkeit: nicht im
Bruder, der uns zunächst steht, sondern in denen, die uns
zufernst stehen in der Zeit, im Ältesten und im Jüngsten, im
Greis der mahnt, im Knaben der fragt, im Ahn der segnet und
im Enkel der den Segen empfängt. So spannt sich uns die
Brücke der Ewigkeit — vom Sternenhimmel der Verheißung,
der sich über dem Berg der Offenbarung wölbt von wo der
Strom unsres ewigen Lebens entsprang, bis hin zum unzähl-
baren Sand der Verheißung, an den das Meer spült darein
jener Strom mündet, das Meer, aus dem einst der Stern der
Erlösung aufsteigen wird, wenn seinen Fluten gleich die Erde
überschäumt von Erkenntnis des Herrn.
Zuletzt drängt so jene Spannung von Anfang und Ende doch
wieder gewaltig hin zum Ende; obwohl sie als Spannung nur
aus beiden entsteht, sammelt sie sich schließlich doch an
einem Punkt, eben am Ende. Das Kind mit seinen Fragen ist
zuletzt doch noch ein gewaltigerer Mahner als der Greis; der
Greis wird zur Erinnerung, und mögen wir uns auch immer-
fort nähren aus dem unversieglichen Schatze seines begeister-
ten Lebens und uns halten und stärken an der Väter Verdienst:
das Kind allein zwingt. Nur »aus dem Munde der Kinder und
Säuglinge« gründet Gott sein Reich. Und wie jene Spannung
28*
43 6
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
zuletzt sich doch ganz ins Ende zusammenballt, auf den spä-
testen Sproß zuletzt, den Messias, den wir erwarten, so bleibt
auch die christliche Sammlung im Mittelpunkt schließlich doch
nicht dort haften. Wohl mag der Christ Christus im Bruder
erblicken, zuletzt treibt es ihn doch über den Bruder hinaus
unmittelbar zu ihm selbst. Obwohl die Mitte nur Mitte ist
zwischen Anfang und Ende, schiebt sich ihr Schwergewicht
dennoch hinüber auf den Anfang. Der Mensch tritt unmittelbar
unter das Kreuz; er mag sich nicht genügen lassen, daß er von
der Mitte des Weges das Kreuz wie das Gericht in ewiger
Nähe erblickt; er ruht nicht, bis ihm das Bild des Gekreuzig-
ten alle Welt verdeckt. Indem er sich so dem Kreuz allein zu-
wendet, mag er das Gericht vergessen, — auf dem Wege bleibt
er doch. Denn das Kreuz ist ja, obwohl noch zum ewigen An-
fang des Wegs gehörig, doch schon nicht mehr der erste An-
fang, es ist selber schon auf dem Wege, und so steht, wer
unter es getreten ist, in der Mitte und im Anfang zugleich. So
drängt sich das christliche Bewußtsein, ganz versenkt in Glau-
ben, hin zum Anfang des Wegs, zum ersten Christen, zum Ge-
kreuzigten, wie das jüdische, ganz versammelt in Hoffnung,
hin zum Manne der Endzeit, zu Davids königlichem Sproß.
Der Glaube kann ewig sich an seinem Anfang erneuern, gleich
wie die Arme des Kreuzes sich ins Unendliche ausziehen
lassen; die Hoffnung vereint sich aus aller Vielfältigkeit der
Zeit heraus ewig in dem einen fern und nahen Augenpunkt des
Endes, gleich wie der Stern auf Davids Schild die Strahlen alle
in den Feuerkern versammelt. Verwurzelung ins tiefste Selbst,
das war das Geheimnis der Ewigkeit des Volkes gewesen.
Ausbreitung durch alles Außen hin — das ist das Geheimnis
der Ewigkeit des Wegs.
Ausbreitung ins Draußen, und nicht so weit als möglich, son-
dern, ob möglich oder unmöglich, Ausbreitung in alles,
schlechthin alles Außen, das also dann auch in der jeweiligen
Gegenwart höchstens ein Noch--Außen sein kann, — wenn es
so unbedingt, so grenzenlos gemeint ist mit dieser Ausbrei-
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
437
tung, dann gilt offenbar auch für sie, was für die jüdische Ver-
wurzelung ins eigne Innerste galt: daß nichts mehr als Gegen-
sätzliches draußen stehen bleiben darf. Sondern auch hier
müssen alle Gegensätze irgendwie in die eignen Grenzen hin-
eingezogen werden. Aber eben Grenzen, wie sie das in sich
selber sich verwurzelnde eigne Selbst wohl hatte, sind dieser
Ausbreitung ins Außen ganz fremd, ja undenkbar, — wo soll
das Grenzenlose, alle Grenzen immer wieder Sprengende
Grenzen haben! Es selbst, die Ausbreitung, freilich nicht; wohl
aber mag jenes Außen, in das die Ausbreitung geschieht, Gren-
zen haben: die Grenzen des All. Diese Grenzen aber werden
nicht in der Gegenwart und auch in keiner zukünftigen Gegen-
wart erreicht, — denn die Ewigkeit kann heute und morgen
hereinbrechen, aber nicht übermorgen, und die Zukunft ist
immer bloß übermorgen.
So muß auch die Art, wie die Gegensätze hier lebendig
sind, eine andre sein als bei der Selbstvertiefung. Dort spann»
ten sie sich sogleich durch die inneren Gestalten von Gott,
Welt, Mensch; die drei waren lebendig wie in ständigen
Wechselströmen zwischen jenen Polen. Hier hingegen müssen
die Gegensätze schon in der Art der Ausbreitung liegen; nur
dann sind sie in jedem Augenblick wirksam und ganz wirksam.
Die Ausbreitung muß ja in zwei getrennten, ja gegensätzlichen
Wegen geschehen. Es müssen unter den Schritten der
Christenheit in die Länder Gott, Mensch, Welt je zweierlei
verschiedene Blumen erblühen; ja diese Schritte selbst müs-
sen in der Zeit auseinanderführen, und je zwei Gestalten des
Christentums müssen jede ihren eignen Weg durch jene drei
Länder gehen, gewärtig, daß sie sich wohl einmal wieder ver-
einen, aber nicht in der Zeit. In der Zeit marschieren sie ge-
trennt, und nur indem sie getrennt marschieren, sind sie ge-
wiß, das ganze All zu durchmessen und dennoch sich nicht in
ihm zu verlieren. So hatte das Judentum nur dadurch das eine
Volk und das ewige Volk sein können, daß es die großen Gegen-
sätze alle schon in sich selbst trug, während den Völkern der
Welt jene Gegensätze erst da auftreten, wo sie sich das eine
438
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
gegen die andern abscheiden. Genau so muß auch die Christen-
heit, will sie wirklich allumfassend sein, die Gegensätze, mit
denen andre Verbände schon in ihrem Namen und Zweck sich
jeder gegen alle andern abgrenzen, in sich bergen; nur da-
durch kennzeichnet sie sich als der allumfassende und doch
in sich eigenartige Verband. Gott, Welt, Mensch können nur
dadurch zum Christengott, zur christlichen Welt, zum Christen-
menschen werden, daß sie die Gegensätze, in denen sich das
Leben bewegt, aus sich hervorspinnen und jeden für sich
durchmachen. Anders wäre die Christenheit nur ein Verein,
berechtigt etwa für seinen Sonderzweck und in seinem Sonder-
gebiet, aber ohne den Anspruch auf Ausbreitung bis an die
Enden der Welt. Und wiederum, suchte sie sich jenseits jener
Gegensätze auszubreiten, so würde ihr Weg sich zwar nicht
zu teilen brauchen, aber es wäre auch nicht der Weg durch
die Welt, der Weg entlang dem Strom der Zeit, sondern ein
Weg ins pfadlose Meer der Lüfte, wo das All zwar ohne Gren-
zen und ohne Gegensätze, aber auch ohne Inhalt ist. Und nicht
dorthin, sondern in das lebendige All, das uns umgibt, das All
des Lebens, das All aus Gott Mensch Welt, muß der Weg der
Christenheit führen.
Der Weg der Christenheit in das Land Gott teilt sich also
in zwei Wege — eine Zweiheit, die dem Juden schlechthin un-
begreiflich ist, auf der aber gleichwohl das christliche Leben
beruht. Unbegreiflich ist es uns; denn für uns ist die Gegen-
sätzlichkeit, die ja auch wir in Gott kennen, das Nebeneinander
von Recht und Liebe, Schöpfung und Offenbarung in ihm,
grade in unaufhörlicher Beziehung mit sich selbst; es geht ein
Wechselstrom zwischen Gottes Eigenschaften hin und her;
man kann nicht sagen, daß er die eine ist oder die andre; er
ist Einer grade in dem ständigen Ausgleich der scheinbar ent-
gegengesetzten »Eigenschaften«. Für den Christen hingegen
bedeutet die Trennung von »Vater« und »Sohn« viel mehr als
bloß eine Scheidung in göttliche Strenge und göttliche Liebe.
Der Sohn ist ja auch der Weltrichter, der Vater hat die Welt
»also geliebt«, daß er sogar seinen Sohn hingegeben hat; so
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
439
sind Strenge und Liebe in den beiden Personen der Gottheit
gar nicht eigentlich geschieden. Und ebensowenig sind sie
etwa nach Schöpfung und Offenbarung zu scheiden. Denn
weder ist bei der Schöpfung der Sohn noch bei der Offen-
barung der Vater unbeteiligt. Sondern die christliche Fröm-
migkeit geht getrennte Wege, wenn sie beim Vater und wenn
sie beim Sohn ist. Dem Sohn allein nähert sich der Christ mit
jener Vertrautheit, die uns Gott gegenüber so natürlich vor-
kommt, daß es uns wiederum fast unvorstellbar geworden ist,
daß es Menschen geben solle, die sich dieses Vertrauens nicht
getrauen. Erst an der Hand des Sohnes wagt der Christ vor
den Vater zu treten; nur durch den Sohn glaubt er zum Vater
kommen zu können. Wäre der Sohn nicht Mensch, so wäre er
dem Christen zu nichts nütze. Er kann sich nicht vorstellen,
daß Gott selbst, der heilige Gott, sich so zu ihm herablassen
könnte, wie er es verlangt, er werde denn anders selber
Mensch. Das zuinnerst in jedem Christen unvertilgbare Stück
Heidentum bricht da hervor. Der Heide will von menschlichen
Göttern umgeben sein, es genügt ihm nicht, daß er selber
Mensch ist: auch Gott muß Mensch sein. Die Lebendigkeit,
die ja auch der wahre Gott mit den Göttern der Heiden gemein
hat, dem Christen wird sie nur glaublich, wenn sie in einer
eigenen gottmenschlichen Person Fleisch wird. Aber an der
Hand dieses menschgewordenen Gottes schreitet er dann ver-
trauend wie wir durch das Leben und — anders als wir —
voll erobernder Kraft; denn Fleisch und Blut läßt sich nur
untertan machen von seinesgleichen, von Fleisch und Blut, und
grade jenes »Heidentum« des Christen befähigt ihn zur Be-
kehrung der Heiden.
Aber gleichzeitig geht er noch einen andern Weg, den Weg
unmittelbar mit dem Vater. Wie er sich im Sohn Gott unmittel-
bar in die brüderliche Nähe seines eignen Ichs herangeholt hat,
so mag er sich vor dem Vater wieder alles Eignen entledigen.
In seiner Nähe hört er auf, Ich zu sein. Hier weiß er sich im
Kreise einer Wahrheit, die alles Ichs spottet. Sein Bedürfnis
nach der Nähe Gottes ist am Sohn befriedigt; am Vater hat er
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
440
die göttliche Wahrheit. Hier gewinnt er die reine Ferne und
Sachlichkeit des Erkennens und Handelns, die in scheinbarem
Widerspruch zur Innigkeit der Liebe den andern Weg des
Christentums durch die Welt bezeichnet. Unter dem Zeichen
Gottvaters ordnet sich das Leben dem Wissen wie der Tat in
feste Ordnungen. Auch auf diesem Wege spürt der Christ den
Blick Gottes auf sich gerichtet, eben des Vaters, nicht des
Sohns. Es ist unchristlich, diese beiden Wege zu Gott mitein-
ander zu vermengen. Es ist Sache des »Takts«, sie ausein-
ander zu halten und zu wissen, wann es gilt, den einen zu
gehen, wann den andern. Jene blitzschnell unerwarteten Um-
schläge aus dem Bewußtsein der göttlichen Liebe in das der
göttlichen Gerechtigkeit und umgekehrt; wie sie für das jü-
dische Leben wesentlich sind — der Christ kennt sie nicht;
sein Gang zu Gott bleibt doppelt, und zerreißt ihn der Zwang
dieses doppelten Wegs, so ist es ihm eher gestattet, sich klar
für den einen zu entscheiden und ihm sich ganz zu widmen,
als im Zwielicht zwischen beiden hin und her zu flackern. Für
den Ausgleich wird dann schon die Welt, werden die Mit-
christen sorgen. Denn was hier in Gott sich als die Trennung
der göttlichen Personen anzeigt, dem entspricht in der christ-
lichen Welt eine Doppeltheit ihrer Ordnung, im christlichen
Menschen eine Zweiheit von Lebensformen.
Der Mensch, als jüdischer Mensch in allem untilgbaren
Widerstreit seiner Gottgeliebtheit und Gottesliebe, seiner Jii-
dischkeit und seiner Menschlichkeit, Erzvater und Messias, in
allen diesen Widersprüchen doch einer und grade in ihnen ein
lebendiger, — dieser Mensch tritt in der Christenheit ausein-
ander in zwei Gestalten. Nicht etwa zwei Gestalten, die sich
notwendig ausschließen und bekämpfen. Aber zwei Gestalten,
die getrennte Wege gehn, getrennt selbst dann noch, wenn sie
sich, was immer Vorkommen mag, in einem Menschen zu-
sammenfinden. Und wiederum führen diese getrennten Wege
durch das ganze weite Land der Menschlichkeit, in dessen Be-
zirken sich Form und Freiheit allezeit zu widerstreiten schei-
nen. Eben dieser Gegensatz ist es, der sich in den beiden Ge-
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
441
stalten des Priesters und des Heiligen in der Christenheit breit
ausleben darf. Und wieder ist es nicht einfach so, daß der
Priester etwa nur der Mensch ist, der zum Gefäß der Offen-
barung wird, der Heilige nur der, von dessen Liebeswärme
die Frucht der Erlösung reift. Der Priester etwa ist ja nicht
der Mensch schlechtweg, in dem das Wort des göttlichen
Mundes die schlummernde Seele wachkiißt, sondern es ist der
zu einer Gottebenbildlichkeit erlöste Mensch, der sich be-
reitet hat, zum Gefäß der Offenbarung zu werden. Und der
Heilige — nur auf dem Grunde der soeben ihm, und immer
soeben, gewordenen Offenbarung, nur in der immer neu ihm
schmeck- und sichtbar gewordenen Nähe seines Herrn kann
er liebend die Welt erlösen. Er kann gar nicht handeln, als
wenn es keinen Gott gäbe, der ihm unmittelbar ins Herz legt,
was er tun soll; gleich wie es dem Priester unmöglich wäre,
das Priestergewand zu tragen, dürfte er nicht in den sicht-
baren Formen der Kirche sich schon die Erlösung und damit
für sich, während er amtiert, die Gottebenbildlichkeit aneignen.
Ein Stück Ketzerwillkür steckt in jenem Bewußtsein der gött-
lichen Eingebung, das der Heilige in sich hegt, ein Stück groß-
inquisitorischer Selbstvergötterung in jenem Aneignen der
Gottesebenbildlichkeit im priesterlichen Kleide. Feierlich über-
persönliche Selbstvergötterung, momentan persönliche Will-
kür — der Kaiser von Byzanz, den ungeheuerster Pomp der
strengsten Etikette hoch über alles Irdische und Zufällige ein-
porhebt, der Revolutionär, der die Brandfackel seiner äugen5
blicklichen Forderung in jahrtausendalte Gebäude schleudert,
— es sind die äußersten Grenzen von Form und Freiheit,
zwischen denen das weite Land der Seele sich ausdehnt; der
zwiegeteilte Weg der Christenheit durchmißt es ganz.
Die Welt, die dem Juden voll ist von gleitenden Über-
gängen aus »dieser« in die »künftige« hin und her, gliedert sich
dem Christen in die große Doppelordnung Staat und Kirche.
Nicht unrichtig hat man von der heidnischen Welt gesagt, daß
sie weder das eine noch das andre kannte. Die Polis war ihren
Bürgern Staat und Kirche in eins, noch ganz ohne Gegensatz.
442
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
In der christlichen Welt traten sie von Anfang an auseinander.
In der Aufrechterhaltung dieser Trennung vollzieht sich seit-
dem die Geschichte der christlichen Welt. Es ist nicht so, daß
etwa nur die Kirche christlich wäre und der Staat nicht. Das
»Gebet dem Kaiser was des Kaisers ist« wog im Laufe der
Jahrhunderte nicht leichter als die zweite Hälfte des Spruchs.
Denn vom Kaiser aus ging das Recht, dem sich die Völker
beugen. Und im allgemeinen Rechtszustand auf Erden voll-
endet sich das Werk der göttlichen Allmacht, die Schöpfung.
Schon der Kaiser, dem man geben sollte, was sein war, hatte
einer rechtseinigen Welt geboten. Die Kirche selbst übermit-
telte die Erinnerung daran und die Sehnsucht nach einer Er-
neuerung dieses Zustandes einem späteren Zeitalter. Der Papst
war es, der dem Franken Karl den Stirnreif der Cäsaren um-
legte. Ein Jahrtausend hat er auf dem Haupt seiner Nachfolger
geruht; in schwerem Kampf mit der Kirche selbst, die gegen
jenen doch von ihr genährten allgemeinen Anspruch des Kaiser-
rechts ihr Vor- und Eigenrecht aufstellte urfd verteidigte. Im
Kampf der beiden gleich allgemeinen Rechte um die Welt
wuchsen neue Gebilde groß, »Staaten«, die sich im Gegensatz
zum Reich nicht das Recht auf die Welt, nur ihr eigenes zu
erstreiten wähnten. Diese Staaten waren also aufgekommen
als Rebellen gegen die in die Obhut des Kaisers gegebene
Rechtseinheit der von der einen Schöpfermacht erschaffenen
Welt. Und im Augenblick, wo sie festen Grund in der Schöp-
fung gefunden zu haben glauben durften, im Augenblick, wo
der Staat sich eingenistet hatte in die natürliche Nation, wurde
die Krone endgültig vom Haupte des römischen Kaisers ge-
nommen, und der neufränkische Nationalkaiser setzte sie sich
auf. Ihm folgten als Vertreter ihrer Nationen andre nach; aber
mit dem Namen des Kaisers schien auch der Wille zum Reich
nun auf die Völker übergegangen zu sein; die Völker selbst
wurden jetzt die Träger des übervölkischen weltgerichteten
Willens. Und wenn dieser Wille zum Reich sich in den Völ-
kern wechselseitig zerrieben hat, so wird er eine neue Gestalt
annehmen; denn er öffnet in seiner doppelten Verankertheit so-
DIE STRAHLEN ODER DER EWIQE WEG
443
wohl in dem göttlichen Weltschöpfer, dessen Macht er spie»
gelt, wie in dem Erlösungssehnen der Welt, dem er dient, den
einen notwendigen Weg der Christenheit in den Teil- des All,
der die Welt ist.
Der andre Weg führt durch die Kirche. Auch sie ist ja in
der Welt. So muß sie mit dem Staat in Zwist kommen. Sie
kann nicht darauf verzichten, sich selber rechtlich zu ver-
fassen. Sie ist eben sichtbare Ordnung, und keine, die der
Staat, etwa da sie sich bloß auf ein bestimmtes Gebiet be-
schränkt, dulden könnte, sondern Ordnung, die nicht weniger
allgemein sein will als er. Auch ihr Recht, nicht bloß das des
Kaisers, erfaßt irgendwann einmal jeden. Sie holt den Men-
schen heran zum Werk der Erlösung und weist diesem Werk
eine Stätte in der geschaffenen Welt; Steine aus dem Gebirge
müssen herangefahren werden und Stämme im Walde gefällt,
daß das Haus erstehe, worin der Mensch Gott dient. Weil sie
also in der Welt ist, sichtbar und eignen allgemeinen Rechts,
so ist sie ebensowenig wie das Kaiserreich etwa selber das
Reich Gottes. Dem wächst sie in ihrer säkularen, ihrer welt-
lichen Geschichte durch die Jahrhunderte entgegen, ein Stück
Welt und Leben auch sie, das erst in seiner Beseelung durch
die Liebestat des Menschen verewigt wird. Die Kirchenge-
schichte ist so wenig Geschichte des Reichs Gottes wie die
Kaisergeschichte. Denn es gibt überhaupt im strengen Sinn
keine Geschichte des Reichs Gottes. Das Ewige hat keine Ge-
schichte, höchstens eine Vorgeschichte. Die Jahrhunderte und
Jahrtausende der Kirchengeschichte sind nur die durch die
Zeit wechselnde irdische Gestalt, um die allein das Kirchen-
jahr den Heiligenschein der Ewigkeit webt.
Den Kreis des geistlichen Jahres, ihn gilt es nun
abermals zu durchlaufen. Im vorigen Buch hatten wir
ihn als den Lehrgang des gemeinsamen Schweigens kennen
gelernt, vom gemeinsamen Hören über das gemeinsame Mahl
hin zum gemeinsamen Anbeten. Dieser Gang bleibt auch hier
der gleiche. Dort freilich, wo ein Volk und seine Ewigkeit sich
444
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
Lin Kreislauf des Jahres abspiegeln sollte, war es auf die Ge-
meinsamkeit, so des Hörens wie des Essens und Kniens ange-
kommen, und so hatte da die Lehre von den Formen des ge-
meinsamen Lebens überhaupt die Darstellung der Liturgie
unterbauen müssen. Hier hingegen handelt es sich um einen
gemeinsamen Weg und dessen Ewigkeit, also nicht um eine
gemeinsame Gestalt, ein gemeinsames Ergebnis, ein gemein-
sames Dasein, sondern um ein gemeinsames Gehen, gemein-
sames Tun, gemeinsames Werden. Sollen hier also jene Sta-
tionen des gemeinsamen Schweigens wiedererscheinen, so
müßte es hier geschehen in der Bereitung der einzelnen Seele
zu den Gemeinsamkeiten. Jede dieser Gemeinsamkeiten er-
fordert ja eine bestimmte Gerichtetheit der Seele; ohne solche
Gerichtetheit wird sich die Seele nicht auf den Weg machen.
Das ewige Leben ist ein Übergreifendes, in dem der Einzelne
mitlebt, wie er hineingeboren ist. Am ewigen Weg teilzuneh-
men, muß er sich selbst "als Einzelner entschließen und be-
reiten.
Wo geschähe nun solche Bereitung der einsamen Seele auf
die Gemeinsamkeit? Wo geschähe denn überhaupt der Seele
eine Formung, die ihr im stillen Kämmerlein ihrer Einsamkeit
ihr selber unbewußt die Form verliehe, in der sie mit andern
zusammenstimmte; ja wirklich: wo würde die Einzelseele auf
den Ton gestimmt, der sie mit andern zusammenstimmen
ließe in harmonischer Stimmung? Solche Stimmung, unbe-
wußt und doch die Seele geleitend auf den Weg der höchsten
Bewußtheit, des schweigenden Einverständnisses mit andern,
kommt der Seele nur von einer einzigen Gewalt her: von der
Kunst. Und nicht von der Kunst, wie sie sich selbst samt ihrem
Schöpfer und ihrem Genießer am liebsten absondern würde
von aller Welt in ein letztes Abseits, sondern allein von einer
Kunst, die aus jenem Sonderreich den Rückweg ins Leben ge-
funden, wirklich gefunden hat, den schon jene in ihr Sonder-
reich gebannte Kunst allenthalben als ihre Erlösung von sich
selbst gesucht hatte. Erst die Künste, die man mit einem als
Herabwertung gemeinten, in Wahrheit sie adelnden Namen
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
445
als angewandte bezeichnet, erst sie führen den Menschen, ohne
auch nur einen Funken von ihrer Herrlichkeit einzubüßen, ganz
wieder ins Leben zurück, aus dem er, solange er sich dem
* reinen« Kunstgenuß hingab, sich entfernt hatte. Ja, sie sind es
allein, die ihn ganz heilen können von jener Krankheit der
Weltentfremdung, die den Kunstfreund in den trügerischen
.Wahn höchster Gesundheit einwiegte grade dann, wenn er sich
der Krankheit widerstandslos öffnete. Die Kunst entgiftet so
sich selber; sie reinigt sich und den Menschen von ihrer eige-
nen Reinheit, sie wird aus einer anspruchsvollen Geliebten
seine gute Frau, die ihn durch die tausend kleinen Dienste des
Alltags und die Pflege des Hauses kräftig macht für den Markt
und die großen Stunden des öffentlichen Lebens, und dabei
selber in ihrer Würde als Herrin des Hauses erst zur Vollreife
ihrer Schönheit aufblüht.
Unter den Künsten waren es die bildenden als die Künste
des Raums, die gleichsam die Schöpfung nachschufen. Aber
ihre Werke sind in Galerien, Museen, Kabinetten verschlossen,
in künstlichen Rahmen, auf eigenen Sockeln, in Mappen, ein
jedes von den andern geschieden, doch nicht so ganz ge-
schieden, daß nicht jedes Werk jedes andre störte, — Leichen-
kammern der Kunst. Da kommt die Baukunst und erlöst die
Gefangenen und geleitet sie in festlichem Zuge in der Kirche
feierlichen Raum. Nun schmückt der Maler Decken und Wände
und den reichen Schrein des Altars, der Bildhauer Säulen und
Giebel, Pfeiler und Gesims, der Zeichner das heilige Buch.
Doch ists nicht Schmuck bloß; die Künste sind nicht Mägde
geworden, dienstbar fremdherrlichem Zweck, sondern erst hier
erwachen sie aus dem Scheintod jener Leichenkammern zu
ihrem wahren Leben. Denn wiewohl sie Künste des Raums
waren und jedes Werk sich seinen eigenen Raum schuf, so war
das eben nur ein eigener, und das heißt: ein »idealer« Raum,
der sich also an dem wirklichen Raum vvundstieß, so daß er
nach jenen soeben erwähnten künstlichen Scheidewänden, als
Rahmen, Sockeln, Mappen, verlangte, eben als Sperre gegen die
Berührung mit dem wirklichen Raum. So schien das Kunst-
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
446
werk zur Einsamkeit verurteilt auch gegen seinesgleichen;
denn die »Idealität« seines Raumes bestand darin, daß er nur
dieses Kunstwerks eigener Raum war, wie denn aller »Idea-
lismus« mit seinem vorgeblichen Zugutsein für die Wirklichkeit
in Wahrheit meist nur eine Flucht vor der allzugemeinsamen
Wirklichkeit ins Traumland der Eigensucht ist; und so kommen
auch die idealen Räume mehrerer Kunstwerke aus sich heraus
nicht zusammen.
Erst indem die Werke aus dem magischen Bannkreis ihres
idealen Raums heraus und in einen wirklichen Raum hinein-
gestellt werden, erst damit werden sie selber vollwirklich und
hören auf, bloß Kunst zu sein. Nun aber gibt es nur eine Art
vollwirklichen Raums in der Welt; denn der Raum, in dem die
Welt selber wohnt, ist — zwar nicht von ästhetischer, aber von
»transzendentaler« »Idealität«: seine Wirklichkeit ist nur wirk-
lich in ihrem Verhältnis zu ihrem Qedachtwerden, aber nicht
zum — Geschaffensein. Geschaffen ist nur die Welt, und der
Raum wie alles Logische nur als ihr Teil; der Raum, in dem
die Welt wäre, also der Raum der Mathematiker, ist nicht
geschaffen. Daher es kommt, daß wenn man, wie es Mathe-
matik und Physik tun, die geschaffne Welt unter den Formen
des Raums betrachtet, man sie notwendig ihrer schlechthin-
nigen, über alle Möglichkeiten hinausgehobnen Tatsächlichkeit,
die sie als Schöpfung hat, entkleidet und sie zum Spielball der
Möglichkeiten verrelativisiert. Vollwirklich ist erst der Raum,
den auf Grund der geoffenbarten Raumrichtungen und Raum-
verhältnisse von Himmel und Erde, Zion und aller Welt, Beth-
lehermEphrata und den Tausenden Judas, die Baukunst schafft:
erst von ihm aus, von den Punkten, die der Baumeister auf der
Erdoberfläche, und den Maßen und Richtungen, die er inner-
halb des Bauwerks festlegt, strahlt ein fester, unverrückbarer,
ein geschaffner Raum, wo klein und groß, Mitte und Enden,
oben und unten, Osten und Westen gilt, auch hinaus in die bis
dahin zwar geräumige, aber selber unräumlich geschaffne
Welt und verräumlicht sie.
Und wiederum ist es unter den Gebäuden nur die eine Art,
die Raum schlechthin ist, nämlich nicht in Räume zerfällt, die
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
447
verschiedenen Zwecken dienen, wie alle Wohn-, Geschäfts-,
Amtsgebäude, aber auch die Versammlungs-, Schau- und
Wirtshäuser. Denn überall hält sich der Mensch auf aus
irgend einem besonderen Zweck, der so für jeden ein beson-
derer ist und also die Zerfällung des Raums in Räume fordert;
selbst Saalbauten sind höchstens aus Zufall einräumig; an sich
spricht nichts dagegen, daß in einem Gebäude mehrere Ver-
sammlungs- oder Konzertsäle »untergebracht« sind, und
meistens ist es der Pall: denn da die Menschen sich immer nur
zu einem bestimmten Zweck darin versammeln sollen, so ist
gar nicht zu sehen, warum nicht andre Menschengruppen
gleichzeitig unter demselben Dach zu anderm Zweck versam-
melt sein sollten. Nirgends weilt eben der Mensch bloß, um
in einem Raum gemeinsam mit andern zu weilen. Solcher
Raum schlechthin ist ihm nur das Gotteshaus, das einzige unter
allen mit überall gleicher, fester Orientierung und mit ganz
notwendiger Einräumigkeit. Denn hier allerdings wäre es ein
beleidigender, ein unausdenkbarer Gedanke, daß unter einem
Dach mehrere räumlich getrennte Kirchen der gleichen Ge-
meinschaft beisammen wären. Wo das doch vorkommt — und
es kommt ja grade bei uns vor — da hat, wie überhaupt in
ecclesia pressa, die Baukunst nichts zu suchen; sie braucht
Freiheit, Geräumigkeit, in die sie i^ren Raum hineinschaffen
kann. Es ist ein Zeichen für jene notwendige Einräumigkeit,
daß die Kirche der einzige Bau ist, dessen Grundriß von jedem
Besucher sofort und in jedem Augenblick erkannt und emp-
funden wird, nicht wie sonst bloß als Grundriß des Raumteils,
in dem man sich grade befindet, sondern als Grundriß des
Gebäudes. Kirchen sind die einzigen Bauwerke, die wirklich,
wie es die höchste Forderung verlangt, im Geiste des Bau-
meisters von innen nach außen gebaut werden können, ja
müssen.
