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Illustrierte MnatSbMer für Heimatsorschung, Kunst und Literatur
39. Jahrgang Heft 1 Kassel, Januar 1927
Inhaltsverzeichnis
Seite Seite
Zimmermann, Ernst I. Der Name Geln-
hausen ................................ 1
Scheller, Will. Karl Gras von Berlepsch. Ein
Tichterbildnis aus der deutschen Gegen-
wart iMit Bildnis)..................... 3
Bretschneider, Dr. Anneliese. Lichtmeß. lAus
dem Material des Hessen-Nassauischen
Wörterbuches).......................... 7
Die Hessische Sagensammlung (Aufruf) . 9
Rausch. Wie sich ein Kompagnie-Chirurgus im
Jahre 1780 um die Stelle eines Ämts-
chirurgus bewirbt..................... 10
BoAlfred. Der Teufelsmüller (Erzählung) 11
Scheffler, Dr. W- Neue Bauten in Kassel 14
Neuhaus, Wilh. Die Fulda lGedicht) . . 14
Goelner, Fritz. Trost (Gedicht) .... 14
Rade, Dora. Marie Martin (Mit Bildnis) 15
Latwesen, A. Vom Kasseler Schauspiel . . 16
Aus Heimat und Fremde (Hochschulnach-
richten. Personalchronik (Paul Bekker,
Prof. Dr.Gutberlet, Dr. Staehly); Todes-
fälle ^Justizrnt Fr. Uth, Pfarrer Emil
Wolfs, Konzertsänger Heinrich Kühlborn);
Christian Daniel Rauch; Vom Kasseler
Naturalienmuseum; Preisausschreiben;
Eine 100 jährige Fuldaer Firma (Jacob-
son); Zur Filmvorführung des Univer-
sitätsbundes; Jüdische Kultgegenstände;
Eschwege (Dietemänner); Zierenberg (Rat-
haus); Rüsselsheim (römische Siedlung);
Homberg (Seminar); Wie entstand das
Wort Lahn?; Weihnachtswürfeln; Scherz-
tag im Kibitzgrund; Wildfütterung in
Knüll, Rhön und Bogelsberg) . . .
Standbild Philipps des Großmütigen in der
Kasseler Martinskirche. (Abbildung) . .
Volkmann, H. v. Ausblick. (Federzeichnung)
Bücherschau................................
Vercinsnachrichten ........................
Stcckhahn, Klara. Gebet (Gedicht) . . .
Personalien................................
17
19
21
22
23
23
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Illustrierte Monatsblätter für Heimatforschung,
Kunst und Literatur
Sfteuttundftreißigffc* Jahrgang
Schriftleiter:
Paul Hei-elvaeh
fallet 1927
Verlag: Dr. Karl Braun, Es «hure ge.
Inhaltsverzeichnis des Jahrgangs 1927
Seite
Geschichtliche Aufsätze.
Eckhardt, K. «A., Die Abgrenzung -der Gaugraf-
schaft Hessen gegen Thüringen un«d> Engern . 213
Gonnermann, Ella, Das Tal von Queyras un«d'
Abrivs, «die Heimatgemeinde v. Karlsdorf 97, 134
Jacob, Bruno, Hessische Beziehungen zu Erfurt 249
LaNdesgeschichte, «Mundartenforschung- u. Volks-
kunde in Hessen und Nassau ...................224
Losch, Phil., Falkenbevg.....................73, 101
Losch, Phil., Bor 120 Jahren'. Die französische
Besetzung der hessischen Grafschaft Schaum-
iburg ................................ . . . 187
Nabe, Aus dem Dorkener Salbuch vom Jahre
1578 130
Wo ringer, A., Aus der Geschichte einer Kasseler
Aubrücke ................................49, 79
Zimmermann, Ernst, Der Name Gelnhausen . 1
Aus Volks- und Heimatkunde.
Bechstedt, Wilh., Erlebnisse eines Hand«werksbur-
schen in Marburg 1800 ........... 172, 200
Börner, R., Rinteln.......................... . 185
Braun, Phil., Vom Marburger Gymnasium und
seinem Schüler Otto Ubbelohde . . 105, 167
Bretfchneider, Dr. A., Lichtmeß .................. 7
Bretschneider, Dr. A., „Maikäfer flieg'" . . 85
Francke, Mud., Ein junger Dichter .... 41
Gründung eines! Marburger «Museumsvereins . 174
Heer, Georg, Das Reformationsifest von 1817
und die Maiburger «Studentenschaft . . 150
., 800-Iahrseier in Bettenhausen .... 197
., Der «Melsunger Bartenwetzer.............268
. Bach, Marburg im Urteil «der Vergangenheit
(1785—1837) 165
Heidelbach, Paul, Ueber einen im Jahre' 1831
gemachten Vorschlag «der Verlegung «der Mar-
lburger Universität nach' Kassel.............158
Heidelbach', Paul, Die VierhuNdertjahrfeier der
Philip ps-Universität .......................190
Heidelbach, Paul, Zum Jubiläum ber Philipps-
Universität, Marburg.........................146
Heldmann, Karl (Halle), Die Ehrenpromotionen'
'beim Marburger UniversitätSjubiläum vom
Jahre 1827 ................................. 222
Holländer, Herrn., Im Brückengeldhaus zu Ofsen-
bach am Main.......................... . 232, 259
Kleim, Otto, Mein> Paradies......................237
L., Z., Heimatmuseum Witzenhausen .... 191
Landesge«schichte, Mundartenforschung und Volks-
kunde von Hessen' und Nassau.....................224
Liese, K., Vulkanismus uNd «Sa«ge.................64
Martin, Beruh., Der Sprachatlas «des Deut-
schen Reichs und seine Bedeutung für die
«Marburger Universität ....... 171
Rausch, Amtsbewevbung eines Kompagnie-Chir-
urgus 1790 10
Die hessische Sagensammlung................... . 9
Schoos, Wilhelm, Beziehungen der Brüder
Grimm zur Familie von Schwertzell . . . 226
Schoos, Wilhelm, Beziehungen deutscher Dichter
und Denker zur. Marburger Universität . . 155
Schröder, Edward, Dst erste Ehrenpromotion
einer deutschen Frau (Ieanne WytteNbach,
geb. Gallien)' ..............................152
«Stück, Fritz, Das Geheimnis des Zuchthauses in
Kassel« '....................................142
Will, Dr. H., lZivei Alsfelder Truhen .... 34
Woringer, «A., Jahresversammlung «des Hessischen
Geschichtsvereins in« Rinteln ...............218
Zimmermann«, Ernst, Der Name Gelnhausen . . 1
Zur 400-Iahrfeier der Marburger Universität . 180
Aus Literatur und Kunst.
(Siehe auch Biographisches.)
Bantzer, Earl, Adolf «Lins h .....................83
Bantzer, Earl, Hans von Volkmann .... 109
Braun, Phil., Bon Otto Ubbelohde . . . 105, 137
Dilich, Wilhelm .................................256
Eschevich. Mela, Alte Kunst am Mitte lrhbib . . 198
Heidelbach', Paul, 160 Jahre K«asseler Kunst-
akademie . • . ............................. . 133
Hallo, Rud., Bausteine ll................ 29, 57
Latwesen, A., Das Hebbel-Museum in Wessel-
buren und- seine hessischen Beziehungen . 238
Latwesen', A., «Schauspiel.......................205
Latwesen, A.. Vom Kasseler Kleinen Theater . 178
Latwesen, «A., Vom Kasseler «Sch«a'U«spiel ... 16
Schesfler, W., Neue Bauten in Kassel .... 14
Schilling, P., Ein eigen- und einzigartiges
Museum (Ledermuseum in Offenbach) . . . 257
Struck, Gust., Jubiläums-Kunst-Ausstellung in
Struck, Gust., Opernschicksale 1926/27, Aera
Bekker und JnteNdantenwechsel .... 204
Biographisches.
Vantzer, Earl, dem «Siebzigjährigen«. Von Paul
Heidelbach ....................................162
Berlepsch, Karl Graf von. Von Will Scheller . 3
Bunisen, Robert. Von Karl Knetsch .... 153
Dokker, Eduard' Donwes (Multatuli) in Kassel.
Von van« der M«eer.......................25, 52
Dilich, Wilhelm ...................................256
Francke. Aug. Herm., die hestische «Derwandtsihaft
von. Bon Rud. Francke..........................143
Gutberlet, Heinrich. Von Wi«ll Scheller . . . 100
Heldmann, K. (Rinteln), LebenseriNNerungen 77, 103
Knetsch. Earl, Robert Bnnsen.......................153
Lins, Adolf. Don Carl Bantzer..................83
Johannes. Martin Otto. Don Arthur Adler . 121
Schlunck, Rudolf. Von Phil. Losch .... 107
^-vvery, Solomon de. Don Phil. Losch . . . 254
Ubbelohde, Otto. Don Phil. Braun . . . 105, 137
Doltmarm', Hans v. Don- Carl Bantzer . . . 106
Wenning, Hermann. Don Paul Heidelbach . . 32
Naturwissenschaftliches.
H., Zweiter deutscher Naturschutztag in Kassel 192
Knetich, Carl, Robert Bunsen .....................153
Langsdorfs, Alexander, Urzeitliche Funde am
Liese, K.. Vulkanismus und sage .... 64
Sunkel, 'Werner, Vogelforfcher-Erlebnisse am
hessischen Rhein ........................ • • 229
Wieppken, O., Phä nologischer Jahresbericht . 110
Gedichte.
Berlepsch, Karl von, Rauhreif bei Mondschein . 264
Berlepsch, Karl von, Der alte Bail .... 265
Birt, PH., Marburglied ..........................147
Brehm. Helene, Februar............................40
Brehnu Helene, Ich rief dich n!icht...............221
Brehm, Helene, Lindenblüte ......................175
Buchmann, Gottfried, Einer Freundin .... 197
Puchmann, Gottfr., Gewißheit......................197
Cauer, Luise, Narben..............................64
Goelner, Fritz, August............................193
Go einer, Fritz, Aus der Dichtung „Jesus" . . 89
Goelner, Fritz, Der alma mater Philippina! . 145
Goelner, Fritz, Heimfahrt.........................137
Goelner, Fritz, Trost ............................14
Hoepfner, Gertrud, Frühling.......................99
Hoepfner, Gertrud, Stunde ........ 113
Hoepfner, Gertrud, Zum Geburtstag eines Sieb-
zigjährigen ................_.................131
Leinweber, Berthold. Der Dämon...................181
Nebel von Türkheim, Sophie, Sturm .... 221
Neuhaus, Wllh., Die Fulda ....... 14
Ruppel, Heinr., Herbstwald.................... . 217
Steck hau, Klara, Gebet...........................23
Steckhan, Klara, Sandmann.........................40
Erzählungen usw.
Birt, PH., Landgraf Philipp gründet seine Uni-
versität (Spiel) .............................147
Bock, Alfred, Der Teufelsmüller ..................11
Brehm, Marie, Rahels Liebe (Erzählung) . 38, 60
Puchmann, Gottfr., Der Schäfer am roten
Berge ..................................... 264
Eimer, Ernst, Das Karussell .....................112
Fliedner, Franzi, Die kleine Stadt .... 258
Gersch, Ferm., Am Ioggelibrunnen . . . 230
Leinweber, Berth., Das Gewitter..................236
. Martin, Otto Johannes, An eine Dienstmagd . 123
Martin, Otto Johannes, Hessen-Ritter . . . 125
Scheller, Will, Johannes .........................86
Traubt, Valentin, Der Einbruch...................267
Fitzer, G., Der Schneider-Karl als Landsturm-
mann ..........................................62
Abbildungen
Alsfeld ..........................................37
Alsfeld er Museum . ..............................36
Alsfeld er Rathaus ...............................35
Seite
Altarstein aus der Zeit des hl. Rhabanus . . 242
Bantzer, Earl, Antrefftal bei Willingshausen.
Zeichnung, ...............................164
Baum, P., Landschaft bei Knooke in Flandern
(Cödnülbe) ................................ 194
Bettenhausen, Dorfplatz um 1800 198
Bettenhausen, Messinghof .....................169
Dettenhausen, Agathas............................189
Bonifatiusbild, das älteste erhaltene .... 244
Bromeis, A., Landschaft.......................177
Dunsens Abschied von 153
Bunsens Ankunft in Marburg.......................154
Ebel, Rich., Felsenlandschaft (Gemälde) . . . 197
Hack,A., Petersberg (Bleistiftzeichnung) . . . 243
Herligenberg und Ruine Felsberg..................245
Hersfelder Schützenkleinod aus 1571 .... 69
Hersfelder Stiftsruine............................67
Neue Kunstakademie in Kassel.....................132
Marburger Universität............................l46
Marburg, Gefallenendenkmal der Universität . 207
Philosophenweg in Kassel ....................266
Mons, Karl, Schusterstube (Gemälde) .... 196
Rinteln, Gesamtansicht ..........................186
Rinteln, Heimatmuseum ...........................186
Rinteln, Kruggasse...............................186
Rinteln, UniversitätsgebLude ....................187
Rinteln, Markt . .'..............................218
Rinteln, Münchhausenhof..........................219
Rinteln, Eulenburg...............................219
Rinteln. Amtsgericht ............................220
Rinteln, Bäckergasse.............................225
Sababurg, Eiche im Naturschutzgebiet .... 246
Schliephacke, W., Lagernde Zigeuner (Gemälde) 195
Tausendjährige Eibe auf dem Badenstein bei
Mitzenhausen ................................191
Ubbelohde, Der Forsthof in Marburg (Feder-
zeichnung) ..................................157
Volkmann, Hans von, Ausblick, Federzeichnung . 21
Bildnisse.
Bantzer, Carl, in seinem Willingshäuser Atelier 163
Berlepsch, Karl, Graf von..................... . 4
Birt, Theodor.....................................91
Detter. E. D. (Multatuli).........................27
Statuette Landgraf Friedrichs II. von Wahl . 133
Katzensteiu, Ottilie .............................55
Lahmeyer, Gustav ................................118
Lingg, Joh. Baptist...............................63
Lins, Adolf ......................................84
Martin, Rlarie....................................15
Martin Otto Johannes (Rädlein)...................122
Naht, Samuel, mit Braut .........................135
Landgraf Philipp der Großmütige...................19
Sardemann, Pfarrer D..............................42
Sold an, August............................... . 78
I. H. Tischbein d. Aelt. (Selbstbildnis) .... 134
Wenning, Hermann .................................33
Aus Heimat und Fremde.
Hochschulnachrichten. Personalchronik (Paul
Bekker, Prof. Dr. Gutberlet, Dr. Staehly).
Todesfälle (Iuftizrat Fr. Uth, Pfarrer Emil
Wolff. Konzertsänger Heinrich Kühlborn).
Christian Daniel Rauch, Vom Kasseler Na-
turalienmuse>um, Preisausschreiben, Eine
100jährige Fuldaer Firma (Jacobson), Zur
Filmvorführung des Universitätsbundes, Iü-
Seite
Seite
Mische Kultgegenstände, Efchwege (Dietemän--
ner), Ziereitberg (Rathaus), Rüfselsheim (rö-
mische lSiedlung), Homberg (Seminar). Wie
entstand das Wort Lahn? Weihnachtswür-
feln, Scherztag im Kibitzgrund-, Wild-fütte-
rung im Knüll, Rhön und Vogel sberg . . 17
Pfleger für kulturgeschichtliche Bodenalter-
tumer, Hochschulnachrichten, Personalchronik
(Niemann), Todesfälle (Pfarrer Franz Sarde-
mann, Oberlehrer RNd. Grebe, Iustizrat
Gas pari). Die Kasseler Kunstakademie, 800
Jahre 'Bettenhansen, Gudensberg, Bieden-
kopf, Wächtersbach, Lautebbach, chalzschlirf,
Gelnhausen, Schenklengsfeld, Marburg, Bu-
chenau, Archiv für Familienforschung, Kunst-
notiz (Fr. Fennel) .......................... 41
H o chsch u lnachrich ten, Personalchronik, Todes-
fälle (Friedr. dieul, B. Rath-gen, H. Hille-
bre-cht, Rud. Schlunck, R. Wagner), Iubilä-
ums-Ausstellung der Kunstakademie, Mar-
burger Festspiele 1927, Hundert Jahre Firma
Deichmann, Lauterbach, Frankenberg. Pop-
penhausen, Bndinge-n, Alsfeld-, Gelnhausen,
Rotenburg -a. F.. Sababurg, Wörrstadt,
Blankenheim, Schutz von Natur- und Bau-
denkmälern, 'Auswanderung .......................64
Hessen -Nassattische s W ö r te rbuch, Hochs ch u l nach -
richten, Personalchronik (Lohmeyer, Fritsch,
Derghoesfer, Kimpel, Möller), Todesfälle
(Georg Voigt, Gustav Springorum), Die
Marburger Reformationsfestspiele, Marburg,
Jüdische Kultgegenstände, An alle ehemali-
en Marburger Gymnasiasten, Aufruf (Gut-
erlet), Eschw-ege, Alsfeld, Neustadt, Büdin-
gen, Aus dem Niddatal, Bierinünden, Nieder-
aula. Willingshausen, Naturschutz u. Schule,
Vorbildlicher Vogelschutz, Vogelschutz, Der
-Streit um das Eigentum «m Mainzer
Festungsgelände, Die Wiederherstellung des
Mainzer Doms ........................................90
Hochs ch.ul n ach richten, 150 Jahre Kasseler Kunst-
akademie, Marburger Ferienkurse, Personal-
chronik (Dr. A. Eigenbrodt, Dr.-Jng. P.Höpf-
ner, Ernst Legal), Todesfälle (Prof. Julie
Aeroboe-Katz. Pfarrer A. Möhl, Bankier K.
