Berlin, d. 26 Mai 1898
Sehr geehrter Herr Schwaner,
das ist ein schönes und reines Läuten, das von Ihren Pfingstglocken ausgeht und ich hoffe, es wird weithin im Lande gehört. Aber in das eherne Dröhnen das hallt und schallt möchte ich noch an manchen Stellen mehr hineinklingen lassen den silberhellen Klang des Glöckleins "Versöhnung".
Zuerst will ich die Großstadtfrau, "die Berlinerin", vertheidigen. Sie haben sie studiert! Wo? In ihrem Hause? In ihrem Berufe? Oder nur in den Frauenversammlungen?
Ich möchte Ihnen zu bedenken geben: Nur zwei unsrer bekann-
ten Führerinnen sind Berlinerinnen: Frau Jeanette Schwerin und Frl. Helene Lange, alle anderen stammen aus der Provinz oder aus anderen deutschen Ländern.
"Nostra culpa", das sagen die Frauen, die in der Bewegung stehen laut und leise, aber weil es die "Unbewegten" noch nicht hören wollen, darum brauchen wir noch immer den Kampf. Darum müssen wir ernsthaften Frauen es täglich auf´s Neue beweisen - jedem grünen Jungen, der es nicht glauben will- daß wir logisch denken können. Darum werden unsere sittlichen Zustände nicht besser, weil so viele thörichte Mütter ihre Söhne noch immer so schlecht erziehen!
Und zuletzt lassen Sie mich noch die vertheidigen, die als Grundlage einer Ehe einige finanzielle Sicherheit anstreben. Sie mögen mich für sehr realistisch halten - Wohl ist Ihre Theorie gut und schön für junge, thatendurstige Menschen, die Riesenkräfte in sich fühlen nicht nur für sich sondern auch für eine komende Generation zu sorgen. Wer schon vom Leben etwas verbraucht und müde ist, wie ich, der möchte allen raten, ihr Haus nicht auf den Sand sondern auf einen festen Grundstein zu bauen.
Gute und böse Tage giebt es freilich in jedem Hause, und die Stürme umtosen jedes Gebäude, aber das festgefügte reißen sie nicht so schnell um. Einer Neigung Opfer bringen, kämpfen für eine Liebe, das halte ich für kein Unglück - auch das geduldige Warten nicht -
denn aus Opfern, Kämpfen und Gedulden entsteht doch erst jene Festigkeit der Neigung, die allen Stürmen Stand zu halten vermag. Mancherlei Gedanken, die sich sonst noch an Ihren Pfingstartikel hängen ließen, einmal mündlich.
Sie erhalten heut die Besprechung des "Menschheitslehrers", die des "Judas" folgt in den nächsten Tagen
Nun, wie versprochen, unser Pfingstprogramm. Am Montag, 2ten Feiertag, fahren wir nach Wildpark bei Potsdam, von da ab Fußtour. Versammlung 7 3/4 Uhr morgens am Billetschalter des Potsdamer
Hauptbahnhofes
. In der Hoffnung auf ein fröhliches Wiedersehen grüßt Sie
Ihre sehr ergebene
Anna Plothow.