Indem die Baukunst also hier einen einigen Raum schafft,
einen schön geformten und doch für einen Zweck, und für
einen notwendigen, ja den allgemeinsten des menschlichen
Lebens, recht eigentlich also angewandte Kunst, nehmen nun
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
m|
auch alle Werke der »reinen« Künste teil an der Wirklichkeit
des architektonischen Raums, der nunmehr all jene »idealen«
Räume in seine große eine Raumwirklichkeit eingliedert und
mit seinem kräftigen Pulsschlag die krankhafte Blässe jener
Scheinräume rötet. Und in diesen Raum und seine Notwendig-
keit wird nun alles Körperliche hineingezogen, was in ihm sich
aufhält. Hier allein gewinnen die Dinge als Dinge Notwendig-
keit. Allermindestens die Notwendigkeit, welche die Dinge
etwa auch sonst umgibt, hat ihren Ursprung zumeist hier. Nur
kultische Gegenstände sträuben sich, einmal geformt, gegen
jede Abänderung ihrer Form; es sind eben keine Dinge mehr
wie andre Dinge; es sind, so gewagt der Ausdruck klingen
mag, lebendige Dinge geworden. Die Thora und die Esther-
rolle sind die einzigen bis in die Gegenwart genau in der an-
tiken Form erhaltenen antiken Bücher, aber durch diese streng
erhaltene Form ist eine Thorarolle nun auch kein gewöhnliches
Ding mehr; es knüpfen sich, man möchte sagen, persönlichere
und mindestens gleich lebendige Gefühle an so eine Pergament-
rolle wie an das. was darauf steht. So gibt es auch kein
Gewand, das sich so streng erhielte wie das kultische. Wieder
sei hier an die Erhaltung des antiken Kleides im jüdischen
Gottesdienst erinnert. Bei den Priestergewändern der römi-
schen und östlichen Kircne liegt es ähnlich. Ja die Kleidung
überhaupt muß hier ihren Ursprung haben. Den Panzer legt
man ab. wenn man ihn nicht mehr braucht, und so ist jedes
Gewandstück zunächst ebenfalls nur ein Gebrauchsgegenstand
und also nicht das was heute das Kleid ist. Denn heute machen
wirklich Kleider Leute; das Kleid gehört zum Menschen, er ist
nicht komplett, wenn er nicht der Gelegenheit entsprechend
angezogen ist. Das Kleid reiht ihn ein in die menschliche Ge-
meinschaft. Diese Beseelung aber des Kleides, dieses sein
Notwendigwerden geschieht zuerst, und wieder unter dem
raumschaffenden und alles raumeingliedernden Zwang des
Gotteshauses, dem Priester. Die priesterliche Tätigkeit ist die
erste, die der Mensch nur in bestimmter Kleidung ausüben
kann. So fluten in einem wirklichen Raum Wellen von Wirk-
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE' WEG
449
lichkeit durch alles, was in ihn eintritt. Alles Körperliche wird
lebendig; seine Form gewinnt Bestand und Fähigkeit sich fort-
zupflanzen über die Zeit, und der Mensch gibt die Freiheit auf,
zu erscheinen wie es der Zufall grade bringt, und schickt sich
in den Ort. Sein Körper verzichtet auf die Darstellung seiner
Persönlichkeit und kleidet sich nach dem Gesetz des Raums,
der ihn mit andern vereinigt. Die Körperlichkeit des Menschen
lernt von ihrer Eigenart zu schweigen, — ein erster Anfang
nur für das was noch kommt.
Denn der Zweck des einen Raumes, das wodurch die Bau-
kunst zur angewandten Kunst wird, ist ganz einfach der: das
Gefühl der Vereinigung in jedem einzelnen zu erzeugen, schon
ehe diese Vereinigung selbst gegründet ist. Gegründet wird
sie ja erst im Hören des gemeinsamen Worts. In ihm ist sie
schon da. Im einen Raum könnte eine Menge Zusammensein
ohne das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Aber der gemein-
same Raum erregt dennoch in jedem Einzelnen wenigstens den
Wunsch oder besser: das Vorgefühl der Gemeinsamkeit. Er
zwingt die Seele jedes Einzelnen auf den Weg, der zum Ein-
tritt in das gemeinsame Schweigen der Hörer des Worts führt.
Er stimmt die Seele. Weiter begleitet die Muse den Menschen
nicht, selbst hier nicht, wo sie nicht die zweckfreie Muse der
»reinen« Kunst ist, sondern die in den Pflichtenkreis des Lebens
eingetretene der angewandten. Das Leiten muß auch hier eine
andre Macht übernehmen: eben das Wort.
Das Wort bedeutete im jüdischen Gottesdienst mehr schon
die gemeinsame Fahne als die erst gemeinschaftgründende
Macht. Die auffallende Unaufmerksamkeit der nicht unmittel-
bar Beteiligten, mit der zumeist die Schriftvorlesung einher-
geht, ebenso wie die jahrhundertelange Zurückdrängung der
Predigt zeigen, daß die Gemeinschaft nicht erst im Hören her-
gestellt wird, sondern daß die Vorlesung, deren Stellung im
Gottesdienst doch durchaus zentral bleibt, mehr nur Symbol
der schon gegründeten Gemeinschaft, des schon gepflanzten
»ewigen Lebens« ist. Im Christentum liegt das anders. Hier
29
45°
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
nimmt das Wort wirklich den Einzelnen an der Hand und leitet
ihn den Weg, der ihn zur Gemeinschaft führt. Die Vorberei-
tung, die der kirchliche Bau begann, wird von dem Wort zum
Abschluß gebracht. Mit gutem Grund hat ihm darum Augustin
die Bedeutung einer Grundlage der Sakramente und später die
Kirche Luthers die Stellung des wichtigsten Sakraments, das
erst die andern zu Sakramenten macht, gegeben. Denn die
Sakramente dienen »zur Vervollkommnung des Einzelnen in
dem, was zum Gottesdienst gehört«. Und das Wort ist die
Vorbereitung auf diese Vorbereitung des Einzelnen. Mit gutem
Grund andrerseits hat die römische Kirche es deshalb, eben
weil es nur Vorbereitung ist, nicht unter der Siebenzahl ihrer
Sakramente mitgezählt. Entbehren kann und will auch sie es
nicht und läßt es bei allen Säkramenten mitwirken. Die pro-
testantische Predigt aber hat sich gradezu zum Hauptstück des
Gottesdienstes ausgewachsen, gemäß jener stark an den Ein-
zelnen appellierenden Richtung des Protestantismus, die also
ganz natürlich auf das Mittel, das den Einzelnen erst überhaupt
einmal heranbrachte, den höchsten Wert legen mußte und muß.
Als Fest des gemeinsamen Hörens gründet auch hier das
allwöchentliche Fest der Schöpfung das geistliche Jahr. Aber
die Kirche hat eine Tat von tieferer Bedeutung getan als ihr
selber bewußt war, indem sie, um sich schroff von der Syna-
goge zu scheiden, das Fest vom siebenten auf den ersten Tag
der Woche verlegte. Die Stimmung, die im Sabbat höchstens
die Gebete zu Sabbatausgang durchzieht, der Vorschau auf die
kommenden sechs Werktage, hier herrscht sie ganz. Am Sonn-
tag häuft sich der Christ seinen Schatz geistlicher Stärkung,
den er im Lauf der Woche verbraucht. Der Sabbat ist Fest
der Erlösung; er ist es sogar doppelt, in seinen beiden Be-
gründungen, sowohl als Erinnerung des Werks vom Anfang,
denn er feiert die göttliche Ruhe des siebenten Tags, wie als
Gedenktag der Befreiung aus dem Sklavenhaus Egypten, denn
sein Zweck ist, daß Knecht und Magd ruhen wie ihr Herr.
Schöpfung und Offenbarung münden bei ihm in der Ruhe der
Erlösung. Der Sonntag, der die Vorschrift der Ruhe selten,
auch in sonst gesetzlich gerichteten Zeiten, sehr streng ge-
DIE STRAHLEN ODER DER EWIQE WEO
451
nommen hat, ist ganz zum Fest des Anfangs geworden. Unter
dem Sinnbild des Anfangs der Welt feiert er vornehmlich den
Anfang der Woche. Wir erkannten, mit welcher Kraft das
christliche Bewußtsein von der Mitte des Wegs, auf der es
steht, hin zum Anfang drängte. Das Kreuz ist immer Anfang,
immer Ausgangspunkt der Koordinaten der Welt. Wie die
christliche Zeitrechnung dort anfängt, so nimmt auch der
Glaube von dort immer neuen Anlauf. Der Christ ist ewiger
Anfänger; das Vollenden ist nicht seine Sache, — Anfang gut,
alles gut. Das ist die ewige Jugend des Christen; jeder Christ
lebt sein Christentum eigentlich noch heutigen Tags, als wäre
er der erste.
Und so ist der Sonntag in seiner über das Tagewerk der
Woche seinen Segen ausstrahlenden Kraft das rechte Bild
dieser immer von frischem, immer jung, immer neu die Welt
überstrahlenden Kraft des Christentums. Und ebenso wie es
für unser geistliches Jahr bezeichnend ist, daß sein Anfang
unmittelbar an den Schluß der Feste der ewigen Erlösung an-
schließt, gewissermaßen aus diesem Schluß herauswächst als
ein nun trotzdem, da eben die Zeit für diese Ewigkeit noch
nicht gekommen, wieder neu Beginnen, so beginnt das Kirchen-
jahr, ebenfalls höchst bezeichnend, mit dem ersten Advents-
sonntag als dem Vorklang des Fests, mit dem die christliche
Offenbarung anhebt, — so etwa als wenn der Kreislauf der
Sabbate begönne vor dem Fest der nationalen Befreiung. Wie
uns das höchste Fest der Erlösungsfeste, der Versöhnungstag,
ohne regelmäßig auf einen Sabbat zu fallen, gesteigert sabbat-
Iichen Charakter trägt, so liegt ein gesteigert sonntäglicher
Glanz für den Christen über dem Fest der beginnenden Offen-
barung, das ebenfalls und sogar in auffälligem Gegensatz zu
seinen Geschwisterfesten Ostern und Pfingsten, äußerlich nicht
auf den Sonntag festgelegt ist.
Denn ja auch hier im Jahr der Kirche hebt sich gleich wie
bei uns über dem in den Sonntagen gelegten Unterbau
der Schöpfung nun, und ebenfalls in einer Folge von drei Fest-
zeiten, eine jährlich wiederkehrende Feier der Offenbarung.
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
m
Und unter den Künsten sind es die tönenden, die sich der
Offenbarung zuordnen. Denn in der Offenbarung bricht durch
die Öffnung des Augenblicks der Strahl der Zeit in das breite
Becken des geschaffenen Raums, und die Musik ist die Kunst,
die aus dem Augenblick eine Zeit hervorspinnt. Jedes Musik-
werk erzeugt eine eigene Zeit. Der Wirklichkeit des inneren
Lebens gegenüber ist es eine ideale Zeit; so wird die Musik
für ihre Verehrer zur Flucht aus den Aufregungen oder je;
nachdem auch der lähmenden Langeweile ihres wirklichen
Lebens, ganz ähnlich wie die bildenden Künste ihren Freunden
den Ausweg öffnen aus der Häßlichkeit oder je nachdem Klein-
lichkeit ihrer Umwelt. So sparen die Künste dem Menschen
die harte Arbeit, Freiheit und Form in die Welt. Zucht und
Leben in die Seele zu pflanzen. Er findet ja alles, was er ver-
langen kann, in Museen und Konzertsälen. Hier kann er sich
befriedigen und sich für beliebig lange darüber hinweg-
täuschen, daß die Wirklichkeit um ihn und in ihm — so ganz
anders ist. Ja er ist im Stande und sucht die Schuld für diesen
Widerspruch zwischen Ideal und Leben beim Leben und
macht auf dem Heimweg aus dem Konzertsaal den Schöpfer
dafür verantwortlich, daß er Welt und Seele so ungefüge ge-
schaffen habe, statt die Verantwortung einzig auf den zu
wälzen, dem die Arbeit des Andersmachens aufgelegt ist, ihn
selbst, den Menschen.
Fast gefährlicher noch als die Selbstbefriedigung an den
bildenden Künsten ist die des »Musikalischen«. Denn der Lieb-
haber der bildenden Künste vergißt schließlich über seinem
Genuß nur die Welt, aber der Musikalische vergißt über der
Musik sich selber. Jener schaltet sich bloß aus dem frucht-
baren Leben aus und kann am Ende doch auch wieder den
Rückweg finden; dieser aber verdirbt sich selber, entkräftet
seine eigene Seele, und ist so von der Möglichkeit, wieder ins
Leben zurückkehren zu können, noch um eine ganze Stufe
weiter entfernt als jener. Der Musikalische kann in sich jedes
beliebige Gefühl willkürlich erwecken und er kann — schlim-
mer noch — das Gefühl, das in ihm ist, in sich selbst zur Ent-
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
453
ladung bringen. Das Musikwerk, indem es seine eigene,
»ideale« Zeit erzeugt, verleugnet die wirkliche. Es läßt seinen
Hörer das Jahr vergessen, in dem er lebt. Es läßt ihn sein
Alter vergessen. Es trägt ihn bei wachem Leibe hinüber zu
den Träumenden, von denen-es heißt, daß sie ein jeder seine
eigene Welt haben. Mag er dann unsanft erwachend rufen
»besser nie geträumt«, — bei nächster Gelegenheit greift er
dennoch wieder nach der Flasche und trinkt sich seinen Lethe-
rausch. So lebt er ein fremdes Leben, nein noch nicht einmal
ein fremdes; er lebt hundert Leben, von Musikstück zu Musik-
stück ein andres, und keins ist sein eigenes. Wahrlich, der
Hund, der sich höllenheiß betrübt, weil seine Dame Flügel
spielte, lebt echter, ja wenns erlaubt ist »menschlicher«, als
der »Musikalische«.
Das Freventliche an der Musik sind die idealen Zeiten, mit
denen sie die wirkliche Zeit zersetzt. Soll sie von diesem
Frevel ihres Reinseinwollens gereinigt werden, so müßte sie
sich also aus ihrem Jenseits herausführen lassen in das Dies-
seits der Zeit und ihre ideale Zeit eingliedern in die wirkliche.
Das aber würde für sie den Übergang bedeuten aus dem
Konzerthaus in die Kirche. Denn die Zeit, in der die Ereignisse
der Welt ablaufen, ist genau wie der Raum, in den die Welt
hineingeschaffen ist, auch bloß »ideal«, bloß »für das Er-
kennen«, und also ohne Anfang, Mitte, Ende; denn die Marke
der Gegenwart als des Standpunkts des Erkennens verschiebt
sich unaufhörlich. Erst die Offenbarung befestigt ihre Marke
in der Mitte der Zeit, und nun gibt es unverschiebliches Zuvor
und Hernach, gibt es eine vom Rechner und dem Ort des
Rechnens unabhängige Zeitrechnung für alle Orte der Welt.
Diese wirkliche Weltzeit, die also nach und nach alles Ge-
schehen ergreift und durchdringt, spiegelt sich nun mit vollster
Deutlichkeit und faßbar für die kurzlebigen Menschen in dem
geistlichen Jahr; und hier wiederum insbesondere in den
Festen, die als Feste der Offenbarung rückweisend auf die
Schöpfung der Offenbarung, vorweisend auf die geoffenbarte
Erlösung die unabsehbare Ewigkeit des Gottestages in den
454
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
jährlichen Kreislauf des Kirchenjahres hineinnehmen. Indem
die Musik sich diesen Festen und überhaupt dem Kirchenjahr
einfügt, steigt das einzelne Musikwerk heraus aus dem künst-
lichen Rahmen seiner idealen Zeit und wird ganz lebendig,
weil es gepfropft wird auf den säftereichen Stamm der wirk-
lichen Zeit. Wer einen Choral mitsingt, wer Messe, Weih-
nachtsoratorium oder Passion hört, der weiß ganz genau, in
welcher Zeit er ist; er vergißt sich nicht und will sich nicht
vergessen; er will sich nicht aus der Zeit flüchten, sondern im
Gegenteil: er will seine Seele mit beiden Beinen in die Zeit, in
die allerwirklichste Zeit, in die eine Zeit des einen Welttags,
dessen alle einzelnen Welttage nur Teile sind, hineinstellen.
Dahin soll ihm die Musik das Geleit geben. Wieder kann sie
es ja nur bis ans Tor. Wieder muß ihr hier das Sakrament das
Geschäft abnehmen und den Menschen dahin leiten, wohin er
soll. Aber die Vorbereitung dieser Vorbereitung des Ein-
zelnen, der sich auf den ewigen Weg begab, lag bei ihr in den
rechten Händen.
Denn die Musik ist es, die jene erste im gemeinsamen
Raum und dem gemeinsamen Hören des Worts gegründete
Zusammengehörigkeit nun steigert zur bewußten und tätigen
Zusammengehörigkeit aller Versammelten. Der von der Bau-
kunst erst geschaffene Raum wird nun von den Klängen der
Musik wirklich erfüllt. Der den Raum füllende, von allen ge-
meinsam in mächtiger Einstimmigkeit gesungene Choral ist die
eigentliche Grundlage der kirchlichen Anwendung der Musik;
noch in den Bachschen Passionen lebt er fort, und auch die
römische Kirche hat ihn weitergepflegt, wenn auch die musika-
lische Messe von ihm wegführt. Im Choral ist die Sprache,
die sonst aus jedes Einzelnen Mund ihr eigenes und besonderes
Wort zu reden hat, zum Schweigen gebracht. Nicht zu jenem
Schweigen, das einfach stumm dem verlesenen Wort zuhört,
sondern zum Schweigen seiner Eigenheit in der Einmütigkeit
des Chors. So wird im gemeinsamen Mahl Gemeinsamkeit
des Lebens bezeugt und bewußt; alle tuen in bewußter Ge-
meinschaft das Gleiche, nämlich Essen, und jeder tut es doch
im ganz wörtlichen Sinne »für sich«.
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
455
Zu dieser Gemeinsamkeit des Lebens, wie sie dann im
Sakrament sich verwirklicht, stimmt nun die Musik die Seelen
vor. Die beim Eintritt in den gemeinsamen Raum nur zur
Gemeinschaft überhaupt, zur Möglichkeit von Gemeinschaft
vorgestimmten Seelen werden im gemeinsamen Singen des
Chorals vorgestimmt zur wirklichen Gemeinschaft. Auch die
musikalische Messe ist ja, obwohl bloß mitgehört nicht mit-
gesungen, doch im Grunde ebenso sehr wie der Choral eine
Vorstimmung aller Einzelnen zur Gemeinschaft; denn Musik
Hören ist ein ganz anderes Hören als das Hören eines vor-
gelesenen Texts oder einer Predigt: es gründet keine Gemein-
schaft, sondern es erregt die Versammelten, einen jeden für
sich, zu den gleichen Gefühlen, — einen jeden für sich, wie der
Anblick eines Konzertpublikums unmittelbar zeigt. So ist das
Anhören der musikalischen Messe in dieser Beziehung völlig
gleichwertig dem Gesang des Chorals. Der Einzelne wird,
nachdem ihn leiblich der gemeinsame Raum aufgenommen hat,
nun in seiner Seele als redender Einzelner ergriffen, und indem
die Rede in die Zucht von Rhythmus und Melodie genommen
wird, lernt die Eigenheit des eignen Worts des Einzelnen das
Verstummen. Er spricht, aber was er spricht, sind nicht seine
Worte, sondern die allen gemeinsamen Worte zur Musik.
Die Worte und Gefühle, kurz das Innere des Menschen
steigt so in den Stand der Notwendigkeit, in den die Dinge mit
ihrem Einzug in den Raum der Kirche eintraten. Das Wort,
das zum Text des Gesangs geworden ist, hört auf, ein belie-
biges zu sein. Mit Sangweisen erhalten sich Worte. Alle
Überlieferung von Worten geschieht in alten Zeiten in festem
Gesangston, sowie noch heute dort, wo das Wort noch als
gesprochen Wort überliefert wird. Und alle Überlieferung ist
ursprünglich kultisch. Der Kult gibt selbst dem bloß gedachten
Wort Notwendigkeit: das Brevierlesen des katholischen Geist-
lichen, das stumme Gebet bei uns sind etwas ganz andres wie
Lesen oder Nachsinnen sonst. Der Gedanke hat da ein Feier-
kleid angezogen, in dem er sich weniger bequem und frei be-
wegen mag als sonst, aber die Worte, die der Mensch so
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
456
denkt, haben eine ganz zweck-, ja selbst gedankenfreie Not-
wendigkeit und Gültigkeit. Und so wie die Kleidung erst den
Menschen in Gesellschaft vollwertig macht, grade weil sie
nicht »persönlich« wie der nackte Leib, sondern irgend einer
Sitte gemäß ist, so ist der Mensch auch bei sich selber noch
nicht recht zu Hause, solange er bloß frei denkt und spricht,
was er will und meint, sondern erst, wenn er unbekümmert ein
Liedchen vor sich hinsummt oder -pfeift oder ein Sprichwort
auf sich bezieht. So ists auch mit Brevier und stillem Gebet.
Der Mensch mag im freien Lesen und Denken sogar anschei-
nend mehr bei der Sache sein und ist es doch mehr hier; denn
die Worte sind hier auf eine gemeingültige Höhe des Gefühls
gehoben, die sie im Draußen nie erreichen, wo sie stets eigene
Worte des Einzelnen bleiben. Nicht mehr lebendig brauchen
die Worte durch den Eintritt in die Kirche zu werden wie die
Dinge. Lebendig sind sie schon. Aber ihre Lebendigkeit ist
vergänglich. Indem die Musik sie aufnimmt, werden sie
dauerhaft. Und wenn die Musik Kirchenmusik ist, dann treten
sie mit ihr ein in den Kreislauf des Jahrs und werden durch die
Eingliederung in den ewigen Tag des Herrn selber ewig.
Was die Musik vorbereitet, die Leitung der einzelnen Seele
auf den gemeinsamen Weg, das vollendet nun das Sakramefit
und als das höchste unter ihnen das Abendmahl. Aufs deut-
lichste wieder unterscheidet es sich als Feier des Wegs vom
jüdischen Abendmahl am Befreiungsfeste, aus dem es entstand.
Denn da wird die Gemeinschaft des Mahles als wirkliches
gemeinsames Leben sichtbar; dort hingegen sitzt die Gemeinde
nicht um den Tisch des Herrn zum Mahl vereinigt, sondern ein
jeder tritt einzeln hin, ein jeder geht, und das Gemeinsame ist
allein die Gemeinsamkeit des Kelchs, die Gleichheit der Speise,
des Weihworts, des Glaubens. Was dem Menschen in der
Musik erst halb ins Bewußtsein treten konnte, die Gemeinsam-
keit des im Schweigen seines EigenTchs lebendig gewordenen
Gefühls, das wird ihm im Genuß des Sakraments vollbewußt.
So ist das Sakrament des Mahls recht eigentlich Zeichen und
Träger der Offenbarung, und indem es in der Messe zum
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
M
Kernstück jedes, selbst des täglichen Gottesdiensts wird, rückt
es die Offenbarung in die Mitte des Gottesdiensts überhaupt.
Wie denn wirklich die im Sakrament erlebte und genossene
Gegenwart Christi ja für den Christen infolge seines auf Weg-
mitte und Weganfang gerichteten Glaubens Ähnliches bedeutet,
wie uns die gewisse Zuversicht der trotz alles Verzugs bevor-
stehenden Zukunft des Messias und seines Reichs. So wie
unser ganzer Gottesdienst, auch wo er der Erinnrung von
Schöpfung und Offenbarung geweiht ist, dennoch ganz durch-
setzt ist von dem Erhoffen und Erharren der Erlösung, so der
christliche ganz vom Gedanken und gegenwärtigen Gefühl der
Offenbarung.
Die drei Festzeiten, in denen auch dem Christen die Offen-
barung ins Kirchenjahr eintritt, beginnen mit der Weihnachts-
zeit, die, am Anfang des Kirchenjahres stehend, ähnlich wie
das jüdische Befreiungsfest ein Fest des Anfangs ist. Dieser
Anfang, diese Schöpfung der Offenbarung muß hier die fleisch-
liche Geburt sein, wie beim Volk die Befreiung; die Frei-
werdung des »erstgeborenen Gottessohns« zu einem Volke
und die Fleischwerdung des »eingeborenen« zu einem Men-
schen entsprechen einander so genau wie sich das Volk und
der Einzelne, Welt und Mensch, entsprechen können. Beide
Feste feiern den Anfang des sichtbaren Ganges der Offenbarung
über die Erde. Die Schriftverlesung steht bei keinem der
christlichen Feste so sehr im Mittelpunkt der ganzen Feier wie
hier in der Weihnachtsgeschichte. Sie ist eben das Eu=angelion
im Evangelium. Auch hier ist genau das gleiche bei unserm
Befreiungsfeste der Fall; nirgends wird die dem Fest zu-
grundeliegende Erzählung im Kult selber so breit und so als
Mittelpunkt behandelt wie hier, wo ihr jenes eigne Büch-
lein gewidmet ist, das wir zum häuslichen Abendmahl
lesen und das uns die »Geschichte« schlechtweg heißt,
— unter all den zahllosen Hagaden »die« Hagada. Mit
dieser Zentralstellung der verlesenen Geschichte in der Fest-
feier erweist sich also auch Weihnachten als das innerhalb der
Offenbarungsfeste wiederkehrende Fest des gemeinsamen
Hörens, des Hörens der frohen Botschaft.
458
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
Aber zugleich gewinnt nun das Antlitz des Fests auch schon
die reinen Gegenwartsziige der Offenbarung, indem es zur
Mitte einer vielwöchigen Festzeit wird. Die Adventszeit vor-
her erneuert die Erinnerung an die Prophetie des »alten«
Bundes und gründet so dem Weihnachtswunder einen eigenen
Schöpfungsgrund. Im Neujahrsfest aber und im Fest der drei
Könige klingt innerhalb der Weihnachtsfestzeit die Erlösung,
das Zueinanderkommen von Glauben und Leben, vor: das
Neujahrsfest ist das Fest der Beschneidung des Kindes, mit
der nach jüdischer Auffassung die Zugehörigkeit zum Volk, die
unmittelbar und letzthin allein auf dem Geheimnis der Geburt
beruht, in der ersten Befolgung eines Gesetzes öffentlich be-
kundet wird; entsprechend leitet dies Fest den Gang des
Kirchenjahrs aus seinem eignen höheren Anfang hinein in den
Kreis des bürgerlichen Jahrs; und die Anbetung der Könige
aus dem Morgenland spielt vor auf die künftige Anbetung
durch die Könige und Völker aller Lande; beide Feste zu-
sammen also auf das Doppelereignis, das unter Konstantin ein-
trat: das sich Einordnen des Christentums in den Staat, das
sich Bekehren des Staats zum Christentum. Und also zwischen
seinen eignen Schöpfungsgrund und seine eigene Erlösungs-
vorwegnahme eingestellt wird so das Weihnachtswunder
selber schon zur ganzen Offenbarung.
Aber die eigentliche Festzeit der Offenbarung innerhalb der
drei Feste der Offenbarung sind doch erst die Ostern. Erst
Golgatha und das leere Grab, nicht schon der Stall von Beth-
lehem gilt der Christenheit für den Anfang ihres Wegs. Das
Kreuz jedenfalls, und nichts vorher aus dem »Leben Jesu«, ist
es, was ihr von jedem der zahllosen Mittelpunkte ihres ewigen
Wegs aus immer gleich nah sichtbar bleibt. Gleichwie auch
uns erst das Sinaiwunder, die Gabe der Thora, und nicht schon
der Auszug aus Egypten, die Offenbarung bedeutet, die uns
immerfort als gegenwärtig begleitet; des Auszugs müssen wir
uns erst erinnern, und sei es auch so leibhaft als wären wir
selbst dabei gewesen; aber der Thora brauchen wir uns nicht
zu erinnern, sie ist gegenwärtig. So ist dem Christen nicht die
DIE STRÄHLEN ODER DER EWIGE WEG
459
Krippe, sondern das Kreuz immer gegenwärtig; dies, nicht jene,
hat er immer vor Augen; wie uns von der Thora gesagt ist, so
könnte ihm vom Kreuz gesagt werden, es müsse »in seinem
Herzen sein, auf daß seine Schritte nicht gleiten«.
Diese Gegenwärtigkeit macht nun das Osterfest auch zum
eigentlichen Fest des Sakraments. Wie das eucharistische
Mahl im Zusammenhang der Osterereignisse eingesetzt ist, so
wird es auch hier vornehmlich empfangen. Und über diese
Gegenwärtigkeit hinaus sucht nun die Kirche hier, sei es in der
musikalischen Messe, sei es im Passionsoratorium, den Men-
schen ganz unmittelbar sinnlich unters Kreuz zu stellen; er
muß das Haupt voll Blut und Wunden grüßen, unmittelbar von
Angesicht zu Angesicht. So wird diese ganze Festzeit, von
den Fasten über den Karfreitag hin zum Auferstehungstag, eine
einzige Vergegenwärtigung des großen Zentralereignisses des
christlichen Lebens: die Fasten lange Vorbereitung; der stille
Freitag, den die römische Kirche zurücktreten läßt und die pro-
testantische, der die Fasten fehlen, um so höher feiert, das
Ereignis selbst; endlich Ostern der mächtige Ausklang, inner-
halb dieses Fests der Offenbarung der Tag der Erlösung.