Strauß), Hessische 'Autographen', 75 I-ähre
Main-Weser-'Bahn-, SpangeNbevger Fest-
spiele, Hersfeid, Für den Lu-d-wigstein, Mar-
burg, Hanau, FrankeNberg, Neukirchen,
Vom Allgemeinen Deutschen Ja-gdsch-utzv-er-
ein, Gelnhausen, Großburschla, Frei-wer-
dende Domänen in Kurhessen, Rentabilität
der kurhessischen Forsten, Di-e Wartbirrg-
fresken..........................................114
H o chs ch ul na ch ri chte n, Personalchronik (Fr. v.
Bardeleben-, Rob. Bar-tram, Fr. W. Reuß, E.
Julauf), Todesfall (Gustav Feyerabend),
Tausendsahrfeier eines- Rhönfleck-ens (Het-
tenhausen), Kassel. Marburg, Fulda, Mel-
sungen, Friedberg, Neuentdeckte Handschrif-
ten zur Geschichte des Klosters Fulda, Aus
dem Schlitzerland, Von der Schwalm, -Stei-
nau, Ist ein Kasselaner an Schillers Tod
schuldig. Di-e Römerv-illa am Main, Land-
wirtschaftliche 'Betriebe in Hes!se-n-Nassau,
Die hessische Verwandtschast von Aug.
Herm. Francke ...................................140
Hochschulnachrichten, Todesfälle (Georg Schade,
Hermann Kind, Moritz Werthei in, Max
Hoffmann), Der zweite deutsche Nalurschutz-
tag, Schloß Schönfeld, 800 Jahre Betten-
hausen, Fulda, Eichwege. Friedrichsbrück,
Ein Kulturfilm „Di-e Lahn" ..................181
H ochschu ln a chrich te n, Personalchronik (Richard
Gotthelft, Marie Keppel, -geb. von Meyer-
feld, Josef Ney, Aug. Lohrmann, Borbein,
-Sond-ag), Todesfälle (O. von Brentano, Fr.
Wießner. Fr. Heer mann, Hein-r. Stöhr, Karl
Stamm, Wilh. Siebert), 126. Geburtstag des
letzten hessischen Kurfürsten, Nachlaß Mal-
wida von- Meysenbugs, Heimatmuseen
(Schotten, Großalmerode), Hauptversamm-
lung des P rovi nzi a lstä-d te tages für Hesfen-
Nassau und Waldeck,Nonninentaderinaniaa
Historien, d-er kurhessische Landesausschuß,
Marburg, Eschwege, Jur Geschichte des
Klosters Fulda, Hersfel-d, Spangenberg,
Ober kau fungen, Friedberg, Witzenhaufen,
Eschenstruth, Großburschla, Dreihausen, Aus
dem Werratal, Wetter, Vom Ludw-igstein,
Gudensberg, Auf dem Knüll, 60 Jahre Fern-
sprecher, Don der Wartburg, Friedrichs-
hausen, Karlshafen, Wolfhagen, Mansbach,
Gemeinde obsterlös -in Kurhessen .... 206
Ho chsch-u'l nachrichten, Pe vso na lch ro ni-k (W. lln-ge r,
A. -Schwarz, O. Hebel!, A. Lange, K. Bahr,
Steingoetter, K. Gbert, K. Scherer, I.
Theele), Todesfälle (I. Rübsam, P. Wein-
meister), Gräfin Luise v. d. Groeben. Das
neue Wappen- des Bezirksverbandes, Mar-
burg, Das Marburger Lied, 800 Jahre
Eschenstruth, Hanau, Rinteln, Melsungen,
Schlüchtern, Hom>berg, Neustadt, Span-gen-
berg. Treffurt, Mecklar, Gersfeld, Barchfeld,
Die -Schulen in Hessen-Nassau, Naturdenk-
mäler, Heimatkunstausstellung, Kleinenglis,
Wie benennt man Straßen?, -Schutz den
-Staren, Kirtorf, -Bo-m Hohentwiel. Reli-
gio n-sstat-i-stik i-n Hessen-Nassau .' . . . 239
Hochschulnachrichten, Zum Artikel Marburger
Ehrenpromotionen von 1827, Personalchro-
nik (M.v. Eschstruth. Ferd. Rübsam, Herm.
-v. Ihe-ring, Rolf Prasch, Fritz Theyß, Rich.
Sarrazin, Friedr. Bleibaum, Al. H-oltmeyer,
Al. Höppner, W. Deyerbevg, D. Paulstich),
Todesfälle (Edw. Lohmeyer, Friedr. Fritsch,
E. A. Fabarius. K. Dietor, K. Krause, Edu-
ard Lambrecht, Felix Aschrott'), Familientag
Jülch, Physik. Arbeitsg eme-i ns ch-a-st am
L ande sm-useu m, F u ld-ae r La nde sbibli o th-ek,
-Sammlung. hessischer Bokksl-i-ed-er, Werk R.
Hamanns iiber das Straß-bürger Miinster,
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bressen, Schwarzenborn, -Schlüchtern-, Zie-
genhain-, Lauterbach, Schotten-, Rettung -des
Naumannhofes ................................268
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Illustrierte Monatsblätter für Heimatsorschung, Kunst und Literatur
Schriftletter Paul Heidelbach, Kassel. Unter Mitwirkung von Bezirkskonservator Baurat Dr. H o l tm ey er, Kassel,-
Direktor der Landesbibliothekvr. Hopf, Kassel,-LyzeallehrerKeller, Kassel,- Staatsarchivrat vr.Knetsch,Marburg,-
OberbibliothekarProfessor Ur. Losch, Steglitz,- Schriftsteller Heinrich Nuppel, Homberg,- Professor vr. Schaefer,
Kommissar für Naturdenkmalpflege im Neg.-Bez. Kassel,- Geheimrat Universitatsprofessor vr. Schröder, Göttingen,-
Universitätsprofessor vr. Schwantke, Marburg,- vr. Werner Sunkel, Marburg,- Professor vr. Bonderau, Fulda,-
Universitatsprofessor vr. W e d e k i n d, Marburg.
■ - 3m Einverständnis mit den Vereinen: ..... -
Verein für hessische Geschichte und Landeskunde,- Hessischer Gebirgsverein,- Knüllgebirgsverein,- Allgemeiner Deutscher
Sprachverein, Kassel,- Verein für Naturkunde, Kassel,- Geologischer Verein, Marburg,- Biologische Vereinigung, Marburg,-
Gesellschaft für Familienkunde in Kurhessen und Waldeck,- Hessischer Volksschullehrerverein.
—- . ....... ' — Bezugspreis vierteljährlich 2.— Mark ——-
39, Jahrgang Heft 1 Kassel, Januar 1927
Der Name Gelnhausen.
Durch die letzte Tagung des Vereins für Hessische
Geschichte und Landeskunde in der schönen, an
alten Baudenkmälern sv reichen, durch ihre Ge-
schichte bekannten ehemaligen Reichsstadt Geln-
hause :U wurde auch die Bedeutung dieses Ortsna-
mens wieder einmal erörtert.2 Wir können auf
alle diese, vielfach dilettantischen Namendeutungen
nicht eingehett. Grundlegend ist für unsere Unter-
suchung die älteste Schreibweise des Namens, kritisch
untersucht, ferner die Feststellung der Lage des
Ortes nach deut Augenschein und die historische
Topographie, besonders in Bezug aus die Verkehrs-
straßen, die z. Z. der Entstehung des Ortes be-
standen. Auf diese Weise können wir den Namen
in eine bestimmte Gruppe einreihen uitb mit ande-
ren ähnlichen Namen in Vergleich stellen, um so
zu einer gesicherten Deutung zu gelangen.
Jur Kiuzigtal, unweit der Stelle, wo der Fluß
den engen Gebirgspaß zwischen Vogelsberg und
Spessart verlassen hat und das Tal sich zu einer
Ebene erweitert, ist die Stadt Gelnhausen, von
den: rechten Kinzigufer an, den steilen Tietrichs-
berg terrassenartig ausgebaut. Was mögen es wohl
für Gründe gewesen sein, die die ersten Ansiedler
an diese, für den Verkehr so schwierige Stelle
zogen? Von jenseits der Kinzig kommt über die
Höhen des Spessarts aus Franken eine Abzweigung
der alten Birkenhainer Straße und von der Main-
fähre bei Seligenstadt über Kahl der alte Verbin-
dungsweg mit dem Palatino: Seligenstadt, der die
Fortsetzung von Straßen aus dein Rodgau. iinb
dem Odenwald ist; beide vereinige:: sich vor der
Kinzigüberqüerung und diese Straße steigt jenseits
die Schmidtgasse hinan, u m dann den Obermarkt
Von Ernst 3- Zimmermann, Hanau.
zu überqueren. Hier traf die Straße mit der durch
das Röthertor kommenden Frankfurt-Leipziger
Straße zusammen, die durch die „Alte Schmidt-
gasse" — an den Eingängen alter Orte, besonders
an schwierigen Straßensteigungen, hatte der Schmied
seine Werkstätte — anstieg. Die Frankfurt-Leipziger
Straße zog daun durch die Fahrgasse, heute Pfarr-
gasse,b „welch letztere, als engste Straße der Stadt,
einst der Schreck aller diese Straße befahrenden
Frachtwagen gewesen," um durch das engere Hait-
zertor weiter zu ziehen; sie mied somit das Über-
schwemmungen stets ausgesetzte Tal der Kinzig.
Die über die Kinzig gekommene Straße geht nach
Überquerung des Obermarktes durch.das .Holztor,
um dann steil hinauf über den Dürich als Höhen-
weg weiterzuziehen nach Gettenbach oder nach Witt-
genborn und den: Vogelsberg. Als Fernstraße hatte
dieser steile Weg wenig Bedeutung, gewann aber
für den Ort Gelnhausen, der seinen Holzbedars'
von der Höhe aus dem großen Büdingerwald holte,
eine große Wichtigkeit. An: Schnittpunkt der beiden
alten Straßen, dem Obermarkt, entstand schon in
fränkischer Zeit der Ort, mindestens 350 Jahre
vor der ersten urkundlichen Erwähnung. Das eu8-
trum Gelnhausen „stand da, wo sich jetzt die Ma-
rienkirche erhebt; westlich von ihm lag das alte
G e l n h a u s e n, dessen Mittelpunkt der jetzige
Obermarkt bildete und dessen Längsachse die Kin-
zigstraße (Frankfurt-Leipziger Str.) zog"> Um den
beschwerlichen Verkehr auf den steilen Straßen un-
ter himmlischen Schutz zu stellen, weihte man im
12. oder 13. Jahrhundert St. Veit eine Statue und
stellte diese an steiler Stelle auf; der Rest des
Sockels dieser Statue bildet heute den Eckstein un-
1
ter dem Eckpfosten eines alten Fachwerkbaues der
Fahrgasse, der heutigen Pfarrgasse, er zeigt in go-
tischen Majuskeln noch folgende Buchstaben
Y\(o*
Ten hl. Valentin, den Beschützer der Fallsüchtigen
und der Fallenden, finden lvir an vielen steilen
Straßen, ich erinnere an St. Veit von Staffelstein,
an St. Valentin auf der Heide in Tirol, >v.o die
Paßstraße 400 m tiefer nach Mals sich senkt.
Der Name der Stadt Gelnhausen wird urkund-
lich sehr spät erwähnt, nach Förstemann, Altdeut-
sches Namenbuch, wo er zu dem Personennamen-
Stamm Gail gestellt wird, erst im 12. Jahrhundert
als Gailin-, Gelen- oder Gelnhusen. Das von
Kreuter mitgeteilte Bolchuaseri5 vom Jahre 1193,
aus einer italienischen Quelle, muß als ver-
derbte Lesart ganz außer Betracht gelassen werden.
Die Grundform des Namens ist demnach geil.
Nach den deutschen Wörterbüchern bedeutet das
althochdeutsche Adjektiv geil „lustig wachsen und
wuchern," in die Höhe schießen, ebenso vom Boden,
von Bäumen lute von Tieren gebraucht; vergl.
noch altsächs. gel und angelsächs. gäl in gleicher
Bedeutung, auch ein althochd. gil kommt vor. Tie
Erklärungen der Wörterbücher, auch des Grimm'-
schen, sind jedoch unvollständig: geil wird auch
von aufsteigenden Verkehrsstraßen und Wegen ge-
braucht, eine geile Straße ist eine steile Straße.
Von den Straßen geht die Benennung auf die Berg-
hänge und die Berge über, vergl. z. B. „d e r
geile Berg" zwischen Kilianstädten und Wind-
ecken, Kreis Hanau, über den die Straße nach
Oberhessen zieht. Betrachten wir denjenigen Ort,
der in seinem Namen mit Geilenhusen im ersten
Wortteil gleichbedeutend ist: Gelenldrehen (1170),
Geilenkirchen Reg.-Bez. Aachen. Im engen
Tal der Wurm (zur Rur) gelegen, steigen beider-»
seits die drei Fernstraßen steil an; die nord-
östliche Straße über die Höhe senkt sich ins Tal
des Rode-Baches und hat für die dort auf gero-
detem Boden'entstandene Siedelung, im Verein mit
weiteren drei dort stark ansteigenden Straßen den
Ortsnamen Gillrath veranlaßt. Auch G al-
le n k i r ch e n bei .Hall im württembergischen Jagst-
Kr. und Geilshausen Kr. Gießen, an Straßen-
aufstiegen gelegen, gehören hierher. Geilnau
im Lahntal, Kr. Diez, 1284 Geilenowe, wird in
Grimms-Wörterbuch für eine vermutliche „fette Au"
gehalten: der Ort liegt am Ausgang eines engen
Tals, von dem beiderseits Straßen stark ansteigen,
von denen die nach dem 21/2 km entfernten .Holz--
appel 200 in Steigung zu bewältigen hat! Also
unzweifelhaft eine Au an der Geilen (Straße).
Schon im 8. Jahrhundert haben wir für geil eine
Nebenform gnl,6 die zu güll und gill wird,
vergl. G ü l 1, Dorf- und H 0 fgül l, früher Gill
Kr. Gießen, 8. und 9. Jahrhundert Güllen Gnllinen,
12. Jahrhundert Gulle; bei Hofgüll steigt die von
Eberstadt kommende Verkehrsstraße an und zieht
an der Wetter aufwärts weiter, bei Dorfgüll ist
Straßenaufstieg nach Garbenteich. Jung-Stilling
erzählt in seiner Lebensgeschichte (S. 1): In West-
falen bei dem Kirchdorf Florenburg liegt eine Stun-
de südöstlich davon Tiefenbach, „der östliche Berg
heißt der Gill er, geht steil auf"; Florenburg ist
Hilchenbach Kr. Siegen, Tiefenbach ist das Dorf
Grund, über den Giller, mit 678 in die höchste Er-
hebung des Siegerlandes, zieht eine Straße. Auch
der Gall-Berg bei Herbstein in Oberhessen,
dessen eine Seite von einer Straße überschnitten
wird, gehört hieher; ferner der Gall-Berg zwi-
schen Rebsdorf und Ulmbach, Kr. Schlüchtern, so-
wie die Höhe „a u f dem Kal l" bei Röddenau
über der Edder, Kr. Frankenberg, welche beiden
letzteren nach Arnold7 mit irisch gall Fels zusam-
menhängen sollen; diese Örtlichkeiten ensprechen
jedoch mit ihren stark ansteigenden Verkehrsstraßen
ganz unsern Geilen-Ortsnamen, sie find also zwei-
fellos hierher zu stellen. Das S t e i n g ä l l ch e n,
ein Flurteil nahe bei Eschwege am rechten Ufer
der Werra, am großen Wehr, wo der erste Neben-
arm der Werra sich abzweigt^, das nach Arnold
gleichfalls keltischer Herkunft sein soll, scheint nichts
anderes als ein deutsches „Steiugeröll" zu sein.
Von der Aufzählung weiterer zum Vergleich zu
stellenden Namen sehe ich ab.-'
Die Frage, ob Personennamen in unserer
Ortsnamengruppe enthalten sind, ist von mir bis
jetzt noch nicht erörtert worden. Wohl haben För-
stemann, Grimm (nach Vilmar), Arnold u. a. •
Personennamen in dem Namen Ölelnhausen ange-
nommen — und, nachdem der ursprüngliche Sinn
eines Ortsnamens nicht mehr verstanden wurde,
hat eine spätere Zeit zuweilen fingierte Personen--
namen in die Ortsnamen hineingetragen — aber
die frühere Namenforschung hat gänzlich die große
Wichtigkeit des Verkehrs, der mit der frühfrän-
kischen Zeit besonders stark einsetzte und sich in den
Ortsnamen wiederspiegelt, außer acht gelassen. Im
Ortsnamen Göllheim, Bez.-Amt Kirchheim-Bo-
landen, 9. Jahrhundert Gylnlteiin, soll nach Förste-
mann der Personenname Gilo enthalten sein, un-
zweifelhaft gehört aber Göllheim zu unserer Namen-
gruppe, denn hier hat die große Verkehrsstraße zum
Flußpaßort Dreisen, über die Pfrimm und weiter
über den Tonnersberg, eine sehr starke Steigung
zu überwinden. Nun könnte an dieser gilen ein
Vorspann leistender Fuhrmann seinen Wohnsitz auf-
geschlagen haben, benannt nach der Örtlichkeit, und
nach diesem Gilo könnte der hier später entstandene
Ort benannt worden sein, immer aber wäre dann
diese Person zuerst nach der Örtlichkeit benannt
worden, nicht umgekehrtcko So mögen denn auch die
Gelnhäuser ihre G e l a, jene sagenhafte Geliebte
Barbarossas, oder den Gelo und Geilo, die sich in
dem Ortsnamen versteckt halten sollen, ruhig für
alle Zeiten ihrem Sagenschatz einverleiben. Der
Name bedeutet nichts anderes als das, was die
Ortslage ganz deutlich besagt: die Behausungen
am geilen (Berg), oder wenn wir schon für die
althochdeutsche Zeit das Substantiv geile an-
2
nehmen können: die B ehausungen an der
Geilen.
1 Bergl. „Hessenland", 15)26 Nr. 7 und 8. —- 2 Vergl.
I. L. kreutev, „Die verschiedenartige Erklärung des
Ortsnamens Gelnhausen," in „Die .Heimat", Beilage
zum Gelnhäuser Tageblatt, 15)26 Nr. 8 (Festnummer).—
8 In Hanau ist es umgekehrt, in der Altstadt heißt
die frühere Pfarrgasse heute Fahrgasse, obwohl sie
für den Fährverkehr ganz ungeeignet ist und war. —
4 Bergl. Maldfeld, „Über die Gründung von Städten
im allgemerncn und die Gelnhausens im besonderen,"
im „Gelnhäuser Tageblatt", 1920 Nr. 114—150; ferner:
Maldfeld, „Dr. Schräder und die Kinzigstädte," „Ha-
nauisches Magazin" 4 (1925), Nr. 1. — "'I. L. Krcu-
ter, „Versuch einer Erklärung der Schreibweise Bvlc-
huaseri, des älteren Ortsnamens von Gelnhausen," in
„Die Heimat" a. a. O. — 6 Förstemann sagt unter
Gnl: „Für die Schweiz führt Gatschet ein gol, Berg-
schutt an: andere erschließen ein Wort gol im Sinne
von Fläche, Höhe." Bergl. auch Buck, „Oberd. Flur-
namenb." unter Gol und Gail. Wie der Augenschein
der Örtlichkeiten lehrt, sind wohl die meisten von diesen
Karl Graf von Berlepsch.
Ern D r ch t e r b r l d n i s a u s der d e u t s ch e n
Am unteren Lauf der Werra, des östlichen Quell-
flusses der Weser, einem Gebiet, in dem drei
deutsche Volksstämme, die Hessen, Thüringer und
Niedersachsen, einander berühren, wächst oberhalb
des anmutigen Dorfes Gertenbach aus dem schier
labyrinthischen Gefüge waldreicher Hügel, umsäumt
und umwogt vom Wipfelgrün der Eichen, Buchen,
Linden, Eschen, Eiben, ein uralter Herrensitz her-
vor, der in seiner ganzen Anlage, wehrhaft wie
sie ist, mit Türmen und Türmchen, Erkern, Zilv-
nen und vielfältiger Bedachung, ganz der volks-
tümlichen Vorstellung mehr freilich von einem
Märchenschloß als von einer Ritterburg entspricht:
Schloß Berlepsch, eine adelige Siedlung, über die
die mannigfachen Schicksale von mehr als einem
halben Jahrtausend hingezogen sind, Schicksale, die,
auch hier ihre Spur hinterlassend, gleichwohl nicht
vermochten, den menschlichen Lebenswillen, der da
Wurzel gefaßt hatte, auszutilgen. Feuer und Schwert
haben zwar des öfteren übel gehaust auf Berlepsch:
brachte schon die Lage des Schlosses an der hessischen
Grenzmark die Verwicklungen seiner Besitzer in zahl-
reiche Streitigkeiten zwischen den Landesherren, zu-
mal denen von Hessen und Braunschweig, mit sich,
so war es, air einen: besonders fruchtbaren Tal
gelegen, den Gefahren des 30jährigen Krieges, des-
sen Kampfscharen zumeist vom Marodieren lebten,
zu sehr ausgesetzt, als daß es sie nicht am eignen'
Leibe hätte spüren müssen. So wurde es beispiels-
weise im Jahre 1623 von Tillyschen Truppen er-
stürmt, geplündert und größtenteils niedergebrannt
und in dem folgenden Jahrzehnt, wie die zu ihm
gehörigen Dörfer und Güter, immer aufs neue
gebrandschatzt, so daß der Wohlstand der Besitzer
am Ende völlig vernichtet schien.
Namen zu unserer Gruppe zu zählen. „In romanischen
Gegenden ist gill — collis Hügel" (Buck). — 7 Arnolds
Ausführungen folgt auch Armbrust, „Entstehung und
Ableitung hessischer Ortsnamen", „Hessenland", 1896
S. 214. — 8 Nach Mitteilung des Herrn Lehrers Bier-
wirth in Eschwege. — 9 In meiner im Druck befind-
lichen Schrift „Die deutschen Ortsnamen in bezug ans
Grenzen und Verkehr. Neue Forschungen zur Namen-
kunde, Berkehrsgeschichte und politischen Geographie,"
die voraussichtlich Ende 1927 erscheinen soll, uürd ein-
gehender über diesen Gegenstand gesprochen. — 10 Auch
die von Förstemann zu dem Personennamen-Stamm
Gilo gestellten weiteren drei Ortsnamen sind zu Unrecht
dort untergebracht, wie das, bei jeder Namenforschung
übrigens ganz unerläßliche Kartenstudium beweist; sie
gehören zu den Verkehrs-Ortsnamen und zwar, zu
unserer Geilen-Gruppe, es könnte nur von fingierten
Personennamen die Rede sein. Die drei Ortsnamen
sind: Gilestorp, 9. Jahrh., Gielsdorf Kr. Bonn;
Gilesdorf, 793, Gilsdorf bei Diekirch, Großherzogt.
Luxemburg; Giwr8bu8en, 1158, Gellershausen
Kr. Hildburghausen; bei allen Orten Anstieg von Ber-
kehrsstraßen.
Von Will Scheller.
Gegenwart.
Aber die Berlepschs waren nicht von der Art,
solchem Ungemach sich zu beugen; sie, die das Schloß
an der Werra in der zweiten Hälfte des 14. Jahr-
hunderts gebaut hatten, waren eilt Menschenschlag,
der fest im eignen Wesen stand und steht und nicht
so sehr aus Besitzerfreude als aus tiefem Heimat-
gefühl und starkem Selbstbewußtsein heraus zu be-
wahren sucht, ivas ihm anheim gefallen ist. So
ließen sie sich's auch nicht verdrießen, auf den
Trümmern ihres Besitztums ein neues Leben zu
beginnen, und festigten dadurch ihre angeborene
Fähigkeit, den Widrigkeiten übler Schickung Trotz
zu bieten und, aller negativen Erfahrung unge-
achtet, das Leben, lvie immer sich's bot, herzhaft
zu bejahen und solche Bejahung auch durch die Tat
zu bekräftigen. Ter Name Berlepsch hatte freilich
schon iui frühen Mittelalter guten Klang. Arnold
von Berlepsch genoß das Vertrauen des Landgrafen
Heinrichs II. von .Hessen in solchem Maße, daß er
zum Erbkämmerer ernannt wurde und damit ein
Amt bekam, das es bis dahin am hessischen Hof
noch nicht gegeben hatte und das der Familie bis auf
den heutigen Tag gehört. (Der erbliche Grafentitel
ist dem jeweiligen Majoratsherrn 1869 von: König
von Preußen verliehen worden.) Derselbe Landgraf
Heinrich war es auch, der die Erbauung des Schlos-
ses Berlepsch nachdrücklich förderte. Viele Ber-
lepschs haben in Kriegdiensten unter hessischen und
anderen Fahnen sich ausgezeichnet. Hans von Ber-
lepsch war es, der 1521 Luther auf der Rückreise
von Worms gefangen nahm und auf der Wartburg
vor seinen Feinden behütete. Ein anderer, Fried-
rich Ludwig, Schriftsteller und Gelehrter, hat im
18. Jahrhundert auch dadurch von sich reden ge-
macht, daß er als Hofrichter nnb Landschatzrat der
1
hannöverschen Provinzen Kahlenberg und Göttin-
gen gegen die Beteiligung Hannovers am Krieg
gegen Frankreich so leidenschaftlich protestierte, das;
er seiner Ämter entsetzt wurde; der Familie gelang
es, wenn auch erst nach seinem Tode, die hanno-
versche Regierung auf dein Wege des Prozesses zu
einer Entschädigung zu zwingen. Sein Enkel, Graf
Haus, hat sich als Ornithologe einen Namen ge-
macht; seine 60 000 Bälge umfassende Vogelsamm-
lung befindet sich jetzt im Scuckenbergischeu Mu-
seum zu Frankfurt am Main.
Lebenstüchtigkeit, Daseinsbejahung und geistige
Regsamkeit sind also charakteristische Eigenschasteu
des Geschlechts derer
von Berlepsch, und es
kann füglich nicht
Wunder nehmen, das;
sie sich auch in der
Persönlichkeit dessen
wiederfinden, der die-
sen Namen über die
Grenzen ritterschaft-
licher und wissen-
schaftlicher Geltung
hinaus durch dichte-
risches Schassen in
den Raum schöpferi-
scher Geistigkeit wirken
läßt: in der Persön-
lichkeit des Grafen
Karl von Ber-
lepsch, in dessen
Künstlerschaft das Ge-
schlecht eine neue Be-
tätigung seiner Frucht-
barkeit und seines
inneren Reichtums er-
fährt. Karl von Ber-
lepsch wurde am 15.
Mai 1882 in Hann-
Münden geboren.
Durch seine Mutter,
eine Freiin von Bü-
low, die selbst eine
Sammlung eigener
Gedichte herausgege-
ben hat, wurde er in
seinen früh zutage tretenden dichterischen Neigungen
entschieden gefördert, und so sing er schon mit achtzehn
Jahren an, seine Gedichte in Zeitungen und Zeit-
schriften zu veröffentlichen. Ein augenfälliger Erfolg
>var die Auszeichnung einer Ballade „Der Weichen-
steller" durch einen Preis gelegentlich eines von
der „Woche" ausgeschriebenen Wettbewerbs. Be-
sondere Anteilnahme und Förderung fand der Dich-
ter bei „Velhagen und Klasings Monatsheften",
in denen nach und nach, eine ganze Reihe seiner
lyrischen und erzählenden Gedichte erschienen ist.
Alles dies hinderte ihn aber nicht, nach dem Besuch
der Gymnasien von Hann.-Münden, Wernigerode
a. Harz, Weilburg a. Lahn und des Gildemeister-
Justituts in Hannover sehr ernsthaft dein Rechts-
studium sich zu widinen, zu welchem Behuf er die
Universitäten München, Marburg a. Lahn und
Bonn besuchte. Seine praktische Betätigung als
Rechtsbeflissener, zunächst in Eitorf a. Sieg, dann
in Kassel, wurde durch den Kvieg unterbrochen,
den Karl von Berlepsch zuerst als Leutnant, dann
als Oberleutnant mitmachte, und zwar beim Re-
serve-Jnfanterie-Regiment Nr. 83 und später, dem
Dragoner-Regiment Nr. 5 in Hofgeismar ange-
hörig, bei einem höheren Stabe. Ta ihm nach dem
1915 erfolgten Ableben seines Vaters die Verwal-
tung des umfangreichen Familienbesitzes zufiel,
war es ihm nicht
möglich, die juristi-
sche Laufbahn weiter
zu verfolgen. So
nahm er nach Beendi-
gung des Krieges auf
den: alten Stamm-
schloß dauernden
Wohnsitz — und es
läßt sich, aus rein ob-
jektiver Betrachtung
heraus, sagen, daß
dieser Schicksalszwang
als eine überaus gün-
stige Fügung zu be-
trachten ist. Tenn
es gibt nichts Besse-
res für einen Dichter,
als dort zu Hausen,
wo er innerlich wur-
zelt, wo seine Verbin-
dung mit den Geheim-
nissen des Lebens, die
fruchtbare Berührun-
gen des menschlichen
Ich mit dem Du der
Welt, die allerinnigste
ist. Gewiß läßt sich
denken, daß jemand
an einer Stätte ge-
boren wird, die ihm
nichts gibt, da seine
innere Heimat an-
derswo gelegen ist, der
Ort, der Raum, die Landschaft, die den rechten Rah-
men für sein Wesen bildet. Das kommt vor, zweifels-
ohne. Zumeist aber und ganz natürlich liegt es doch,
lote im Falle Karls von Berlepsch, so, daß die Stätte
der Geburt, besser gesagt, des Jugendlebens, dem
Menschen „von früher Kindheit an der liebste Ort
aus Erden war und ist". Hier weht die Luft, die
dem longsanl zu sich selbst findenden Menschen die
unwägbaren Elemente zutrug, die sein Ichbewußt-
sein formten, hier entstanden die Eindrücke und
Erfahrungen, die seinem Blick das Dasein ordneten,
hier ist er so zu Hause, wie zu sein es der Mensch
nicht herzhafter sich wünschen kann. So spricht
Karl von Berlepsch zu seinem Wald als dem Ge-
J
y -
ALTRti) ,$OHN-RETHF.Li*M6
Karl Graf von Berlepsch.
fährten der Kindheit, der Jugend und des Mannes-
alters:
Mitfühlend sahst du Traum und Reisen
Der schwärmerischen Jünglingszeit,
Du sahst des Mannes kühnes Schtveifen
Und warst mit mir zur Tat bereit.
Mit allem, was ich ernst begonnen,
Kam Rat erhoffend ich zu dir,
Du heiltest fest mich und besonnen
Bon mancher sträflichen Begier. „
Zu dir trug ich mein erstes Lieben,
Gab mein Geheimnis deinem Ohr,
Du bist mir immer treu geblieben,
Wenn ich Errung'nes bald verlor.
Und tvenn sich Herz und Sinne fanden
In dir und deinem Schutz geeint, —
Du lächeltest und hast verstanden,
Mein stiller, väterlicher Freund!
Einem Menschen, der mit der Heimat so per-
sönlich verwachsen ist, dem wird sie mit jedem Tag
von neuem zum Erlebnis, der empfindet sie als
ein Glück, als eine Gnade, für deren überschweng-
liche Fülle er nicht müde werden kann, zu danken.
Und in der Tat erscheint ein beträchtlicher Teil
der Lyrik Berlepschs als ein verhaltener, wiewohl
inbrünstiger H y m n o s an die H eim at, die
er nicht mit Namen zu nennen braucht, weit seine
Dichtung ja ihr lebendiger Spiegel ist, wie sie
hinwiederum das Werden und Vergehen des Lebens
in der Natur für die hellen Augen des Dichters,
der zugleich ein sicherer Kenner dieses Lebens ist,
im Spiegel ihrer Wälder und Felder erscheinen läßt.
So begrüßt er, der immer das Positive schaut
und seinen Blick immer dem Licht zuwendet, im
Tauwetter eine erste Frühlingskunde und besingt
den ersten Sonnenschein als einen Gnadentag. Seine
Freude am Lenz ist so groß, daß er sie in einem
germanisch-heidnischen Ostara-Reigen aufjubeln läßt.
Ja, und selbst den Regen, der etwa den Mai ver-
düstert, empfindet der Dichter so sehr als Musik,
daß sie in seinen Versen deutlich nachklingt:
Die letzten schweren Tropfen hämmern
Melodisch durch das Blattgerank,
Und in ein veilchenfarbnes Dämmern
Mischt sich der Erde Opferdank.
Der Himmel, flockig eingesponnen,
Umgibt den Wald wie Federflaum.
Im Tal ein Dörfchen, tief versonnen,
Und hier und dort ein Blütenbaum.
Und dann kommt der Sommer, der „helle H>ei-
matsommer", dem Heinrich Ruppel, der hochbegabte
Landsmann Berlepschs, ein ganzes Buch lebendiger
Lyrik gewidmet hat. Der Sommer mit seinem
Ritt durch die blühende Kastanienallee, mit seinen
Morgengängen durch den Wald, mit seiner unbän-
digen Lust an der hohen Zeit des Jahres.
Das ist ein Rausch, der ohn' Erwachen ist,
Ein Wunderleben, das sich selbst vergißt
In Wonnen, die sich werdend überbieten.
Da gibt es nichts, was dem übervollen Herzen
dieses Dichters keinen Anlaß bietet, in wohllaiv-
tenden Wortgesügen sich auszuströmen: Bäume,
vom Wind gebogen, Goldregen, blühende Akazien,
Schilfgestade, Wiesenblumen — kurz, alles, was
ihm leuchtend begegnet, fängt er bebenden Gemütes
ein und formt es zu melodischem Sprachgebild.
Aber nicht nur das Werden und das Sein — auch
das Vergehen gehört zu diesem beständigen Rausch
des Empfindens, ja, gerade der Herbst ist es, dep
diesem, auch diesem Dichter sonore Klänge schöner
Begeisterung entlockt:
Du göttliches Fanal!
Ich' breite meine Arme aus
Und stürze mich in deine Flammen!
Komm, süße Glut! Zünd an mein Haus!
Schlag jauchzend über mir zusammen!
So preist er die Septembersonne beim Auf- und
Niedergang, preist das Weiß der Astern und das
Rot des wilden Weins, spürt den Odem der Unsterb-
lichkeit im Erntesegen und ruft im Weinmonat
freudig aus:
Nütze die Stunde der Lust!
Singt es im herbstlichen Wald,
In zufriedener Brust
Wird das Leben nicht alt!
Was deinen Händen entrollt,
Wein ihm kein Tränlein nach! —
Trinken will ich dein Gold,
Stiller Oktobertag.-------
„Trinken will ich dein Gold!" — so lautet,
kennzeichnend zugleich und nicht ohne heimlichen
Verheißungsklang, der Titel des ersten Buches,
das Karl von Berlepsch veröffentlicht hat. Und
schon in diesem Buch weiß er auch dem Winter ein
Lob zu singen, das er dann im jüngsten, „Die
andere Welt" betitelt, wiederum anstimmt.
Aus Weiß und Hellblau flaumig hingeweht,
Mit leuchtend Gelb und Rosa übergössen,
Weich jede Form, unwirklich und zerflossen,
Ein Segel, das in hundert Bauschen bläht.
Nur manchmal, wenn der Wind ganz leise geht,
Tann gleitet von der Bäume höchsten Sprossen,
Weil er verbotnen Sonnenkuß genossen,
Ein Zipfel von des Winters Majestät.
Tie Lyrik Berlepschs ist nach alledem eine gleich-
sam optische Reflexion des Erlebnisses. Tie
Stimmungen, die sie festhält und wiedergibt, be-
ruhen wesentlich auf dem, was das A u g e sieht,
und so liegt es nahe genug, daß der Dichter sich
bemüht, Linien und Farben des jeweiligen Bildes,
das die betreffende Stimmung in ihm auslöste, in
seinen Versen weiterleben zu lassen. So malt er
in schier altmeisterlicher Treue die „Felder vor dem
Gewitter" etwa, eine Fahrt ins Schilf, einen Sep-
tembermorgen vor dem Jagdhaus, dergestalt, daß
es keine Schwierigkeit macht, seinem Blick zu folgen
und zu schauen, tvas er in sich aufgenommen hat.