Der Erlösung selbst ist von den drei Festzeiten die dritte,
das Pfingstfest, gewidmet. Es kann sie natürlich nur vorweg-
nehmen, eben weil es ja innerhalb der Offenbarung bleibt. Es
muß sie als einen letzten Akt des Erdenwandels Christi zur
Anschauung bringen, ebenso wie das Hüttenfest an die end-
liche Ruhe erinnern konnte nur in der vorläufigen während der
Wanderung. So kann die Pfingstzeit notwendig nur an den
Anfang der Erlösung erinnern, nicht an ihren Verlauf, ge-
schweige ihr Ende. Sie muß den Punkt bezeichnen, wo der
Weg der Christenheit aus dem schmalen Pfad des Herrn und
seiner Jünger zur breiten Heerstraße der Kirche wird. Weil
die endliche Erlösung, mindestens hier, noch nicht gefeiert
wird, sondern nur ihr Vorklang in der Offenbarung, so kann
denn dies Fest auch nicht jene höchste Gemeinsamkeit der
Menschheit im schweigenden Anbeten selber darstellen, sondern
muß sich begnügen, dazu aufzufordern, in freilich allgemeiner,
46o DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
der ganzen Menschheit verständlicher Aufforderung. Aber
diese AllgemeimVerständlichkeit kann nicht schweigend er-
reicht werden, sondern bedarf noch des Mittels der Rede, die
erst durch das Snrachwunder über den Widerstand des sprach-
getrennten Heute von damals, das auch heute noch von heute
ist, hinwegspringt. Es ist das die erste Wirkung des Geistes,
daß er übersetzt, daß er die Brücke schlägt von Mensch zu
Mensch, von Zunge zu Zunge. Die Bibel ist wohl das erste
Buch, das übersetzt und dann in der Übersetzung dem Urtext
gleichgeachtet wurde. Gott spricht allenthalben mit den Worten
des Menschen. Und der Geist ist dies, daß der Übersetzende,
der Vernehmende und- Weitergebende, sich dem Ersten, der
das Wort sprach und empfing, gleich weiß. Der Geist leitet so
den Menschen und gibt ihm das Zutrauen, auf seinen eignen
Füßen zu stehn. Grade als Geist der Überlieferung und Über-
setzung ist er des Menschen eigner Geist. Das ist die Ge-
schichte der Pfingstzeit: der Herr verläßt die Seinen, er fährt
gen Himmel, sie bleiben auf Erden zurück. Er verläßt sie,
aber er läßt ihnen den Geist. Sie müssen nun handeln lernen,
ohne ihn doch mit Augen zu sehen; sie müssen lernen zu han-
deln, als ob sie gar keinen Herrn hätten; aber nun können sie
es auch: sie haben den Geist. Im Pfingstwunder beginnt die
allerZungen mächtige Kirche ihren Weltgang; im Symbol der
Dreieinigkeit, deren Fest dem Pfingsttag folgt, richtet sie sich
selbst das Panier auf. das ihre ausschwärmenden Sendboten
zusammenhält.
A ber es bleibt immer nur ein Vorblick auf die Erlösung. Die
jfYErlösung selbst .hat damit noch keine Stätte im Kirchen-
jahr. Es müßte ihr eine eigene, eine dritte Art von Festen ent-
sprechen, so wie bei uns zu den Sabbaten und den Wallfahrts-
festen die gewaltigen Tage kommen. Bisher entsprachen den
Festen des jüdischen Kalenders solche des christlichen. Was
für eine eigene Art von Festen entspräche also den gewaltigen
Tagen ?
Keine. Zu diesen Festen unsres Kalenders fehlt dem
Kirchenjahr — ihm, nicht dem Kalender — die Entsprechung.
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG 461
Die einzige, die man etwa nennen könnte, läge innerhalb des
Kreises der drei Offenbarungsfeste. Es war ja auffällig, daß
Weihnachten nicht wie Ostern und Pfingsten sich einer Fest-
zeit des jüdischen Kalenders anpaßte. Und es ist bekannt, daß
es einem Wendepunkt des Jahrlaufs der Sonne zugeordnet ist;
der unbesiegte Sonnengott des Mithraskults feierte hier seine
alljährliche Neugeburt. Aber von dieser fremden Wurzel her
hat dann das Fest gleichwohl und grade im führenden Volk
der Christenheit und in seinen neuesten Jahrhunderten, eine
Entwicklung genommen, die es in eine gewisse Nähe zu den
jüdischen Erlösungsfesten brachte. Schon jenes Sichauftun
des Hauses für den Einbruch der freien Natur, der im winter-
lich beschneiten Baum Gastrecht im warmen Zimmer gegeben
wird, und die Krippe im fremden Stall, in dem der Erlöser zur
Welt kommt, haben ihr genaues Gegenstück in dem freien
Himmel, dem das Dach der Laubhütte Durchlaß gönnt, zur
Erinnrung an das Zelt, das dem ewigen Volk Ruhe gewährte
bei seiner Wanderung durch die Wüste.
Aber darüber hinaus hat sich eine Entsprechung mit dem
eigentlichen Fest der Erlösung hervorgebildet, auf die schon
einmal hingewiesen wurde. Der Weihnachtstag steht unter den
Sonntagen wie der Tag der Versöhnung unter den Sabbaten:
er ist, ohne notwendig auf einen Sonntag zu fallen, recht der
Sonntag schlechtweg, nämlich als Geburtstag des Kirchen-
iahrs das, was der Sonntag für die Woche ist: Neubeginn;
genau wie der Versöhnungstag, als Tag des Eintritts in die
Ewigkeit, in unserm Jahr das ist, was der Sabbat für die
Woche bedeutet: Vollendung. Und so hat sich denn auch an
beiden Tagen das Wunderbare vollzogen, daß der Vorabend
zu gleicher Bedeutung mit dem Festtag selber heranwuchs; der
Vorabend des Versöhnungsfests ist der einzige, der die Ge*
meinde in der sonst nur am morgendlichen Hauptgottesdienst
getragenen Feiertracht zeigt; wie durch ihn der Versöhnungs-
tag zum »langen Tag« wird, so durch den Heiligen Abend und
seine »lange Nacht« das Christfest. Nur ein Tag aus Nacht
und Tag bis wieder zum völligen Einbruch der Nacht — nur
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
das ist ein ganzer Tag. Denn der Tag liegt zwischen zwei
Mitternächten; nur die erste von ihnen ist wahrhaftig Nacht,
die andre ist Licht. Und so heißt, einen solchen langen Tag
mit Qott leben: ganz mit Gott leben, — das Nichts, das vor
das Leben gesetzt ist, und das Leben selbst, und den Stern,
der über dem Schwarz der Nacht jenseits des Lebens aufgeht.
Der Christ lebt solch ganzen langen Tag am Tag des Anfangs,
wir am Tage des Endes. Beide Feste sind so hinaus-
gewachsen über die Bedeutung, die sie ursprünglich hatten.
Der Versöhnungstag wurde, was seine Einsetzung kaum ahnen
läßt, zum höchsten Feiertag, an dem schon zu Zeiten Philos
des Alexandriners genau wie heute auch die sonst Lauen, die
sich selten dort sehen ließen, scharenweise ins Haus Gottes
strömten und sich mit Beten und Fasten wieder zu ihm zurück-
fanden. Und so ist Weihnachten umgekehrt aus einem Kirchen-
fest zum Volksfest geworden, das selbst die entchristlichten,
ja die unchristlichen Glieder des Volks in seinen Bann zwingt.
Jener Tag, der das Ende vorwegnimmt, ist so ein Zeichen für
die innere Selbsterhaltungskraft unsres Volks im Glauben ge-
worden; dieser Tag, der den Anfang erneuert, ein Zeichen für
die äußere Ausbreitungsfähigkeit des Christentums über das'
Leben.
Das Fest des Anfangs der Offenbarung ist also das einzige,
das im Christentum unserm Fest der Erlösung in gewisser
Weise die Wage hält. Ein eigenes Fest der Erlösung fehlt.
Im christlichen Bewußtsein, wo sich alles auf den Anfang und
das Anfängen sammelt, verwischt sich der klare Unterschied,
der für uns zwischen Offenbarung und Erlösung besteht. In
Christi Erdenwallen, allermindest in seinem Kreuzestod und
eigentlich schon in seiner Geburt ist die Erlösung bereits ge-
schehen. Christus, nicht etwa erst der wiederkehrende, nein
schon der von der Jungfrau geborene, heißt Heiland und
Erlöser. Wie bei uns in den Gedanken der Schöpfung und
Offenbarung ein Drang liegt, aufzugehn in den Gedanken der
Erlösung, um derentwillen schließlich allein alles, was voran-
ging, geschah, so wird im Christentum der Gedanke der Er-
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG 463
lösung zurückgeschlungen in die Schöpfung, in die Offen-
barung. Er bricht wohl immer wieder als etwas Selbständiges
hervor, aber immer wieder auch verliert er die Selbständigkeit
wieder. Der Rückblick zu Kreuz und Krippe, die Ereignung
der Ereignisse von Bethlehem und Golgatha ins eigne Herz
wird wichtiger als der Ausblick auf die Zukunft des Herrn.
Das Kommen des Reichs wird eine weit- und kirchengeschicht-
liche Angelegenheit. Aber im Herzen der Christenheit, das
den Lebensstrom durch die Kreisbahn des Kirchenjahrs treibt,
ist kein Platz dafür.
Nicht in dem ewig wiederkehrenden Kreislauf des Kirchen-
jahrs, wohl aber in dem von Jahrhundert zu Jahrhundert seine
Gedenktage wechselnden Kalender der Welt, mit dem jener
Kreislauf sich ja am Neujahrsfeste vereinigt. Hier ist Platz
für alle jene geschichtlichen Gedenktage, in denen die Mensch-
heit sich ihres Ganges durch die Zeit bewußt wird. Solche
Jahrestage wechseln mit dem wechselnden Zeitalter, sind ver-
schieden von Ort zu Ort, von Regierung zu Regierung; aber
solange einer jeweils gefeiert wird, solange füllt sich in ihn die
Freude des Menschen an der lebendigen weltlichen Gegen-
wart und die Hoffnung noch besseren, noch reicheren, kurz:
wachsenden Lebens in Zukunft. Bei uns haben sich die wenigen
Erinnrungstage unsrer Volksgeschichte, weil sie vergangen ist,
zu dauernden verfestigt; die drei der Thora unbekannten Tage,
der Trauertag der Zerstörung Jerusalems, das Fest zur Er-
innerung der im Estherbuch erzählten Rettung, das der Neu-
weihe des geschändeten Heiligtums nach dem Sieg der Mak-
kabäer, alle drei ausgesprochenermaßen Erinnerungsfeste mit
demgemäß zufälligem, nur historisch bedingtem »Datum«, und
an Rang — selbst der Trauertag um Jerusalem — den andern
Festen nicht vergleichbar, kehren nun jährlich wieder; sie sind,
obwohl geschichtliche Feste, starr geworden — wie die Ge-
schichte des Volks. Nicht so die geschichtlichen Erinnrungs-
tage der Völker. Die Feier ihrer Kriege und Siege überdauert
kaum ein Halbjahrhundert, schon werden sie von andern ver-
drängt; die Geburtstage der Fürsten wechseln mit diesen
464
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
selbst; Verfassungs- und Befreiungsfeste dauern solange wie
die Staatsforrn oder allenfalls der Staat. Und trotzdem ge-
nügen sie dem Volk als Zeichen seiner Dauerhaftigkeit durch
die Zeiten grade in ihrem Wechsel und ihrer Zeitlichkeit.
Die Kirche greift nun hier mit zu und feiert mit. Sie wächst
ins Volk und seine Geschichte hinein, indem sie seine Erinne-
rungstage mit ihrem Segen begleitet. Es ist ein Stück Heiden-
mission, das sie da betreibt; indem sie auf die Zweige des
nationalen Lebens ihr verklärendes Licht wirft, leistet sie ein
Stück Arbeit auf dem Weg der Erlösung, die ja immer wieder
nichts andres ist als Einsäen der Ewigkeit ins Lebendige. Wo
sie sich nach Landesgrenzen verfaßt hat, richtet sie jährlich
oder zu den großen Ereignissen des Volkslebens Buß- und
Bettage ein. Erntedankfeste, Kriegsbeginn- und Siegesfeier,
— überall muß sie ihr Wort mitsprechen. Aber sie hat auch
ihre eigne Geschichte. Auch die will gefeiert werden; so
feiert Luthers Kirche ihr Reformationsfest, die römische be-
kundet alljährlich ihren ungeschwächten Gegensatz gegen die
Ketzer im Umzug des Fronleichnamstages. Und die römische
Kirche vor allem hat es sich nicht versagt, ihr eignes Leben in
einer Reihe von Festen ins Kirchenjahr unmittelbar hinein-
zuweben. Das tut sie allgemein in den Festen, die im Gang
des Marienlebens das Dasein der Kirche selber widerspiegeln.
Und sie tut es weiter im besonderen in den Heiligenfesten, die
in ihrer unbegrenzten Wandlungs-, Anpassungs- und Wachs-
tumsfähigkeit ein ganz intimes Bündnis zwischen ihr und den
örtlichen, ständischen, ja den persönlichen Interessen der Welt
möglich machen, und schaltet so dies Zeit- und Weltliche
immer wiede-r ein in den ewigen Kreis, der doch in diesen mit
Zeit und Ort wechselnden Festen des ewigen Wegs der Erlö-
sung durch Ort und Zeit längst schon nicht mehr Kreis bleibt,
sondern zur Spirale sich öffnet.
Wie aber nun werden diese kirchlich-unterkirchlichen oder
auch weltlich-überweltlichen Feste der Erlösung gefeiert? Die
Feste des gemeinsamen Hörens und des gemeinsamen Mahls
sind uns schon begegnet. Feste des gemeinsamen Knieens
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
465
aber können diese Erlösungsfeste nicht sein. Das gemeinsame
Knieen hatte im Christentum seine Stätte schon vorher ge-
funden. Mit Maria und Joseph, mit den nächtlichen Hirten und
den Königen aus dem Morgenland hatte die Christenheit an
der Krippe gekniet; in dem atemlosen Schweigen vor der
Wandlung, in das nur die Glocke leise hineinklingt, kniet sie
vor dem im Meßopfer neu vergegenwärtigten Opfer am Kreuz.
So nahm sie das letzte Schweigen der Erlösten wiederum
schon hinein in die Feier des ersten Ursprungs und der allzeit
erneuerten Gegenwart des Herrn. Über Schöpfung und Offen-
barung vergißt sie wiederum der ewig kommenden Erlösung.
Und die Feste, mit denen sie die Erlösung selber ins Kirchen-
jahr hineinzieht, geben jenem letzten Anbeten keine Stätte.
Wie also mögen diese Feste gefeiert werden? Daß vor
Gott sich beuge jegliches Knie, bleibt die wahre Form, unter
der die Erlösung gefeiert wird; aber nur bei uns wird sie in
dieser wahren Form in eigenen Festen gefeiert, weil nur bei
uns das geistliche Jahr in den eigenen Festen der Erlösung
sich zum vollständigen Ring schließen kann, denn nur wir
leben ein Leben in der Ewigkeit der Erlösung und können sie
daher feiern; die Christenheit ist nur auf dem Weg und feiert
die ewige Erlösung nur in Festen der Zeit und also nicht in der
eignen Form des gemeinsamen Knieens. Was aber mag nun
dieser ewigen Form der Erlösungsfeier dann dort als zeitliche
Form entsprechen? Wie denn bereitet die Kunst den Menschen
zur Feier jener Feste vor?
Die Kunst, die über den reinen Raum und die reine Zeit
hinaus sich ihre Sphäre schuf, war die Poesie gewesen. Der
Mensch ist ja mehr als die Räumlichkeit des Leibs, mehr auch
als die Zeitlichkeit der Seele, er ist ganzer Mensch. Und so
mußten über bildenden und musikalischen Künsten noch die
dichtenden auftreten als die Künste des ganzen Menschen. Der
Gedanke, der ja als Vorstellung in sich die Räumlichkeit des
Anschaulichen und die Zeitlichkeit des Gefühls verbindet und
zu einem Ganzen macht, ist das Element, in dem sich die Dich-
30
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
tung bewegt. Die Welt als Ganzes und ihr kleiner Gott, der
Mikrokosmos Mensch, ist ihr Inhalt. Und so müßte von der
Dichtung her dem Menschen die Stimmung kommen, in der er
den Weg zum letzten erlösenden Schweigen fände, das sich
ihm in den weltlichen Festen der Erlösung wenigstens als Aus-
sicht und Verheißung zejgen müßte.
Aber noch weiter scheint von der Dichtung her dieser Weg
in das Leben der Gemeinschaft, als er schon von der bildenden
Kunst und von der Musik her war. Diese wurden wenigstens
in öffentlichen Sälen, in eignen Häusern aufbewahrt und vor-
geführt. Das Heim der Poesie aber, in dem sie ihre Gefangen-
schaft absitzt, ist der Bücherschrank. Der Raum zwischen den
zwei Deckeln eines Buchs — das ist die einzige Stätte, wo die
Poesie wahrhaft »reine« Kunst ist; dort ist sie in ihrer reinen
Gedankenwelt, jedes Werk in seiner eignen. Wie das Bild in
seinem Rahmen sich seinen »reinen« Raum schafft, wie das
Musikwerk sich seine reine Zeit, so schafft sich jede Dichtung
ihre eigene »ideale« Welt. Schon indem sie laut vorgelesen
wird, verläßt sie diese reine Welt ihrer Vorstellung und macht
sich irgendwie gemein. Gar wenn sie als dramatische Dich-
tung etwa aufs Theater kommt, ist es um ihre ästhetische
»Idealität« geschehen; das rechte Drama ist das Buchdrama;
daß es theatralisch sei, gilt im Munde des Ästheten für ein
Verbrechen, das man unfolgerechterweise Shakespeare ver-
zeiht, Schiller aber und Wagner schwer anrechnet, obwohl
sicher einmal eine Zeit kommen wird, wie sie für Schiller schon
gekommen ist, wo man aufhören wird, Wagner vorzuwerfen,
daß er fürs Theater theatralisch geschrieben hat. Doch bleibt
auch das Theater, selbst das theatralische, noch immer reine
Kunst, obwohl sie sich schon nicht ganz dem Einfluß der ver-
sammelten Menge entziehen kann; und die Zwitterwirkung des
Theaters kommt eben aus dem Kampf, in den die ideale Welt
des Werks dort mit der wirklichen eines versammelten Pub-
likums notwendig geraten muß. Offenbar müßte auch die
Dichtung aus den Buchdeckeln ihrer idealen Welt erlöst und
in die wirkliche eingeführt werden, ehe sie zur Führerin einer
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG 467
Menschenmenge ins Land des gemeinsamen wechselweisen
Schweigens werden könnte. Da wären dann nicht mehr bloß
wie im Banne der körpervereinenden Baukunst die Leiber im
gleichen Raum beisammen, nicht bloß wie unter dem Zauber-
stab der Seelenführerin Musik die Zungen zum gleichrhyth-
mischen Chor des gleichen Worts geeinigt, sondern die ganzen
Menschen wären in Tat und Rede und über Tat und Rede
hinaus einander nah und eins.
Zu solcher Anwendung müßte aber die Dichtkunst selber
zunächst schweigen lernen; denn im Wort ist sie noch ge-
bunden an die Seele; sie müßte lernen, frei zu werden von der
Vorstellung der schon in der Welt vorhandenen Gestalt, und
selber Gestalt hinstellen: sie müßte Gebärde werden. Denn
die Gebärde allein ist jenseits von Tat und Rede: nicht die
Gebärde freilich, die etwas sagen will; die wäre ein kümmer-
licher Ersatz nur der Rede, ein Stammeln bloß; und auch nicht
die Gebärde, die ein Tun des andern hervorlocken will; sie
wäre ein kümmerlicher Ersatz nur der eignen Tat; sondern die
Gebärde, die ganz frei, ganz schöpferisch geworden ist und
nicht mehr auf dieses oder jenes, auf diesen oder jenen geht;
die Gebärde, die den Menschen ganz zum Sein, zu seiner
Menschheit und damit zur Menschheit vollendet. Denn wo ein
Mensch sich ganz in seiner Gebärde ausdrückt, da fällt in einer
»wunderbaren leisen« Rührung der Raum, der Mensch von
Menschen trennt; da verflüchtigt sich das Wort, das sich
kopfüber in den trennenden Zwischenraum geworfen hatte, um
ihn mit seinem eignen Leibe auszufüllen und so durch dies
heroische Selbstopfer Brücke zu werden zwischen Mensch
und Mensch. So muß die Gebärde, die den Menschen also zu
seiner ganzen Menschheit vollendet, den Raum, in den die
Baukunst seinen Leib selbvielen hineingestellt und dessen
Zwischenräume die Musik ausgefüllt und überbrückt hatte,
sprengen. Jene letzte ganz allmenschheitliche Gebärde des
Kniefalls an unsern Erlösungsfesten tut das, sie sprengt jeg-
lichen Raum, wie sie alle Zeit vertilgt. Im Talmud wird unter
den Wundern dfcs Heiligtums in Jerusalem auch dies genannt,
30*
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
daß die im geschlossnen Vorhof versammelte Menge so dicht
bei dicht drängte, daß kein Plätzchen mehr frei war; aber im
Augenblick, wo die Stehenden aufs Angesicht fielen, war noch
unendlich viel Platz.
Die Kunstform, in der die Dichtung so aus ihren Buch-
deckeln heraussteigt und aus der idealen Welt der Vorstellung
sich in die wirkliche der Darstellung hineinstellt, ist der Tanz
und alles was sich aus ihm entwickelt, alle jene Selbstdarstel-
lungen, bei denen es keinen Zuschauer gibt oder von rechts-
wegen geben dürfte, sondern ^einzig Mitwirkende, die höch-
stens untereinander einmal ausruhen und abwechseln mögen.
In Festzügen und Paraden, in Turnspielen und Aufführungen
erkennt sich ein Volk. Auch die Kunst, wo sie in Denkmälern
unter den freien Himmel hinausgeht oder auf dem Kalvarien-
berg den wandernden Betrachter begleitet, wo sie als Rede
eine Versammlung begrüßt, als Tisch- oder Wanderlied die
Menschen zusammenbringt, gehört hierher. Köln am Rosen-
montag und das Tempelhofer Feld, Olympia und Oberammer-
gau sind solche Plätze des Reigens einer Vielzahl von Tän-
zern. Der Tanz des Einzelnen bleibt aber das erste und noch
im Tanz selber die einfachste Gebärde, der Blick. Denn schon
in ihr liegt die alles Starre lösende Macht, die der Tat un-
erreichbar blieb, und um die das Wort sich selber opferte, um
sie doch auch für diesen Preis höchstens für die kurze Zeit-
spanne, die bis zur Antwort verstrich, zu erobern. Die Macht
des Blicks aber vergeht nicht mit dem Augenblick. Ein Wort
vergißt sich und soll vergessen werden, es will in der Antwort
vergehen. Aber ein Blick erlischt nicht. Ein Auge, das uns
einmal angeblickt hat, blickt auf uns, so lange wir leben. Als
Aphrodite auf Amors und Psyches Hochzeit vor den seligen
Göttern tanzte, da tanzte sie zuletzt nur noch mit den Augen.
Aber in die Kirche findet der Tanz nicht hinein. Jedenfalls
nicht in seiner einfachsten, unmittelbar den Einzelnen ergrei-
fenden und ihn zur Gemeinschaft stimmenden Gestalt. Es ist
wieder so, daß der Gedanke der Erlösung in dem geschlos-
senen Raum der Kirche so wenig wie in deiü geschlossenen
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG 469
Kreis des Kirchenjahrs Platz findet: er öffnet den Kreis zur
Spirale, er sprengt das verschlossene Tor, und die Prozession
zieht heraus in die Stadt. Es ist wohl begründet, daß das
Fronleichnamsfest das Prozessionsfest schlechtweg ist. Bei
uns dürfen die Tore des Gotteshauses geschlossen bleiben;
denn wenn Israel kniet, ist in dem zuvor kleinen Raum plötz-
lich Platz für die ganze Menschheit. Bloß im Innern des Gottes-
hauses finden die Umzüge der Thora statt, insbesondere jener
große beim Schluß der Erlösungsfeste am Tage der Gesetzes-
freude. Aber hier, wo die Erlösung unmittelbar im geschlos-
senen Kreise der Gemeinde wie des Jahrs gefeiert wird,
konnte sich auch der Tanz als gottesdienstliche Handlung aus-
bilden: im Tanz des Chassid, der Gott »mit allen seinen Ge-
beinen lobt«.
So ist nur bei uns im Gottesdienst selber der Tanz, in
dessen raumsprengender Gebärde doch erst die raumschaf-
fende Macht der Baukunst und die raumfüllende der Musik
sich vollendet. Die Kirche, die hier um der Erlösung willen
ihren Kult hinaus in die Welt tragen und ihn in weltlichen
Festen ergänzen muß, ist hier in allerdeutlichster Weise nur
erst auf dem Weg. Der Raum der Kirche strahlt hinaus ins
Draußen, das sie umlagert, ihre Zeiten gliedern den Zeitstrom,
der an ihr vorbeifließt, aber ihre Welt muß sie selber sich erst
an der Welt draußen gewinnen; sie trägt sie nicht einfach
hinaus, wie sie die Gesetze ihres Raums und ihrer Zeit hinaus-
trägt, sondern indem sie hinaus zu allen Völkern geht, emp-
fängt sie ihr eignes Gesetz erst draußen, erst aus der Arbeit
unter dem Gesetz der Welt. Sie hat das Ende nicht in ihren
Mauern, sie steht immer erst am Anfang, sie schreitet den
Weg.
Darum kann auch die sakramentale Form, mit der sie die
Vorbereitung ergänzt, die ihr die Abkömmlinge des Tanzes,
alle jene Selbstdarstellungen der Völker, leisten, nur eine
Weihe des Anfangs sein. Der Kniefall, der die endliche Erlö-
sung meint und ist, bleibt ihr fremd. Aber zum Eintritt in die
Welt als den Weg der Erlösung mag sie den Einzelnen weihen.
47°
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
Das ist der wunderliche Doppelsinn der Taufe: sie wird voll-
zogen am Einzelnen, am Neugeborenen, am Anfang des
Lebens, und verbürgt ihm, dem Unmündigen des Lebens, die
Vollendung des Lebens, die Erlösung. Daß das Christentum
die Erlösung in der Taufe vollzieht, daß es die Widerstands-
losigkeit des seiner selbst unbewußten unmündigen Kindes für
die Widerstandslosigkeit der höchsten Bewußtheit des schwei-
genden Anbetens gelten läßt, das bannt es endgültig auf den
Weg. Aber das macht es über den Weg auch zur Herrin. Hier
kann niemand ihm den Rang ablaufen. Denn diese letzte
Siegesgewißheit, die den einzelnen immer wieder ersten Schritt
allemal schon voll für den letzten gelten läßt, ist ihm nicht ab-
zulernen. Die Taufe kann so wirklich unter den Sakramenten,
die ja alle sieben, das eucharistische als das Sakrament der
Offenbarung ausgenommen, den Menschen in bestimmten
Stunden und Beziehungen seines natürlichen, sittlichen, gesel-
ligen Lebenswegs aufsuchen, für diese fünf andern Sakramente
des Wegs der Erlösung eintreten; und der Protestantismus hat
in diesem Sinn die Vereinfachung, wenn sie denn nötig war,
an der richtigen Stelle vorgenommen. Denn indem der Anfang
des Weges vorweg mit der Weihe der Erlösung geweiht wird,
ist das ganze folgende Leben darunter gestellt, und jede
Stunde, die der Christ im Leben fernerhin etwa noch Christ ist,
bedeutet nur eine Erneuerung seines Taufbunds, der ihn bei
seinem ersten Eintritt in die Welt unter die endgültig Erlösten
aufnahm. Die Taufe läßt uns ganz erkennen, was wir zuerst
am Weihnachtsfest erkannten: daß dem Christentum für die
Erlösung der Anfang eintritt, für das vollendete Leben der be-
schrittene Weg. In jeder Taufe erneuert sich die Anbetung
des göttlichen Kindes. Das Christentum ist ganz jung. Denn
in jedem Einzelnen, in jeder Seele beginnt es wieder von vorn.
Das Christentum ist jung, — nicht so die christliche Welt.
Die Taufe weihte den Einzelnen für die christliche Welt.
Aber diese Welt selber ist ungeweiht. Der Kreis des Lebens,
der sich uns im Volk rundete, rundet sich dem Christen nur in
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
471
der eignen Seele. Nur ihr wird in der Taufe ewiges Leben
verbürgt; nur in ihr wechselt so ewig Erhaltung und Erneue-
rung. Der Welt ist kein ewiges Leben verliehen; an ihr bricht
der Kreis des einzelnen Lebens auseinander und fließt hinein
in die Spirale einer Geschichte, in der über die ewige Erhal-
tung und Erneuerung der Seele ständig der säkulare Fortschritt
der Welt Gewalt gewinnt. Das Kirchenjahr rundet sich nur
dem Einzelnen; für ihn gibt es ein Zuhause. Aber der Welt
und ihren Jahren und Jahrestagen ist das Kirchenjahr nur eine
Herberge, die wohl offen steht für alle diese Gäste, die aber
noch jeder Gast wieder verließ. Das ewige Volk ruht schon
im Hause des Lebens; die Völker der Welt bleiben auf dem
Weg. Nur die Seele hat schon nachhause gefunden. Sie weiß
daß ihr Erlöser lebt, nicht weniger gewiß als sie es im ewigen
Volk weiß. Ihr schließt sich der Kreis des Jahrs.
Ihr schließt sich das Jahr im Wechsel von Erhaltung und
Erneuerung. Die christliche Welt, schon das christliche Volk
leben in der Spirale der Weltgeschichte. Sie wissen, daß ihre
Erinnerungstage Marksteine ihres Weges sind und mit den
Jahrhunderten wechseln. Aber der Einzelne schaut nicht so
weit. Er ist zufrieden, wenn ihm der eigne Namenstag all-
jährlich im Kalender wiederkehrt. Ihm bedeutet die Kreuzung
der beiden Richtungen, der göttlichen und weltlichen, in dem
einen Kirchenjahr, jene Kreuzung, deren allgemeiner Schnitt-
punkt der Neujahrstag ist und an deren persönlichem Schnitt-
punkt er selbst steht, er selbst, dem gesagt ist, daß alles sein
ist, er aber Christi, — ihm bedeutet sie grade die Rundung
seines Lebens. Er weiß sich als ein Ganzer nur in dieser
Zweieinigkeit seines Wesens. Und die Bürgschaft dieser
Einigkeit, das Band, das beides in ihm. Weltkind und Gottes-
kind, zusammenschlingt, ist dann der Ring des Jahrs, in dem
allein er die beiden Reiche, das Reich der Kirche und das Reich
der Welt, als eine immer wiederkehrende Einheit erlebt.
Sein Leben selbst wird ihm daran erst eines. Es ist das }a
von Haus aus mit nichten. Es geht von Jahrzehnt zu Jahr-
zehnt durch wechselnde Alter. Vor Gott sind alle Alter gleich.
IZi
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
Bei ihm ist der Mensch immer Kind. Aber die Welt macht
Unterschiede. Ihr sind die Lebensalter nicht gleichgültig.
Kind, Jüngling, Mann und Greis — jedem weist sie andre
Werke zu, jedem zeigt auch sie selbst sich anders. Bei Gott
gibt es keine Unmündigen, aber im Volk wohl. Bei Gott gibt
es keine Alten, aber im Volk wohl. Lebte der Mensch nur im
Volk, so müßte er sich selber immer anders erscheinen. Indem
er bei Gott ist, weiß er wohl, daß er immer der gleiche bleibt
Aber dieser Einheit seines Lebens, daß er immer der gleiche
bleibt, indem er immer anders wird, dieser Einheit in ihm von
Erhaltung und Erneuerung, dieser Einheit seines Lebens im
Wandel der Zeit versichert ihn erst das selber in diesem
Wandel immer wiederkehrende Jahr, das beide, die Erhaltung
und die Erneuerung, die Feste der Ewigkeit und die Feste der
Zeit, in seinen Reigen schlingt. Grade weil es den Widerspruch
der beiden, Ewigkeit und Zeit, Kirche und Welt, weder ver-
schleiert noch etwa überwunden hat, sondern einfach ihn dar-
stellt wie er ist, grade dadurch läßt es den Menschen seine
eigne Einheit erleben. Im immerwiederkehrenden Kreis des
Jahrs mündet ihm seine unalternde Gotteskindschaft immer
wieder in die von Jugend zu Alter wachsende Weltkindschaft
und wieder zurück; jedes erhält und erneuert sich im andern.
Im Christen kreuzen sich die Kräfte, die sich sonst gegen-
seitig aufzuheben scheinen. Das Christentum gewährt ihnen
keine Zuflucht jenseits dieser Widersprüche. Es nimmt sie alle
in sich auf und stellt den Christen mitten hinein in die Mitte,
die zugleich — für den, der dort steht — ein Anfang ist. Das
Kreuz verneint nicht noch vernichtet es den Gegensatz, son-
dern es faßt ihn zur Gestalt. Gestalt entsteht nicht durch
Machtspruch, Gestalt ist nicht Gewalt, Gestalt will hervor-
gebildet, erstellt, gestaltet sein. Der Weg des Christen ist in
jedem Augenblick Kreuzweg. Dem jüdischen Leben, das in
jedem Augenblick am Ziel war, konkurriert der Staat mit
seinen unaufhörlichen Zielsetzungen, mit seinem immer wieder
in den Raum und die Zeit hineingeschrieenen Feldgeschrei:
bis hierher und nicht weiter; die Ewigkeit des ewigen Volks
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
473
überlärmen in der Welt die schwerttaktierten Epochen der
Völker. Dem Kreuzweg des Christen konkurriert in der Seele
eine andre Macht, die einzige, die gleichfalls den Gegensatz
nicht durch Verleugnen, sondern durch Gestaltung überwindet:
die Kunst. Sie war schon wirksam als Bereiterin der Seele
zum Beschreiten des Wegs. Sie konnte dieses Amts walten,
weil auch sie in ihrem Reiche den Kreuzweg der Seele kannte.
Denn Prometheus hing schon an der Felswand ein halb Jahr-
tausend, ehe das Kreuz auf Golgatha erhöht ward.
Auch die Kunst überwindet nur, indem sie das Leiden ge-
staltet, nicht indem sie es verneint. Der Künstler weiß sich
als der, dem gegeben ist, zu sagen was er leidet. Die Stumm-
heit des ersten Menschen ist auch in ihm selbst. Er versucht
weder, das Leiden zu »verschweigen« noch es »herauszu-
schreien«: er stellt es dar. In der Darstellung versöhnt er den
Widerspruch, daß er selber da ist und doch auch das Leiden
da ist; er versöhnt ihn, ohne ihm den geringsten Abbruch zu
tun. Ihrem Inhalte nach ist alle Kunst »tragisch«, Darstellung
des Leidens; auch die Komödie lebt von diesem Mitgefühl der
immer doch daseienden Armut und Mangelhaftigkeit des Da-
seins. Die Kunst ist in ihrem Inhalt tragisch, wie sie in ihrer
Form, und alle Kunst, komisch ist und selbst das Gräßlichste
mit einer gewissen romantischdronischen Leichtigkeit — nun
eben darstellt. Die Kunst als Darstellung ist das, was tragisch
und komisch in einem ist. Und der große Darsteller ist wirk-
lich, wie es im Morgendämmer von Agathons Siegesmahl ver-
handelt wurde, zugleich Komiker und Tragiker. Dies Janus-
gesicht der Kunst, daß sie das Leiden des Lebens gleichzeitig
erschwert und dem Menschen hilft, es zu tragen, läßt sie seine
Begleiterin durchs Leben werden. Sie lehrt ihn, überwinden
ohne zu vergessen. Denn der Mensch soll nicht vergessen, er
soll alles in sein Innres erinnern. Er soll Leid tragen und soll
getröstet werden. Gott tröstet ihn mit allen, die des Trosts
bedürftig sind. Die Träne des Trauernden wird weggewischt
von seinem wie von jeglichem Angesicht. Sie schimmert ihm
im Auge bis zur großen Erneuerung aller Dinge. Bis dahin ist
474
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
Trostlossein ihm Trost. Bis dahin erfrischt sich die Seele an
dem Währen des Leids. Bis dahin geschieht ihr die Erneue-
rung in seiner Erhaltung. Bis dahin sammelt sie neue Kraft
aus der Erinnrung ihrer alten Tage. Nicht vergangnes Glück,
nur vergangne Schmerzen sind die Seligkeit der Seele in jeder
Gegenwart. Sie erneuert sich in sich selbst. Und die Kunst
schmiedet ihr diesen Ring des Lebens.
Sie scheint wirklich aufs vollkommenste das Kreuz zu
ersetzen. Wozu sollte die Seele noch seiner bedürfen, wenn
in sich selber sie Erhaltung und Erneuerung findet? Ja in sich
selber trägt sie den Reif des Lebens, den die Kunst ihr rundete,
aber sie trägt ihn als metallnes hartes Band um ihr Herz. Das
Band muß zerspringen, daß das weiche Herz erst wieder
schlagen lerne im Gleichtakt aller Herzen. Das Kreuz, das zu
tragen die Kunst die Menschen lehrte, war nur eines jeden sein
eigenes Kreuz. Auch wer nicht Menschenhaß sich aus der
Fülle der Liebe trank, auch den lehrte sie doch nur mit er-
stauntem Blick die tausend Quellen neben dem Durstenden in
der Wüste zu gewahren. Sie ließ ihn nicht die tausend mit ihm
in der gleichen Wüste Durstenden erblicken. Sie lehrte ihn
nicht die Einheit allen Kreuzes. Die erfährt die einsame Seele
aus Heidenstamm, der die letzte Einheit der Wir nicht im
Blute kreist, nur angesichts des Kreuzes auf Golgatha. Erst
unter diesem Kreuz erkennt sie sich eins mit allen Seelen. Da
bricht der künstliche Reif um ihr Herz, das da allzeit lag in
großen Schmerzen; denn allzeit saß ihm etwas Liebes ver-
wunschen im Brunnen.. Und indem so an die Stelle des eignen
Schmerzes und an die Stelle jeden eignen Schmerzes der eine
Schmerz ohne gleichen tritt, schlingt sich das Band nun von
Seele zu Seele. Die Seele, die unterm Kreuz stand und an dem
ewigen Schmerz ihre ewige Erquickung gewann, hat es ver-
lernt, den Kreislauf von Erhaltung und Erneuerung allein in
der eignen Brust zu suchen, wo ihn die Kunst pulsen macht.
Im eignen Innern leidet sie nun den Kreislauf ewigen Leids
und ewiger Freude mit, den das Herz antreibt, das am Kreuz
für viele und für sie auch litt.
DIE STRAHLEN ODER DER EWIGE WEG
±H
So erfährt die Seele auf dem Wege ihre Ewigkeit, unbe-
kümmert darum, daß die Welt noch nicht am Ziel ist. Mag
denn die Spirale der Welt den Kreislauf immer wieder öffnen
und weitertreiben, der Seele hat sich der Kreis der Ewigkeit
schon geschlossen. Auch der Welt der Völker ist Ewigkeit
verheißen. Aber um sie schlingt sich ein größerer Kreis. Die
Völker können, indem sie immer wieder aus Seelen wieder-
geboren werden, die Erfrischung des Blutkreislaufs, die vom
Kreuz ausgeht, bis in ihre Adern hinein spüren, aber in den
Adern selber kreist das Blut nicht, sondern es fließt in unrück-
läufigem Gefälle abwärts durch die Landschaft der Zeit in den
Ozean der Geschichte. Die Erlösung sprengt immer wieder den
Ring des Kirchenjahrs. Es muß einen Kreis geben, an dem die
Völker im Ganzen ihren eigenen Willen zur eigenen Erhaltung
und Erneuerung als ein ewiges Schicksal wiedererkennen;
anders mögen sie nicht lernen, daß in ihrem eigenen Schicksal
ein ewiger Wille wirkt. Dieser große Kreis der Erlösung
schließt sich im Jahr des ewigen Volks. An ihm, dem den Völ-
kern allzeit unerkannten Träger jener Weissagung, die sie
schon im stellvertretenden Leiden des Einzelnen für die Ein-
zelnen erfüllt glauben mußten, erleben sie die geschlossene
Ewigkeit, nach der sie selber sich ohnmächtig strecken. Denn
ihre Bäche rinnen alle ins Meer, und der ewige Kreislauf der
Wasser unter dem Himmel vollzieht sich nicht im Bette der
Elüsse allein. Nur ein einziges Gewässer auf Erden steht ewig
kreisend in sich selbst, ohne Zufluß scheinbar und ohne Ab-
fluß, nämlich ohne irdischen Zufluß und Abfluß, — ein Wunder
und ein Anstoß allen, die es sehen; denn es entzieht sich der
Aufgabe aller Wässer, ins Meer zu laufen. Die Bäche ahnen
nicht, daß ihnen in seinem ewigen Kreisen ein Bild ihrer all-
gemeinen Zukunft gestellt ist. Aber sie eilen um so geschwin-
der den eignen Weg, der sie dieser Zukunft entgegenträgt.
Denn was sie auf diesem ihrem ewigen Weg vorwärtstreibt,
was ist es anders als der Drang nach ewigem Leben? Weiß
der Baum, daß er nichts will als Frucht bringen, die seines
längst vergangenen Samens Ebenbildnis birgt?
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
Es ist ein Gleichnis des großen Sängers unsres Exils, auf
das wir hier wie schon am Schluß des vorigen Buches
anspielten. Hier stehe es mit Jehuda Halevis eigenen Worten:
So hat Gott seinen geheimen Plan mit uns, einen Plan wie sein
Plan mit einem Samenkorn, das da in die Erde fällt und wan-
delt sich dem Anschein nach in Erde und Wasser und Kot, und
nichts bleibt von ihm, woran ein Auge es erkennen möchte;
und ist doch umgekehrt gerade es selber, das Erde und Was-
ser umwandelt in sein eigenes Wesen und Stufe um Stufe ihre
Elemente zersetzt und sie verkehrt und angleicht seinem
eignen Stoff, und also treibt es Rinde hervor und Blätter; und
wenn sein innres Mark bereitet ist, daß in es eingehen mag zu
neuer Leiblichkeit das Werdebild des einstigen Samens, dann
bringt der Baum die Frucht gleich der, aus der sein Same einst
gekommen: also zieht die Lehre Moses jeden Späteren in
Wahrheit umwandelnd nach sich hin, obwohl dem Schein nach
jeder sie verwirft. Und jene Völker sind Bereitung und Vorbe-
reitung des Messias, des wir harren, der da die Frucht sein
wird, und werden alle werden seine Frucht und ihn bekennen,
und der Baum wrird eins. Dann preisen sie und ehren sie die
Wurzel, die sie einst verachteten, davon Jesaja sagt.
Soweit das Gleichnis aus dem Buche Kusari. Es schildert,
anknüpfend an das Jesajakapitel vom stellvertretenden Leiden
des unerkannten Gottesknechts für die im hellen Licht der Ge-
schichte wandelnden Völker der Welt, die höchste Wieder-
kehr, die Wiedererkennung des Samens in der Frucht. Das
ist die Heimkehr der Erfahrung, das Be=währen der Wahrheit.
Die Wahrheit liegt hinter dem Weg. Der Weg ist zu Ende, wo
die Heimat erreicht ist. Denn er ist zwar ewig, da sein Ende
in der Ewigkeit ist, aber gleichwohl endlich, denn die Ewig-
keit ist sein Ende. Wo alles brennt, da gibt es keine Strahlen
mehr. Da ist alles ein Licht. Da wird die Erde voll sein von
Erkenntnis des Ewigen, wie Wasser das Meer bedecken. In
diesem Meer des Lichts ist aller Weg versunken wie ein Wahn.
Du aber, Gott, bist Wahrheit.
DRITTES BUCH
DER STERN
ODER
DIE EWIGE WAHRHEIT
OTT ist die Wahrheit. Wahrheit ist sein Siegel, daran
er erkannt wird, auch wenn einst alles, woran er in der
V—.> Zeit seineEwigkeit zu erkennen gab, alles ewige Leben,
aller ewige Weg, sein Ende fand, dort wo auch Ewiges sein
Ende findet: in der Ewigkeit. Denn nicht bloß der Weg endet
hier, auch das Leben. Ewiges Leben währt ja nur solange, als
überhaupt Leben währt. Nur im Gegensatz zum stets nur zeit-
lichen Leben der Bahner des ewigen Wegs gibt es ewiges
Leben. Das Verlangen nach Ewigkeit, wie es aus den Schäch-
ten dieser Zeitlichkeit stöhnt, nimmt wohl die Gestalt einer
Sehnsucht nach ewigem Leben an, aber nur weil es selber
zeitliches Leben ist. In Wahrheit, in der Wahrheit, schwindet
auch das Leben. Es wird nicht zum Wahn, wie der Weg zum
Wahn ward, über den das Meer des Lichts seine Fluten zu-
sammenschlug, aber es geht auf in Licht. Es verwandelt sich:
wenn es sich aber verwandelt hat. so ist das Verwandelte
nicht mehr. Das Leben stieg ins Licht. Das stumme Dunkel der
Vorwelt hatte im Tod Sprache gewonnen. Über den Tod war
ein Stärkeres, die Liebe, gekommen. Die Liebe hatte sich zum
Leben entschlossen. Und wie die Vorwelt im Tod ihr Wort ge-
funden hatte, so sammelt sich das Leben nun in dem Schwei-
gen der Überwelt und wandelt sich in Licht. Gott ist nicht
Leben, Gott ist Licht. Des Lebens ist er Herr, aber er ist so
wenig lebendig wie er tot ist; und das eine oder das andre
von ihm auszusagen, mit dem Alten, daß er »Leben habe«, und
mit dem Neuen, daß er »tot ist«, verrät die gleiche heidnische
Befangenheit. Nur jenes Weder=Noch von tot und lebendig,
nur jener zarte Punkt, wo sich Leben und Tod berühren und
478
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
in eins verschmelzen, verwehrt sich nicht dem bezeichnenden
Wort. Qott lebt weder noch ist er tot. aber er belebt das Tote,
er — liebt. Er ist der Qott der Lebendigen wie der Toten,
grade weil er selber weder lebendig noch tot ist; sein Dasein
erfahren wir unmittelbar nur darin, daß er uns liebt und unser
totes Selbst zur geliebten und wiederliebenden Seele weckt.
Die Offenbarung der göttlichen Liebe ist das Herz des All.
Daß Gott'liebt, erfahren wir. nicht daß Gott die Liebe ist.
In der Liebe kommt er uns zu nah, als daß wir noch
sagen könnten: dies oder das ist er. Nur daß er Gott ist, er-
fahren wir in seiner Liebe, aber nicht, was er ist. Das Was,
das Wesen bleibt verborgen. Es verbirgt sich grade indem es
sich offenbart. Das Wesen eines Gottes, der sich nicht
offenbart, könnte sich uns auf die Länge nicht verschließen;
denn was verbirgt sich der umherfahrenden Erfahrung, dem
zugreifenden Begriff, der vernehmenden Vernunft des Men-
schen. Aber grade weil er sich in der Offenbarung über uns
ergießt und aus einem Stehenden an uns ein Tätiges wird,
schlägt er unsre allem Stehenden unwiderstehliche, unsre freie
Vernunft in die Fesseln der Liebe, und durch solches Band
gebunden, durch solchen Namensanruf berufen, bewegen wir
uns im Kreise, darin wir uns fanden, und auf der Bahn, auf die
wir gestellt sind, und greifen nur noch mit kraftlosen Griffen
leerer Begriffe darüber hinaus.
Wenn also das Offenbare Gottes in uns aufgeht, so bleibt
sein Verborgenes nur um so mehr bei ihm. Wohl erkennen wir
ihh nun auch am Toten und Lebendigen als den Täter, der das
Tote schafft und umschafft, bis es zu ihm kommt, sich beleben
zu lassen, und der das Lebendige, das von ihm den Ruf des
Lebens vernommen, wieder von sich löst und erlöst. Aber
Schöpfer und Erlöser erkennen wir so doch nur nach ihrem
Zusammenhang in der Offenbarung. Nur von dem Gott der
Liebe her erblicken wir den Schöpfer und Erlöser. Nur soweit
als der Schimmer jenes Augenblicks der göttlichen Liebe
leuchtet, nur soweit erblicken wir, was zuvor und was her-
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
479
nach ist. Das reine Zuvor, die urgeschaffne Vorwelt, ist zu
dunkel, als daß wir die Hand des Schöpfers in ihr schon er-
kennen möchten. Und das reine Hernach, die erlöste Überwelt,
ist zu licht, als daß wir in ihr das Antlitz des Erlösers noch er-
blicken könnten; er thront über den jährlich wiederkehrenden
Lobgesängen der Erlösten. Nur in der unmittelbaren Umgebung
jenes Herzpunkts des Alls, der Offenbarung der göttlichen
Liebe, wird auch vom Schöpfer und Erlöser soviel offenbar,
als uns offenbar werden mag; die Offenbarung lehrt uns dem
Schöpfer vertrauen, des Erlösers harren. So läßt sie uns auch
Schöpfer und Erlöser nur erkennen als den Liebenden.
Der Liebende also ist es, den wir allein unmittelbar er-
blicken. Als der Liebende allein ist Gott nicht der Herr. Da
ist er tätig. Er ist nicht über seiner Tat. Er ist darin. Er ist
eins mit ihr. Er liebt. Nur als der Herr ist er in einem Jen*
seits dessen, wessen er Herr ist. Der Herr des Lebens und des
Todes ist selber jenseits deS Lebens und des Todes. Was er
als Herr des Todes sei, sein Wesen vor der Schöpfung, das
entzieht sich jedem Gedanken. Die Offenbarung reicht nur bis
zum Schöpfer. Ihr erstes Wort ist: »im Anfang«, ihr zweites:
»schuf«. Was vor dem Anfang läge, jene Lebendigkeit Gottes
in sich, die aus göttlicher Selbstschöpfung, Selbstoffen-
barung, Selbsterlösung wuchs, konnten wir nur gleichnis-
weise, nur als ein Gleichnis nämlich der echten Schöpfung,
Offenbarung, Erlösung schildern, indem wir Gott selber in
sich erfahren ließen, was von ihm ausgeht. Daß einen solchen
gewordenen Gott die Heiden kannten, gab uns wohl einen
Fingerzeig, daß dies mehr sein müsse als nur ein Gleichnis.
Aber aus diesem Fingerzeig entsprang kein Wort. Jene in
sich verborgene Lebendigkeit verbarg diesen Gott auch vor
uns. Der Gewordene ward zum Verborgenen. Auf die Frage,
was er sei, hätten wir ehrlich antworten müssen: Nichts. Denn
eine Lebendigkeit im Ungeschaffnen, im Reiche des Toten, ist
nichts. Der heidnische Gott ist nicht tot, aber Herr des Toten
und allerdings nur des Toten, nur des Nichts. Nur im Toten-
reiche übt diese Göttergesellschaft eine Herrschaft aus. Sonst
480
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
herrschen sie nicht, sondern sie leben. Als Herren nur des
Nichts aber werden sie selber zu — Nichtsen. Die Götter der
Heiden sind Nichtse, ruft der Psalmist. Sie sind nicht tot, bei-
leibe nicht; dawider zeugt der Glaube ihrer Anbeter. Götter,
an die eine lebendige Welt glaubt, können nicht weniger leben-
dig sein als diese Welt selber. Aber sie sind in ihrer Lebendig-
keit ebenso schwankend, ebenso gespenstisch, ebenso unter-
tan dem allmächtigen Vielleicht wie diese Welt und diese ihre
Anbeter. Es fehlt ihnen das Knochengerüst der Wirklichkeit,
die eindeutige Richtung, der feste Platz, das Wissen um
Rechts und Links, Oben und Unten, das erst mit der Offen-
barung in die Welt kommt. So sind sie in all ihrer Lebendig-
keit »Nichtse« — denn »wie sie sind ihre Bildner, jedweder der
zu ihnen hofft« —, und ihrer Geschaffenheit, ihrem verborge-
nen Leben in bergender Himmelsburg, setzt der Psalmist un-
mittelbar entgegen, was seinen Gott von jenen Nichtsen unter-
scheidet: er hat den Himmel gemacht.
Was Gott, der wahre Gott, vor der Schöpfung gewesen
wäre, entzieht sich so jedem Gedanken. Nicht so, was er nach
der Erlösung sein würde. Zwar unser lebendiges Wissen
offenbart uns auch hier vom Wesen Gottes nichts über den Er-
löser hinaus. Daß er der Erlöser ist, ist das Letzte, was wir
am eigenen Leibe erfahren; wir wissen, daß er lebt und daß
unsre Augen ihn schauen werden. Aber selbst innerhalb dieses
uns offenbaren Wissens nahm Gottes Erlösertum einen beson-
deren Rang ein: anders als seine Schöpfermacht und seine
Offenbarungsfülle, die beide sich über ein andres, Gegenständ-
liches, Gegenüberstehendes ergossen, wirkt es auf andres
nur mittelbar: den Menschen erlöst es an der Welt, die Welt
durch den Menschen. Unmittelbar aber geschieht die Erlösung
nur Gott selbst. Ihm selbst ist sie die ewige Tat, in der er sich
selber befreit davon, daß ihm etwas gegenübersteht, was nicht
er selbst ist. Die Erlösung befreit ihn von der Arbeit an der
Schöpfung wie von der lieben Not um die Seele. Die Erlösung
ist sein Ruhetag, sein großer Sabbat, auf den der Sabbat der
Schöpfung nur vordeutet, der Tag wo er, erlöst von allem
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT 481
außer ihm, das ihm dem Unvergleichbaren immer wieder ver-
glichen wird, Einer sein wird und sein Name: Einer. Die Er-
lösung erlöst Gott, indem sie ihn von seinem offenbarten Namen
löst. Im Namen und seiner Offenbarung vollendet sich die in
der Schöpfung angehobene Niederkunft der Offenbarung. »Im
Namen« geschieht fortan alles was geschieht. Heiligung wie
Entweihung des Namens — es gibt keine Tat seit der Offen-
barung, die nicht eins oder das andre wirkte; der Gang der
Erlösung in der Welt geschieht im Namen und um des
Namens willen. Aber das Ende ist namenlos, über allen Namen.
Die Heiligung des Namens geschieht selber, auf daß der
Name einmal verstummen möge. Jenseits des Worts — und
was ist der Name andres als das ganz gesammelte Wort —
jenseits des Worts leuchtet das Schweigen. Wo dem einen
Namen keine andern Namen mehr sich entgegenwerfen, wo
der eine Name albein ist und alles Geschaffne ihn und nur ihn
kennt und bekennt, da ist die Tat der Heiligung zur Ruhe ge-
kommen. Denn Heiligkeit gilt nur, solange es noch Unheiliges
gibt. Wo alles heilig ist, da ist Heiliges selbst nicht mehr hei-
lig, da ist es einfach da. Solch einfaches Dasein des Höchsten,
solch ungekränkte allherrschende und alleinherrschende Wirk-
lichkeit jenseits aller Not und Wonne der Verwirklichung, das
ist die Wahrheit. Denn Wahrheit wird nicht, wie die Meister
der Schule meinen, am Irrtum erkannt; Wahrheit bezeugt sich
selber, sie ist eins mit allem Wirklichen, sie scheidet nicht
in ihm.
Und solche Wahrheit ist die, welche als Gottes Siegel
kündet, daß er Einer ist, zur Zeit da selbst das ewige Volk des
Einen sank und schwand. Der eine Name Einer überlebt das
Volk, das ihn bekennt, überlebt selbst den offenbarten Namen,
an dem jener überlebend-überlebendige Name der Zukunft be-
kannt wird. Um dieses Überlebens willen, das dem Einen in
Zukunft zukommt, muß der offenbare Name auch jetzt schon
der Gegenwart und aller Gegenwart schweigen. Grade wir,
die wir ihn kennen, wir über denen er genannt ist und die nach
ihm genannt sind, grade wir, die ihn kennen und bekennen.
31
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
dürfen ihn nicht nennen. Um unsrer Ewigkeit willen müssen
wir das Schweigen, in das er einst und wir mit ihm versinken,
vorwegnehmen und für den Namen selber das einsetzen, was
er ist, solange er noch als Name gegen andre Namen,, als
Schöpfer einer Welt von Sein, als Offenbarer einer Sprache
von Seelen genannt wird: Herr, Statt seines Namens nennen
wir ihn Herr. Der Name selber schweigt in unserem Munde
und selbst unter dem stumm lesenden Auge, wie er einst in
aller Welt schweigen wird, wenn er albein ist, — Einer.
Da schweigt in uns das letzte Schweigen. Das ist der wahre
Abgrund der Gottheit. Gott selbst ist da erlöst von seinem
eigenen Wort. Er-schweigt. Der Gott der Vorwelt war zwar
nicht selber tot gewesen, aber als Herr des Toten selber wie
dieses ein Nichts. Wie wir aus der Schöpfung den Sinn der
Vorwelt lernten, eben den Tod, so lernen wir den Sinn der
Überwelt aus der Erlösung als das Leben. Der Herr der Ober-
welt ist Herr des Lebens. Als solcher ist er nicht lebendig,
beileibe nicht. Aber wie der Herr des Toten zwar nicht
selber tot, aber wie das Tote ist und also Nichts, genauer ein
Nichts, eines von vielen Nichtsen, so ist der Herr der Über-
welt nicht selbst lebendig, aber wie das Lebendige. Auch
von ihm gilt jene Gleichung des Psalms: Wie er selbst, sind
•die auf ihn trauen. Weil das, was ihm glaubt, das Lebendige
ist, so muß er selbst dem Lebendigen gleichen. Was aber ist
dies Wesen des Lebendigen? In welches Wort können wir es
fassen? Da wir doch uns bewußt sind, hier ebenso über die
Welt der Worte hinausgesprungen zu sein, wie wir in der Vor-
welt noch vor ihrer Pforte gestanden hatten. Vor jener Pforte
hatte das Totenreich gelegen, und dort hatten wir seinen Herrn
als ein Nichts erkannt. Denn was dürfte sonst das Wesen
eines Etwas vor der Welt sein als eben das Nichts. Und der
Herr des Toten ist zwar nicht Teil des Toten, aber ihm wesens-
gleich und also ein Nichts wie es. Was aber wäre nun das
Wesen des Lebendigen, das nach der andern Seite ebenso
über die Welt der Worte hinausläge wie das Tote davor. Die
Stelle des Nichts wäre schon besetzt; es liegt vor den Worten.
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT 483
Mit welchem Wort wäre aber das, was über den Worten läge,
zu fassen? Es dürfte ebenso wenig unter den Worten selber
Platz finden wie das Nichts. Das Etwas ist in der Welt der
Worte zuhause. Aber über dieser Welt liegt, ebenso un-
heimisch in ihr wie das Nichts, das All. Und zwar das wahre
All, das All, das nicht in Stücke springt wie in der Welt des
Nichts, sondern das eine All, das All und Eine.
Dies ist das Wesen des Lebendigen. Es ist wie der Tod
in der Schöpfung, so in der Erlösung das letzte Wort. Das
letzte Wort und also hinüberweisend in ein Jenseits der Worte
wie der Tod. Es bezeichnet das Erlöste, wie der Tod das
Ungeschaffne. Und diesem Wesen wäre Qott als der Herr des
Lebens wesensgleich. Er wäre der Herr des All und Einen.
Das aber, diese Herrlichkeit über das All und Eine, ist gemeint
mit dem Satz: Gott ist die Wahrheit.
Denn wie über das vielgespaltene Nichts nur Nichtse
herrschen können, so über das eine All nur ein Einer, der
noch neben, noch über ihm Platz hat. Was aber hat neben
dem einen All als der volLendeten Wirklichkeit noch Platz als
— die Wahrheit. Denn die Wahrheit ist das einzige, was mit
der Wirklichkeit ganz eins und in ihr nicht mehr scheidend,
sich gleichwohl noch von ihr als Ganzem scheidet. Wahrheit
thront über der Wirklichkeit. Und so wäre denn die Wahrheit
— — Gott?
Nein. Hier betreten wir den Gipfel, von dem aus der ganze
zurückgelegte Weg zu unsern Füßen liegt. Die Wahrheit ist
nicht Gott. Gott ist die Wahrheit. Um zunächst an das Letzt-
gesagte anzuknüpfen: Nicht die Wahrheit selber thront übet
der Wirklichkeit, sondern Gott, weil er die Wahrheit ist. Weil
Wahrheit sein Siegel ist, kann er Einer sein über dem All und
Einen der Wirklichkeit. Die Wahrheit ist das Szepter seiner
Herrschaft. Im All und Einen vollendet sich das Leben, es ist
ganz lebendig. Insofern die Wahrheit mit dieser ganz leben-
digen Wirklichkeit eins ist, ist sie ihr Wesen; insofern sie sich
31*
484
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
dennoch von ihr scheiden kann — ohne die Verbindung irn
mindesten aufzuheben —, ist sie das Wesen Gottes.
Wenn also Gott die Wahrheit ist, so ist es nicht minder
auch die Wirklichkeit. Auch ihr letztes Wesen ist die Wahr-
heit. Neben dem Satz »Gott ist die Wahrheit« steht gleich-
berechtigt der andre: »die Wirklichkeit ist die Wahrheit«. Und
schon weil die Wahrheit also Wesen sowohl Gottes als der
Wirklichkeit ist, wie wir sie denn als solches im Allbegriff am
Ende der Bahn der Wirklichkeit erkannten, wäre die Umkeh-
rung des Satzes unmöglich. Man kann nicht sagen, daß die
Wahrheit Gott sei, weil sie ebensogut dann auch die Wirklich-
keit sein müßte. Und dann wäre Gott die Wirklichkeit, Über-
welt und Welt einerlei, und es verschwömme alles in einen
Nebel. So muß Gott also »mehr« sein als die Wahrheit, wie
jedes Subjekt mehr ist als sein Prädikat, jedes Ding mehr ist
als sein Begriff, Und auch wenn die Wahrheit wirklich das
letzte und einzige ist, was man von Gott als sein Wesen aus-
sagen könnte, so bleibt dennoch in Gott noch ein Überschuß
über sein Wesen. Wie aber verhielte er sich dann zu seinem
Wesen? Der Satz »Gott ist die Wahrheit« unterscheidet sich
ja von andern derartigen Sätzen, einschließlich sogar des
Satzes »die Wirklichkeit ist die Wahrheit«, indem das Prädikat
hier nicht Allgemeinbegriff ist, worunter das Subjekt ein-
geordnet wird. Was aber wäre die Wahrheit denn? Was ist
Wahrheit?