Andererseits aber ist nicht zu verkennen, daß neben
dieser der Lebenstüchtigkeit und Taseinsbejahung
derer von Berlepsch entsprechenden wirklichkeits-
frohen Einstellung ein anderes Element schöpferisch
mitwirkt, das mehr von innen kommt und durch
5
das Ohr einzugehen bestimmt ist: ein außerordent-
lich starkes rhythmisches Empfinden, das
eigenkräftig genug ist, um bei geeigneter Gelegen-
heit der lyrischen Optik die Herrschaft streitig zu
machen. Daß dies in der Liebesdichtung
unbedingt der Fall ist, kann einem Zweifel nicht
unterliegen; denn hier beruht der schöpferische Stim-
mungsgehalt auf einem rückhaltlosen Sich-Versenken
in das primäre Gefühl der Zuneigung und in die
Bewegung, die dieses Gefühl je nach dem Grade
des Anlasses hervorruft. Bewegungen — aber das
ist etwas, das immer als Rhythmus empfunden
wird und seinen Ausdruck in einer Verbindung
dieses musikalischen Empfindens mit Sinnbildern,
Symbolen sucht, weil es für derart subjektive Er-
lebnisse keine konkreten Vorstellungen gibt. Um
sie zu verlautbaren, bedarf der Dichter des Gleich-
nisses, denn die Stimmung, um die sich's handelt,
ist — objektiv — nur durch dieses Mittel zu er-
fassen. Es erscheint beispielsweise unmöglich, das,
was in der „Indischen Strophe" gesagt ist, „anders"
zu sagen, und eben darin liegt der Beweis für die
Notwendigkeit und Vollkommenheit dieses sprach-
lichen Kunstwerks:
Eine Mädchenseele gleicht dem Schal,
Ten man leicht hinsinken ließ von runder.
Weißer Schulter,
Weich und vielgesaltet ohne Wahl,
Und in jeder Falte wohnt ein Wunder.
Wenn ihn einer hebt mit zarter Hand,
Glätten sich die feinen Falten alle
Still und dankbar,
Und er hält ein strahlendes Gewand,
Fließend, wie in einem Wasserfalle.
Dieses Gedicht, nicht nur eines der schönsten, die
Berlepsch geschaffen hat, sondern auch eins der
edelsten, die die deutsche Lyrik überhaupt kennt,,
ist zugleich charakteristisch für das Wesen der Zu-
neigung von Mann zu Weib, wie Berlepsch sie
empfindet. Es ist etwas Traumhaftes in diesem
Erleben, eine Keuschheit, die nicht Schwäche und
Entsagung, sondern Kraft und Adel des Gefühls
bedeutet. Ter Dichter sieht in der geliebten Frau
etwas Hohes und Erhöhendes und ähnelt darin
dem Troubadour, dem er einmal seine Stimme leiht.
Zuweilen ist ihm, als möchte er alles Körperliche
hassen, weil es die Eintracht der Seelen stört. Sein
mithin sehr inniges Empfinden ermangelt übrigens
nicht einer reichen Schattierung, die er zu pflegen
weiß und deren sprachliche Spiegelung mitunter,
wie sie zumal in dem Gedichtband „Die andere
Welt" vernehmbar wird, liedhaften Charakter zeigt:
Ich denk an dich wie an die Sonnenglut,
Die über Mittag auf den Wäldern ruht,
Ich denk an dich wie an ein Ährenfeld,
Von Früchten schwer, vom Sommerwind geschwellt.
Ich denk an dich wie an die Sternennacht,
Die nie erforscht und niemals ausgedacht,
Unendlich hoch, unendlich schön und fern,
Vergangne Stunden leuchten — Stern an Stern..
Es ist aber nicht nur das eigene, subjektive!
Empfinden, das Karl von Berlepsch zum schöpfe-
rischen Erlebnis wird. Seine Gedichte aus dem
Krieg, namentlich tu dem Buch „Vom Herzschlag
der Stunden" gesammelt, lassen erkennen, daß auch
das Allgemeine, daß auch das Schicksal der Nation
tlnd der Menschheit dem Dichter eine Sache ist, gleich
ernst und wichtig wie das eigene Sein, das eigene
Leid. Aber er verfällt weder in eine üble Hurra-
Poesie noch Zn verbohrte Haßgesänge, er steht mit-
fühlend über allen Einseitigkeiten und schaut mit
tiefer schmerzlicher Andacht den Geschehnissen zu,
die die Welt erschüttern. Das schlechthin Mensch-
liche ist es, dessen Qual ihn ergreift und dessen
in dem blutigen Chaos spärliche Schönheit, wie
sie sich etwa in der. Kameradschaft offenbart,
ihn bewegt. Aber er verfällt auch hier so wenig
in iveichliche Gefühlsschwelgereien wie in prahle-
rische, doch so leere Wortgepränge, wie sie nur zu
häufig in dieser Zeit erschienen und erscheinen,
sondern formt licht und klar, wie es ihm zu Sinn
ist, etwa in „Bruder, schlag ein":
Nun laßt den fressenden Bruderstreit!
Uns bindet alle das gleiche Leid,
Uns eint der Haß, der die Feinde entstellt,
Nun zeigt voll Ruhe dem Wahnsinn der Welt:
Daß ihr Deutsche seid!
Das Glück macht lässig, das Glück macht blind,
Wir Fhen erst klar, wenn die Not beginnt.
Wir sind doch alle aus einem Holz,
Wir fühlen erst heute in stummem Stolz:
Daß wir Deutsche sind!
Und die im Osten und die am Rhein,
Sie wollen von uns gehalten sein
Durch untern Willen und unsern Mut,
Tann wird am Ende noch alles gut!
Bruder, schlag ein!
Einem Menschen aber, der wie Karl von Ber-
lepsch in Heimat und Familie verwurzelt ist, dem
kann auch die Vergangenheit nichts Totes
sein, denn diese Verwurzelung ist ja eine Brücke
des Blutes über die Schluchten und Abgründe der
Vergänglichkeit. Und so wachen die Zeiten, die
die Väter erlebten, in der Dichtung des Enkels
wieder auf und treten in manchem Bilde plastisch
vor den geistigen Blick der Nachwelt hin. Das
Rokoko ist es vor allem, das eine besondere An-
ziehungskraft auf den Dichter ausübt und in zahl-
reichen Variationen in seinem Schaffen erscheint.
Aber nicht nur diese Kultur-Epoche, und nicht nur
in lyrischen Miniaturen von heiterem Kolorit. Der
frühe Erfolg, den Karl von Berlepsch als Balladen-
dichter errungen hat, ist kein vereinzelter Fall,
sondern kennzeichnend für eine entschiedene künst-
lerische Veranlagung: in seiner Eigenschaft als
Balladen-Dichter betätigt Berlepsch zu-
weilen eine nicht geringere Gestaltungskraft als
in seiner Eigenschaft als Lyriker. Geschichtliche
Begebenheiten, wie die Erschießung des hessischen
Freiheitshelden Emmerich durch die Franzosen, sa-
genhafte Vorkommnisse, wie der Tod des Tomban-
6
Meisters, ersonnenes Geschehen, wie das Schicksal
des Künstlerpaars, finden in ihni einen Bildner
von beachtlicher Willensentfaltung. Es ist hierbei
freilich nicht zu verkennen, daß in diesen Balladen
die Stimmung fast immer stärker ist als die eigent-
liche Erzählung, ja, daß sie manchmal sogar den
Keim des betreffenden Werkes enthält. Tie Wir-
kung von Berlepschs erzählenden Gedichten beruht
mithin, ob es nun um eine buddhistische Legende
oder eine deutsche Soldatengeschichte, um ein hei-
teres Vorkommnis aus dem „Scherzenden Jahr-
hundert", wie Stefan George das 18. nennt, oder
um ein so neuzeitliches Problem wie die Talsperre
sich handelt, auf einer ganz eigentümlichen Mi-
schung von Lyrik und Epik, die der Balladendich-
tung Karls von Berlepsch ihr charakteristisches Ge-
präge gibt. Als ein, wenn auch karges Beispiel
möge wenigstens der Schluß der Ballade vom Ober-
sten Emmerich dienen, den auch in der Todesstunde
die treue Pfeife nicht verließ:
Als Oberst Emmerich zum Sterben schritt,
Die Menge zog trauernd des Weges mit.
Er grüßte freundlich den stummen Chor,
Sog blaue Wolken aus seinem Rohr.
Der Franzmann mußte baß erstaunen
Über des Alten Lächeln und Launen.
Nur einmal vergaß der das Rauchen wohl,
Da rief er laut seine trotz'ge Parol:
„Ter Kurfürst, mein rechtmäßiger Herr!"
„Feuer!" Es krachten zwanzig Gewehr'! —
Die Pfeife mußte auf ewig erkalten
Wie die Heldenfaust, die sie sterbend gehalten.
Dieses Beispiel ist es übrigens nicht allein, das
beweist, wie Berlepschs Heimatliebe, immer aufs
neue sich kundgebend, auch in seinen Vers-Er-
zählungen zur Geltung kommt. In der „Talsperre"
gelangt sie in noch stärkerer, gleichsam mystischer
Verdichtung zum Ausdruck, und wie manche heimat-
liche Impression mag in anderen Stücken dieser Art,
ihre Szenerie formen und mit warmem Schein
erfüllend, aufgegangen sein, wie sie ja auch den
feingetönten Hintergrund seiner Liebeslyrik bildet!
Tenn alles, was dieser Dichter schafft, wächst ja
aus gemeinsamem Boden, aus den Tiefen einer
einheitlichen Welt, eines inneren Daseinsgrundes,
der von dem greifbaren Lebensraum, der Heiuiat,
seine Maße empfangen, sie aber auf eigene Weise,
dem Ichbewußtsein und deut Willenstrieb des schöp-
ferischen Charakters entsprechend, als ivelcher Ber-
lepsch zu erkennen ist, ausgeprägt hat. So bleibt
ihm immer, wieweit ihn das Schicksal in die Welt
verschlagen und wohin auch immer der Gedanke
ihn tragen mag, die Heimat das „Land der ewigen
Wiederkehr", die Heintat, lute sie in ihm selbst aus
Wirklichkeit und Sehnsucht ihren Kosmos erzeugt
hat. Heimat ist für den schöpferischen Menschen nicht
ein zufälliger Zusammenhang zwischen dem Ich
und irgendeinem Ort, sondern die Übereinstimmung
dieses Ich mit dem Wesen einer Landschaft, deren
Pfade nicht nur, einem Wort Georges nach, „durch
das Gefild", sondern auch „wie durch die Seele"
ziehen. Diese innere Kongruenz, die aus der Welt
und dem Leben auf ihr eine „paradiesische Land-
schaft" . macht, sie ist die höhere Synthese, zu der
auch Kart von Berlepsch durch die männliche Kraft
seines Dichtertums gelangt ist und deren Zugang
ihm nichts und niemand verschütten kann. Es ist
„die andere Welt", wo er zu Hause ist und wo er
immer sich aufhält, wenn er sich in seinem Innern
von der äußeren Umgebung entfernt, wie er selbst
es in dem Gedicht „Geistesabwesend" geschildert
hat:
Wo ich dann weile? — Gerne sag' ich's euch.
War's doch von Jugend an dasselbe Träumen:
Ein alter Park mit struppigem Gesträuch,
Mit hohen, efeuüberrankten Bäumen;
Mit dunklen Orten, drin die Sage spinnt,
Und müden Weihern, ganz von Schilf durchschnitten,
Mit Wielen, die so weiß von Schierling sind
Und übersät mit tausend Margueriten.
Die alten Linden blühen überreich,
Es strömt ihr süßer Duft in sanften Wellen,
Schwertlilien ragen golden aus dem Teich,
In Sonnengluten zittern die Libellen. —
£td£)tlTtcf3« Von Dr. Anneliese Breischneider.
(Aus dem Material des Hessen-Nassauischen Wörterbuchs.)
Amsel, Drossel, Fink und Star scheinen uns in
kalter, dunkler Winterzeit die Verkörperung des
siegreichen Frühlings, und das freudige Gefühl,
das bei der Erinnerung an ihre jubelnden Lieder
in uns aufglüht, wird ebenso lebendig nur noch bei
dem Gedanken an die anderen Frühlingskinder,
Flieder und Goldregen, Holunder und Jasmin.
Aber ehe diese ganze Pracht des Lenzes sich ent-
falten kann, geht- ein langes Ringen des Lichtes
gegen die Finsternis voraus. Schneeglöckchen und
Anemonen, Leberblümchen und Haselkätzchen führen
einen tapferen Kampf gegen nächtliche Fröste und
„Schauer körnigen Eises", die schließlich ohnmächtig
bleiben müssen, aber tvie oft so grausam alles
junge Leben ersticken.
Diesem Kampf schaut der Landmann mit un-
geteilter Aufmerksamkeit zu; hängt doch davon, wie
sich die Witterung der Monde des Vorfrühlings
gestaltet, soviel für die kommende Saat und Ernte
ab. Da gilt es nun besonders an Lichtmeß, aut
2. Februar, gut aufzupassen! Denn das ist der
wichtige Tag, an dem sich beobachten läßt, welchen
Charakter das Wetter in den nächsten Wochen zei-
gen wird. Amsel, Drossel, Fink und Star verlie-
ren gänzlich an Zugkraft, aber Dachs, Fuchs, Bär
und gar der Wolf werden Gegenstand des brennen-
den Interesses. An Lichtmeß kriecht nämlich der
Dachs aus seiner Höhle und schaut zum ersten
Male wieder nach, wie eigentlich die Dinge stehen.
Scheint nun die Sonne vom Himmel herab, so
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streckt er sich behaglich vor seinem Loch; wenn er
dann aber plötzlich seinen Schatten sieht, so ivird ihm
irgendwie unheimlich, er kriecht zurück und bleibt
noch vier Wochen nt seiner warmen Behausung.
Denn der Schatten, der deutet die harte, winterliche
Witterung der nächsten vier Wochen an. Das hat
ihm der Bauer wohl abgelauscht und irr gute
Sprüche gebracht: „Wenn der Dachs auf Licht-
meß seinen Schatten sieht, kriecht er noch einmal
vier Wochen ins Loch." Das ist eirre alte Wetter-
regel. Ter Bauer hat sie schon von seinem Groß-
vater gehört und dieser sie schon im Kalender
studiert. Sie ist weit verbreitet und auch bei uns
in Hessen und Nassau allgemein bekannt. Die Nutz-
anwendung, daß noch viel Kälte kommt, wenn an
Lichtmeß die Sonne scheint, ist auch irr Reimen zu
hören, wenn auch das Naturkräftige des Bildes
der Preis für das poetische Gewand ist:
„Ist auf Lichtmeß Sonnenschein,
das bringt noch viel Schnee herein."
So hat es der Volksmund am Kellerwald geformt.
Aber viel besser ist es, wenn es recht wirbelt
und schneit und das Wetter so unwirtlich ist, daß
die wilden Tiere um Nahrung bis an die mensch-
lichen Wohnstätten kommen, denn „Zu Lichtmeß
hat der Schäfer lieber den Wolf, als die Sonne im
Stall".
Eilt ähnliches Schicksal wie bei uns den Dachs,
und in kälteren Gegenden den Bären, ereilt auch den
Fuchs: „Scheint zu Lichtmeß die Sonne dem Pfaf-
fen ans ben Altar, so muß der Fuchs wieder sechs
Wochen ins Loch." Deutlich wird in all diesen
Wetterregeln die Sonne, das Licht, beobachtet, und
geradezu gemessen wird es in folgenden Zeilen:
(Der Tag nimmt zu):
„Weihnachten einen Hahnenschrei,
Heilge drei Könige einen Hirschensprung,
Lichtmeß eine ganze Stnnd."
Ebenso mißt die Zunahme des Lichtes ein Reim,
der in der Schwalm bekannt ist:
„Auf Lichtmeß
schlägt die Glock bei Tag sechs."
Welcher Fortschritt an Lichtmeß gegen die dunklen
Dezember- und Januartage, wo beim Glockenschlage
sechs noch undurchdringliche Dunkelheit alles rings
umhüllte!
Was liegt nun näher als zu glauben, daß das
Wort „Lichtmeß" von diesem „Messen des Lichtes"
seinen Namen hat? Daß „Lichtmeß" tatsächlich
vielfach so gedeutet wird, geht eben gerade aus der
großen Zahl von Wetterregelti hervor, die alle an
das Licht anknüpfen. Folgender Reim:
„Lichtmeß helle,
sät man den Flachs in die Delle;
Lichtmeß dunkel,
sät man ihn auf den Brunkel (d. i. Anhöhe)"
ist uns aus dem Waldeckischen eingeschickt worden.
Was sagt er anderes, als daß man vom Benehmen
des Dachses gelernt hat? Sieht der Dachs seinen
Schatten, ist helles Sonnenlicht, so sät man den
Flachs in die Telle, an eine tief gelegene, ge-
schützte Stelle; denn es kommen noch vier Wochen
harter Kälte. Ist aber dunkler Himmel, dann kann
man ihn getrost auf die rauhe, windüberzogene
Anhöhe säen, denn es tritt mildes Wetter ein.
In unserem Wörterbuchgebiet erfreut sich noch
ein anderer Lichtmeßreim großer Beliebtheit:
„Zu Lichtmessen
müssen die Herrn bei Tag essen!"
Weit verbreitet in Hessen und Nassau ist die An-
sicht, daß irgendwelche „Herren" am 2. Februar
bei Tag essen müssen! Welcher Art diese Herren
sind (denn die Mehrzahlform „Herren" ist deut
hessischen Volksdenken ein Begriff, um Fremdar-
tiges, Vornehmes zu bezeichnen!), wird beleuchtet
durch eine Erweiterung des Reimes, die sich recht
zahlreich findet:
„Lichtmeß,
die Herrn bei Tag ess',
die Armen, wenn sie was haben"
oder: „Zu Lichtmessen
müssen die Herrn bei Tag essen,
die Bauern, wenn sie's können,
die armen Leute, wenn sie's haben."
Nun, die „Herren" sind reiche, sorgenfreie Leute,
die in Hülle und Fülle zu essen haben, im Gegen-
satz zu anderen Leuten. Das geht aus diesen Er-
weiterungen des Reimes hervor. Welche Elemente
nun die Bildung solcher Reime begünstigen, zeigt
die Mitteilung eines Einsenders, der uns schreibt:
„An Lichtmeß mußten die Insassen des Klosters
Fulda das Abendessen vor Eintritt der Dunkelheit
einnehmen, weil ihnen von diesem Tage an kein
Licht mehr zur Verfügung gestellt wurde."
Mit diesen Reimen und dieser Erklärung weicht
zwar das Volksdenken stark von der Wetterregel
ab, zeigt aber doch noch deutlich einen Zusammen-
hang mit dem Zunehmen des Tageslichts. Sie
bildeir eine Brücke, die von der Vorstellung des
„Tageslicht- oder Sonnenlichtmessens" zu der
Welt hiuüberleitet, von der das Wort „Lichtmeß"
seinen Ausgang genommen hat, nämlich der der
katholischen Kirche. Lichtmeß bedeutet ursprünglich
nichts weiter, als daß aul 2. Februar, dem Fest
der Reinigung Mariä, die Kirche die zum Gottes-
dienst gebrauchten Lichte, Kerzen, in einer Messe
weiht.
Diese Lichtmesse, ursprünglich und noch heute
im katholischen Deutschland ein kirchlicher Akt, wur-
de dann zur Bezeichnung des 2. Februar überhaupt.
Als einfache Zeitbestimmung ist Lichtmeß auch heute
noch in Hessen-Nassau bekannt: „nach Lichtmeß"
hört man z. B. summarisch die Zeit zwischen Fast-
nacht und Ostern im Oberlahnkreis benennen.
Nichts anderes als eine Zeitangabe ist weiter die
in Hessen bekannte Wetterregel:
„Lichtmeß
will einen der Winter gar fress'",
die besagt, daß an Lichtmeß oft besonders grimmige
Kälte eintritt, die wie ein böses Tier den Menschen
überfüllt.
Ist Lichtmeß aber zur Bezeichnung eines be-
stimmten Kalenderdatums geworden, so ist gewiß
die Möglichkeit gegeben, Wetterregeln daratt an-
zuknüpfen, wie sie sich an Matthäus (24. Februar),
Johanni usw. auch knüpfen. Aber die weite und
allgemeine Verbreitung dieser Umdeutung zum
„Messen des Tageslichts" ist doch auffällig und
muß durch irgend etwas besonders begünstigt wor-
den sein. Ohne Zweifel ist das die Tatsache, daß
auf protestantischem Boden das Fest Mariä Licht-
messe vollständig unbekannt ist und der Name sei-
nen alten Sinn verloren hat. Wie dieser kirchliche
Akt im besonderen, so ist die „Messe" im allge-
meinen ein beinahe unbekanntes Etwas geworden,
denn in „Kirmes" (d. i. Kirchmesse) flihrt sie nur
ein kümmerliches Dasein und ist zum Suffix herab-
gesunken! „Lichtmeß" ist also ein fremdes Wort
dort geworden, wo keine Messe mehr die Lichte
weiht. Fremdkörper aber werden schlecht in der
Mundart gelitten, tote Worte werden neu belebt,
wenn es irgend geht und die Sprache Möglichkeiten
für eine solche Neubelebung schasst. Die Möglich-
keit liegt meist in der klanglichen Ähnlichkeit
des unverstandenen Lautkomplexes mit einem ge-
läufigen Wort: so war hier das Gegebene, Lichte
Kerze ans Lichte Sonnenlicht, Tageslicht, zu über-
tragen, und die Messe an messen anzulehnen.
Wunderschön ließ sich ein neuer Gedanke an dies
neue Wortgebilde, oder vielmehr Sinngebilde, an-
knüpfen: die Zunahme des Lichtes, die für den
Bauer ein viel wichtigerer Faktor ist als für den
Städter, der sich einen beinahe vollständigen Ersatz
des natürlichen Lichtes geschaffen hat.
In unserem Falle „Lichtmeß" ist also die Form
des Wortes das Gegebene gewesen. Ter Form-Zu-
fall, daß sie nämlich Licht- und nicht — was doch
auch möglich gewesen wäre — vielleicht Kerzen-
messe im Volksmund gelautet hat, hat eine Neube-
lebung in unserem ziveiten Sinne ermöglicht. Wie
oft beobachten wir in der Sprache, daß neue Ideen
sich neue Worte bilden! Hier ist einmal ein Fall,
der deutlich das Gegenteil zeigt! Und welch blühen-
des sprachliches Leben hat sich auf der unverstande-
nen Form neu entwickelt! So blühend, lute wohl auf
der ursprünglichen nie! Farbige Naturbilder von
Dachs, Fuchs, Bär und ihrem Höhlendasein, vom
slachssüenden Landmann und sorglichen Schäfer ver-
leihen dem „Lichtmessen" am 2. Februar einen kräf-
tigeren Glanz als der Kerzenschimmer der feierlichen
Prozession an „Mariä Lichtmesse" es wohl je ver-
mochte.
Die hessische Sagensammlung.
Es fehlt uns in Hessen immer noch die Sagen-
sammlung, die mit den Mitteln moderner Forschung
alles vorhandene und noch erreichbare Sagengut
erfaßt, sichtet und ordnet, und zwar ordnet nicht
nach einem Sammlerschema, sondern nach inneren
organischen Zusammenhängen, so daß ein leben-
diges Bild hessischen Volkstums entsteht und damit
zugleich das Kernstück einer hessischen Stammes-
kunde. Eine umfassende und quellenmäßige Sa-
gensammlung also, wie sie die mitteldeutschen Land-
schaften von Schlesien bis Thüringen, wie sie das
Rheinland und Westfalen bereits besitzen und der
Harz sie jetzt bekommen wird. Ter Herausgeber
des deutschen Sagenwerkes, das im Verlage von
Eugen Diederichs in Jena erscheint, Paul Zau-
nert, hat nun auch für Hessen diese Arbeit in An-
griff genommen. Es handelt sich hier nicht um
eins von jenen allznvielen Büchern, die dadurch
zustande kommen, daß aus zwölfen ein dreizehntes
gemacht wird. Es soll, soweit es bei einer Sagen-
sammlung möglich ist, et>vas Endgültiges geschaffen,
ganze und gründliche Arbeit getan werden.
Dazu brauchen wir die Mitwirkung aller, die
irgendwie die Möglichkeit haben, Sagenquellen zu
erschließen. Es ist bei uns in Hessen darin bisher
viel zu ivenig geschehen, es ist bereits viel versäumt
worden. Mit jeder Sage, die verklingt und ver-
gessen wird, geht ein Stück Volkstum verloren.
Die Sagen müssen wörtlich, so wie man sie er-
zählt bekommt, ausgeschrieben werden, unter mög-
lichster Beibehaltung des Mundartlichen, besonders
der Bezeichnungen für die Wesen und Vorgänge
der Sagen und sonstige Dinge des Volksaberglau-
bens. Nicht zu vergessen sind dabei Angaben über
den Ort, wo die Sage her ist, wesentlich sind solche
ferner über die Person des Erzählenden, nach Alter,
Stand, Geschlecht und Herkunft (ob Zugewanderter
oder Alt-Ansässiger), auch über sein Verhältnis
zu dem Erzählten, ob er es früher in seiner Ju-
gend gehört oder neuerdings, ob von denen, die
es erlebt haben, oder ob er es selbst erlebt hat. Auch
ob die Sage öfter erzählt wird oder nur verein!-
zelt anstritt.
Nach den bisherigen Erfahrungen geht man bei
dem Nachforschen am besten von verschiedenen Aus-
gangspunkten vor, und zwar:
1. von Örtlichkeiten aus, indem ntcm fragt
nach Sagen, die sich knüpfen an: Berge, Felsen,
Höhlen, Steine. — Vorchristliche Grabstätten. —
Ruinen, Schlösser, Gutshöfe, alte bürgerliche Bau-
ten. — Kirchen, Kirchhöfe, Klöster, Bilder, Kreuze,
Glocken. — Wälder und einzelne Bäume. — Berg-
und Hüttenwerke, Mühlen, Hämmer. — Quellen,
Brunnen, Flüsse, Seen, Moore. — Ausfallende
Flurnamen und andere merkwürdige Ortsnamen.
2. kann man vom Stofflichen, vom Sagentypus
ausgehen. Ta kann es sich z. B. handeln um: Zau-
ber (Festbannen, Feuersegen, Liebeszauber, Zau-
berbücher, Wünschelrute, Verwünschung und Fluch,
Kreuzweg, Zauberzeit, z. B. Christnacht). — Ein-
zelne Personen, die int Besitz besonderer geheimer
Kräfte und Künste sind (Schwarzkünstler, Wunder-
doktoren, Jäger, Zigeuner, Juden, Schäfer usw.) —
Hexen, Nachtmahr (Alp), Werlvolf. — Tie Heiligen:
geweihte Dinge; besondere Kräfte der Geistlichen.—
Das „zweite Gesicht" (Vorschau künftiger, meist
unglücklicher Ereignisse, z. B. Todesfälle, Brände
usw.); Vorbedeutungen, Träume. — Prophezeinn-
9
gen (Zukunftskriege, politische Umwälzungen, Tau-
sendjähriges Reich, Himmelszeichen, große Natur-
ereignisse, Klimaänderung). — Ter Tod (Erschei-
nung oder Anmeldung von Sterbenden, andere
Vorgänge in der Todesstunde, oder bei der Leiche
usw. — Wiederkehrende Tote (wie sie zu befragen
sind; warum sie umgehen; Erlösung usw.). —
Lichtspuk, gespenstische Tiere (Katzen, Hunde, Ha-
sen usw.), Reiter, Jäger und Kutschen. — Ver-
grabene Schätze (Geldfeuer, Spuk bei solchen Stel-
len; Goldgeld, vergrabene Waffen, letzteres mit
Vorsicht). — Geschichten vom Teufel (wie er ge-
prellt wird; unerklärlicher Reichtum; Begebenhei-
ten mit Trinkern, Kartenspielern, Freimaurern).
3. von der Reichs-, Landes- und Ortsgeschichte
aus; solche Sagen knüpfen sich z. B. an: Kriegs-
zeiten (Schweden, Franzosen, Kosaken, Weltkrieg,
Revolution). — Religiöse Bewegungen (Reforma-
tion, Sektierer, Propheten). — Einzelne geschicht-
liche Persönlichkeiten (Landgrafen und Kurfürsten,
den Alten Fritz, Napoleon, Jerome, Dörnberg,
Rothschild). — Gutsherrn, Barone, „Originale". —
Berüchtigte Räuber. — Seuchen (den schwarzen
Tod usw.). — Entstehung von Ortschaften, Merk-
würdigkeiten der Ortsgeschichte. —
-Mitteilungen, möglichst auf einseitig beschrie-
benem Papier, und mit genauer Angabe des Ab-
senders werden erbeten an Or. Paul Zaunert,
Kassel-Wilhelmshöhe, Landgras-Karlstr. 58.
(Es muß in allen Teilen Hessens Ehrensache
eines jeden sein, der dazu in der Lage ist, an dieser
Sagensammlung mitzuwirken, damit sie hinter den-
jenigen der anderen deutschen Landschaften nicht
zurücksteht. Herr Or. Zaunert ist zu jeder näheren
Auskunft gern bereit. Tie Schriftleitung.).
Wie sich ein Kompagnie-Chirurgus im Jahre 1790, des Dienstes im
hessischen Heere müde, um die Stelle eines Amtschirurgus bewirbt.
Mitgeteilt von Rausch, Thurnhosbach.
Erlaucht,
Hochgeborener Reichsgraf,
gnädigster Graf und Herr!
Ich muß gleich im Eingang meiner demütigen
Bitte Ew. Erlaucht untertänigst um gnädige Ver-
zeihung bitten, daß ich diese vor Hochdieselbe zu
bringen wage. Eine kurze Darstellung meiner Um-
stände, wird Ew. Erlaucht die Ursache zeigen, welche
mich zu dieser untertänigsten Vorstellung veranlaßt.
Ich lernte zu Steinau an der Straße bei meinem
nunmehr verstorbenen Vater die Chirurgie und
wurde darauf vor 10 Jahren auf besonderen Be-
fehl des damaligen Herrn Erbprinzen, jetzt regie-
renden Herrn Landgrafen von Hessen, bei dem
Hanau'schen Grenadier-Regiment als Kompagnie-
Chirurgus angestellt. Ich versah meinen Dienst
zur Befriedigung meiner Vorgesetzten bis 1787,
da ich mich zur Erweiterung meiner medizinischen
Kenntnisse nach Marburg begab. Nach Beendigung
dieser Studien mußte ich mich wieder zum Regi-
niente verfügen. Tie öfteren Märsche desselben
ins Lager oder zum Exerzieren nach Kassel ver-
setzten mich jederzeit aus meinem hiesigen Wir-
kungskreis, wo ich viele medizinische Praxis hatte
und noch habe. Vor einem halben Jahr gefiel es
nun gar dem Herrn Landgrafen, unser Regiment
zum 2. Bataillon seiner Grenadier-Garde zu: machen,
und dieser Veränderung zufolge mußten wir alle
nach Kassel abreisen.
Da ich nun dort, weil ich unbekannt bin, nichts
verdienen und mit der geringen Gage unmöglich
leben konnte, so forderte ich zweimal meinen Ab-
schied, der mir aber jedesmal unter dem Versprechen
Sr. Durchlaucht, mich anderweit zu versorgen, ab-
geschlagen wurde. Hierzu sah ich wenig Hoffnung
und nahm darauf vor einigen Wochen Urlaub bis
zur Exerzierzeit. Von hier aus erbat ich zum 3.
Mal meinen Abschied, der, wie ich hoffe und
wünsche, mir zugestanden wird.
Nun habe ich den Plan, mich unter den gnädigen
Schutz Ew. Hochgräfl. Exzellenz zu begeben, und
wollte Hochdieselbe hierdurch untertänigst anflehen,
mir die gnädige Erlaubnis zu erteilen, in dem
Residenzort Rödelheim meine medizinischen und
chirurgischen Wissenschaften ausüben zu dürfen. Ich
weiß, daß vor einigen Jahren ein Mediziner, na-
mens Rosenkranz daselbst mit dem Tod abgegangen,
welcher den Charakter als Amtschirurgus mit einem
jährlichen Gehalt von 50 Talern hatte. Wenn es
Ew. Erlaucht gefiele, mir diese erledigte Stelle in
Rödelheim zu erteilen, so würde ich mich unter
hochderognädigen Regierung weit glücklicher schät-
zen als bei dem mir widrig gewordenen hessischen
Militair.
Ich füge noch in Untertänigkeit hinzu, daß ich
alle nötigen Instrumente zur Entbindungskunst und
anderen Operationen eigen besitze und erbötig
bin, — weil meine testimonia universitatis noch
seit der 1. Vorstellung auf fürstlicher Kriegskanzlei
in Kassel liegen, — mich noch einmal über meine
Brauchbarkeit in Marburg examinieren zu lassen. —
Ich getröste mich einer gnädigen Gewährung mei-
ner demütigen Bitte.
Ew. Erlaucht
untertänigster N. N.,
1. Kompagnie-Chirurgus im 2. Bataillon der
Hessischen Grenadier-Garde in Kassel
Hanau, am 3. März 1790.
10
Der Teufelsmüller.
Im Mai, wenn die Hainbuchen sich im Vogels-
berg belauben und die Birken ihre zarten Blätter-
sahnen schwenken, trägt der Zeklers-Adam, genannt
der Teufelsmüller, sein Bänkchen vor das Fach-
werkhäuschen, das er als Auszügler unweit der
Teufelsmühle bewohnt. Er hat seine Fünfundsiebzig
aus dem Rücken, sein Gesicht ist von Falten und
Runzeln zerrissen, in seinen braunen Augen aber
ist ein Leuchten, das an blühende Jugend gemahnt.
Spricht der Peter, sein Sohn: „Vater, Ihr könnt
Euch doch einen Lehnstuhl gönnen", antwortet der
Alte: „Ich bin von je an das Bänkchen gewöhnt,
und lange Gewöhnung gehört zur Gesundheit."
Früh um sechs erhebt sich der Zeklers-Adam,
trinkt seinen Kaffee und zündet die Pfeife an, ein
altes Erbstück, das ein Zekler erwarb, der Anno
1807 unter den Franzosen in Spanien focht. Auf
dem Porzellankopf prangt der erste Napoleon. Für
den schwärmt der Zeklers-Adam. Tie Lebensbe-
schreibung des großen Korsen, die ihm der Lehrer
Aßmus verschafft hat, ist sein Lieblingsbuch.
„Er war ja auch nur ein Mensch," geht des
Alten Rede, „aber was für einer! Seiner Geburt
wegen hat er keinen zurückgesetzt. Ter geringste
Soldat konnte General werden bei ihm, wenn er
das Zeug dazu hatt'. Soviel er verkrischen wird,
muß man doch sagen, er konnt' nicht immer re-
gieren, inte er wollt'. Wie's ihm gut ging, haben
sie all' Kratzfüß' vor ihm gemacht, haben ihm Honig
ums Maul gestrichen. Wie er int Unglück saß, sind
die guten Freunde zum Fenster herausgesprungen.
Er kannt' seine Leut'. Die paar, die ihm treu ge-
blieben sind bis zum Bettelstab, vor denen muß
man den Hut abtun!"