Die Schule lehrt, daß die Wahrheit das einzige sei, was
nicht geleugnet, nicht bezweifelt werden könne. Es ist der
Grundgedanke des Idealismus, daß die Wahrheit sich selbst
verbürge, indem jeder Zweifel an ihr doch schon ihre Unbe-
zweifelbarkeit voraussetze. Der Satz »Es gibt Wahrheit« sei
der einzig unbezweifelbare Satz. Wäre das wahr, so wäre
offenbar ein Satz wie der, daß Gott die Wahrheit sei, unzu-
lässig, indem hier die Wahrheit noch an irgend etwas andres
gebunden würde, während sie doch sich nur selber bindet. Sie
dürfte nur Subjekt, nicht Prädikat von Sätzen bilden. Schon
die Frage »Was ist Wahrheit« wäre ein Majestätsverbrechen.
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
äh
Es gölte der Satz, den wir zuvor ablehnten: daß die Wahr-
heit Gott sei. Was hat es nun mit jener Selbstverbürgung der
Wahrheit auf sich?
Zunächst: die Tatsache, daß die Gültigkeit der Wahrheit
nicht bezweifelt werden kann, ist zuzugeben. Es geht tatsäch-
lich nicht an, zu sagen: es gibt keine Wahrheit; mindestens
daß es keine Wahrheit gebe, müßte dann — wahr sein. Es
geht tatsächlich nicht. Aber was ist damit mehr zugegeben
als — eine Tatsache? Und worauf gründete sich der Respekt
vor dieser Tatsache? der doch so unleugbar ist. daß die Schule
darauf, auf diese doch bloß tatsächliche Unleugbarkeit der
Wahrheit, die Gewißheit dieser Unleugbarkeit zu gründen kein
Bedenken trägt. Wäre also die Tatsächlichkeit noch ehrwür-
diger als — die Wahrheit? Aber wehe dann dem »Idealis-
mus«, wenn es so wäre. Denn er zog aus, um die Wahrheit
auf ihre eigenen Füße zu stellen. Und er würde also damit
enden, daß er sie verankerte in einem — Glauben an Tat-
sächliches?
Aber wäre es eigentlich anders zu erwarten? Kann etwas
stehen, ohne zu haben worauf es steht? Und stände es auf
sich selbst, wäre da nicht »es selbst« dann Boden, worauf es
stünde? Denn es stünde ja alsdann nicht etwa auf seinem
eigenen Stehen, sondern auf »sich selbst«. Nur wenn es auf
seinem eigenen Stehen stünde, dann freilich wäre es ohne ein
Worauf. Aber eben ein. solches Stehen auf seinem eigenen
Stehen ist die Tatsache des unleugbaren Geltens der Wahrheit
nicht. Denn dieser Tatsache der Unleugbarkeit wird nicht
vertraut als einem Tatsächlichen überhaupt. Wäre es so,
dann allerdings stünde die Tatsache der Wahrheit auf ihrem
eigenen Stehen. Aber so ist es nicht. Denn warum würde
sonst grade dieser Tatsache vertraut? Grade dieser? und
keiner andern. Es wird ja nicht geleugnet, daß es Irrtum gibt.
Der Irrtum ist genau so unleugbar wie die Wahrheit. Indem
man die Tatsache zugibt, daß das Dasein der Wahrheit nicht
geleugnet werden kann, wird die Tatsache zugegeben, daß es
auch Unwahres gibt. Die Unleugbarkeit der Wahrheit und die
486
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
Unleugbarkeit der Unwahrheit sind als Tatsachen untrennbar.
Warum wird grade jener Unleugbarkeit vertraut? und die Un-
leugbarkeit der Unwahrheit zu einer Tatsache zweiten Ranges
herabgedrückt. Weil uns jene Unleugbarkeit der Wahrheit als
eine — wahre Tatsache erscheint, und die. Unleugbarkeit des
Irrtums als eine — unwahre. Das Merkmal der Wahrheit ist
unmittelbar mit jener Tatsache verbunden. So unmittelbar,
daß es uns selber als Tatsache erscheint. Die Unleugbarkeit
der Wahrheit ist eine wahre Tatsache, aber eine Tatsache.
Wir vertrauen also gar nicht der Tatsache, sondern ihrer
Vertrauenswürdigkeit. Die Tatsache an sich, das Aufsich-
selberstehen der Wahrheit würde uns wenig besagen, wenn es
bloß ein Stehen auf ihrem eigenen Stehen wäre. Aber es ist
wirklich ein Stehen auf ihr selber: die Unleugbarkeit der
Wahrheit ist selber wahr. Nicht schon die Tatsache der Un-
leugbarkeit fordert Glauben, sondern erst die Wahrheit dieser
Tatsache.
Auf einem letzten Vertrauen also darauf, daß der Boden,
auf den sich die Wahrheit mit ihren eigenen Füßen stellt, trag-
fähig ist, beruht alles Vertrauen auf die Wahrheit. Die Wahr-
heit ist selber der Wahrheit letzte Voraussetzung und ist es
nicht als Wahrheit, die auf eigenen Füßen stünde, sondern als
Tatsache, der man vertraut. Die Wahrheit selber ist Tatsache
noch vor der Tatsache ihrer Unleugbarkeit. Die Tatsache
ihrer Unleugbarkeit wäre für sich allein noch eine bloße Tat-
sache. Aber durch die ihr vorangehende, vom vertrauenden
Wahrlich des Glaubens besiegelte Tatsächlichkeit der Wahr-
heit steht die Tatsache der Unleugbarkeit der Wahrheit wirk-
lich fest. Das Selbstvertrauen der Vernunft, das die Meister
der Schule pflegen, ist ganz berechtigt. Aber es ist nur be-
rechtigt, weil es auf einem Vertrauen des ganzen Menschen,
dessen die Vernunft nur ein Teil ist, beruht: und dieses Ver-
trauen ist kein Selbstvertrauen.
So wäre denn die Tatsächlichkeit der Wahrheit das Letzte,
was uns die Wahrheit selber über sich zu sagen hat. Dies
Letzte ist, daß sie Vertrauen fordert zu ihr als einer Tatsache.
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT 487
Und damit bekennt sie eben dies: daß sie nicht Qott ist. Nicht
sie ist Qott. Aber Qott ist die Wahrheit. Und die Wahrheit
muß sich für ihre Wahrheit darauf berufen, — nicht daß sie die
Wahrheit, geschweige denn daß sie Qott sei, sondern daß Gott
die Wahrheit ist. Die Wahrheit ist von Qott. Qott ist ihr
Ursprung. Wenn sie selber das Leuchten ist, so ist er das
Licht, von dem ihr Leuchten urspringt. Womit wir das Wesen
Gottes bezeichnen mußten, das Letzte was wir von ihm als
dem Herrn des Letzten, des überweltlich zum All vollendeten
einen Lebens, erkennen: daß er die Wahrheit ist, — dieser
letzte Wesensbegriff zerrinnt uns unter den Fingern. Denn
wenn Gott die Wahrheit ist, — was ist damit über sein
»Wesen« gesagt? Nichts weiter als dies, daß er der Urgrund
der Wahrheit ist und daß alle Wahrheit nur dadurch Wahrheit
ist, daß sie von ihm kommt. So wird Wahrheit alles andre als
ein Allgemeinbegriff, an dem sich etwa Gottes Wesen erläutern
ließe wie das Wesen irgend eines Dings an den Allgemein-
begriffen, unter die es sich ordnen läßt, erdäutert wird. Um-
gekehrt ist er selber das lautre Licht, von dem die Wahrheit
erläutert wird. Was als wahr erhellt und einleuchtet, emp-
fängt seine Helligkeit und sein Leuchten von ihm. Der Satz
»Gott ist die Wahrheit« steht ganz einsam unter allen Sätzen,
die sein Wesen erläutern wollen. Diese göttliche Wesenheit
ist gar nichts weiter als das göttliche Sich=Offenbaren. Auch
das »Letzte«, was wir von Qott wissen, ist nichts andres als
das Innerste, was wir von ihm wissen: daß er sich uns offen-
bart. Qott ist die Wahrheit — dieser Satz, mit dem wir ein
Äußerstes des Wissens zu erschwingen meinten — sehen wir
näher zu, was denn Wahrheit sei, so finden wir, daß jener
Satz nur das innigst Vertraute unserer Erfahrung uns mit
andrem Wort wiederbringt; aus dem scheinbaren Wissen um
das Wesen wird die nahe unmittelbare Erfahrung seines Tuns;
daß er Wahrheit ist, sagt uns zuletzt doch nichts anderes, als
daß er — liebt.
Und wenn wir so das letzte Wissen um Gottes Wesenheit,
wie wir es im Licht der Überwelt ergreifen, wiedererkennen
488
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
als die gleiche Erfahrung, die wir schon in der Welt als seine
Geschöpfe und Kinder alle Tage machen konnten, so dürfen
wir uns mit dieser letzten Erkenntnis seines Wesens noch ein-
mal zurückwagen in jene erste Nichterkenntnis, in die Erkennt-
nis seines Nichts, von der wir unsern Ausgang nahmen. Das
Heidentum hatte in diesem Nichts unmittelbar ein All. das All
seiner Götter gefunden, die Burg, in der sie ihr Leben vor den
Blicken der Welt bargen. Es hatte sich an diesen Göttern zu-
frieden gegeben und nach nichts weiter verlangt. Die Offen-
barung aber lehrte uns in jenen Göttern den verborgenen Gott
erkennen, den verborgenen, der nichts ist als der noch nicht
offenbare. Das Heidentum hatte in jenem Nichts wirklich ein
All gefunden. Wir. indem wir es als Nichts erkannten, durften
nur hoffen, in ihm das All zu finden. Die heidnische Welt
wurde uns zur Vorwelt, das Leben der heidnischen Götter zum
verborgenen Vorleben Gottes. Das Nichts unseres Wissens
von ihm wurde uns so zu einem inhaltsreichen Nichts, zur ge-
heimnisvollen Voraussage dessen, was wir im Offenbaren
erfahren haben. Jenes Dunkel des Nichts verliert seine selb-
ständige Macht, die es zuvor haben mochte. Daß Gott das
Nichts sei. wird ebensosehr zu einem uneigentlichen Satz wie
der andre, daß er die Wahrheit sei. Wie die Wahrheit sich
enthüllte als die bloße Vollendung dessen, was wir in der
Liebe Gottes mit schmeck- und sichtbarer Gegenwärtigkeit
erfahren, seiner Offenbarung, so darf auch das Nichts nichts
andres sein wollen als die Vordeutung auf diese Offenbarung.
Auch daß Gott »Nichts« ist, genau wie daß er »Wahrheit« ist,
hält der Frage nach dem Wesen, der Frage »Was ist?«, nicht
stand.
Was ist Nichts? Schon in dieser Frage selber verbietet sich
die einzige Antwort, die das Nichts Nichts bleiben ließe, die
Antwort: Nichts. Denn Nichts kann nie das Wesen bezeichnen,
nie Prädikat sein. Nichts ist ja kein Begriff. Es hat weder
Umfang noch Inhalt. Der Satz, mit dem Schopenhauers Haupt-
werk schließt, »die Welt ist — Nichts«, ist schon rein begriff-
lich eine Absurdität. Mindestens erklärt er die Welt nicht. Er
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT 489
sagt über die Welt wirklich — nichts. Ganz anders steht es
mit dem Satz vom Nichts, der Schopenhauer hier vorschwebte,
dem Gedanken des Buddhismus; den könnte man wohl for-
mulieren: das Nichts ist Gott. Dieser Satz ist so wenig eine
Absurdität wie der Satz des Idealismus, daß die Wahrheit Gott
sei; er ist bloß wie jener — falsch. Das Nichts ist nämlich
genau wie die Wahrheit letzthin überhaupt kein selbständiges
Subjekt, es ist eine bloße Tatsache, die Erwartung eines Etwas,
ein Nochnichts. Eine Tatsache also, die ihren Boden, auf dem
sie steht, erst sucht. Wie die Wahrheit Wahrheit nur ist, weil
sie von Gott ist, so das Nichts Nichts nur weil es zu Gott ist.
Von Gott allein läßt sich sagen, daß er das Nichts ist; es wäre
eine erste, ja die erste Erkenntnis seines Wesens. Denn hier
kann Nichts Prädikat sein, eben weil Gott gar nicht in seinem
Wesen erkannt wird; die Frage »Was ist Gott?« ist unmöglich.
Eben die Unmöglichkeit dieser Frage wird vorzüglich be-
zeichnet in dem wahren Satz: Gott ist das Nichts: er ist, neben
dem andern »Gott ist die Wahrheit«, die einzig zulässige Ant-
wort auf jene Frage. Wie die Antwort »Gott ist die Wahrheit«
die mystische Frage nach seinem überweltlichen Wesen, diese
letzte Frage, zurückführt in die lebendige Erfahrung seiner
Taten, so führt die Antwort »er ist Nichts« die abstrahierende
Frage nach seinem vorweltlichen Wesen, diese erste Frage,
auf die gleiche Erfahrung — hin. In dieser Erfahrung sammelt
sich so von beiden Seiten alles, was wir fragen möchten. An-
fang und Ende steigen aus ihrer Verborgenheit da ins Offen-
bare. In dieser Mitte finden wir uns vor, und Ihn den »Ersten
und Letzten« bei uns, ganz dicht, wie ein Mann seinen Freund.
Das Verborgene wird so offenbar. Und die Tatsächlichkeit,
die Nähe, das Unmittelbare erfüllt nun, von hier aus gesehen,
alle Enden der Welt, es schläft in allen Splittern der Vorwelt,
es wohnt auf allen Sternen der Überwelt. Gottes Wesen ist,
ob es Wahrheit wäre oder Nichts, zergangen in seiner ganz
wesenlosen, ganz wirklichen, ganz nahen Tat, in seiner Liebe.
Und dieses sein ganz offenbares Lieben zieht nun in die von
der Starrheit des Wesens erlösten Räume und erfüllt alle
Ferne. Das Offenbare wird zum Verborgnen.
490
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
So werden Anfang, Mitte, Ende gleich unmittelbar, näm-
lich gleich unvermittelbar, nicht mehr zu vermitteln, weil
schon selber Mitte. Anfang und Ende so unmittelbar wie die
Mitte. — nun ist das All, das einst zerschmetterte, wieder zu-
sammengewachsen. Die Offenbarung in ihrer Unmittelbarkeit
hatte den Kitt gegeben, der den uralten Bruch heilte. Das reine
Denken des Idealismus vermaß sich wohl, »im Gleichmach-
werkzeug, im Gehirne« die unreimbare Zeile »die anhebt:
Gott, der Mensch und die Gestirne« zu reimen. Zu »reimen«
sind aber die dreie, Gott Welt Mensch, nicht. Sondern es war
das die erste Forderung, daß man sie schlicht in ihrer unge-
reimten Tatsächlichkeit aufnahm. Wie in der Weltgeschichte,
so muß auch hier das echte metaphysisch=metalogisch=meta-
ethische Heidentum vorangehen, ehe die Offenbarung ihren
Mund auftun kann. Die Ausgleichung und Angleichung, die
Reimung des Ungereimten, die der Idealismus unternimmt, zer-
stört nur die reine Tatsächlichkeit, in der die dreie ursprüng-
lich jedes für sich stehen; die handfesten Gestalten Mensch,
Welt, Gott zerrinnen in die Nebelbilder Subjekt Objekt Ideal,
Ich Gegenstand Gesetz, oder welche Namen nun sonst ihnen
zugebilligt werden. Sind aber die Elemente einfach auf-
genommen, so können sie zusammentreten, nicht um sich zu
»reimen«, sondern um in ihrer Wirkung aufeinander eine Bahn
zu erzeugen. Nicht Gott oder der Mensch oder die Welt ist
das, was in der Offenbarung unmittelbar sichtbar wird; im
Gegenteil: Gott Mensch Welt, die im Heidentum sichtbare
Gestalten waren, verlieren hier ihre Sichtbarkeit; Gott scheint
verborgen, der Mensch verschlossen, die Welt verzaubert.
Sichtbar abef wird ihr wechselweises Aufeinanderwirken.
Nicht Gott Mensch Welt sind das Unmittelbare, das hier
erlebt wird, sondern — Schöpfung, Offenbarung, Erlösung. In
ihnen erleben wir es, Geschöpf zu sein und Kind und gläubig*
ungläubige Träger des Namens durch die Welt. Aber diese
Unmittelbarkeit des Erlebens führt uns so wenig wie jene erste
Unmittelbarkeit des Erkennens in ein unmittelbares Verhältnis
zum All. Das Erkennen hatte zwar Alles, aber nur als Eie-
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT 491
mente, nur in seinen Stücken. Das Erleben war über das
Stückwerk hinaus; es war ganz in jedem Augenblick; aber
weil immer im Augenblick, so war es zwar ganz, doch hatte es
in keinem seiner Augenblicke alles. Das All, das sowohl alles
wie ganz wäre, kann weder ehrlich erkannt noch klar erlebt
werden; nur das unehrliche Erkennen des Idealismus, nur das
unklare Erleben der Mystik kann sich einreden, es zu erfassen.
Das All muß jenseits von Erkenntnis und Erlebnis erfaßt
werden, wenn es unmittelbar erfaßt werden soll. Eben dies
Erfassen geschieht in der Erleuchtung des Gebets. Wie hier
die Bahn sich zum Jahreskreis rundet und dadurch das All, in-
dem eben dieser Abschluß erbetet wird, sich dem Schauen un-
mittelbar darbietet, das sahen wir. In dieser letzten Unmittel-
barkeit nun, in der das All uns wirklich ganz nahkommt, ist es
uns erlaubt, den Namen zu erneuern, mit dessen Verleugnung
wir unser Werk begannen, den Namen der Wahrheit. Die
Wahrheit, wie sie sich zum Anfang der Weisheit uns empfahl
als die bestellte Geleiterin auf der Pilgerfahrt durchs All,
hatten wir ablehnen müssen. Wir leugneten die Philosophie,
die auf diesem Glauben an die Unmittelbarkeit der Erkenntnis
zum All und des Alls zur Erkenntnis beruhte. Nun, nachdem
wir auf unserm Wege von einem Unmittelbaren zum nächsten
bis hin zur unmittelbaren Schau der Gestalt gekommen sind,
finden wir am Ziele die Wahrheit als letzte, die sich uns als
erste hatte aufdrängen wollen. In der Schau erfassen wir die
ewige Wahrheit. Aber wir schauen sie nicht, wie es die Phi-
losophie meint, als Grund, der uns vielmehr das Nichts ist und
bleibt, sondern als letztes Ziel. Und indem wir sie dort am
Ziel schauen, geht es uns zugleich auf, daß sie selber doch
nichts ist als die göttliche Offenbarung, die auch uns, den
zwischen Grund und Zukunft in der Mitte Schwebenden,
geschah. Unser Wahrlich, unser Ja und Amen, mit dem wir
auf Gottes Offenbarung antworteten, — es enthüllt sich am
Ziel als das klopfende Herz auch der ewigen Wahrheit, Wir
finden uns wieder, uns selbst mitten im Brennen des fernsten
Sterns der ewigen Wahrheit; nicht die Wahrheit in uns — zum
49i
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
letzten Mal sei die philosophische Lästerung hier abgewehrt
— nein, sondern uns in der Wahrheit.
Wir finden uns wieder. Wir finden uns vor. Aber wir
müssen den Mut haben, uns in der Wahrheit vorzu-
finden, den Mut, inmitten der Wahrheit unser Wahrlich zu
sagen. Wir dürfen es. Denn die letzte Wahrheit — sie ist ja
keine andre als unsre. Gottes Wahrheit ist nichts andres als
die Liebe, mit der er uns liebt. Das Licht, aus dem die Wahr-
heit leuchtet, es ist nichts andres als das Wort, dein unser
Wahrlich antwortet. Im ersten »Es werde Licht« ist sowohl
das Licht dieser Welt geschaffen wie das andre, das Gott
schied und aufsparte für jene Welt der Vollendung. So sprechen
wir unser Wahrlich dort, wo wir uns finden. Es gibt keinen
bloßen Zufall. Die Geburt zur Persönlichkeit ist kein Zufall,
als der sie vom metalogischen Standpunkt des Heidentums
allerdings erscheint, sondern Schöpfung. Die Wiedergeburt
zum Selbst im Überfall des Daimon über den Charakter ist
nicht der Zufall, als der sie vom metaethischen Standpunkt des
Heidentums allerdings erscheint, sondern Offenbarung. Als
Geborener und als Wiedergeborener findet sich der Mensch
vor. Eins so wenig wie das andre darf er sich unterfangen zu
verleugnen. Er muß dort leben, wohin er gestellt ist; denn er
ist von der Hand des Schöpfers hingestellt, nicht aus dem
Schoße des Zufalls herausgefallen. Er muß dahin gehen, wohin
er gesandt ist; denn er hat vorn Worte des Offenbarers Rich-
tung empfangen, nicht vom blinden Taumelschritt des Schick-
sals eine dunkle Schickung. Stand und Sendung — zu beiden
muß er, wie er sie in dem Vorgefundenen Ort und in dem ent-
scheidenden Augenblick seines Lebens als sein persönliches
Hier und Jetzt empfing, sein Wahrlich sagen, auf daß sie ihm
Wahrheit werden.
Seine Wahrheit muß die Wahrheit werden, weil sie über-
haupt nur Wahrheit ist als eine seine Wahrheit. Die Wahrheit,
die von Gott urspringt, erkannten wir als das Wesen der
Wahrheit überhaupt. So muß sie auch dem Menschen als
/
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
m
Seine Wahrheit kommen, und als solche kann er sie nicht
anders erfahren, als indem er sie sich im Wahrlich zu seiner
zueignet. Denn nur was man als Gabe empfängt, nur das lehrt
einen den Geber erkennen. Was ich bloß finde, gilt mir für
herrenloses Gut, bestenfalls für eine verlorene Sache. Nur
das Geschenk erfahre ich, grade weil und indem es mein wird,
als das Eigentum des Gebers. So gilt mir die Wahrheit erst
für Gottes Wahrheit, indem ich sie im Wahrlich zu meiner
mache. Was aber kann ich also mein machen? Nur das, was
mir an meinem inneren Hier und Jetzt zuteil wurde. Ob das
die »ganze« Wahrheit sei, was kümmert mich das. Genug, sie
ward mir »zu Teil«. Sie ward mein Anteil. Daß Gott die
Wahrheit ist in jenem Sinne, in dem wir es nun festgestellt
haben: Ursprung der Wahrheit, — ich kann es nur erfahren,
indem ich erfahre, daß er »mein Teil« ist, »der Anteil meines
Kelchs, am Tag da ich ihn rufe«.
I3e=währt also muß die Wahrheit werden, und grade in der
Weise, in der man sie gemeinhin verleugnet: nämlich indem
man die »ganze« Wahrheit auf sich beruhen läßt und dennoch
den Anteil, an den man sich hält, für die ewige Wahrheit
erkennt. So muß es geschehen, weil es hier um Ewiges geht.
Im Ewigen wird der Triumph über den Tod, der darin ver-
schlungen ist, gefeiert. Im Triumphzug werden des Tods zer-
brochene Waffen aufgeführt. Der Tod hatte alles Leben ab-
mähen wollen, daß es nicht bis hin zum ewigen Ende lebte. Er
hatte darauf gepocht, daß alles Ende nur erstorben werden
könne. Im ewigen Volk wird ihm siegreich entgegengehalten,
daß das Ende auch erlebt werden kann. Da zerbricht dem
Schnitter seine Sense. Der Tod war auf allen Wegen einher-
geritten und hatte darauf gepocht, daß alles Gehen auf ihnen
nur Vergehen sei. Der ewige Weg wird begangen ohne zu
vergehen; denn jeder Schritt geschieht wieder von seinem
Anfang her. Da brechen dem Reiter die Schenkel seiner
Mähre. Der Tod hatte aller Wahrheit gehöhnt, daß sie doch
gebunden sei an ein armseliges Stück Wirklichkeit und schon
dadurch die Wahrheit verleugne; so müsse ihm alles ver-
494
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
fallen. Nun flattert ihm hier das Banner einer Wahrheit ent-
gegen, die für ewig er- und bekannt wird, indem sie als eigene,
empfangene, zuteil gewordene bewährt wird, Teil also, der die
ganze Wahrheit, statt sie zu verleugnen, bewährt; der bloße
Teil ist »mein ewiger Anteil« worden. Da zerbricht dem
Knochenmann das siegesgewisse Grinsen im Antlitz und er
beugt sich dem ewigen Spruch.
Das Eigne wird zur ewigen Wahrheit bewährt: Geburt und
Wiedergeburt, Standort und Sendung, Vorgefundenes Hier und
entscheidendes Jetzt des Lebens. Wo noch weder das eine
noch das andre da ist, wo noch statt jenes der Zufall, statt
dieses das Schicksal herrschen, da, in der Standpunkts- und
sendungslosen Zufalls- und Schicksalswelt des Heidentums, da
allerdings ist von einer Bewährung in diesem Sinn überhaupt
nicht die Rede. Da bleibt das Eigene Eigenes, und alle Be-
währung bewährt höchstens die Wahrheit, daß es Eigenes ist.
Wo die Offenbarung geschah und die Brücke vom Himmel zur
Erde, vom Ewigen zum Eigenen geschlagen ward, da ist mit
dem einen Schlage gleich beides, das Hier wie das Jetzt, fest-
geiegt; von der Offenbarung aus gliedern sich Raum wie Zeit.
Aber die Bewährung geschieht im Allereigensten, im Einzel-
leben. Und das Einzelleben muß eingepflanzt sein in den ge-
meinsamen Boden der Offenbarung, ein Teil muß unter die
Erde reichen. Und es ist nun bloß die Frage, welcher. Sowohl
das Hier wie das Jetzt kann jedes sowohl im gemeinsamen
Boden wie im Einzelleben hausen. Grade ihre Untrennbarkeit
verbürgt dem einzelnen Gewächs dann, daß es wirklich tief im
Boden wurzelt. Zwiefach ist also die Möglichkeit, die Wahr-
heit zu bewähren. Und in dieser zwiefachen Möglichkeit
finden wir nun den in den beiden vorigen Büchern dargestellten
Gegensatz des Kernfeuers und der Ausstrahlung wieder, dies-
mal aber nicht einfach als ein Nebeneinander, sondern nun in
einer wechselweisen Verschlingung, die wohl nicht erlebt,
doch geschaut werden kann. Nicht erlebt; denn dies haben
wir nun erkannt, daß das Höchste dem Menschen nur zuteil
wird, indem es Teil wird. Aber geschaut.
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
M
Denn zwar auch geschaut kann das Ganze nur werden, wo
es zum Teil geworden ist, und so kann das Ganze der Wahr-
heit, die ganze Wahrheit nur geschaut werden, indem sie in
Gott gesehen wird. Dies ist das einzige, was in Gott gesehen
wird. Hier allein erlebt der Mensch nicht unmittelbar, sondern
Gott ists, der erlebt, und der Mensch schaut bloß zu. Seinen
Teil an der Wahrheit ergreift er noch in der unmittelbaren
Einheit von Erlebnis und Schau. Aber die ganze Wahrheit
kann er, eben weil sie die ganze ist und also nur Gott zu teil,
nur für Gott zum Teil werden kann, selber auch nur in Gott
schauen. Denn im Leben bleibt er Mensch; er mag wohl
Gott erleben — was sonst wäre die Offenbarung; ist doch
auch das Erleben eines Menschen, wie ein Mann seinen Freund
erlebt, gar nichts weiter als daß der eine versteht, was der
andre zu ihm spricht; während es nicht möglich ist, zu erleben,
was selbst der nächste Mensch an andern erlebt; davon und
nur davon, nicht vom unmittelbaren Wechselverkehr der Men-
schen untereinander, gilt das harte Wort, daß keine Brücke
führt von Mensch zu Mensch.
Im Leben also bleibt der Mensch Mensch; und wenn er
auch Gottes Stimme vernehmen, Gott erleben kann, so erlebt
er deswegen mitnichten etwa auch das, was Gott selbst erlebt.
Im Schauen aber schaut er, eben weil er hier aus dem flüssi-
gen Element des Erlebens ans Ufer tritt, unmittelbar was Gott
erlebt. Er schaut es in Gott. Gott selbst erlebt es. Das ist
ein großer Unterschied. Für ihn ist es immer nur Wahrheit.
Aber für Gott ist es mehr als Wahrheit. Für Gott ist es Er-
lebnis. »Gott ist die Wahrheit« heißt: er trägt sie in sich, ihm
ist sie zu Teil. Das Wahrlich des Menschen, mit dem er sein
Teilhaben an der Wahrheit, die als ganze Wahrheit nur Gott
zu Teil ist, bewährt, ist gradezu die Gegenzeichnung, mit der
er die vom Herrn der Wahrheit ausgegangene Urkunde für
sein Teil und Amt als treuer Diener seines Herrn bestätigt.
Der Wahrheit, die Gottes Siegel ist, entspricht als Siegel des
Menschen das Wahrlich. Sein Wahrlich, sein Ja und Amen,
darf er sagen und soll es. Es ist ihm verwehrt, Wenn und Aber
49ö ' DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
zu sagen. Das Wenn ist in seinem Munde ein verruchtes Wort,
wie er es denn auch mit Recht ablehnen darf, moralische
Kreuz- und Querfragen, die ihn mit dem »Was würdest du tun,
wenn« anrennen, zu beantworten. Weiß er nur, was er zu tun
hat, wenn irgend eins dieser Wenns ihm zum So geworden
ist; das soll ihm genügen. Das Wenn ist, weil Wort der gan-
zen Wahrheit, Vorbehaltsrecht dessen, vor dem es sich ewig
ins So verwandelt. Nur in Gott, nur in dieser ständigen Ver-
wandlung ins So, darf der Mensch sich unterfangen, dem Wenn
ins Auge zu blicken; und auch dann immer in dem Bewußtsein,
daß es nicht seine Sache ist, um das Wenn zu sorgen. Sein
Bereich bleibt das So, sein Wort das Wahrlich.