Ter Zeklers-Adam hat's sein lebelang mit dem
Spruch gehalten: „Ehrlich braucht kein Licht zu
scheuen", hat Mit dem Gottseibeiuns nichts zu
schaffen und muß sich den Spitznamen „Teufels-
müller" gefallen lassen. Damit hat es eine eigene
Bewandtnis. Vor vielen Jahren saß ein Zekler
aus der Mühle, der unverschuldet in Not und Be-
drängnis gekommen war. Tie Mahlgäste hatten
sich verlaufen, die Schleuse war herabgelassen, das
'mächtige Schaufelrad stand still. Allem Elend die
Krone aufzusetzen, riß eine grausame Windsbraut,
dem Ärmsten nächtens die Scheune zusammen. Von
der Verzweiflung gepackt, rannte er in den nahen
Wald, seinem Leben ein Ende zu machen. Da trat
ein Jäger mit eineur verwitterten Galgengesicht,
aus dem Busch. Ter sprach frischweg:
„Ich bin der Teufel! Ich nehm's auf mich, deine
Scheuer heut nacht wieder auszubauen, wenn du
mir deine Seele verschreibst. Vor dem ersten Hah-
nenschrei muß ich fertig sein, sonst ist der Pakt
null und nichtig."
Ter Müller, der wie betäubt stand, ging aus
den Vorschlag ein. Als er danach in den Federn
lag, hob auf dem Hof ein schrecklich Getöse an, daß
Von Alfred Bock.
die Müllerin ans dem Schlafe fuhr. Am ganzen
Leibe zitternd, bekannte ihr Mann, welch Bündnis
er mit dem Junker Roßfuß geschlossen. Tie Frau,
die in der Eheschaft vor ihrem Mund kein Spinne-
web wachsen ließ, schwieg dessen ungeachtet jetzt
still und simulierte, wie man dem Teufel die Suppe
versalzen könnte. Indes der draußen baute und
baute, schlich sie sich in das Hühnerhaus und be-
gann wie ein Hahn zu krähen. Darüber wurde der
Gockel auf seiner Stange wach und antwortete mit
einem kräftigen „Kikeriki!". Brüllend und fluchend
zog der Teufel ab, ließ die Scheune unvollendet
und war mit seinen Lohn betrogen. Seit jener
Schreckensnacht hieß die Mühle im Torf, ja im
ganzen Kreis die „Teufetsmühle", und die Zekler,
Kinder und Kindeskinder, die ihr Geschäft darin;
schlecht und recht betrieben, trugen den Unnamen
„Teufelsmüller".
Ter Zeklers-Adam hat sich vor seinem Auszugs-
häuschen ein prächtiges Plätzchen ausgesucht. In
aller Herrgottsfrühe sieht er fernab die Berge in'
Glanz und Glut getaucht, und die ausgehende Tonne
blitzt ihm entgegen. Auch die Sonne, so wnnder-
barlich sie leuchtet, hat ihre Flecken, meint der
Lehrer Aßmus. Unter den Kindern der Sonne, die
die Erde bevölkern, darf sich ingleichen keins rüh-
men, daß cs ohne Flecken sei. 's ist halt nichts
vollkommen auf der Welt, lind wie tun die Men-
schen? Für die eigenen Fehler sind sie >vie Maul-
würfe blind, für die Fehler der anderen bringen
sie Luchsaugen mit. Wie er ein junger Hitzeblitz
war,, ist's dem Zeklers-Adam auch passiert, daß,
ihm über seine Nebenmenschen das Maul wie eine
Dreckschleuder ging. Jetzt ist er mild und duldsam
geworden.
Am Abend, wenn die Sonne in ihr Himmelbett
steigt, zieht sich der Adam in sein Stübchen zurück.
Langeweile kennt er nicht. Er liest oder spinnt
sich in seine Gedanken ein. Mit der Mühle hat
er nichts mehr zu schaffen. Ta regiert der Peter,
sein Sohn. Nur wenn's zum Mittagessen schellt,
geht er hinüber. Bei Tisch hat er den Ehrenplatz.
Von seiner Wohnstatt im hohen Vogelsberg geht
des alten Blick über endlose Wälder, über Weide-
und Heideflächen, über Wiesen und Ackerland. In
der Ebene sieht er Dörfer und Städte hingestreut.
Einmal hat ihn ein Geschäft in die Hauptstadt des
Landes geführt. Danach hat's ihn nicht mehr ge-
lüstet abzuwandern. Aus dem Torf ist manch einer
drunten gewesen und ist nicht klüger heimgekehrt.
Ihm, dem Adam, ist schon lang ein Licht aufge-
gangen: die Welt ist ein Heuschober, jeder rupft
daran, soviel er kriegen kann. Droben und drunten.
Und zuletzt: niag's überall gut sein, daheim ist's
am besten.
Ter Lehrer Aßmus hat ein paar Jahre nahe bei
Frankfurt gestanden. Tie Luft drunten, spricht er,
ist dumpf und stickig. Ta lobt der Adam die Luft
11
hier oben, echte, rechte Hessenluft! Tie zehrt und
macht Appetit. Und säubert die Brust, daß sie stark
tvird und frei.
Ter letzte Frühlingsbote, der Pirol, ist gekommen.
Vom Waldrand tönt sein Ruf herüber. Die Wiese
vor dem Auszugshäuschen hat sich mit lichtgrünem
Gras bedeckt, dazwischen sprießen allerlei Blumen
empor. In der Tiefe über dem ebenen Land wogt
ein iveißes Nebelmeer. Auf der Höhe ist's sonnig,
warm und klar.
Heut ist das Bänkchen des Zeklers-Adam leer.
Ter Schulmeister, der vorübergeht, hält einen Mühl-
knecht an.
„Wo ist der alte Herr?"
Der Knecht deutet auf das Häuschen.
„Drin. Er hat Trauer gekriegt. Sein Bruder
in Amerika ist gestorben."
In seinen! Stübchen sitzt der Adam und starrt
vor sich hin. Seine Brust ist eingesunken, Schul-
tern und Arme hängen schlaff herunter.
Männer und Frauen in schwarzer Gewandung
kommen und sprechen:
„Dich hat ein schwerer Schlag getroffen, 's
war Gottes Wille!"
Auch der Lehrer tritt herein, dem Adam sein
Beileid zu bezeigen. Er bleibt noch, da alle ge-
gangen sind; er will seinem alten Freund ein
Stündchen Gesellschaft leisten.
Der Zekler's-Adain ist der letzte, der jedem sein
Herz offenbart. Das Vertrauen zum Schulmeister,
ist bei ihm tvie ein Pflänzlein gewachsen, langsam
'und stetig. Der Aßmus, das weiß er, ist treu tvie
Gold und trägt nichts weiter.
Eine Weile sitzt der Alte schweigend da, dann
hebt er an:
„Man spricht als, Brüder vertragen sich selten.
Als Buben haben wir wie die Kletten aneinander--
gehängt, der Heinrich selig und ich. Wer uns zu
nah kam, mußt' unsere Fünft' gespüren, das wußt'
das ganze Torf. Wie wir majorenn waren, hat
die Mühl' zwischen uns gestanden. Tie siel mir
zll, weil ich der Ält'ste war. Ein Zank bracht' den
anderen. Wir waren gegeneinander wie zivei spitze
Messer. Ter Heinrich sagt': „'s ist eine Sünd'
und Schund', daß man so auf die Guss' gesetzt
wird." — „Zwei können hier nicht kommandieren",
tvar meine Gegenred'. „Wegen Mein und Tein
brauchen wir uns nicht zu streiten. Du kriegst dein
Teil." Da ging er fort. Zuerst nach Herchenhain,
.dann nach Sichenhausen. Ein Knecht muß tun,
ivas sein Herr ihn heißt. Das paßt' dem Heinrich
nicht. Und er kam und sagt', er wollt' über's große
Wasser. Damals hab' ich ihn auf Heller und Pfen-
nig ausbezahlt. Achtzehn Jahr' lang ließ er nichts
von sich hören. Eines Tags — ich war grad Bür-
germeister geworden — fährt dem Künzel aus
Lauterbach sein Wägelchen auf den Hos. Und
steigt einer aus und geht auf mich zu: „Adam,
kennst du mich nicht?" Ich seh' mir den Mann
an. 's schwant mir was. Ich wußt' aber nicht,
wo ich ihn hintun sollt'. Und sagt': „Ich kenn
Euch nicht!" — „Ich bin der Heinrich!" spricht
er. „Ei was," sagt' ich, „du hast ja einen Bart ge-
kriegt, daß man ihn mit der EU' messen kann, und
siehst ganz fürnehm aus." — „'s geht mir auch gut,"
spricht er, „aber drüben in Amerika wird auch bloß
mit Wasser gekocht. Ich bleib' jetzt hier!" Seine
Sachen ließ er in den „Löwen" bringen. Da logiert'
er sich ein. Zuerst wollt'-er «eine Sägmühl' anfangen,
dann wollt' er im.Hammersteich Fischzucht betreiben,
's waren all so Pläne und würd' nichts draus.
Dabei trank er, daß ihm die Leber schwamm. Und
lud sich während Leut' ein. Und tat, als toenn ihm
in Amerika das Gold zum Dach hereingeregnet wär'.
Einen Tag vor der Kirmes spricht er, er hätt' was
in Lauterbach zu besorgen. Bon da schickt' er mir
einen Brief, er könnt's hier nicht aushalten, er
ging' wieder über die große Pfütz'. Und der Löwen-
wirt kain und sagt': „Der Heinrich steht bei mir
in der Kreide!" Und 's kamen noch mehr Leut', wo
er das Bezahlen vergessen hatt'. Ich hab' alles in
Ordnung gebracht. Seitdem sind vierundzwanzig
Fahr' verstrichen. Heut hab' ich die Nachricht ge-
kriegt, der Heinrich ist in Buffalo gestorben. Arm
wie eine Kirchenmaus!"
Ter Alte hielt inue und seufzte auf.
„Das ist alles sehr traurig, ivas Ihr da von
Eurem Bruder erzählt," sagte der Lehrer, „aber
's muß Euch doch ein Trost sein, daß Ihr an ihm
getan habt, was Ihr tun konntet."
Ter Adam hob den Kopf.
„An siebenhundert Mark hab' ich für ihn aus
den Tisch legen müssen. Das war bitter, Herr
Aßmus!"
Der Lehrer ivollte seinen Freund auf andere
Gedanken bringen und sagte:
„Ich hab' Euch vorhin doch recht verstanden: Ihr
seid einmal Bürgermeister gewesen? Das ist ja das
erste, was ich höre. Wann ivar denn das?"
„In den siebziger Jahren", versetzte der Adam.
„Sie haben mich einmal gewählt und nicht wieder.
Und daran war das Pfarrtor schuld."
„Das Pfarrtor?"
„Jawohl. Ich ivill Ihnen die Geschieht' erzählen."
Er holte seine Pfeife hervor, setzte sie in Brand
und begann:
„Zweiundsiebzig kragen wir einen neuen Pfarrer.
Ter schrieb sich Prätorius. Er hatt' eine gute Pre-
digung und donnert' über die Kanzel, daß den Leut'
der Schlaf verging. Also, tvas man sagt, ein tüch-
tiger Mann. Nur daß er immer eine Extrawurst ge-
braten haben wollt'. Darüber sind wir zwei uneins
geworden. „Bürgermeister," spricht er eines Tags
wider mich, „seht Euch mein Tor doch einmal an.
's ist morsch. Ich denk', Ihr laßt mir ein neues
machen." Ich guck' mir das Tor an und sag':
„Nichts für ungut, Herr Pfarrer, das Tor hält Sie
und mich noch aus." Er gab nicht nach. Ich bracht'
die Sach' vor den Gemeinderat. Und 's ward be-
schlossen: der Pfarrer kriegt kein neues Tor. Was
tut inein Pfarrer? Er wird beim Kreisamt vor-
stellig. Und das verfügt: Die Gemeinde hat dem
12
Pfarrer ein neues Tor zn liefern. „Krieg die Kram-
menot," sagt' ich, „das lassen wir uns nicht gefallen.
Schlimmer wie schlimm kann's nicht werden. Alle-
iveil gehn wir an die richtige Schmied', wir machen
nach Darmstadt und beschweren uns beim Groß-
herzog!" Gesagt, getan. Selbviert sind wir nach
Darmstadt gefahren, 's war eine schöne Reis', aber
kriminalteuer. In Tarmstadt hatteil wir ein kolos-«
sales Glück. Ta ivar nämlich dem Rocker am Wind-
eck sein Jakob Kutscher beim Herrn Baron von
Riedesel. Und der Jakob hat mit seinem Herrn
geschwätzt, lind der Herr Baron hat's richtig fertig-
gebracht, daß uns der Großherzog ins Schloß be-
stellen tat. Ich sagt' ivider die Gcmeinderät': „Jetzt
heißt's, die Ohren steif gehalten. Ter Großherzog
ist das lebendige Gesetz und hat ein Herz für sein
Volk. Was der spricht, steht fest wie das Evange-
lium!" Im Schloß wurden wir in einen Saal ge-
führt. Vor all der Pracht wurd's einenr ganz
durmelig. Auf einmal kam der Großherzog. Ei,
du liebes Gottche, wie groß war der! Ter guckt'
!vie unser Kirchturm über uns weg. Er war aber
sehr freundlich. Und wußt' im Vogelsberg Bescheid,
's ivar der Staat all. Und hat eine förmliche Red'
gehalten und hat gemeint, daß dem Bauersmann
seine Arbeit fröhlich und voller Hoffnung wär'.
Alle andern Ständ' müßten kaufen, was sie brauch-
ten, den: Bauer tät's ins Maul hineinwachsen.
Und ivas die Hauptfach' wär', ivir könnten alles
aus freien Stücken tun. So sprach er und sprach
noch mehr. 's hatt' alles Hand und Fuß. Ich
dacht' bei mir: der ist nicht bloß dem Rock nach
Großherzog, der ist auch Großherzog im Kopf! Eine
Viertelstund' hat die Sach' gedauert, dann wurden
ivir hinausgeführt und haben ivieder auf dem
Schloßplatz gestanden. „Kreuzmillionendonnerwet-
1er," sagt' ich wider die Gemeinderät', „ich hab' in
der Rasch' rein das Pfarrtor vergessen. Ihr dum-
men Kälber, warum habt ihr dann das Maul nicht
aufgetan?" Grad kam der Herr Baron von Ried-
esel aus dem Schloß. „Nichts für ungut, Herr
Baron," sagt' ich und legt' ihm die Geschicht' aus-
einander. Der Großherzog, meint' er, wär' heut nicht
mehr zu sprechen lind morgen führ' er auf die Jagd.
Wir sollten ruhig heim machen. Er wollt' einmal
sehen, ivas er für uns tun könnt'. Er gab jedem die
Hand. „Das Pfarrtor ist bei dem Herrn Baron in
guten Händen," sagt' der Rocker am Windeck, „ich
denk', wir trinken jetzt einen." Darauf sind wir in
den Gasthof zur Traub' gegangen und haben eine
Flasch' Wein bestellt. Und iveil man auf einem
Bein nicht steht, haben wir noch eine Flasch' kommen
lassen, 's hat mörderlich viel Geld gekostet! Und
das End' trug die Last. Wie ivir heim kamen,
stand der lange Rühl aus Herbstein vor dem Pfarr-
haus und schreinert' an einem neuen Tor herum.
„Wer läßt denn das Tor machen?" fragt' ich. „Das
Kreisamt", spricht er, „für Rechnung der Ge-
meinde." — „Da haben wir den Salat", sagt' der
Rocker am Windeck nnb macht' ein Gesicht wie ein
Nest voll Eulen. Und's war eso, die Gemeinde
mußt das Pfarrtor bezahlen. Jetzt hätten Sie ein-
mal sehen sollen, ivas die Kühbauern einen Zorn
auf mich hatten! In Darmstadt, ging das Gebelfer,
hätt' ich nichts ausgerichtet, und für das viele Geld,
was die -Reis' gekostet hätt', hätt' man fünf neue
Pfarrtore hinstellen können. Bei der Bürgermeister-
wahl täten sie mir's eintränken. Und sie haben
mich richtig nicht wieder gewählt."
„Wer weiß, tvozu 's gut war," sprach der Lehrer,
der der Erzählung seines Freundes mit Spannung
gefolgt ivar. „Jedenfalls ist Euch viel Ärger nnb
Verdruß erspart geblieben."
Der Adam spuckte aus.
„Das mein' ich auch. Im Anfang hat's mich
mächtig gefuchst, daß ich durchgeplumpst war. Und
meine Frau selig hat drüber acht Tag im Schlaf
geschwätzt. Hernach ivar ich froh, daß ich meinen
Frieden hatt'. Das beste Amt gibt Stroh statt Gar-
ben. Und gar Bürgermeister! Heut soll man den
Herrgott spielen, morgen den Teufel. Und ivas
das schönste ist: man bildet sich ein, man tät' kom-
mandier'n, und ivird kommandiert!"
Ter Lehrer brach auf. Der Zeklers-Adam be-
igleitete ihn vor die Tür und ließ sich auf seinem
Bänkchen nieder, noch ein wenig den schönen Abend
zu genießen.
Die Sonne ivar zur Rüste gegangen. Auf deni
Wäldchen, das den Gipfel des Gackersteins krönte,
lag ein roter Schein, der mählich verblich. Die
ersten Sterne blinkten vom Himmel hernieder. Im
Torf hob die Glocke zu läuten an. Rahehin auf
dem Schäferweg zogen Burschen und Mädchen in
langen Reihen vorbei. Ihr Gesang hallte herüber.
Wie die Blümlein draußen zittern,
Wenn die Abendlüfte wehn,
Und du nullst mir's Herz verbittern,
Und du willst schon Ivieder gehn?
O bleib bei mir und geh' nicht fort,
An meinem Herzen ist der schönste Ort.
Der Alte fuhr mit der Hand über die Stirn. Einst
hatte er auch unter den jungen Sängern mitgetan.
Das war lange her. Jugendzeit war die beste Zeit.
Aber zwischen Saat und Ernte konnte viel geschehen.
Tie da drüben dachten von einem Tag aus den
andern, «glaubten, sie hielten das Glück an allen
vier Zipfeln. Jung und alt hatten zweierlei Sinn.
Das mußte so sein und würde ewig so bleiben. Er,
der Adam, steuerte auf die Achtzig los. Kurios!
So alt man war, immer wollt' man noch ein paar
Jährchen zugesetzt wissen. Und warum auch nicht,
solang' man gesund war und einem das Essen
schmeckte? Leben, wie's recht war, und den Tod
nicht fürchten, darauf kam alles an in der Welt.
Tie Schatten der Nacht senkten sich tiefer. Eine
Fledermaus strich an dem Hänschen vorbei. In
tiefem Frieden lag das Dorf. Nur in der Mühle
regten sich noch fleißige Hände. Die Mahlgänge
stampften und klapperten. Das klang dem Zeklers-
Adam >vie Musik. Bedächtig klopfte er seine Pfeife
aus, erhob sich und suchte sein Stübchen auf.
13
Neue Bauten in Kassel.
Im Mai vorigem Jahres wurde die neue Fried-
hofskapelle nach den Plänen von Professor H u in -
m c l fertiggestellt. Zu beiden Seiten der . äußerlich
schlichten Kapelle, die in der Achse der Karolinenstraße
liegt, gruppieren sich niedrigere Nebengebäude symme-
trisch um je einen Hof, in dem linken Flügel befindet
sich das K rematori u m. Während man vor dem
Kriege derartige Bauten in einem der mittelalterlichen
Stile, also in romanischer oder gotischer Formensprache,
aufzuführen pflegte und dadurch ihnen doch ganz stark
kirchlichen Charakter verlieh — weil beide Stile uns
eben als typisch christlich-kirchliche erscheinen — ist bei
dem Kasseler Ban von dieser traditionellen Feierlichkeit
nichts zu spüren. Man mochte eher glauben, besonders
von der Friedhofseite aus (wenn man die Arkaden und
Treppen am Krematorium nicht sieht) in diesem ein-
förmig rot getönten Gebäudekomplex Wirtschaftsgebäude
eines Gutes aus dem 18. Jahrhundert vor Augen zu
haben; lin diese Zeit weisen u. a. die Schwalbennest-
artigen Dachluken). Insofern vertritt der Ban deutlich
die zu äußerster Sparsamkeit gezwungene Zeit der
Nachkriegsjahre. Tie einzige Ausschmückung des Äuße-
ren besteht in einem (sehr dünnen) Kreuz auf dem Dach-
first und der etwas reicheren Ausgestaltung der Ein-
gangstür, die einzelnen kleinplastischen Schmuck, sowie
im Giebelfeld eine sitzende romanisch stilisierte Frauen-
figur zeigt und eigenartig schwarz und golden bemalt ist.
Ter Nachdruck ist mit Recht einzig und allein ans
das Innere der Kapelle verlegt. Der geräumige,
tveißgetönte Saal mit Apsis und schmalen durch Ar-
kaden zugänglichen Seitenschiffen weist als Bemalung
breite schwarze Wandlisenen auf, reicher ist nur die
im Ornament feine flache Decke ausgeschmückt. Dieser
Farbakkord schwarz-weiß (und gold an der Decke) wirkt
äußerst würdig und ernst, besonders beim Licht der
schönen Hängeleuchter; bemerkenswert und bezeichnend
für unsere Zeit ist, daß das spezifisch christliche Ele-
ment in der Ausschmückung der Kapelle kaum hervor-
tritt.
Tie Umgebung der Friedhofskapelle sieht vorläufig
noch sehr öde ans, die Stadt hat ein Preisausschreiben
zur Bebauung der Karolinenstraße und des Geländes
um die Kapelle veranstaltet; mehrere, z. T. sehr selb'
ständige Entwürfe, die die Stadt sämtlich angekauft hat,
waren s. Zt. im Landesmuseum ausgestellt, zusammen
Die Fulda.
Die Fulda ist der Hessenberge liebes Kind!
Sie neigen sich zu ihm in zärtlichem Verlangen
und wollen es, wie so die Mütter sind,
mit ihrer Täler Arme weich umfangen.
Sie stillen es an ihrer Wälder Brust
mit jedem Tropfen ihrer kargen Erde
und sind beglückt, wenit es kn heller Lust
den Trank einschlürft mit kindlicher Gebärde.
Und freu'n sich seiner holden Lieblichkeit,
wie es im Scherz und Spiel schlingt seine Bogen
und in dem bunten Wiesen-Dirndelkleid
singend und lockend kommt zu Tal gezogen.
Begleiten treulich seinen Lauf, und viel zu schnell
hat es sich ihrer Sorge still entwunden,
wenn es die Werra, seilten Trautgesell
und treuen Weggenossen, hat gefunden.
mit Projekten zur Bebauung der He rknl es-
st r a ß e. Unter letzteren fiel besonders eins auf, bei
dem die Häuser, um möglichst viel Licht zu erhalten,
stafselförmig hintereinander angeordnet waren.
Hier an der Herkulesstraße ist im Juni d. I. das
neue von Architekt Hembus entworfene Schwe-
st e r n - K rankenhaus der Diakonissenanstalt voll-
endet ivorden. Wie die Häuser in der Nähe ist es aus
Backstein; dadurch, daß die Fugen zwischen den roten
Steinen nicht. weißen, sondern gelben Verputz zeigen,
erhält das im ganzen naturgemäß schlicht gehaltene
Gebäude einen eigenartigen Schimmer, sehr freundlich
wirken die weiß-grün gestrichenen Fenster. Die der
Straße abgewandte Hauptschauseite hat in der Mitte
einen Giebel über den schmalen, vertikal durchlaufen-
den Fenstern des Treppenhauses, zu beiden Seiten Türen
mit schönen schmiedeeisernen Ornamenten.
Die innere Ausstattung verrät nicht nur künstle-
risch feinsten Geschmack — es herrscht unbedingte Far-
benfreudigkeit, in einem Stockwerk sind z. B. die Türen
blau, im anderen apfclsinensarben gestrichen, darauf ist
daun die Wandtönung abgestimmt — sondern die ganze
Einrichtung ist derartig praktisch, sinnvoll und technisch
vollendet, daß mau dieses ■ Krankenhaus schlechthin als
v o r b i l d l i ch in dieser Verbindung des Künstleri-
schen mit dem Technischen bezeichnen muß.
Ferner ist jetzt die architektonische Gestaltung des
Geländes vor der S t a d t h a l l e vollendet worden.
Die geradeswegs auf sie zuführende, steil ansteigende
Friedrich Ebert-Straße verengt sich oben unmittelbar
an der Hohenzollernstraße zu einer schmalen Treppe,
die beiderseits von kleinen Häuschen, die als regel-
rechte griechisch-dorische Tempelchen (Amphiprostyloi)
gebaut sind, flankiert wird. Abgesehen davon, daß
jetzt der Portikus der Stadthalle sich in diesen Tempel-
fassaden, die in keinem günstigen Größenverhältnis zu
jenem stehen, gleich doppelt (in kleinem) wiederholt,
wirkt die grell gelbe Bemalung dieser .Häuschen und
der anliegenden Häusergruppen der Ebert-Straße gegen-
über dem dezenten natürlichen Grau der Steine des
Stadthallengiebels einfach unerträglich ausdringlich. Im
ganzen muß man sagen, dtp; diese Lösung der Platz-
bebauung vor der Stadthalle ivirklich befriedigend
nicht ist.
W. Schefflet.
Und schaun ihm lange nach, wie so die Mütter sind,
es ist ja doch ihr Kind, ihr liebes Kind! — —
Hersfeld. Wilh. Zteuhaus.
Trost.
Du klagst, daß sich der Wald mit Reif bedeckt,
Die Blätter welk dir in die Locken fallen,
bind daß der Winter, vor uns aufgereckt,
Mit hartem Fluche scheucht die Nachtigallen.
Sei nur getrost! Im innersten Gemüt
Wird bald sich seiner Neugeburt erfreuen,
Was heut' an reicher Wonne abgeblüht,
Und doppelt herrlich wieder sich erneuen:
Gestimmten Geistes sitzen ich und du
Dicht beieinander im erhellten Saale,
Und echohaft durch unsre Seelenruh
Des Sommers Donner rollt im Pastorale!
Kassel. Fritz Goelner.
14
Marie Martin.
Unserer am 5. November verschiedenen Lands-
männin Marie Martin widmet die Frankfurter-
Zeitung noch nachträglich folgenden Nekrolog:
Vor kurzem ging in Kassel Marie Marti n
von uns, eine Frau, um die es wohl lohnt, einen
Augenblick stillzuhalten und ihrer zu gedenken. Sie
gehörte zu den Frauen, die fest verwurzelt in Ge-
schichte und Tradition der vergangenen Zeit sich
freudig bejahend aus den Boden des Neugewordenen,
der Republik und der Demokratie, stellten.
Aus altem Hugenot-
tengeschlecht stammend,
als Kind eines hessischen
Pfarrhauses aufgewach-
sen, wovon ihr Buch:
„Deutsches tzeimatglück"
ein köstliches Zeugnis
gibt, vereinigte sie in
sich echte, schwere Hes-
senart und leidenschaft-
liches vorwärtsdrängen-
des Temperament. Ihr
Leben lang ist dieses
Doppelte in ihrem We-
sen ihr Reichtum und
ihre Bedrängnis gewe-
sen. Tief verwurzelt in
ihrem Volk, jedem Men-
schen schwesterlich ver-
bunden, waren Heimat,
Volk, Vaterland für sie
heilige Begriffe. Und um
dieser Heiligkeit willen
trug sie schwer an allen
Schäden und Nöten un-
seres Volkslebens, an
den Versäumnissen und
Fehlern unserer öffent-
lichen Zustände. Wenn
sie mit hoher Erwar-
tung eine freiheitliche
Entwicklimg von Revo-
lution und Nachkriegs-
zeit erhofft hatte, so legte
sich mehr und mehr der Schatten mancher Enttäu-
schung über die letzten Jahre ihres Lebens. Besonders
schwer trug sie, die mit riefer Frömmigkeit sich ihrer
Kirche verbunden fühlte, an deren Mängeln und Ver-
säumnissen, an ihrem Zögern, sich in den neuen!
Staat zu fügen und ihn zu fördern. Ihr heißes Herz
fand da oft leidenschaftliche Worte des Schmerzes
und der Anklage.
Sie war eine Kampsnatur. Dabei von zarter
Wärme und Mütterlichkeit. Ihre oft derbe Aus-
drucksweise in Wort und Schrift verhüllte die Weich^-
heit und Tiefe ihres Gefühls.
Sie war Lehrerin, Erzieherin, hatte an sich
selbst erfahren, wie in ihrer Jugend die Bildung
der Frau mit dem damaligen Lehrerinnenexamen
aufhörte. Im Kampf gegen Sitte und Umgebung
war sie eine der ersten, die trotz ihrer vierzig
Jahre an der neuen Möglichkeit weiblichen Stu-
diums, den Kursen für Lehrerinnen in Göttingen,
teilnahm und die Prüfung als „Preußische Ober-
lehrerin" ablegte. An den Seminaren in Burg-
steinfurt, Trier, Landsberg a. d. Warthe, am Ly-
zeum und Oberlyzeum in Berlin hat sie ihr reiches
Wissen und Wesen weitergeben können an die von
ihr so heiß geliebte Ju-
gend.
Für diese kämpfte sie
als eine der Führerin-
nen der Frauenbewe-
gung um bessere Bil-
dungsmöglichkeiten der
Frauen.
In welchem Geist sie
das tat, geht am besten
hervor aus einer klei-
nen Schrift aus dem
Jahre 1905: „Wahre
Frauenbildung". Die
ganze Not der bisheri-
gen Halbbildung der
Frauen, die nur von
Männern bestimmten
Möglichkeiten undGren-
zcn der Ausbildung fin-
den hier ergreifenden
Ausdruck. Sie fordert
Erziehung undSchulung
der Mädchen aufgebaut
auf Wesen und Eigen-
art der Frau zur Ver-
tiefung und Entfaltung
echten Frauentums. Es
ist auch heute noch nicht
wertlos, dieses Schrift-
chen zu lesen.
Eine bedeutsame Epi-
sode ihres Lebens ivar
es, als die frühere Kai-
serin auf sie aufmerksam wurde und sie zu Unter-
redungen und Beratungen über die Reform des
Mädchenunterrichts heranzog. Das Mütterliche
in Marie Martin ließ sie sich mit der Kaiserin
finden mtd gab ihr eine Zeitlang einen Ein-
fluß auf sie. Mit aus diesem Verkehr wuchs
die berühmte Konferenz zur Reform der Mädchen-
bildung im Januar 1906 heraus. Viel Hoffnungen
knüpften sich an dieses Ereignis, die dann aber
durch reaktionäre Strömungen arg verwässert wur-
den.
Mit treuer Leidenschaft war sie bei ihrem echt
sozialen Sinn durch all die Jahrzehnte ein eifriges
Mitglied des Evangelisch-sozialen Kongresses. Es
Marie Martin.
15
ging ihr immer um das Letzte, um Echtheit, Wahr-
haftigkeit, Menschenliebe. Allem Scheinwesen war
sie feind. Eine Anhängerin Naumanns, aus inner-
ster Wesenheit heraus Demokratin, schloß sie sich
.1918 der Demokratischen Partei an. Ihr hat sie
in den Jahren ihres Ruhestandes in Kassel ihre
letzte Kraft gewidmet, den dortigen Kulturausschuß!
leitend und an demokratischen Zeitungen fleißig
mitarbeitend.
Unser Volk hat nicht viel solcher kernhaftev
Frauen. Darum bedeutet ihr Tod eine schmerzliche
Lücke.
Dora Rade.
Vom ÄufjVlet ©cfyaufptel. (September bis November.)
Zu neuen Usern lockt ein neuer Spielleiter . . . Herr
Johannes T r a l o w hat seine Kunst in einer Reihe
von Erstaufführungen und Neueinstudierungen gezeigt
und betvährt, so daß wir das Ergebnis seiner Tätig-
keit buchen und bewerten können. Am stärksten emp-
fanden wir seinen dramatischen Eigenwillen in zwei
Schilleraufführungen, „Don Carlo s" im Septem-
ber und Wallen st ein-Trilogie ini November-
Dezember. Seit hundert Jahren ist der Carlos für
alle Spielleiter ein schwieriges Problem: der Bayern-
könig Ludwig II. fand bekanntlich die einfachste Lösung
für das Carlos-Posa-Drama, indem er in einer
nächtlichen Vorstellung die Dichtung ungekürzt ver-
langte: den heutigen Zuschauern kann man eine sechs-
stündige Ausführung nicht mehr zumuten. Bleibt nur
die Kürzung übrig, die Tralow dazu verftihrt, das
Wort zu verachten, den inneren Aufbau des Dramas
zu zerbrechen, den Geist des Dichters hinauszutreiben.
Carlos und Posa verblassen, die Tragödie des einsamen
Philipp steigt herauf, die Welt der Freiheitsideen,
mit denen Schiller seiner deutschen Zeit um ein Jahr-
hundert vorausgeeilt war, bleibt eine matt beleuchtete
Episode. Auf sprachliche Schönheiten wird wenig Rück-
sicht genommen; um augenblicklicher Erfolge willen,
werden Sentenzen willkürlich auseinandergerissen, epi-
sche Teile, wie Posas berühmte Erzählung „Zwei edle
Häuser in Mirandola" verfallen dem Rotstift. Und
alles jagt im höchsten Eiltempo, nach der nun einmal
feststehenden Bilderbuchmanier — hell, dunkel; hell,
dunkel — an uns vorüber. Das gleiche Bild zeigte
die Wallensteinaufführung, von der das „Lage r" als
die vollendetste Arbeit gelten darf. Hier bewies Tra-
low sein großes Können für farbiges Gestalten beweg-
ter Szenen. Wir sahen ein W i n t e r lager, Lager-
szenen vom Wirklichskeitsernst erfüllt. Das ungeheuere
Verbrechen des großen Krieges wurde lebendig, der
Lagerfürst und sein Schicksal standen als drohendes.
Schattenbild hinter diesem wirren Getöse von wechseln-
den Gestalten. Matter blieben die „P i c c o l o m i n i"
schon in den Bühnenbildern, die von Prof. Witte von
der Akademie entworfen waren, in ihrer an spanische
Wände erinnernden Ode langweilig wirkten und nicht
dem Schwünge der Dichtung folgten. Am stärksten emp-
fand man diese Hemmung im 4. Aufzug, wo statt des
großen Bankettsaales eine Art Garderoberaum den vor-
deren Teil der Bühne einnahm und die dahinter auf-
gebauten, matterleuchteten Bogenfenster des Saales die
Schattenbilder der zechenden Offiziere zeigen sollten,
was aber nicht gelang. „W allen st eins Tod" war
im Tempo ganz wieder auf Sturm und Drang gestellt.
Und auch hier wieder zeigte sich die Willkür Tralows
dem Dichterwort und -gcist gegenüber, lvieder, um ein
Sonderziel zu erreichen, die Heraushebung der Feld-
herrn-Tragödie. Dieser Idee zu Gefallen wurden Ro-
mantik und Mystik verbannt, wurde Thekla ein bläß-
liches Gebilde, erhielten die Szenen zwischen Wallenstein
und seinen Vertrauten monologischen Charakter d. h.
der Friedländer steht im Vordergründe, Jllo und Terzky
kehren den Zuschauern freundlich die Rückseite zu, be-
trachten interessiert die Kulissen. In der Verwendung
seiner künstlerischen Kräfte geht der Spielleiter von der
Erwägung aus, daß der Jugend vorab das Feld gehört.