Zwiefach war die Möglichkeit, wie sich die in der Offen-
barung ins Hier und Jetzt einströmende Wahrheit mit dem
Wahrlich des Menschen einigen mochte. Der Ort, worin sich
der Mensch vorfand, der Stand, worin er stand, konnte in ihm
selber liegen, er konnte seine Art als etwas, was ihm im Ge-
heimnis seiner Geburt anerschaffen war, mit sich herumtragen,
als ein inneres Zuhause, das er so wenig abstreifen mag wie
die Schnecke ihr Haus, oder mit einem besseren Gleichnis: ein
magischer Kreis, dem er so wenig entrinnen kann wie dem
Kreis seines Bluts, eben weil er ihn wie diesen und mit diesem
überall hiriträgt, wo er auch gehn und stehen mag. Trägt so
der Mensch sein inneres Zuhause, seinen inneren Stand mit
sich, so muß der entscheidende Augenblick, der Augenblick
seiner zweiten Geburt, seiner Wiedergeburt, ihm jenseits der
Schranken seiner Persönlichkeit, vor seinem eigenen Leben
liegen. Des Juden — denn von ihm reden wir — Wieder-
geburt ist nicht seine persönliche, sondern die Umschaffung
seines Volks zur Freiheit im Gottesbund der Offenbarung. Das
Volk und er in ihm, nicht er persönlich als Einzelner, hat da-
mals eine zweite Geburt erlebt. Abraham, der Stammvater,
und er der Einzelne nur in Abrahams Lenden, hat den Ruf
Gottes vernommen und ihm mit seinem »Hier bin ich« geant-
wortet. Der Einzelne wird von nun an zum Juden geboren,
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
497
braucht es nicht erst in irgend einem entscheidenden Augen-
blick seines Einzellebens zu werden. Der entscheidende Augen-
blick, das große Jetzt, das Wunder der Wiedergeburt liegt vor
dem Einzelleben. Im Einzelleben liegt nur das große Hier,
Standpunkt, Stand, Haus und Kreis, kurz alles was im Geheim-
nis der ersten Geburt dem Menschen gegeben wird.
Grade umgekehrt geht es nun dem Christen. Ihm geschieht
im eignen Leben eines Tags das Wunder der Wiedergeburt,
ihm dem Einzelnen; dem von Naturwegen als ein Heide Ge-
borenen kommt da Richtung in das Leben. Christianus fit, non
nascitur. In sich trägt er diesen Anfang seines Christgeworden-
seins, aus dem ihm immer neue Anfänge, eine ganze Kette von
Anfängen, entspringen. Aber sonst trägt er nichts in sich. Er
yist« nie Christ, obwohl das Christentum ist. Das Christentum
ist außer ihm. Dem einzelnen Juden mangelt zumeist jene per-
sönliche Lebendigkeit, die über den Menschen erst in der zwei-
ten Geburt kommt, mit dem »Überfall des Selbst«; denn so
sehr das Volk das trotzig=dämonische Selbst hat, so wenig hat
es der Einzelne, der vielmehr, was er als Jude ist, von der
ersten Geburt her ist, gewissermaßen also von Persönlich-
keits-, nicht von Charakterwegen. Ganz entsprechend geht
dem einzelnen Christen in seiner Christlichkeit alles »Natür-
liche«. alles Angeborene ab; es gibt christliche Charaktere,
Menschen also, denen man an ihrer Stirn die Kämpfe abliest,
in denen der Christ in ihnen geboren wurde, aber im allge-
meinen keine christlichen Persönlichkeiten, für die vielmehr
als »Johannesnaturen« gradezu ein die Ausnahme kennzeich-
nender Kunstausdruck vorhanden ist. Das natürlich Christliche
hat außer ihm Sein, in weltlichen und kirchlichen Anstalten^
er trägt es nicht in seinem Innern mit sich herum. Das Ge-
heimnis der Geburt, das im Juden grade am Einzelnen ge-
schieht, liegt hier vor allen Einzelnen in dem Wunder von
Bethlehem. Da, in dem allen Einzelnen gemeinsamen Ursprung
der Offenbarung, geschah die allen gemeinsame erste Geburt;
das unleugbare, das gegebene, das ursprüngliche und dauernde
Sein ihres Christentums finden sie nicht in sich, sondern in
Christus. Sie selber mußten, jeder für sich, Christ werden.
498
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
Das Christ=Sein ist ihnen, vordem sie geboren wurden, abge-
nominen durch die Geburt Christi so wie umgekehrt der Jude
sein Judesein in sich selbst von seiner eignen Geburt her be-
sitzt und mit sich trägt, indes ihm das Judewerden abgenom-
men wurde in der Vorzeit und Offenbarungsgeschichte des
Volks.
Solch gegensätzliches Verhältnis von Hier und Jetzt, Ge-
burt und Wiedergeburt bestimmt nun aber jedesmal auch
den ganzen weiteren Gegensatz, der zwischen jüdischem
und christlichem Leben waltet. Das christliche Leben fängt
mit der Wiedergeburt an. Die Geburt liegt zunächst außer
ihm. So muß es versuchen, seiner Wiedergeburt die Geburt
zu unterbauen. Es muß die Geburt aus dem Stall von Bethle-
hem in sein eignes Herz verlegen. Wär’ Christus tausendmal
in Bethlehem geboren und wirds nicht auch in dir, so bist du
doch verloren. Dies ganze Hier, das noch außerhalb ist, diese
ganze Welt von Natürlichkeit, gilt es in die mit dem großen
Jetzt der Wiedergeburt angehobene Reihe der Christwerdun-
gen einzuziehen. Das christliche Leben führt den Christen ins
Außen. Die Strahlen strahlen immerfort, bis alles Außen durch-
strahlt sein wird. Genau umgekehrt das jüdische Leben. Da
ist die Geburt, das ganze natürliche Hier, die natürliche In-
dividualität, die unteilbare Weltteilhaftigkeit schon da, und es
gilt dieses breit und voll Daseiende hineinzuführen in den
engen Zeitpunkt der Wiedergeburt, ein Führen, das ein Zu-
rückführen wird, denn die Wiedergeburt liegt unvordenklich
lange vor der eigenen und einzelnen Geburt. Für das Ver-
legen der einstigen gemeinsamen Geburt ins eigene wieder-
geborene Herz tritt hier ein Nacherleben der einstigen gemein-
samen Wiedergeburt ein, für das Vergegenwärtigen des Ver-
gangenen also ein Zurückführen der Gegenwart ins Ver-
gangene. Ein Jeglicher soll wissen, daß ihn selbst der Ewige
aus Egypten geführt hat. Das gegenwärtige Hier geht hinein
in das große Jetzt des erinnerten Erlebnisses. So wird, wie der
christliche Weg Äußerung und Entäußerung und Durchstrah-
len des Äußersten, so das jüdische Leben Erinnerung und Ver-
innerlichung und Dnrchglühen des Innersten.
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
i22
Die Strahlen des Sterns, die also nach außen brechen, das
Feuer, das nach innen glüht, — beide rasten nicht, ehe
sie nicht ans Ende, ans Äußerste, ans Innerste gekommen sind.
Beide ziehen Alles ein in den Kreis, den ihre Wirksamkeit er-
füllt. Doch die Strahlen, indem sie sich im Außen teilen, zer-
streuen, getrennte Wege gehn, die sich erst jenseits des ganz
durchmessenen äußern Raums der Vorwelt wieder einen; das
Feuer aber, indem es im zuckenden Spiel seiner Flamme die
reiche Mannigfaltigkeit des Daseins zu Gegensätzen des inne-
ren Lebens in sich selber sammelt und versammelt; Gegen-
sätze, die gleichfalls ihre Einung erst finden dort, wo die
Flamme erlöschen mag, weil die ausgeglühte Welt ihr keinen
Brennstoff mehr beut und das züngelnde Leben der Flamme
erstirbt in dem, was mehr ist als menschlich*weltliches Leben:
das göttliche Leben der Wahrheit. Denn um diese, die Wahr-
heit, geht es uns hier, nicht mehr um die Spaltung des Wegs
in der sichtbaren Welt, nicht mehr um die innere Gegensätz-
lichkeit des Lebens. Die Wahrheit aber erscheint immer erst
am Ende. Das Ende ist ihr Ort. Sie gilt uns nicht für gegeben,
sie gilt uns für Ergebnis. Denn uns ist sie Ganzes, nur Gott
wird sie zuteil. Für ihn ist sie nicht Ergebnis, sondern ge-
geben, nämlich von ihm gegeben, Gabe. Wir aber schauen sie
immer erst am Ende. So müssen wir jetzt jene Spaltung wie
diese Gegensätzlichkeit bis zum Ende begleiten und dürfen
uns nicht mehr zufrieden geben bei dem, was uns zuvor aut
unsrer Fahrt des Erfahrens begegnete, das Leben und der
Weg.
Die Spaltungen des Wegs waren dreifach, nach den drei
Gestalten, die das All, da es uns in Stücke sprang, annahm,
Gott, Welt, Mensch, diese drei der Vernunft Unreimbaren um-
griff der auseinanderstrahlende Weg der Christenheit, und in-
dem allenthalben, wo die Sendboten des Christentums ein
Stück des All in die Christenheit einzogen, die alten Götter,
die alte Welt, der alte Adam ans Kreuz geschlagen wurde,
wurden die im Heidentum Geborenen im Christentum vvieder-
32*
322.
DRITTER TEIL; DRITTES BUCH
geboren zum neuen Gott, zur neuen Welt, zum neuen Men*
sehen. Nur als Schrifttäfelchen standen noch zu Häupten der
drei Kreuze die dunkeln von heidnischer Hand geschriebenen
Bezeichnungen, in denen die Christenheit den eignen offen-
baren Sinn las: der verborgene Gott, der verschlossene
Mensch, die verzauberte Welt.
Das All des verborgenen Gottes enthüllten die Wege des
Vaters und des Sohnes. Sie strahlten aus vom Stern der Er-
lösung, aber sie strahlten auseinander und schienen sich zum
Gegensatz zweier Personen verfassen zu wollen; vor dem
brach zwar das Heidentum in seiner grundsätzlichen Unbe-
stimmtheit zusammen und immer wieder zusammen; denn jede
neue Unbestimmtheit verfing sich wieder in diesem stets ge-
öffneten Entweder-Oder; die weltlich-gegenständlichen
Gründe, die zur Schaffung neuer Götter führen konnten, wur-
den aufgefangen im Glauben an den Vater, die menschlich-per-
sönlichen im Glauben an den Sohn. Das Heidentum war so
wirklich am Ende seiner Weisheit, aber das Christentum
schien über es den Sieg zu gewinnen nur, indem es seinen
Gottesbegriff selber ihm anpaßte und so das Ende der heid-
nischen Weisheit nur erkaufte um den Fluch, dauernd auf dem
Anfang des Wegs bleiben zu müssen. So bezeichnete es selber
in dem Begriff des Geists, der aus beiden, aus Vater und Sohn
hervorgeht, den Punkt, wo sich beide, Vater und Sohn, jen-
seits des Wegs, wenn erst die Welt sich unter diesem Kreuze
versammelt hat, wieder zusammenfinden. Die Anbetung Gottes
im Geist und in der Wahrheit, die Verheißung, daß der Geist
die Christenheit leiten wird, — darin erlischt der heidnische
Trieb, dem das christliche Credo sich anbequemen mußte, um
die Heiden zu gewinnen; er erlischt, um freilich einer neuen
Gefahr den Platz zu räumen: einer Geistvergötterung oder
besser einer Gottvergeistigung, die über dem Geist Gott selbst
vergäße, der in der erhofften Schau die lebendig unberechen-
bar lebenschaffende und -weckende Gewalt Gottes selbst ver-
loren ginge und die, trunken von der Hoffnung, ihn zu schauen,
und von der Fülle des Geistes, die Fühlung mit der in stetem
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
Wachstum wachsenden Welt und der sich im Glauben er-
neuernden Seele verlöre. Die östliche Kirche, die, getreu ihrem
Ursprung bei Johannes und den griechischen Vätern, das Amt
der Bekehrung der Weisheit auf sich genommen hatte, sie
zeigt hinfort das große Bild jener Gefahr der Gottvergeisti-
gung, die aus einer anarchischen Welt, einer chaotischen Seele
sich flüchtet in die Hoffnung und die Schau.
Das All des verschlossenen Menschen erschlossen die Wege
des Priesters und des Heiligen. Auch sie strahlten, obwohl
ebenfalls vom gleichen Strahl des Sterns der Erlösung aus-
gehend, auseinander und schienen sich zu verfassen zum
Gegensatz, der unter Menschen Mensch vom Menschen schied.
Und auch hier brach vor diesem Gegensatz das Heidentum,
das unter Menschen jeden von jedem in hundertfacher Schei-
dung schied, immer aufs neue zusammen. Denn alle heidnische
Scheidung schied nach dem dauerhaften Merkmal von Gestalt
und Farbe und Sprache und Rang oder nach den flüchtigen
Wallungen des Augenblicks in Haß und Liebe. Aber alle jene
dauerhaften Male wurden zunichte vor dem einen unzerstör-
baren Charakter des Priesters, der ihn von den Laien schied,
und aller Sturm der Wallungen des Augenblicks brach sich am
Heiligen, an seiner einen großen immer neuen Leidenschaft der
Liebe. Vor dem Gewichte jener Form wurde alle Fülle der
heidnischen Formen unwichtig; vor der Größe jener Lei-
denschaft schwand alle Willkür heidnischer Leidenschaften und
ward zunichte. Aber dennoch blieb der Gegensatz, der zwar
den heidnischen Taumel des Menschlichen auffing und stillte;
die Gestillten lagen untereinander weiter im Kampf; zwischen
Form und Freiheit, zwischen Priester und Heiligem blieb im
All der Menschlichkeit der Friede ebenso ungeschlossen wie
auch zwischen der einen Form und der Fülle der Gestalten,
der einen Freiheit und den Leidenschaften. Die Einung winkte
auch hier wieder erst dort, wo die beiden Wege jenseits alles
Wegs wieder zusammentrafen, um die Menschheit unter die-
sem Kreuz zu sammeln. Von dort winkte das Bild dessen, der
der Christenheit gesagt hatte: Ich bin die Wahrheit. Der
5 02
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
Menschensohn, er allein war es, dessen Hohepriestertum nicht
unter der Knechtsgestalt litt und dessen Menschlichkeit andrer-
seits durch seine Göttlichkeit nicht geschmälert wurde. Im
Hinblick auf dies Bild eines, der wahrer Mensch und wahrer
Gott sei, und in seiner Nachfolge, gingen so die auf ihrem Er-
oberungszug durch das Land der Seele stets getrennten Ge-
stalten des Priesters und des Heiligen in eins; da konnte der
in jener Doppelgestalt und all den Trennungen, die sie noch
selber wieder in der Seele setzte, immer noch heidnisch viel-
spältige Mensch sich wenigstens in Nachfolge und Hoffnung
dem Sehnsuchtsbild einer Einheit des Herzens zubilden. Aber
wieder droht auch hier, wenn so vor dem Bilde des Menschen-
sohns der letzte heidnische Seelenzwist wenigstens in der
Sehnsucht, und Hoffnung zur Herzenseinheit geschlichtet
scheint, schon eine neue Gefahr: eine Menschvergötterung
und Gottvermenschlichung, die über dem Menschen Gott
selbst vergäße und der über der gläubigen Sehnsucht nach
dem Niedertauchen in die stille Brunnenkammer der mannig-
fachen Ausflüsse der Seele der schlichte Glaube an den über-
menschlichen Gott und die tatfreudige Liebe zur gestaltbedürf-
tigen Welt verloren zu gehen drohte. Die nordische Kirche,
die, getreu ihrem Ursprung bei Paulus und den deutschen Vä-
tern, das Amt der Bekehrung des Seelenhaften, des Dichters
im Menschen, auf sich genommen hatte, sie zeigt hinfort das
große Bild jener Gefahr der menschvergötternden Gottver-
menschlichung, die vor einer seelenlos gelassenen Welt und
dem Herrn der Geister in allem Fleisch sich flüchtet in den
.stillen Winkel der Sehnsucht und das eigene Herz.
Das All der verzauberten Welt entzauberten die Wege des
Staats und der Kirche. Auch sie, obwohl auch sie vom einen
Strahl des Sterns ausgehend, strahlten auseinander und schie-
nen sich zu verfassen zum Gegensatz, der in der Welt Ord-
nung von Ordnung, Welt von Welt schied. Und wiederum
brach vor diesem einfachen Gegensatz das Heidentum, das in
der Welt alles von allem, Staat von Staat, Volk von Volk,
Stand von Stand, Jeden von Jedem schied, immer wieder zu-
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT 503
sammen. Denn alle seine Scheidungen wurden wesenlos vor
der einen wesentlichen von weltlicher und überweltlicher Ord-
nung und mußten hinfort, wollten sie ihren Eifer widereinander
auch nur mit einem Schein des Rechts schmücken, sich einen
Abglanz höheren Rechts von jenem Gegensatz borgen und der
Macht einen geistigen Inhalt zu geben versuchen. Aber so
ward zwar der heidnische Kampf aller gegen alle gereinigt zu
höherem Kampf um höheren Preis, aber immer doch zu Kampf:
und erst am Ende aller Geschichte steht der Ausblick auf ein
kampf- und gegensatzbefreites Reich, in dem Gott alles in
allem sein wird. Da finden also die beiden getrennten Wege
des Christentums durch das All der Welt, der Weg des Staats
und der der Kirche wieder zusammen, die es beide neben-
einander gehen mußte, um den Reichtum der heidnischen Welt
ganz in sich fassen zu können, der sich dem Eingehn in ein
Reich von Priestern und heiliges Volk einfach versagt hätte.
Die beiden Wege dürfen sich also erst vereinen, wenn die
Fülle der Heiden eingegangen sein wird. Aber in diesem
Ausblick auf eine gegensatzbefreite zukünftige Ein- und All-
gemeinheit der Welt, des Tages, wo Gott alles in allem sein
wird, liegt nun wiederum für das Christentum eine Gefahr, die
letzte der drei großen unvermeidlichen, weil von seiner Größe
und seiner Kraft unzertrennlichen: Weltvergötterung oder
Gottverweltlichung, die über dem Alles in Allem den Einen
über allem vergäße und der über dem liebend tätigen Vereinen
des weltlich Getrennten zum einen und allgemeinen Gebäude
des Reichs das fromme Vertrauen zu der inneren freien, sich
selbst erneuernden Kraft der Seele und zu der über mensch-
liche Einsicht ihre eignen Wege gehenden Vorsehung Gottes
schwünde. Die südliche Kirche, die getreu ihrem Ursprung bei
Petrus und den lateinischen Vätern das Amt der Bekehrung
der sichtbaren Rechtsordnung der Welt auf sich genommen
hatte, zeigt hinfort das Bild jener Gefahr weltvergötternder
Gottverweltlichung, die vor der bemißtrauten Freiheit der
Seele und vor dem unerforschlich waltenden Gott flüchtet in
die welterhaltende Liebestat und die Freude am gewirkten
wirklichen Werk.
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
504
Dreifach war die Spaltung des Wegs, dreifach die stets
jenseitige Wiedervereinung, dreifach die Gefahr. Daß der
Geist in alle Wege leitet und nicht Gott, daß der Menschen-
sohn die Wahrheit sei und nicht Gott, daß Gott Alles in Allem
sein werde und nicht Einer über Allem, — das sind die Ge-
fahren. Sie entstehen an den Endpunkten des Wegs, in dem
Jenseits, wo sich die Strahlen, die sich in dem Diesseits so
Gottes wie der Seele wie der Welt nie begegnen, endlich ver-
einen. So sind es Gefahren — Spiritualisierung des Gottes-,
Apotheosierung des Mensch-, Pantheisierung des Weltbe-
griffs —,- über die das Christentum nie hinauskommt. So
wenig wie es über die Spaltung der Kirchen in die Kirche der
Geistwahrheit, des Menschensohns, des Gottesreichs ie hin-
auskommt, die eine jede in ihrer Versenkung je in die Hoff-
nung, den Glauben, die Liebe die beiden andern Kräfte ver-
nachlässigen müssen, um desto stärker in der einen zu leben
und ihres Anteils zu walten am Werk der Wiedergeburt der
im Heidentum geborenen Vorwelt. Das Christentum strahlt
in drei geschiedenen Richtungen aus. Sein Äußerstes, zu dem
es vorstößt bei seinem entäußernden Gang ins Äußere, ist kein
Einfaches, sondern wie die Vorwelt, in der sich der Heide vor-
findet, ein dreifaches. Aber zwischen jenen drei Alls der Vor-
welt schlug die Offenbarung die festen Brücken und verband
die drei Punkte in der unverrückbaren einen Ordnung des
Gottestags. Die drei Punkte aber, in denen das Christentum
seine Entäußerung ins All vollendet und in denen sich die auf
dem Weg durch die Zeit zerstreuten Strahlen wieder sammeln,
die Vergeistigung, Vermenschlichung, Verweltlichung Gottes,
lassen, wie wir noch sehen werden, sich untereinander nicht
mehr verbinden; sie sind wohl, anders als die drei Punkte des
Heidentums, in fester Ordnung zueinander; das Vielleicht ist
längst für immer verstummt; aber einen fließenden Zusammen-
hang, der auch diese drei Getrennten wieder in eine Einheit
hineinhübe, bietet das Christentum nicht mehr oder nur un-
vollständig. Ehe wir uns diesem letzten Wissen von den ins
Außen gestrahlten Strahlen zuwenden, kehren wir nun zurück
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
221
zum Anblick der Glut, mit der die Flamme des Feuers in sich
selber glüht.
Dreifach zuckte auch die Flamme. In drei Gegensätzen
des eignen brennenden Lebens erinnerte sie sich das drei-
gespaltene Leben des äußeren All. Des jüdischen Gottes
Macht und Demut, des jüdischen Menschen Auserwähltheit
und Erlöserberuf, der jüdischen Welt Diesseitigkeit und Künf-
tigkeit — in diesen drei Zuckungen versammelte die Flamme
in ihrem Inneren spiegelgleich alle Gegensatzmöglichkeiten des
All zu einfachen Gegensätzen. Denn zum Unterschied von
allen Flammen der Erde verglüht sie ihre Wärme nicht bloß
im Strahlen nach Außen, sondern weil sie sich ewig aus sich
selber nährt, sammelt sie die Glut zugleich ins Innerste zu
höchstem inbrünstigem Brand; und indem sie also ihre Glut
ins Innre versammelt, schmilzt sie nun wiederum die flam-
mend=zuckenden Gegensätze je mehr und mehr in sich wieder
zu einfachem stillen Glühn.
Der Gegensatz zwischen schöpferischer Macht und offen-
barender Liebe, selber noch inwohnend in der ursprünglichen
Umkehr vom verborgenen Gott des Heidentums- zum offen-
baren der Offenbarung und im engeren Sinn jüdisch nur in den
zuckenden unberechenbaren Übergängen zwischen seinen
beiden Seiten, dieser Gegensatz schmilzt in der Innenwärme
des jüdischen Herzens zur Anrufung Gottes als »unser Gott
und Gott unsrer Väter«. Dieser Gott ist ununterscheidbar der
Gott der Schöpfung und der Gott der Offenbarung. Grade daß
er hier nicht mit dem offenbarten Namen angerufen wird, son-
dern als Gott überhaupt, und dann doch wieder als Gott über-
haupt zu »unserm« Gott wird und dies sein Unsersein wieder
in seinen Uranfang verankert wird und also die Offenbarung,
durch die er unser Gott ist, begründet wird in ihrem eignen
schöpferischen Ursprung in der Offenbarung an die Väter,
— dies ganze vielverflochtene Gebild des Glaubens ist im
jüdischen Herzen ein ganz einfaches Gefühl. Es ist keine letzte
Einheit, nicht das, was das Gefühl eben noch als Äußerstes
506
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
erschwingen kann, sondern ein Inneres, eine einfache innere
Einheit. Es ist gar nichts Höchstes, sondern es ist das Gottes-
bewnßtsein des jüdischen Alltags. Es ist sowenig etwas
Höchstes und Letztes, daß es im Gegenteil grade etwas sehr
»Enges« ist. Die ganze Engigkeit des unmittelbaren naiven
jüdischen Bewußtseins liegt darin, dies Vergessenkönnen, daß
es noch etwas andres auf der Welt, ja daß es überhaupt noch
Welt gibt, außer der jüdischen und den Juden. Unser Gott und
Gott unsrer Väter — was kümmert es den Juden im Augen-
blick, wo er Gott also anruft, daß dieser Gott, wie er es sonst
immer wieder sagt und weiß, »König der Welt«, der Eine Gott
der Zukunft ist; in dieser Anrede fühlt er sich ganz mit ihm
allein, im engsten Kreis, und hat alle weiteren Kreise aus dem
Bewußtsein verloren; nicht etwa weil er ihn nur so hätte, wie
er sich ihm offenbarte, und deswegen sein Schöpfertum draußen
bliebe; nein: die Schöpfermacht ist durchaus ganz mit dabei,
aber der Schöpfer hat sich verengt zum Schöpfer der jüdischen
Welt, die Offenbarung geschah nur dem jüdischen Herzen. Das
Heidentum, das die ausstrahlenden und wieder in eins strah-
lenden Wege der Christenheit umgriffen, hier ist es ganz im
Rücken, ganz draußen gelassen; die Glut, die nach innen glüht,
weiß nichts von dem Dunkel, das von außen den Stern um-
gibt. Das jüdische Gefühl hat Schöpfung und Offenbarung hier
ganz hineingefüllt in den vertrautesten Raum zwischen Gott
und seinem Volk.
So wie Gott, so verengt sich auch der Mensch dem jüdi-
schen Gefühl, wenn es ihn aus dem noch flammend ineinander-
schießenden Doppelbewußtsein Israels und des Messias, der
Offenbarungsbegnadung und der Welterlösung, zu einfachem
Glühen einen möchte. Von Israel zum Messias, vom Volk,
das unterm Sinai stand, zu jenem Tag, da das Haus in Jeru-
salem ein Bethaus heißen wird allen Völkern, führt ein Begriff,
der bei den Propheten auftauchte und seitdem unsre innre
Geschichte beherrscht hat: der Rest. Der Rest Israels, die
Treugebliebenen, im Volk das wahre Volk, sie sind die Gewähr
in jedem Augenblick, daß zwischen jenen Polen eine Brücke
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
5°7
führt. Mag sonst das jüdische Bewußtsein zwischen jenen in
der ursprünglichen innren Umkehr des heidnisch verschlos-
senen zum er- und entschlossenen Menschen der Offenbarung
festgestellten beiden Lebenspolen, dem der eigensten Erfah-
rung der göttlichen Liebe und dem der hingegebenen Auswir-
kung der Liebe in der Heiligkeit des Wandels, hin und her
zucken in heißblütigen Übergängen, der Rest stellt beides zu-
gleich dar: die Aufnahme des Jochs des Gebots und die des
Jochs des Himmelreichs. Wenn Messias »heute« kommt, der
Rest ist bereit ihn zu empfangen. Die jüdische Geschichte ist,
aller weltlichen Geschichte zum Trotz, Geschichte dieses
Rests, von dem immer das Wort des Propheten gilt, daß er
»bleiben wird«. Alle weltliche Geschichte handelt von Aus-
dehnung. Macht ist deswegen der Grundbegriff der Geschichte,
weil im Christentum die Offenbarung begonnen hat, sich über
die Welt zu verbreiten, und so aller, auch der bewußt nur rein
weltliche Ausdehnungswille zum bewußtlosen Diener dieser
großen Ausdehnungsbewegung geworden ist. Das Judentum
und sonst nichts auf der Welt erhält sich durch Subtraktion,
durch Verengung, durch Bildung immer neuer Reste. Das gilt
ganz äußerlich schon gegenüber dem ständigen äußeren Ab-
fall. Es gilt aber auch innerhalb des Judentums selbst. Es
scheidet immer wieder Unjüdisches von sich ab, um immer
wieder neue Reste von Urjüdischem in sich hervorzustellen.
Es gleicht sich ständig äußerlich an, um sich nach innen immer
wieder aussondern zu können. Es gibt keine Gruppe, keine
Richtung, ja kaum einen Einzelnen im Judentum, der nicht
seine Art, das Nebensächliche preiszugeben um den Rest fest-
zuhalten, für die einzig wahre und sich also für den wahren
»Rest Israels« ansähe. Und er ists. Der Mensch im Judentum
ist immer irgendwie Rest. Er ist immer irgendwie ein Übrig-
gebliebener, ein Inneres, dessen Äußeres vom Strom der Welt
gefaßt und weggetrieben wurde, während er selbst, das Übrig-
gebliebene von ihm, am Ufer stehen bleibt. Es wartet etwas in
ihm. Und er hat etwas in sich. Worauf er wartet und wras er
hat, das mag er verschieden benennen, oft auch kaum benennen
508
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
können. Aber es ist ein Gefühl in ihm, als sei beides, jenes
Haben wie jenes Warten aufs innerlichste miteinander ver-
bunden. Und das ist eben das Gefühl des »Rests«, der die
Offenbarung hat und auf das Heil harrt. Die seltsamen Fragen,
die nach der Überlieferung dem jüdischen Menschen von dem
göttlichen Richter dereinst vorgelegt werden, bezeichnen diese
beiden Seiten des Gefühls. Die eine, »Hast du gefolgert Satz
aus Satz«, meint: war in dir das Bewußtsein lebendig, daß dir
alles, was dir begegnen mag, irgendwie schon, ehe du ge-
boren, gegeben war in der Gabe der Offenbarung? Und die
andre, »Hast du des Heils geharrt«, meint jene Richtung auf
das zukünftige Kommen des Reichs, die in unser Blut von
Geburt an hineingelegt ist. In diesem zweieinigen Gefühl also
hat sich der Mensch ganz zum jüdischen Menschen verengt.
Das Heidentum, das die auseinander- und endlich wieder zu-
sammenführenden Wege der Christenheit umgriffen, liegt wie-
derum draußen im Dunkel. Der jüdische Mensch ist ganz bei
sich. Die Zukunft, die sonst gewaltig auf seiner Seele lastet,
hier ist sie stille geworden. Im Gefühl, der Rest zu sein, ist
sein Herz ganz eins in sich selber. Da ist der Jude Nurjude.
Die Offenbarung, die ihm ward, die Erlösung, zu der er be-
rufen ist, sie sind beide ganz hineingeflossen in den engen
Raum zwischen ihm und seinem Volk.
Und wie Gott und Mensch, so wird auch die Welt dem
jüdischen Gefühl ganz heimisch=eng, sobald es sich aus dem
unruhigen Flackern seiner Flamme hin und her zwischen dieser
und der künftigen Welt in die Einheit eines weltlichen Daseins
retten möchte. Daß die Welt, diese Welt, geschaffen ist und
dennoch der künftigen Erlösung bedarf, die Unruhe dieses
Doppelgedankens stillt sich in der Einheit des Gesetzes. Das
Gesetz — denn als Welt angesehen ist es Gesetz und nicht
was es als Inhalt der Offenbarung und Forderung an den Ein-
zelnen ist: Gebot —, das Gesetz also in seiner alles ordnenden,
das ganze »äußere«, nämlich alles diesseitige Leben, alles, was
nur irgend ein weltliches Recht erfassen mag, erfassenden
Vielseitigkeit und Kraft macht diese Welt und die künftige un-
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT 509
unterscheidbar. Gott selbst »lernt« nach der rabbinischen
Legende im Gesetz. Im Gesetz ist eben alles Diesseitige, was
darin ergriffen wird, alles geschaffene Dasein, schon unmittel-
bar zum Inhalt der künftigen Welt belebt und beseelt. Daß das
Gesetz nur jüdisches Gesetz, daß diese fertige und erlöste Welt
nur eine jüdische Welt ist und daß der Gott, der im Weltregi-
mente sitzt, noch mehr zu tun hat als bloß im Gesetz zu
lernen, das vergißt dies jüdische Gefühl, ganz einerlei ob es
dabei das Gesetz im überlieferten Sinn" meint oder sich den
alten Begriff mit neuem Leben gefüllt hat. Denn auch in diesem
Fall nimmt es nur diese Welt für unfertig, das Gesetz aber,
das es sich ihr aufzulegen anschickt, auf daß sie aus dieser in
die künftige übergehe, für fertig und unveränderlich. Das
Gesetz steht dann, auch wenn es etwa höchst modern im Kleide
irgend einer zeitgemäßen Utopie kommt, in einem tiefen
Gegensatz zu jener christlichen Gesetzlosigkeit des Sichüber-
raschenlassenkönnens und -wollens, die noch den Politiker
gewordenen Christen von dem Utopist gewordenen Juden
unterscheidet und die diesem die größere Kraft des Aufrüt-
telns, jenem die größere Bereitschaft zum Erreichen verleiht.
Immer meint der Jude, daß es nur gelte, seine Gesetzeslehre
um und um zu wenden; so werde sich schon finden, daß »alles
darin« sei. Dem Heidentum, das die Wege der Christenheit
umgriffen, kehrt das Gesetz den Rücken; es weiß nichts davon
und will nichts davon wissen. Der Gedanke des Übergangs
aus dieser in die künftige Welt, der messianischen Zeit, der
über das Leben gehängt ist als ein ewig zu gewärtigendes
Heute, — hier verfestigt er sich und veralltäglicht sich zum
Gesetz, in dessen Befolgung, je vollkommener sie ist, der
Ernst jenes Übergangs zurücktritt. Denn grade das Wie des
Übergangs steht schon fest. Wie Gottes nach der Legende,
so mag sich nun auch das Leben des Frommen erschöpfen in
immer vollkommnerem »Lernen« des Gesetzes. Sein Gefühl
nimmt die ganze Welt, die zum Dasein geschaffne wie die zu
beseelende, die der Erlösung zuwächst, zusammen in eins und
füllt sie in den häuslich trauten Raum zwischen dem Gesetz
und seinem, des Gesetzes, Volk.
5io
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
So ist diesem Innersten des jüdischen Gefühls alles Zwie-
spältige, innerlich Allumfassende des jüdischen Lebens sehr
eng und einfach geworden. Zu einfach und zu eng, müßte
man sagen und müßte in dieser Enge ebensolche Gefahren
wittern wie in der christlichen Weitläufigkeit. Wurde dort
der Begriff Gottes bedroht, so scheint bei uns seine Welt
und sein Mensch in Gefahr. Das Christentum, indem es sich
nach außen verstrahlt, droht sich in einzelne Strahlen weitab
vom göttlichen Kern der Wahrheit zu verflüchtigen. Das
Judentum, indem es nach innen erglüht, droht seine Wärme
fernab von der heidnischen Weltwirklichkeit in den eignen
Schoß zu sammeln. Waren dort die Gefahren Gottvergeisti-
gung, Gottvermenschlichung, Gottverweltlichung, so jetzt hier
Weltverleugnung, Weltverachtung, Weitabtötung, Weltver-
leugnung war es, wenn der Jude in der Nähe seines Gottes im
Gefühl die Erlösung sich vorwegnahm und vergaß, daß Gott
Schöpfer war und Offenbarer und daß er als Schöpfer die
ganze Welt erhält, als Offenbarer letzthin doch dem Menschen
schlechtweg sein Antlitz zuwendet. Weltverachtung war es,
wenn der Jude sich als Rest und so als der wahre ursprüng-
lich gottebenbildlich geschaffene und in dieser ursprünglichen
Reinheit des Endes harrende Mensch fühlte und sich darüber
von dem Menschen zurückzog, dem grade in seiner gottver-
gessenen Härte die Offenbarung der göttlichen Liebe geschah
und der diese Liebe nun im schrankenlosen Werk der Erlösung
auswirken mußte. Weitabtötung endlich wars, wenn der Jude
im Besitz des ihm offenbarten und in seinem Geiste Fleisch und
Blut gewordenen Gesetzes nun das jeden Augenblick
erneuerte Dasein und das stille Wachstum der Dinge regeln,
ja auch nur beurteilen zu dürfen sich vermaß. Diese Gefahren
alle drei sind die notwendigen Folgen der weitabgekehrten
Innerlichkeit, wie jene Gefahren des Christentums die der
weltzugekehrten Selbstentäußerung. Es ist dem Juden not-
wendig, sich so zu verschalen. Die Verschalung ist der letzte
Schritt jener Erinnerung, jener Verwurzelung ins eigne Selbst,
aus der er sich die Kraft des ewigen Lebens schöpft, so wie
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
J2L
jene Verflüchtigung dem Christen die notwendige Folge seines
ungehemmten Schreitens und Ausschreitens auf dem ewigen
Weg ist.
Aber jene Verwurzelung ins eigne Selbst ist nun doch etwas
durchaus andres als die christliche Selbstentäußerung. Für die
einzelne Persönlichkeit zwar mag unsre Selbstverschalung die
schwerere Gefahr bedeuten; die christliche Persönlichkeit
wiederum braucht unter jenen Gefahren des Christentums
kaum zu leiden. In Wahrheit aber bedeuten uns unsre Gefahren
letzthin überhaupt keine Gefahr. Hier nämlich erweist sichs,
daß der Jude gar nicht in sein eignes Innere niedersteigen
kann, ohne daß er in diesem Niedersteigen ins Innerste zu-
gleich zum Höchsten aufstiege. Dies ist ja der tiefste Unter-
schied zwischen dem jüdischen und dem christlichen Men-
schen, daß der christliche von Haus aus oder mindestens von
Geburtswegen — Heide ist, der Jude aber Jude. So muß der
Weg des Christen ein Weg der Selbstentäußerung sein, er muß
immer von sich selber fort, sich selber aufgeben, um Christ zu
werden. Des Juden Leben hingegen darf ihn grade nicht aus
seinem Selbst herausführen; er muß sich immer tiefer in sich
hineinleben; je mehr er sich findet, um so mehr wendet er sich
ab von dem Heidentum, das er draußen hat und nicht wie der
Christ in seinem Inneren, — um so mehr also wird er jüdisch.
Denn zwar als Jude wird er geboren, aber die »Jüdischkeit«
ist etwas, was auch er sich erst erdeben muß. Ganz sichtbar
in Blick und Zügen wird das Jüdische erst im alten Juden. Sein
Typ ist für uns so sehr charakteristisch wie für die christlichen
Völker ihr Jünglingstyp. Denn den Christen entnationalisiert
das christliche Leben, den Juden führt das jüdische tiefer in
seine jüdische Art hinein.
Und eben indem der Jude so allein um seines Höchsten, um
Gottes willen, sich in sein Inneres hinein erdnnert, erweist es
sich nun, daß jene Gefahren ihm allenfalls als Einzelnem ge-
fährlich werden mögen, also daß er darin etwa hart oder stolz
oder starr werden kann, daß es aber keine Gefahren für das
211
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
Judentum sind. Denn jene drei an Gott, Mensch, Welt aus-
geübten Weisen der Abkehr vom Außen und Einkehr ins
Innen, daß er seinen Gott, seinen Menschen, seine Welt für
Gott, Mensch, Welt überhaupt einsetzt, jenes dreifache Auf-
glühen seines jüdischen Gefühls ist nun selber kein Letztes; es
bleibt nicht dabei. Es sind nicht, wie Gott, Welt, Mensch im
Heidentum, beziehungs- und ordnungslose drei Punkte, sondern
zwischen diesen drei letzten Elementen des Gefühls kreist ein
verbindender Strom, eine Bahn also, jener vergleichbar, in der
die Elemente des Heidentums eintraten in den Zusammenhang,
der von der Schöpfung über die Offenbarung zur Erlösung
führte; und in dieser Verbindung schließt sich nun das schein-
bar Nurjüdische dieses dreifachen Gefühls, das scheinbar Enge
und Ausschließende und Vereinzelte wieder zusammen zum
allerhellenden einen Sternbild der Wahrheit.
Vom »Gott unsrer Väter« zum »Gesetz« schlägt die jüdische
Mystik eine ganz eigene Brücke. An Stelle des allgemeinen
Schöpfungsbegriffs setzt sie den der geheimen Schöpfung, die,
wie es in Anspielung auf das Gesicht des Hesekiel heißt, »Ge-
schichte des Wagens«. Die geschaffne Welt ist da selber voll
geheimer Beziehungen aufs Gesetz, das Gesetz nichts was
dieser Welt fremd gegenübersteht, sondern nur der Schlüssel
zu jenen Rätseln der Welt; in seinem offnen Wortlaut ist ein
verborgner Sinn versteckt, der eben nichts ausspricht als das
Wesen der Welt; also daß das Buch des Gesetzes dem Juden
gewissermaßen das Buch der Natur oder etwa auch den ge-
stirnten Himmel, an dem die Menschen von einst das Irdische
in verständlichen Zeichen ablesen zu können meinten, ersetzen
kann. Das ist der Grundgedanke unzähliger Legenden, mit
denen sich das Judentum die scheinbar enge Welt seines
Gesetzes zur ganzen Welt erweitert und andrerseits in diese
Welt, eben weil es sie in seinem Gesetze vorgezeichnet findet,
schon die künftige hineinschaut. Alle Mittel der Auslegung
werden herangezogen, insbesondere natürlich das unbegrenzt
verwendungsfähige des Zahlenspiels und der Lesung der
Buchstaben nach ihrem Zahlwert. Wollte man Beispiele
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
111
geben, wo finge man an? Die siebzig Opfer des Hütten-
fests werden für die siebenzig »Völker der Welt« — soviel
zählt die Legende gemäß der Stammtafel der Genesis — dar-
gebracht. Die Zahl der Knochen des Menschenleibs wird mit
dem Zahlenwert einer Stelle des Gebetbuchs zusammen-
gestellt, so daß sich das Psalmwort erfüllt und alle Gebeine
den Ewigen loben. In den Worten, mit denen die Vollendung
der Schöpfung erzählt wird, verbirgt sich der offenbarte
Gottesname. Man käme an kein Ende, wollte man fortfahren.
Aber der Sinn dieser an sich dem ungewohnten Betrachter
sonderbar und selbst lächerlich erscheinenden Schrifterklärung
ist kein andrer als der, daß zwischen den jüdischen Gott und
das jüdische Gesetz die ganze Schöpfung eingeschaltet wird
und dadurch beide, Gott wie sein Gesetz, sich als so all-
umfassend erweisen — wie die Schöpfung.
Zwischen dem »Gott unsrer Väter« und dem »Rest Israels«
schlägt die Mystik ihre Brücke mit der Lehre von der
Schechina. Die Schechina, die Niederlassung Gottes auf den
Menschen und sein Wohnen unter ihnen, wird vorgestellt als
eine Scheidung, die in Gott selbst vorgeht. Gott selbst scheidet
sich von sich, er gibt sich weg an sein Volk, er leidet sein
Leiden mit, er zieht mit ihm in das Elend der Fremde, er
wandert mit seinen Wanderungen. Und wie in jenem Ge-
danken, daß die Thora vor der Welt und die Welt andrerseits
um der Thora willen geschaffen sei, das Gesetz für das
jüdische Gefühl mehr geworden war als bloß das jüdische
Gesetz und wirklich als ein Grundpfeiler der Welt empfunden
werden konnte, so daß auch die Vorstellung, Gott selbst lerne
sein Gesetz, nun einen überjüdisch allgemeinen Sinn gewann,
so kommt auch der Stolz des »Rests Israels« jetzt in der Vor-
stellung von der Schechina zu allgemeinerer Bedeutung. Denn
die Leiden dieses Rests, das ständige Sichscheiden und Sich-
ausscheidenmüssen, das alles wird jetzt zu einem Leiden um
Gottes willen, und der Rest ist der Träger dieses Leidens. Der
Gedanke der Irrfahrt der Schechina, des in die Welt Verstreut-
seins der Funken des göttlichen Urlichts, wirft zwischen den
21
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
jüdischen Gott und den jüdischen Menschen die ganze Offen-
barung und verankert dadurch beide, Gott wie den Rest, in
die ganze Tiefe der — Offenbarung. Was in der Mystik der
Schöpfung durch jene Vielbedeutsamkeit und Vieldeutsamkeit
des Gesetzes geschah, die Erweiterung des Jüdischen zum All-
gemeinen, das geschieht in dieser Mystik der Offenbarung
durch das tiefsinnige Verständnis, das in Gottes Selbsthingabe
an Israel ein göttliches Leiden, das eigentlich nicht sein dürfte,
ahnt und in Israels Selbstabscheidung zum Rest ein Wohnung*
werden für den verbannten Gott. Eben dieses göttliche Leiden
kennzeichnet das Verhältnis zwischen Gott und Israel als ein
enges, ein zu Geringes: Gott selbst, indem er sich — was wäre
denn natürlicher für den »Gott unsrer Väter«! — Israel »ver-
kauft« und sein Schicksal mitleidet, macht sich erlösungs-
bedürftig. Das Verhältnis zwischen Gott und dem Rest weist
so in diesem Leiden über sich selbst hinaus.
Die Erlösung aber — sie müßte nun geschehen in dem Ver-
hältnis des »Rests« zum »Gesetz«. Wie wird dies Verhältnis
gedacht? Was bedeutet dem Juden die Erfüllung des Gesetzes?
was denkt er sich dabei? weshalb erfüllt ers? Um des himm-
lischen Lohns willen? Seid nicht wie Knechte, die ihrem Herrn
um Lohnes willen dienen. Um der irdischen Befriedigung
willen? Sprich nicht: ich mag kein Schweinefleisch; sprich:
ich möchte es wohl, aber mein Vater im Himmel hat es mir
verboten. Sondern der jüdische Mensch erfüllt die unend-
lichen Bräuche und Vorschriften »zur Einigung des heiligen
Gottes und seiner Schechina«. Mit dieser Formel bereitet er
»in Ehrfurcht und Liebe« sein Herz, er der Einzelne, der Rest,
»im Namen ganz Israels«, das Gebot, das ihm grade obliegt,
zu erfüllen. Die in zahllose Funken in alle Welt zerstreute
Gottesherrlichkeit, er wird sie aus der Zerstreuung sammeln
und zu dem seiner Herrlichkeit Entkleideten dereinst wieder
heimführen. Jede seiner Taten, jede Erfüllung eines Gesetzes
vollbringt ein Stück dieser Einigung. Gottes Einheit bekennen
— der Jude nennt es: Gott einigen. Denn diese Einheit, sie ist
indem sie wird, sie ist Werden zur Einheit. Und dies Werden
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
21
ist auf die Seele und in die Hände des Menschen gelegt. Der
jüdische Mensch und das jüdische Gesetz — zwischen beiden
spielt sich da nicht weniger ab als der gott-, weit- und mensch-
umfassende Vorgang der Erlösung. In der Formel, mit der die
Erfüllung des Gebots eröffnet und zu einem Akt des Herbei-
führens der Erlösung gestempelt wird, klingen die einzelnen
Elemente, wie sie in dieses letzte Eine eingegangen sind, ein-
zeln noch einmal auf. Der »heilige Gott«, wie er das Gesetz
gegeben, die »Schechina«, die er aus sich an Israels Rest aus-
schied, die »Ehrfurcht«, mit der dieser Rest sich zur Wohn-
statt Gottes machte, die »Liebe«, mit der er sich daraufhin zur
Erfüllung des Gesetzes anschickte, er der Einzelne, das »Ich«,
das das Gesetz erfüllt, doch er »im Namen ganz Israels«, dem
das Gesetz gegeben und das durch das Gesetz geschaffen
ward. Alles Engste hat sich zum Ganzen, zum All erweitert,
nein besser: zur Einung des Einen erlöst. Der Niederstieg ins
Innerste enthüllte sich als ein Aufstieg zum Höchsten. Das
Nurjüdische des Gefühls verklärt sich zur welterlösenden
Wahrheit. In der innersten Enge des jüdischen Herzens
leuchtet der Stern der Erlösung.
Hier flammt der Stern. Das Letzte, das Innerste und
scheinbar Enge und Starre des Gefühls gerät in Fluß und fügt
sich zusammen zur welterleuchtenden Gestalt, die so wie sie,
in ihrer Zusammenfassung von Gott, Welt, Mensch durch
Schöpfung und Offenbarung hin zur Erlösung, den Gehalt des
Judentums ausdrückt, nun auch im Innersten der jüdischen
Seele noch aufleuchtet. Der Stern der Erlösung ist so Gleich-
nis des Wesens, er glüht aber auch noch im Allerheiligsten des
Gefühls. Das ist sehr anders hier als beim Christentum. Auch
dort zeichnet der Stern der Erlösung den Gehalt, das innere
Wesen, aus dem es als ein Wirkliches in die Welt der Wirk-
lichkeit hinausstrahlt. Aber diese Strahlen vereinen sich an
drei getrennten Punkten, wahrhaften Endpunkten, Zielpunkten
auch des Gefühls. Und diese Punkte sind untereinander nicht
mehr in Verbindung zu bringen. Die Mystik schlägt zwischen
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
5±
diesen äußersten Aussichten des Gefühls keine Brücken mehr.
Daß Gott Geist sei, steht unverbunden daneben, daß er alles
in allem sei, und unverbunden auch neben dem andern, daß
der Sohn, der der Weg ist, auch die Wahrheit sei. Der
Gedanke der Schöpfung vermittelt nicht zwischen der einen,
der der Offenbarung nicht zwischen der andern Unver-
bundenheit. Allenfalls in mythologischen Bildern, wie dem
Geist, der über den Wassern schwebt, und der Geistausgießung
in der Johannestaufe, stellt sich ein gewisser Zusammenhang
her, der aber Bild bleibt, nicht zur Einheit des Gefühls zu-
sammenfließt. Nur zwischen den beiden letzten Gedanken,
der Göttlichkeit des Sohns und der Verheißung, daß Gott Alles
in Allem sein wird, wölbt sich eine Brücke. Der Sohn, so
lehrt es der erste Theolog des neuen Glaubens, wird einst,
wenn ihm alles untergetan sein wird, seine Herrschaft dem
Vater übergeben, und dann wird Gott sein Alles in Allem. Aber
man sieht gleich: das ist ein Theologumen. Es ist für die christ-
liche Frömmigkeit bedeutungslos, es schildert eine entfernte,
weit entfernte Zukunft, es handelt von den letzten Dingen, in-
dem es ihnen ausdrücklich allen Einfluß auf die Zeit nimmt,
denn noch und in aller Zeit gehört die Herrschaft dem Sohn
und ist Gott nicht Alles in Allem; es schildert eine durchaus
jenseitige Ewigkeit. Und so hat dieser Satz in der Geschichte
der Christenheit auch nie mehr bedeutet als eben ein — Theo-
logumen, einen Gedanken. Brücke, auf der sich das Gefühl
vom einen zum andern Ufer hin und her bewegte, war er
nicht und konnte er nicht sein. Dazu waren die beiden Ufer
zu ungleich gestaltet, jenes zu sehr nur zeitlich, dieses zu sehr
nur ewig. Es war zwar ein Gedanke, daß der Menschensohn
einmal seine Herrschaft abgeben würde, aber das ändert
nichts daran, daß er in der Zeit vergöttert wurde. Es war
zwar ein Gedanke, daß Gott einmal Alles in Allem sein würde,
aber das ändert nichts daran, daß ihm auf das Etwas im Etwas
dieser Zeitlichkeit, wo sein Platzhalter Herr war, recht wenig
Einfluß verstattet wurde. Das Gefühl betrat den Brückenbogen
nicht. Es hielt sich hier wie überall an die einzelnen Punkte,
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
517
in die es seinen letzten Überschwang sammelte. Weiter als
bis zu diesen Ziel- und Sammelpunkten trug der Überschwang
nicht. Das Christentum hat spiritualistische, individualistische,
pantheistische Mystik hervorgebracht. Untereinander traten
diese drei in keine Verbindung. Das Gefühl kann sich in jeder
von ihnen befriedigen. Wie denn jeder von ihnen auch eine
eigne Gestalt der Kirche entspricht, deren keine durch die
beiden andern überflüssig wird. Das Gefühl kommt überall
ans Ziel. Und es darfs. Denn wo es so an sein Ziel kommt,
da ist ein Stück Vorwelt erneuert in Sterben und Auferstehn.
Gestorben der Mythos und auferstanden in der Anbetung im
Geist, gestorben der Heros und auferstanden im Wort vom
Kreuz, gestorben der Kosmos und auferstanden im ein und all-
gemeinen All des Reichs. Daß diese drei jedes in sich eine
Verflüchtigung der Wahrheit bedeuten, genauer: daß Gott Herr
der Geister ist, nicht Geist, Spender der Leiden und nicht
Gekreuzigter, Einer und nicht Alles in Allem, — wer möchte
solche Einwände einem Glauben entgegenwerfen, der siegreich
durch die Welt seinen Weg nimmt und dem die Götter der
Völker — völkischer Mythos, völkischer Heros, völkischer
Kosmos — nicht stand halten. Wer möchte es!
Und dennoch: der Jude tuts. Nicht mit Worten — was
wären hier in diesem Bezirk des Schauens noch Worte!
Aber mit seinem Dasein, seinem schweigenden Dasein. Dies
Dasein des Juden zwingt dem Christentum in alle Zeit den Ge-
danken auf, daß es nicht bis ans Ziel, nicht zur Wahrheit
kommt, sondern stets — auf dem Weg bleibt. Das ist der
tiefste Grund des christlichen Judenhasses, der das Erbe des
heidnischen angetreten hat. Er ist letzthin nur Selbsthaß, ge-
richtet auf den widerwärtigen stummen Mahner, der doch nur
durch sein Dasein mahnt, — Haß gegen die eigne Unvollkom-
menheit, gegen das eigene Nochnicht. Der Jude durch seine
innere Einheit, dadurch daß in der engsten Enge seiner Jüdisch-
keit doch noch der Stern der Erlösung brennt, beschämt, ohne
daß ers will, den Christen, den es hinaus und vorwärts treibt
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
518
bis zum völligen Verstrahlen des ursprünglichen Feuers in die
äußerste Ferne des Gefühls, eines Gefühls, das nichts mehr weiß
von einem Ganzen, darin es sich mit jeglichem andern Gefühl in
eins fände zu einer Wahrheit über allem Fühlen, sondern das in
sich selber schon selig ward. Das Äußerste des Christentums ist
diese völlige Verlorenheit in das einzelne Gefühl, diese Ver-
senkung seis in den göttlichen Geist, den göttlichen Menschen,
die göttliche Welt. Zwischen diesen Gefühlen kreist kein
Stromkreis der Tat mehr; sie stehen selber schon jenseits aller
Tat. Wohl ist jene Verflüchtigung des Gefühls nötig, ebenso
nötig wie seine Verengung im Juden. Aber diese findet ihre
Auflösung im jüdischen Leben selber, in dem welterlösenden
Sinn eines Lebens im Gesetz. Jene aber, die Verflüchtigung,
findet in keinem Leben mehr ihre Auflösung, weil sie selber
schon ein Äußerstes des Erlebens ist.
Hätte darum der Christ nicht in seinem Rücken den Juden
stehen, er würde sich, wo er wäre, verlieren. Gleich wie am
Juden die drei Kirchen, die ja nichts sind als die irdischen
Gehäuse jener drei letzten Gefühle, ihre Gemeinsamkeit
erleben, die sie ohne ihn höchstens wüßten, nicht fühlten. Der
Jude zwingt der Christenheit das Wissen auf, daß jene Befrie-
digung im Gefühl ihr noch versagt bleibt. Indem der Jude,
weil er sein Fleisch und Blut unter dem Joch des Gesetzes
heiligte, ständig in der Wirklichkeit des Himmelreichs lebt,
fernt der Christ, daß es ihm selber nicht erlaubt ist, die Erlö-
sung, gegen die sich sein stets unheiliges Fleisch und Blut zur
Wehr setzt, im Gefühl vorwegzunehmen. Indem der Jude um
den Verlust der unerlösten Welt sich den Besitz der Wahrheit
in seinem Vorvvegnehmen der Erlösung erkauft, straft er den
Christen Lügen, der sich auf seinem Eroberungszug in die
unerlöste Welt jeden Schritt vorwärts mit Wahn erkaufen
muß.
Dies Verhältnis, diese Notwendigkeit des Daseins — nichts
weiter als Daseins — des Judentums für ihr eignes Werden ist
auch der Christenheit selber wohl bewußt. Es waren immer
die verkappten Feinde des Christentums, von den Gnostikern
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT 519
an bis auf den heutigen Tag, die ihm sein »Altes Testament«
nehmen wollten. Ein Gott, der nur noch Geist, nicht mehr der
Schöpfer, der den Juden sein Gesetz gab, ein Christus, der nur
noch Christus, nicht mehr Jesus, und eine Welt, die nur
noch All, deren Mitte nicht mehr das Heilige Land wäre,
— sie würden zwar der Vergottung und Vergötterung nicht
mehr den mindesten Widerstand entgegensetzen, aber es wäre
auch nichts mehr in ihnen, was die Seele aus dem Traum
dieser Vergottung zurück ins unerlöste Leben riefe; sie verlöre
sich nicht nur, nein sie bliebe verloren. Und diesen Dienst
erwiese dem Christentum nicht das bloße Buch, oder vielmehr:
diesen Dienst erweist ihm das bloße Buch nur, weil es kein
bloßes Buch ist, sondern weil sein Mehrsein lebendig bezeugt
wird durch unser Leben. Der geschichtliche Jesus muß dem
idealen Christus allzeit den Sockel unter den Füßen wegziehen,
auf den ihn seine philosophischen oder nationalistischen Ver-
ehrer gern stellen möchten, denn eine »Idee« vereint sich
schließlich mit jeder Weisheit und jedem Eigendünkel und leiht
ihnen ihren eignen Heiligenschein. Aber der historische
Christus, eben Jesus der Christ im Sinne des Dogmas, steht
nicht auf einem Sockel, er wandelt wirklich auf dem Markt des
Lebens und zwingt das Leben, seinem Blick stille zu halten.
Genau so ists mit dem »geistigen« Gott, an den alle die leicht
und gern glauben mögen, die sich scheuen, an den zu glauben,
»der die Welt geschaffen hat und sie beherrscht«. Jener geistige
Gott ist in seiner Geistigkeit ein sehr angenehmer Partner, der
uns die Welt, die ja nicht »rein geistig« und also nicht von ihm
und darum dann doch wohl vom Teufel ist, zu freiester Ver-
fügung überläßt. Und diese Welt selber — wie gern möchte
man sie als All betrachten und so sich selber statt als ihren
verantwortlichen Mittelpunkt, um den sich alles dreht, und den
Pfeiler, auf dessen Festigkeit sie ruht, sich lieber fühlen als
das herrlich verantwortungslose »Stäubchen im All«.
Es ist allemal das Gleiche. Und wie denn jener allzeit
aktuelle Kampf der Gnostiker zeigt, ist es das Alte Testament,
das dem Christentum den Widerstand gegen diese seine eigne
520
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
Gefahr ermöglicht. Und das Alte Testament nur, weil es mehr
als bloß Buch ist. Das bloße Buch würden die Künste alle-
gorischer Deutung leicht klein kriegen. So gut wie Christus
die Idee des Menschen, so gut würden die Juden des Alten
Testaments, wären sie ebenso von der Erde verschwunden
wie Christus, die Idee des Volks, Zion die Idee des Weltmittel-
punkts bedeuten. Aber solcher »Idealisierung« widersetzt sich
die handfeste, nicht zu leugnende, ja eben im Judenhaß be-
zeugte Lebendigkeit des jüdischen Volks. Ob Christus mehr
ist als eine Idee — kein Christ kann es wissen. Aber daß
Israel mehr ist als eine Idee, das weiß er, das sieht er. Denn
wir leben. Wir sind ewig, nicht wie eine Idee ewig sein mag,
sondern wir sind es, wenn wirs sind, in voller Wirklichkeit.
Und so sind wir dem Christen das eigentlich Unbezweifel-
bare. Der Pfarrer argumentierte schlüssig, der dem großen
Friedrich, gefragt nach dem Beweis des Christentums,
erwiderte: »Majestät, die Juden«. An uns können die Christen
nicht zweifeln. Unser Dasein verbürgt ihnen ihre Wahrheit.
Darum ist es vom christlichen Standpunkt aus nur folgerecht,
wenn Paulus die Juden bleiben läßt bis zum Ende, — bis »die
Fülle der Völker eingegangen ist«, eben bis zu jenem Augen-
blick, wo der Sohn die Herrschaft dem Vater zurückgibt. Das
Theologumen aus der Urzeit christlicher Theologie spricht aus,
was wir hier erklärten: daß das Judentum in seinem ewigen
Fortleben durch alle Zeit, das Judentum, das im »alten« Testa-
ment bezeugt wird und selber von ihm lebendig zeugt, der Eine
Kern ist, von dessen Glut die Strahlen unsichtbar genährt
werden, die im Christentum sichtbar und vielgespalten in die
Nacht der heidnischen Vor- und Unterwelt brechen.
Vor Gott sind so die beiden, Jude und Christ, Arbeiter am
gleichen Werk. Er kann keinen entbehren. Zwischen beiden
hat er in aller Zeit Feindschaft gesetzt und doch hat er sie aufs
engste wechselseitig aneinander gebunden. Uns gab er ewiges
Leben, indem er uns das Feuer des Sterns seiner Wahrheit in
unserm Heizen entzündete. Jene stellte er auf den ewigen
Weg, indem er sie den Strahlen jenes Sterns seiner Wahrheit
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
ZI
nacheilen machte in alle Zeit bis hin zum ewigen Ende. Wir
schauen so in unserm Herzen das treue Gleichnis der Wahr-
heit, doch wenden wir uns dafür vom zeitlichen Leben ab und
das Leben der Zeit sich von uns. Jene hingegen laufen dem
Strom der Zeit nach, aber sie haben die Wahrheit nur im
Rücken; sie werden wohl von ihr geleitet, denn sie folgen
ihren Strahlen, aber sie sehen sie nicht mit Augen. Die Wahr-
heit, die ganze Wahrheit, gehört so weder ihnen noch uns.
Denn auch wir tragen sie zwar in uns, aber wir müssen des-
wegen auch den Blick erst in unser eignes Innre versenken,
wenn wir sie sehen wollen, und da sehen wir wohl den Stern,
aber nicht — die Strahlen. Und zur ganzen Wahrheit würde
gehören, daß man nicht bloß ihr Licht sähe, sondern auch, was
von ihr erleuchtet wird. Jene aber sind ohnehin schon in alle
Zeit bestimmt, Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht.
Und so haben wir beide an der ganzen Wahrheit nur teil.
Wir wissen aber, daß es das Wesen der Wahrheit ist, zu teil
zu sein, und daß eine Wahrheit, die niemandes Teil ist, keine
Wahrheit wäre; auch die »ganze« Wahrheit ist Wahrheit nur,
weil sie Gottes Teil ist. So tut es weder der Wahrheit Ab-
bruch noch auch uns, daß sie uns nur zuteil wird. Unmittel-
bare Schau der ganzen Wahrheit wird nur dem, der sie in
Gott schaut. Das aber ist ein Schauen jenseits des Lebens,
Lebendiges Schauen der Wahrheit, ein Schauen, das zugleich
Leben ist, wächst auch uns nur aus der Versenkung in unser
eignes jüdisches Herz und auch da nur im Gleichnis und Ab-
bild. Und jenen ist um des lebendigen Wirkens der Wahrheit
willen das lebendige Schauen überhaupt versagt. So sind wir
beide, jene wie wir und wir wie jene, Geschöpfe grade um des-
sentwillen, daß wir nicht die ganze Wahrheit schauen. Grade
dadurch bleiben wir in den Grenzen der Sterblichkeit. Grade da-
durch — bleiben wir. Und wir wollen ja bleiben. Wir wollen ja
leben. Gott tut uns, was wir wollen, solange wir es wollen. So-
lange wir am Leben hängen, gibt er uns das Leben. Er gibt uns
von der Wahrheit nur, soviel wir als lebendige Geschöpfe tragen
können, nämlich unsren Anteil. Gäbe er uns mehr, gäbe er
522
DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
uns seinen Anteil, die ganze Wahrheit, so hübe er uns aus den
Grenzen der Menschheit heraus. Aber eben solange er das
nicht tut, solange tragen wir auch kein Verlangen danach. Wir
hängen an unsrer Geschöpflichkeit. Wir lassen sie nicht gerne.
Und unsre Geschöpflichkeit ist bedingt dadurch, daß wir nur
Teil haben, nur Teil sind. Den letzten Triumph über den Tod
hatte das Leben gefeiert in dem Wahrlich, mit dem es die
eigne empfangene zuteilgewordene Wahrheit als seinen Anteil
an der ewigen bewährt. In diesem Wahrlich klammert sich
das Geschöpf an seinen Anteil, der ihm zuteil ward. In diesem
Wahrlich ist es Geschöpf. Dies Wahrlich geht als ein stummes
Geheimnis durch die ganze Kette der Wesen; im Menschen
gewinnt es Sprache. Und im Stern glüht es auf zu sichtbarem,
selbstleuchtendem Dasein. Aber immer bleibt es in den Gren-
zen der Geschöpflichkeit. Noch die Wahrheit selber spricht
Wahrlich, wenn sie vor Gott tritt. Aber Gott selbst spricht
nicht mehr Wahrlich. Er ist jenseits von allem, was Teil wer-
den mag, er ist noch über dem Ganzen, das bei ihm ja auch
nur Teil ist; noch über dem Ganzen ist er der Eine.
Wenn aber also das Wahrlich und selbst das höchste
Wahrlich, das gemeinsam im Chor angesichts des
Sterns der Erlösung gesprochne Ja und Amen der zu ewigem
Leben und auf ewigem Weg Erlösten, noch das Zeichen der
Geschöpflichkeit ist und also das Reich der Natur nicht endet,
auch nicht in der gestaltgewordenen Ewigkeit der erlösten
Überwelt, so sinkt das Ende in den Anfang zurück. Daß Gott
schuf, dies vorbedeutungsschwere erste Wort der Schrift ver-
liert seine Kraft nicht, bis alles erfüllt ist. Nicht vorher ruft
Gott dies erste Wort, das von ihm ausging, wieder in seinen
Schoß zurück. Schon sahen wir die ewige Wahrheit zurück-
sinken in die Offenbarung der göttlichen Liebe: die Erlösung
war in allem nichts als die ewige Auswirkung des in der offen-
barenden Liebe allzeit neu gesetzten Anfangs. In der Liebe
war das Verborgene zum Offenbaren worden. Nun sinkt
dieser allzeit erneuerte Anfang zurück in den geheimen immer-
DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
523
währenden Anfang der Schöpfung. Das Offenbare wird zum
Verborgenen. Und mit der Offenbarung mündet so auch die Er-
lösung nun zurück in die Schöpfung. Die letzte Wahrheit ist
selber nur — geschaffene Wahrheit. Gott ist wahrhaftig der
Herr. Als solcher offenbarte er sich in der Macht seines
Schöpfertums. Wenn wir ihn im Licht der ewigen Wahrheit
so anrufen — es ist der Schöpfer von Anfang, der Rufer des
ersten »Werde Licht«, den wir da anrufen. Die Mitternacht,
die hinter dem Dasein der Schöpfung unsern geblendeten
Augen in ewiger Sternenklarheit aufschimmert, es ist die
gleiche, die vor allem Dasein in Gottes Busen nachtete. Er
ist wahrhaftig der Erste und der Letzte. Ehe denn Berge ge-
boren wurden und die Erde sich wand in Wehen — von Ewig-
keit in Ewigkeit warst du Gott. Und warst von Ewigkeit, was
du in Ewigkeit sein wirst: Wahrheit.
TOR
DAS Ewige war Gestalt worden in der Wahrheit. Und
die Wahrheit ist nichts andres als das Antlitz dieser
Gestalt. Die Wahrheit allein ist ihr Antlitz. Und hütet
euch sehr um eurer Seele willen: Gestalt habt ihr keine ge-
sehn, Sprache allein vernähmet ihr, — so heißt es in der Mit-
und Umwelt der Offenbarung. Aber in der Nach- und Ober-
welt, der erlösten, die der zur rechten Zeit und am rechten
Ort gesprochene Segen, höherer Kräfte voll, herbeizwingt,
schweigt das Wort. Von ihr der vollendet=befriedeten heißt es:
Er lasse dir leuchten sein Antlitz.
Dies Leuchten des göttlichen Angesichts allein ist die
Wahrheit. Sie ist keine für sich frei schwebende Gestalt, son-
dern allein das aufleuchtende Antlitz Gottes. Wem er aber sein
Angesicht leuchten läßt, dem wendet er es auch zu. Wie er
uns sein Angesicht zuwendet, so mögen wir ihn erkennen.
Und dies Erkennen erkennt nicht uneigentlich. Sondern es er-
kennt die Wahrheit, wie sie ist, nämlich wie sie in Gott ist:
als sein Antlitz und Teil. Sie wird nicht etwa zur uneigent-
lichen Wahrheit, dadurch daß dies Antlitz uns zugewandt,
Gottes Teil uns zuteil wird; denn auch als eigentliche und
eigentlichste Wahrheit wäre sie nichts andres als — Teil und
Antlitz. Im Stern der Erlösung, in dem wir die göttliche Wahr-
heit Gestalt werden sahen, leuchtet so nichts andres auf als
das Antlitz, das Gott uns leuchtend zuwandte. Ja den Stern
der Erlösung selber, wie er uns nun endlich als Gestalt auf-
ging, werden wir nun wiedererkennen im göttlichen Ange-
sicht. Und erst in dieser Wiedererkenntnis vollendet sich seine
Erkenntnis.
Denn solange wir nur seine Bahn kannten, ohne schon
seine Gestalt zu schauen, solange war die Ordnung der ur-
TOR
22
spriinglichen Elemente noch nicht fest. Wohl zwar sank längst
kraftlos dahin das unbeschränkt hin und her flatternde Viel-
leicht; Qott Welt Mensch hatten sich untereinander zur siche-
ren Ordnung gefügt; in der Bahn kam ihnen ihre Ordnung;
durch die Folge der drei Stunden des Gottestags ward den
Elementen des All ihr unverrückbares Verhältnis zueinander
gewiesen; so ward die Bahn als die Bahn des Gestirns er-
kannt, dem jene Bahnelemente angehörten. Aber indem so der
Stern erblickt wurde, schien er sich noch um sich selber
drehen zu können, also daß innerhalb des schon fest gewor-
denen Ablaufs der drei Zeiten des Gottestags nun dennoch
Welt und Mensch ihren eigenen Tag zu erleben schienen, der
mit jenem nicht einfach zusammenfiel. Nur für Gott war die
Erlösung wirklich das Letzte. Aber für den Menschen be-
deutete schon seine gottebenbildliche Schöpfung, für die Welt
schon der Niederstieg Gottes in der Offenbarung das Erlöst-
sein zu aller nur möglichen Vollendung. Es schienen da die
drei Stunden also nur Stunden des Gottestags zu sein, der
Tag des Menschen und der Tag der Welt wäre ein andrer.
Es war die ganze Aufgabe des dritten Teils, der vom
Ewigen der erlösten Oberwelt handelte, zu zeigen, daß es
nicht so ist. Jene scheinbare Vertauschungsmöglichkeit ward
hier selbst in Gestalten festgebannt, die ihren festen Platz in
der ewigen Wahrheit des Gottestags angewiesen bekamen.
Im ewigen Leben war allerdings der Welt die Erlösung schon
in der Offenbarung, in der ja alles drin ist, vorweggenommen;
in der Offenbarung an das eine Volk war ewiges Leben ge-
pflanzt, es selber verändert sich nicht mehr; jenes ewige
Leben wird dereinst in der Frucht der Erlösung wiederkehren,
so wie es einst gepflanzt war; so wird hier in die Welt, die
sichtbare Welt, wirklich schon ein Stück Erlösung hinein-
gestellt, und es wird wahr, daß von der Welt aus gesehen die
Offenbarung eigentlich schon die Erlösung sei. Und andrer-
seits wird im ewigen Weg wirklich wieder bei der anerschaf-
fenen Gottebenbildlichkeit des Menschen begonnen; die Er-
lösung geschieht hier durch den neuen Adam, den sündlosen.
nicht gefallenen, und ist in ihm schon da; so wird hier der'
Mensch, 'der beseelte Mensch, indem er sich diese mit der
wunderbaren Geburt des zweiten Adam erneuerte gotteben-
bildliche Geschaffenheit aneignet, schon Erbe der Erlösung,
einer Erlöstheit, die ihm von uran, von der Schöpfung her
eignet und nur der Aneignung harrt; also daß es wahr wird,
daß vom Menschen her eigentlich schon die Schöpfung die Er-
lösung sei.
Und so fügen sich hier auch aufs genaueste die Verhält-
nisse der Zeiten. Denn der Mensch ward in der Offenbarung
zum Menschen geschaffen, und in der Erlösung mochte und
mußte er sich offenbaren. Und dies einfache und natürliche
Zeitverhältnis, worin das Geschaffenwerden dem Sichoffen-
baren voranging, begründet nun den ganzen Verlauf des
ewigen Wegs durch die Welt, die eigene Zeitrechnung, das
Bewußtsein, das sich in jeder Gegenwart zwischen Vergangen-
heit und Zukunft und auf dem Weg aus jener in diese findet.
Hingegen die eigentümliche, uns schon mehrmals aufgefallene
Verkehrung der Zeitfolge für die Welt erhält jetzt ihre an-
schauliche Bestätigung. Der Welt geschieht ja in ihrer Schöp-
fung das Erlebnis des Erwachens zum eignen offenbaren Be-
wußtsein ihrer selbst, nämlich zum Bewußtsein der Kreatur,
und in der Erlösung erst wird sie eigentlich geschaffen, erst
da gewinnt sie jene feste Dauerhaftigkeit, jenes beständige
Leben statt des augenblicksgeborenen immer neuen Daseins.
Diese Verkehrung der Zeitfolge, wo also für die Welt das Er-
wachen dem Sein vorhergeht, begründet das Leben des ewigen
Volks. Sein ewiges Leben nämlich nimmt ständig das Ende
vorweg und macht es so zum Anfang. In dieser Umkehrung
verleugnet es die Zeit so entschieden wie nur möglich und
stellt sich aus ihr heraus. In der Zeit leben heißt zwischen An-
fang und Ende leben. Wer außerhalb der Zeit leben wollte —
und das muß, wer in der Zeit-nicht das zeitliche, sondern ein
ewiges Leben leben will — wer also das will, der muß jenes
»zwischen« verleugnen. Ein solches Verleugnen aber müßte
tätig sein, damit nicht bloß ein Nicht-imder*Zeit=Leben heraus-
TOR
ZZ
käme, sondern ein positives Ewig=Leben. Und die tätige Ver-
leugnung geschähe einzig in der Umkehr. Ein Zwischen um-
kehren heißt sein Hernach zum Zuvor, sein Zuvor zum Her-
nach, das Ende zum Anfang, den Anfang zum Ende machen.
Und das tut das ewige Volk. Es lebt für sich schon so, als ob
es alle Welt und die Welt fertig wäre; es feiert in seinen
Sabbaten die sabbatliche Vollendung der Welt und macht sie
zur Grundlage und zum Ausgangspunkt seines Daseins. Was
aber zeitlich nur Ausgangspunkt wäre, das Gesetz, das setzt
es sich zum Ziel. So erlebt es das Zwischen nicht, obwohl es
doch natürlich, wirklich natürlich, darin lebt. Es erlebt grade
die Umkehrung des Zwischen, und also leugnet es die Allmacht
des Zwischen und verleugnet so die Zeit, dieselbe Zeit, die
auf dem ewigen Weg erlebt wird.
So verfestigen sich also unter den Zeichen des ewigen
Lebens und des ewigen Wegs die beiden »Ansichten« aus dem
»Gesichtspunkt« der Welt oder des Menschen zu selber sicht-
baren Gestalten und treten unter das eine Zeichen der ewigen
Wahrheit. Und damit vereinfacht sich nun die Frage, welche
Ordnung der drei Stunden für die ewige Wahrheit selber er-
fordert wird. Denn da die ewige Wahrheit erkannt wurde als
die Wahrheit, die am Ende sein wird und von Gott am An-
fang urspringt, so zeigt sichs, daß nur die Ordnung, wie sie
sich von Gott aus darstellt und in der die Erlösung wirklich
das Letzte ist, der letzten Wahrheit gerecht wird. Und eben in
dieser Ordnung von Gott aus finden selbst die scheinbar neben
ihr immerhin noch möglichen Ordnungen von der Welt oder
vom Menschen aus ihre Wohnstatt, wo sie als notwendige und
sichtbare Gestalten unter der Herrschaft der ewigen Wahrheit
sicher hausen und ihr Wahrlich sagen dürfen. Jene ewigen
Götter des Heidentums, in denen es fortleben wird bis zum
ewigen Ende, der Staat und die Kunst, jener das Götzenbild
der Sachlichen, diese das der Persönlichen, werden da von
dem wahren Gott in Ketten geschlagen. Mag doch der Staat
für die Welt den obersten Platz im All beanspruchen und die
Kunst für den Menschen, und mag jener den Strom der Zeit
an den Epochen der Weltgeschichte aufzustauen, diese ihn in
das unendliche Kanalsystem der Erlebnisse abzuleiten suchen
— mögen sie doch! der im Himmel sitzt, spottet ihrer; er hält
ihrer schon einander widerstreitenden Geschäftigkeit das stille
Wirken der geschaffenen Natur entgegen, in deren Wahrheit
die vergötterte Welt begrenzt und gestaltet ist zu ewigem
Leben, der vergötterte Mensch gebeugt und entboten
zu ewigem Weg, und also beide, Welt und Mensch,
gemeinsam Gottes Herrschaft untergetan sind. Denn
selbst der Kampf um die Zeit, in dem sich Staat und
Kunst gegenseitig aufreiben müßten, weil der Staat ihren
Fluß bannen, die Kunst in ihm treiben will, selbst dieser
Kampf ist in der gottbeherrschten Natur geschlichtet; in der
Ewigkeit des Lebens und der Ewigkeit des Wegs finden Welt
und Mensch nebeneinander Platz; da sind sie vergöttlicht,
ohne daß sie vergöttert würden.
Erst vor der Wahrheit also sinkt der Taumel allen Heiden-
tums in sich zusammen. Seinem trunken blinden Sich- und
Nursichsehenwollen, wie es im ewigen Kampf von Staat und
Kunst aufgipfelt, tritt die überlegen ruhige Macht der göttlichen
Wahrheit entgegen. Sie, weil sie alles als eine einzige große
Natur zu ihren Füßen liegen hat, mag einem jeden seinen An-
teil zuweisen und so das All ordnen. Solange Staat und
Kunst sich beide, jedes sich, für allmächtig halten dürfen,
solange nehmen sie auch jedes, und mit Recht, die ganze
Natur für sich in Anspruch. Sie kennen beide die Natur nur
als ihren »Stoff«. Erst die Wahrheit konnte, indem sie den
Staat wie die Kunst, jenen am ewigen Leben, diese am ewigen
Weg, begrenzte, die Natur von dieser doppelten Sklaverei be-
freien und sie wieder zur einen machen, in der nun Staat und
Kunst sich ihren Anteil nehmen mögen, doch nicht mehr. Und
die Wahrheit — von wo sonst zöge sie ihre das All der Natur
tragende Pfeilerkraft als von dem Gott, der sich in ihr und nur
in ihr Gestalt gibt. Es gilt letzthin vor dem Blick der Wahr-
heit nicht bloß kein Vielleicht — das entschwand längst —,
sondern auch kein Möglich mehr. Der Stern der Erlösung, in
dem die Wahrheit Gestalt gewinnt, kreist nicht. Was oben
steht, steht oben und bleibt oben stehn. Standpunkte, Welt-
und Lebensanschauungen, Ismen jeglicher Art — das wagt sich
alles unter diesem letzten einfachen Blick der Wahrheit nicht
mehr hervor. Die Standpunkte versinken vor der einen be-
ständigen Schau. Welt- und Lebensanschauungen vergehen
in die eine Anschauung Gottes. Die Ismen verziehen sich vor
dem aufgehenden Gestirn der Erlösung, die, einerlei ob man
an sie glaubt oder nicht, jedenfalls als eine Tatsache gemeint
ist und kein Ismus. Es gibt also ein Oben und Unten, unver-
tauschbar, unverdrehbar. Auch der Erkennende darf nicht
Wenn sagen. Auch ihn beherrscht das So, das So=und=nicht=
anders. Und eben deswegen, weil es in der Wahrheit Oben
und Unten gibt, deshalb dürfen nicht bloß, sondern müssen
wir sie das Antlitz Gottes heißen. Wir sprechen in Bildern.
Aber die Bilder sind nicht willkürlich. Es gibt notwendige und
zufällige Bilder. Die Unverkehrbarkeit der Wahrheit läßt sich
nur in dem Bilde eines Lebendigen aussprechen. Denn im
Lebendigen allein ist schon von Natur und vor aller Setzung
und Satzung ein Oben und Unten ausgezeichnet. Und im
Lebendigen wieder dort, wo ein Selbstbewußtsein dieses Aus-
zeichnens wach ist: im Menschen. Der Mensch hat oben und
unten an seiner eignen Leiblichkeit. Und wie die Wahrheit,
die sich im Stern Gestalt gibt, innerhalb des Sterns als ganze
Wahrheit wiederum zu Gott und nicht zur Welt oder zum
Menschen zugeordnet ist, so muß sich auch der Stern noch
einmal spiegeln in dem, was innerhalb der Leiblichkeit wieder
das Obere ist: das Antlitz. Es ist deshalb kein Menschen-
wahn, wenn die Schrift von Gottes Antlitz und selbst seinen
einzelnen Teilen redet. Die Wahrheit läßt sich gar nicht
anders aussprechen. Erst indem wir den Stern als Antlitz
schauen, sind wir ganz über alle Möglichkeit von Möglichkeiten,
hinweg und schauen einfach.
Gleich wie der Stern in den zwei übereinandergelegten
Dreiecken seine Elemente und die Zusammenfassung der Ele-
mente zur einen Bahn spiegelt, so verteilen sich auch die
Organe des Antlitzes in zwei Schichten. Denn die Lebens-
punkte des Antlitzes sind ja die, wo es mit der Umwelt in Ver-
bindung tritt, seis in empfangende, seis in wirkende. Nach
den aufnehmenden Organen ist die Qrundschicht geordnet, die
Bausteine gewissermaßen, aus denen sich das Gesicht, die
Maske, zusammensetzt: Stirn und Wangen. Den Wangen ge-
hören die Ohren, der Stirn die Nase zu. Ohren und Nase sind
die Organe des reinen Aufnehmens. Die Nase gehört zur
Stirn, sie tritt in der heiligen Sprache gradezu für das Gesicht
im ganzen ein. Der Duft der Opfer wendet sich an sie wie das
Regen der Lippen an die Ohren. Über dieses erste elementare
Dreieck, wie es gebildet wird von dem Mittelpunkt der Stirn
als dem beherrschenden Punkt des ganzen Gesichts und den
Mittelpunkten der Wangen, legt sich nun ein zweites Dreieck,
das sich aus den Organen zusammenfügt, deren Spiel die
starre Maske des ersten belebt: Augen und Mund. Die Augen
sind unter sich nicht etwa mimisch gleichwertig, sondern wäh-
rend das linke mehr empfänglich und gleichmäßig schaut,
blickt das rechte scharf auf einen Punkt eingestellt; nur das
rechte »blitzt«, — eine Arbeitsteilung, die ihre Spuren schließ-
lich bei Greisenköpfen häufig auch in die weiche Umgebung
der Augenhöhle eingräbt, so daß dann jene ungleichmäßige
Gesichtsbildung auch von vorn wahrnehmbar wird, die sonst
allgemein nur an der bekannten Verschiedenheit der beiden
Profile auffällt. Wie von der Stirn der Bau des Gesichts be-
herrscht wird, so sammelt endlich sein Leben, alles was um
die Augen zieht und aus den Augen strahlt, sich im Mund. Der
Mund ist der Vollender und Vollbringer allen Ausdrucks, dessen
das Antlitz fähig ist, so in der Rede wie zuletzt im Schweigen,
hinter dem die Rede zurücksank: im Kuß. Die Augen sinds,
in denen das ewige Antlitz dem Menschen leuchtet, der Mund,
von dessen Worten der Mensch lebt; aber unserm Lehrer
Mose, der das Land der Sehnsucht lebend nur schauen, nicht
betreten durfte, versiegelte er dies abgeschlossene Leben mit
einem Kusse seines Mundes. So siegelt Gott und so siegelt der
Mensch auch.
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Im innersten Heiligtum der göttlichen Wahrheit, wo ihm
seiner Erwartung nach alle Welt und er selber sich zum
Gleichnis herabsinken müßte für das, was er dort erblicken
wird, erblickt so der Mensch nichts andres als ein Antlitz gleich
dem eigenen. Der Stern der Erlösung ist Antlitz worden, das
auf mich blickt und aus dem ich blicke. Nicht Gott, aber Gottes
Wahrheit ward mir zum Spiegel. Gott, der der Letzte ist und
der Erste, er schloß mir die Pforten des Heiligtums auf, das in
der innersten Mitte erbaut ist. Er ließ sich schauen. Er führte
mich an jene Grenze des Lebens, wo die Schau verstattet ist.
Denn kein Mensch bleibt im Leben, der ihn schaut So mußte
jenes Heiligtum, darin er mir sich zu schauen verstattete, in
der Welt selber ein Stück Überwelt, ein Leben jenseits des
Lebens sein. Aber was er mir in diesem Jenseits des Lebens
zu schauen gab, das ist — nichts andres als was ich schon in
der Mitte des Lebens vernehmen durfte; nur daß ich es schaue,
nicht mehr bloß höre, ist der Unterschied. Denn die Schau
auf der Höhe der erlösten Überwelt zeigt mir nichts andres,
als was mich schon das Wort der Offenbarung mitten im
Leben hieß; und im Lichte des göttlichen Antlitzes zu wan-
deln, wird nur dem, der den Worten des göttlichen Mundes
folgt. Denn — »er hat dir gesagt, o Mensch, was gut ist, und
was verlangt der Ewige dein Gott von dir als Recht tun und
von Herzen gut sein und einfältig wandeln mit deinem Gott«.
Und dies Letzte ist nichts Letztes, sondern ein allzeit Nahes,
das Nächste; nicht das Letzte also, sondern das Erste. Wie
schwer ist solch Erstes! Wie schwer ist aller Anfang! Recht
tun und von Herzen gut sein — das sieht noch aus wie Ziel.
Vor jedem Ziel kann der Wille noch erst ein wenig ver-
schnaufen zu müssen behaupten. Aber einfältig wandeln mit
deinem Gott — das ist kein Ziel mehr, das ist so unbedingt, so
frei von jeder Bedingung, von jedem Erstnoch und Über-
morgen, so ganz Heute und also ganz ewig wie Leben
und Weg, und darum so unmittelbar der ewigen Wahr-
heit teilhaft wie Leben und Weg. Einfältig wandeln mit
deinem Gott — nichts weiter wird da gefordert als ein ganz
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gegenwärtiges Vertrauen. Aber Vertrauen ist ein großes
Wort. Es ist der Same, daraus Glaube, Hoffnung und Liebe
wachsen, und die Frucht, die aus ihnen reift. Es ist das Aller-
einfachste und grade darum das Schwerste. Es wagt jeden
Augenblick zur Wahrheit Wahrlich zu sagen. Einfältig wandeln
mit deinem Gott — die Worte stehen über dem Tor,
dem Tor, das aus dem geheimnisvolbwunderbaren
Leuchten des göttlichen Heiligtums, darin
kein Mensch leben bleiben kann, her-
ausführt. Wohinaus aber öffnen
sich die Flügel des Tors?
Du weißt es nicht?
INS LEBEN.
Bildung und kein Ende
von
FRANZ ROSENZWEIG
Wünsche zum jüdischen Bildungsproblem
des Augenblicks,
insbesondere zur Volkshochschulfrage
Preis M. 2.50
Aus einer Besprechung:
Schon einmal hat Franz Rosenzweig einen Weckruf an
die deutschen Juden gerichtet mit seiner Schrift „Zeit ist’s“.
Die neue Schrift ist wiederum der Ausdruck eines reinen
lauteren Menschentums, das sich Gehör erzwingt, auch wo
man ihm nicht zustimmt. M. Calvary, „Der Jude“, Mai 1920
Judentum und Zionismus
von
EDUARD STRAUSS
Preis M. 2.70
.........auf den 40 Seiten dieses Heftchens steht Wesent-
licheres als das Meiste dessen ist, was in nunmehr jahre-
langen Diskussionen zwischen Zionisten und Antizionisten
zutage gefördert worden ist. Eine Auseinandersetzung mit
Strauss wird daher zur unabweislichen Pflicht der jüdischen
Presse und und vor allem für den deutschen Zionismus.
Klötzel, „Neue Jüdische Monatshefteu, August 1919
J. KAUFFMANN, VERLAG,
FRANKFURT A. M., SCHILLERSTRASSE 19.
Judentum
und Christentum
von
Rabbiner Dr. MAX DIENEMANN
Zweite Auflage Preis M. 3.75,
Mit großer Freude begrüßen wir die zweite Auflage des
Dienemann’schen Buches, das der Verlag in würdiger Aus-
stattung herausgebracht hat. Es kommt einem unleugbaren
Bedürfnis entgegen, das in den Zeitereignissen und in der
Zeitstimmung begründet ist. Überaus wohltuend berührt es,
daß jede Angriffstendenz sorgfältig vermieden und das um-
fangreiche Material mit weiser Bedachtsamkeit ausgewählt wird.
So gelingt es, in einem vergleichsweise schmalen Bändchen
den weitschichtigen Stoff zusammenzudrängen und in aus-
gezeichneter, übersichtlicher Ordnung die Gedankenkreise und
Richtlinien zu führen, die für die Kenntnis beider Religionen
und ihrer Unterschiedslehren maßgebend sind. Die Diktion
ist von diesem Streben nach anregender Belehrung getragen,
die Darstellung gräbt in die Tiefe und weiß gerade durch den
Vergleich mit den Lehren des Christentums den Reichtum und
die Fülle der jüdischen Religion aufs glücklichste heraus-
zuarbeiten. Das Buch sei darum allen Kreisen angelegentlichst
zu eingehendem Studium empfohlen, besonders aber unseren
jüdischen Studierenden, die daraus reichen Gewinn für die
Würdigung des Judentums schöpfen werden. Möge das Büchlein
in seinem schmucken Gewände sich zu den alten neue Freunde
werben und zeugen für Wahrheit, Ehre und Ruhm des Juden-
tums. Allgemeine Zeitung des Judentums, Nr. 41, Oktober 1919
J. KAUFFMANN, VERLAG,
FRANKFURT A. M , SCHILLERSTRASSE 19.
EUGEN FUCHS
Um Deutschtum
und Judentum
Gesammelte Reden und Aufsätze
(1894—1919)
Herausgegeben im Aufträge des Centralvereins
deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens
von
Dr. LEO HIRSCHFELD
Preis M. 7.20
„.......und wenn er sich in den jüngsten Tagen
mit den Neubildungen, wie sie die Revolution hervor-
ruft, auseinandersetzt, wenn er die Verständigung sucht,
oder wenn er sich mit den Vertretern anderer Meinung
scharf auseinandersetzt, immer und immer istes wieder
der gleiche Ausgangspunkt, den wir erblicken: das
Rechtsempfinden und sein Kampf für das Recht. So
werden seine Arbeiten für das Judentum zu einem
Streit für das unzerstörbare, im Menschen lebende
Gefühl für Recht und Gerechtigkeit.“
Nord und Süd, November 1919
PHILO-VERLAG UND BUCHHANDLUNG, G.M.B.H.
BERLIN S.W. 68, LI N D E N ST RAS S E 13.
Colour & Grey Control Chart
Der Himmel allenthalben ist des Herrn,
aber die Erde hat er den Menschenkindern
'gegeben.
10. III. 1921.