Das kann sehr richtig sein, wenn Jugend zugleich
Können bedeutet, nicht nur gefügiges Eingehen auf den
starken Willen des Regisseurs. Das erste war aber nicht
immer gegeben. Eine Eboli, die Begabung, aber keine
Reife zeigt, ein jugendlicher Held, dem die Kraft zum
Max schon in der ersten Szene ausgeht, eine Thekla,
der zur äußeren Werdung so ziemlich alles fehlte,
waren Versager und konnten die Aufführung nicht
heben. So siegte, neben Schlencks stark empfundenem
Posa und Uhligs interessanter Arbeit am Despoten
Philipp, der reife Schauspieler: Ebhardt, der seinen
Wallenstein auf hoher Linie führte, Wehlaus klug durch-
forschter Oktavio, und überzeugend groß angelegt Trude
Tandars Gräfin Terzky, die beides in sich vereinte,
klassische Linie und modernen Geist.
Die neue Leitung des Staatstheaters hält gleichen
Schritt mit der Dichtung Wachsen und Werden. Es
ist nicht mehr wie früher, daß ein Hauptmann-Drama
erst zehn oder mehr Jahre nach seinem Erscheinen be-
scheiden und sänftiglich die Bretter des Hoftheaters
erklomm. Dieser frische Wind raschen Zugreifens wehte
uns in den ersten Monaten der Spielzeit vier Dramen
der Jüngsten entgegen. Im September sahen tvir Kla-
bn n d s „K reidekrei s". Alfred Henschke (Kla-
bund) hat dem altchinesischen Sensationsstück „Hoei-
tan-ki", dem Wollheim da Fonseca die erste Verdeut-
schung gab, in seiner Umarbeitung ein gut Teil Schwüle
und Grausamkeit genommen, dafür viel Lyrik, moder-
nes Emvfinden und manche unverblümte Derbheit ein-
gefügt, ihm aber den symbolischen Zug, diesen Grundton
von Güte und Liebe gelassen. Und sonderbar, die Ge-
schichte der kleinen Haitang, die aus Kindesliebe zum
Teehausmädchen tvird, dem aufgezwungenen Gatten
Treue hält, nach allerlei Not endlich ihren Prinzen
findet, dem sie längst seelisch und leiblich verbunden
war, und der die kleine Leidgesellin zur Kaiserin erhebt,
dieses Märchen rührt die verhetzten Menschen der Nach-
kriegszeit und gewinnt als geschickt gemachtes Spiel
eines sicher schauenden und seine Zeit richtig einschät-
zenden Theatralikers die Bühnen. Tralotv begnügte sich
in der Wiedergabe nicht mit den an Buntheit gefüllten
Bildern, seine Darsteller, die zumeist richtig eingefügt
tvaren, ließen sich vom Rhythmus der Dichtung ergreifen.
Dann kam Werfel zu Worte, der immer noch die
größte Hoffnung des verebbten Expressionismus ist,
mit seiner Historie „Iu a rez und M aximiliau".
Es ist die Tragödie des unglücklichen österreichischen
Herzogs, der in den Jahren 1864—67 seinen kurzen und
blutig endenden Kaisertraum träumte. In 12 Bildern,
bald geschichtlich berichtend, bald lyrisch-menschlich rüh-
rend, bald extatisch fortreißend, erleben wir das ver-
gebliche Ringen dieses letzten, vornehmen Habsburgers
mit den gegnerischen Parteien, mit den Freiheitsideen,
die in Jnarez verkörpert sind, bis zum Versinken seiner
16
schönen Gattin Charlotte von Belgien in Wahnsinn und
seinem eignen fürchterlichen Ende, seiner Erschießung
auf der Höhe von Queretaro. Es fehlt diesen geschicht-
lichen Bildern das geistige Band, die große, bewegende
Idee im Sinne Hebbels, und darum sind sie kein Drama,
bedeuten für den Dichter keinen Emporstieg. Tralow
hatte nicht an starker Beleuchtung gespart, was der
Historie zugute kam, weniger allerdings dem ohnehin nicht
sehr reichen Innenleben. Hans Schlcnck als Maximilian
konnte für das Äußere des schönen, sonnigen Habs-
burgers nicht alles erfüllen, weit besser gelang ihm der
Idealist, der an der Enttäuschung seines Lebens zer-
bricht und mit dem aufrechten Mute eines Egmont aus
dem Lebeu geht. Auch sonst bot diese Aufführsung
treffliche Leistungen, unter denen Eva Hofmanns rüh-
rendes Bild der unglücklichen Königin, die sie in bedeu-
tender Fassung gab, und Ebhardts revolutionärer Ge-
genspieler, der bis ins kleinste interessant gestaltet war,
hervorgehoben werden sollen.
Daß „D er Fröhliche W e i n b e r g" beinahe
zu einem Berg des Anstoßes geworden Ivüre, gehört
bereits der Geschichte dieses viel umkämpften Stückes
an. Ein Stein des Anstoßes ist er heute noch für viele,
denn Zuckmayer ärgert in seiner derb rheinischen Weise
den Philister gründlich, vor keiner Spezies macht er-
halt, es kriegt jeder seinen Treff, ob Jud' oder Anti-
semit. Und da in jedem von uns mehr oder weniger
Spießerisches steckt, war die Empörung nach der Lek-
türe des Buches — und wie wurde es in Kassel ge-
kauft — entsprechend größer oder kleiner. Bei der
Aufführung gab es dann keinen Entrüstungssturm, son-
dern das ausverkaufte Haus nahm die von Tralow für
Kasseler Ohren und Augen sein säuberlich zugestutzte
Bearbeitung mit lautem Beifall ans. Weit harmloser
erschien dagegen Alfred Müller-Försters Ko-
mödie „Der Herr von Paris", die ihre Urauf-
führung erlebte. Dem Dichter haben es zweifellos die
Memoiren Samsons angetan. Nicht eine Episode aus
dieser reichhaltigen Gruselliteratur muß herhalten, die
Gestalt des Henkers selbst wird ihrer unheimlichen Ro-
mantik entkleidet, erscheint als behäbiger Papa, bürger-
lich-spießerlich, der gefühlvolle Verse drechselt und in
ständiger Geldverlegenheit ist. Der Bürgerkönig Louis
Philipp gibt ihm nichts zu tun. So verpfändet er die
Guillotine einem bourbonischen Edelmann, der der An-
führer einer Verschwörung ist. Der Putsch geht fehl,
das Haupt des Desperato soll fallen, was wieder nicht
möglich ist, da das Instrument der Hinrichtung fehlt.
Eine neue Revolution, die lärmvoll, frei nach Sardou,
den letzten Aufzug füllt, bringt dem Bedrohten die
Freiheit und Meister Samson die gewünschte Beschäf-
tigung. In diesem verfrühten Fastnachtsscherz ist alles
auf Karikatur gestellt; das verhindert den Verfasser
nicht, manch treffendes Wort auf der Zeiten Torheit
zu münzen, aber auch mancher Geschmacklosigkeit breiten
Raum zu gönnen. Ernst Wehlau spielte den Gefürchteten
mit seiner reichen innerlichen Kraft und liebenswür-
digen Überlegenheit.
Hans Schlenck, der mit Schluß der Spielzeit nach
München zu Pape abwandern wird, erprobte sich in
Aus Heimat und Fremde.
5) o ch s ch u l n a ch r i ch t e n. M a r b u r g: Der Di-
rektor an der physikalisch-technischen Reichsanstalt in
Berlin Prof. Or. Eduard Grüneisen hat den Rnf
an den Lehrstuhl der Physik als Nachfolger von Prof.
Schäfer angenommen. — Am 18. Dezember hielt
vr. phil. Maximilian K rafft zur Erlangung der
ztvei größeren Aufgaben als Spielleiter. Im Oktober
lvurde P i r a n d e l l o s dramatisierte Krankenge-
schichte „H e i n r i ch IV." zum ersten Male aufgeführt.
Ter Held, von der Wahnidee beherrscht, der Kanossa-
gänger zu feilt, lebt seit zwölf Jahren in einem Land-
hanse, wo seine Umgebung das Gewand jener fernen
Zeit trägt. Langsam klärt sich der Geist, und nun
spielt er noch acht lange Jahre freiwillig das fürchter-
liche Maskenspiel des Wahnsinnigen, um seinen Feind,
der ihn einst in geistige Umnachtung stürzte, zu ent-
larven und zu erschlagen. Nun aber muß er weiter der
Jrre sein. Auch dieses Drama des weit überschätzten
Italieners ist, wie sein vorangegangenes Schattenspiel,
eine geschickte Häufung von Unheimlichem und Selt-
samem. Viele der großen Worte, der tiefsinnig schei-
nenden Monologe sind anderstvo bodenständiger gewach-
sen. Schlenck versuchte deu verschlungenen Linien der
Dichtung gerecht zu werden, erschwerte aber das Ver-
ständnis für die Vorgeschichte durch modernes Hasten.
Uhlig sicherte durch sein kluges Spiel den Erfolg des
Abends.
Vielleicht war es das Gefallen am „Kreidekreis", das
die Spielleitung zu Indiens größtem lyrischen Drama-
tiker K a l i d a s a und seinem Ringspiel „S a k u n -
t a l a" führte. Die Dichtung, zu Goethes Zeiten von
Georg Förster aus dem Englischen ins Deutsche über-
tragen, begeisterte den Dichter des „West-östlichen Di-
van" zu dem Epigramm:
Willst du die Blüten des frühen, die Früchte des späteren
Jahres,
Willst du, was reizt und entzückt, willst du, >vas sättigt
und nährt,
Willst du deu .Himmel, die Erde mit einem Namen be-
greifen :
Nenn' ich Sakuntala dir und so ist alles gesagt.
Nun hat der Prager Paul Kornfeld vom äußersten
Expressionismus den Sprung in die indische Romantik
getan und getreulich nachgedichtet; die grübelnd-reli-
giösen Teile beschränkt, dafür dem Lyrischen breiten
Raum geschaffen, einzelne Szenen weiter ausgeführt,
ihnen vom Geiste seiner eigenen Dichtung einen Hauch
verliehe». Die Aufführung trug das einheitliche Ge-
präge des indischen Märchenspieles, zuzeiten etwas süß-
lich in der Stimmung, wozu die Vertreterin der Sakun-
tala, Herta Ulrici, neigte, da ihrem kühlen Wesen das
Mädchenhafte, Unberührte nicht liegen mag.
Wir durften in gleicher Spielzeit zwei alte Bekannte
begrüßen, den immer noch unverwüstlichen „H c r r n
S e n a t o r", dessen Neueinstudierung nicht ganz die
Erinnerung an frühere Aufführungen verwischen konnte,
obgleich Ernst Wehlau den Andersen in einer feinen
und in versöhnlichen Linien gehaltenen Charakterstudie
gab. In Hauptmanns „B i b e r p e l z" endlich war
es Schlencks köstlich beherrschter Humor, der den be-
rühmten Amtsvorsteher von neuem lebendig werden ließ.
Nach dem bislang Geschauten muß der Ära Bekker,
die nur ein Jahr dauern soll, aus dem Gebiete des
Schauspiels Zielsicherheit und frisches Leben zugestanden
werden.
A. Latwesen.
venia legendi seine Antrittsvorlesung „Aus der Geo-
metrie der Kurvenschwerpunkte". — Die Zahl der im
Wintersemester 1926/27 an der Marburger Universität
immatrikulierten Studierenden beziffert sich endgültig
auf 2160 (hierunter 212 Studentinnen). Hierzu kommen
noch 50 Hörer (darunter 16 Hörerinnen), so daß sich
17
bic Gesamtzahl der Studierenden auf 2310 beläuft.
Die 2100 immatrikulierten Studierenden verteilen sich
nach Fächern wie folgt: Theologie 141, Rechtswissen-
schaft 714, Medizin 324, Zahnheilkunde 63, Philologie
370, Mathematik und Naturwissenschaft 224, Chemie 97,
Staatswissenschaft 50, Pharmazie 68, sonstige Studien-
fächer 63. Im Sommerhalbjahr 1926 betrug die Zahl
der immatrikulierten Studierenden 2387. — Gießen:
Ter derzeitige Rektor Prof. Dr. Z >v i ck wurde für
seine großen Verdienste um die Mikrobiologie von der
Wiener Gesellschaft für Mikrobiologie zum korrespon-
dierenden Mitglied ernannt. — Geh. Medizinalrat Prof.
M a r t i n, der auf eine 25 jährige Tätigkeit als Di-
rektor des veterinär-anatomischen Instituts und zu-
gleich auf eine 40 jährige akademische Tätigkeit als
Gelehrter zurückblickt, wurde von der medizinischen Fa-
kultät der Universität Zürich zum Ehren-Doktor er-
nannt. — Dem a. v. Prvf. Dr. jur. Wilhelm Groh
wurde zum 1. April 1927 der in der juristischen Fa-
kultät der Universität Heidelberg neu errichtete Lehr-
stuhl für Arbeitsrecht übertragen. — Der Privatdozent
für Beterinärchirurgie Dr. West hu es wird für ein
Jahr an der Cornell University in Jthaca (New
Jersey) wirken. — Dem ersten Assistenzarzt an der
Augenklinik Dr. med. Heinrich K r a n z (aus Greben-
stein) wurde die venia legendi für das Fach der Augen-
heilkunde und dem Assistenten am Institut für experi-
mentelle Psychologie und Pädagogik Dr. phil. Johann
Georg Hart g e n b u s ch die venia legendi für das
Fach der experimentellen Psychologie erteilt. — Dar nt -
stadt: Prof. Dr. Otto M a u l l wurde Vom Hessischen
Landesamt für Bildungslvesen auf die Dauer von
4 Semestern mit Vorlesungen an der technischen .Hoch-
schule über die Kulturgeographie des Auslands beauf-
tragt. — Göttingen: Der Ordinarius der deutschen
spräche und Literatur an der Universität Leipzig,
Prof. Dr. Friedrich N e u m a n n (aus Wilhelmshöhe),
der Verfasser des mit dem Schererpreis gekrönten Wer-
kes „Geschichte des neuhochdeutschen Reimes von Opitz
bis Klopstock", übernimmt vom Sommersemester ab
das Ordinariat seines früheren Lehrers Edward Schröder.
P e r s o n a l ch r o n i k. Der Intendant des Kasse-
ler Staatstheaters, Paul Belker, wurde zum Inten-
danten des Wiesbadener Staatstheaters ernannt. —
Der Senior des Fuldaer Diözesanklerus, Domkapitular
Prof. Dr. Gutberlet, Verfasser zahlreicher philo-
sophischer Werke, vollendete am IO. Januar das 90.
Lebensjahr. — Der Vorstand der Deutschen Landwirt-
schaftsgesellschaft in Berlin verlieh dem Direktor der
Landwirtschaftskammer für Kurhessen, Ökonomierat Dr.
Staehly in Kassel die Silberne Eyth-Tenkmünze.
Todesfälle: Am Weihnachtsabend entschlief nach
kurzer Krankheit in einem Sanatorium des Bades
Homburg im 72. Lebensjahre Justizrat Franz 11 t h
aus Hanau. Uth hat Bedeutendes in der Verwaltung
der Stadt Hanau geleistet. Er gehörte zu den immer
seltener werdenden Juristen, die mit klarem Blick immer
das Grundlegende und Wesentliche eines Problems zu
erfassen verstanden und deshalb Linie hatten. Neben
dieser klaren Auffassung eines über den Dingen stehen-
den Mannes stand umfassende Erfahrung, peinliche Ge-
wissenhaftigkeit und vorbildliche Vornehmheit der Ge-
sinnung. Uth, der der nationalliberalen Partei ange-
hörte, ist lange Jahre hindurch als Stadtverordneten-
vorsteher tätig gewesen. — An den Folgen einer schweren
Merenbeckenentzündung starb am 27. Dez. der Pfarrer
an der Altstädter Gemeinde in Kassel Emil W o l s f.
Er entstammte einem alten Marburger Pfarrergeschlecht,
sein Vater begleitete lange ' Jahre hindurch das Amt
des Superintendenten in Eschwege. Wolfs hat sich in
treuer 25 jähriger Tätigkeit in seiner Gemeinde allge-
meine Beliebtheit erworben. Im Ausschuß des evange-
lischen Gesamtverbandes schätzte man seine Arbeit als
Geschäftsführer. — In Gießen verstarb der Konzert- unb
Oratoriensänger Heinrich K ü h l b o r n, ein geborener
Kasselaner, an den Folgen eines Herzleidens. Kühlborn,
der als junger Tenor auf der Opernbühne begann, ging
bald ganz zum Konzert- und Oratorienfach über. Von
Frankfurt siedelte er nach Celle über, von wo aus er,
auch am Konservatorium in Hannover, eine starke
Lehrtätigkeit entfaltete. Der Tod hat ihn im besten
Schaffen, etwa Mitte der vierziger Jahre, ereilt.
C h r i st i a n D a n i e l Rau ch. Am 2. Januar
waren 150 Jahre verflossen, seit zu Arolsen, als Sohn
eines Kammerdieners, der Bildhauer Christian Daniel
Rauch geboren wurde, der Schöpfer des Dürerdenkmals
in Nürnberg und des Standbildes Friedrich des Großen
Unter den Linden zu Berlin. Rauch, der 1857 starb,
war, ehe er zu Schadow kam, Schüler des Kasseler
Bildhauers Ruhl.
V o m K a s s e l e r N a t u r a l i e n m useu m. Zur
baulichen Herrichtung und Neueinrichtung des Natu-
ralienmuseums bewilligte der Magistrat einen Betrag
von 30 000 RM, der je zur Hälfte in den Etatsjahren
1927/28 zur Zahlung kommen soll. Die Bewilligung
erfolgte unter der Voraussetzung, daß das Museum in
einer den Ansprüchen der Jetztzeit erforderlichen Weise
neu eingerichtet und daß die Miete für die Räume des
Schulmuseums möglichst niedrig bemessen wird. Es
soll geprüft werden, ob der Jnnenbau nicht zweckmäßig in
geeigneter Weise vollständig neu ersetzt werden kann.
Preisausschreiben. Anläßlich der bevor-
stehenden 400-Jahrfeier der Universität hat die Stadt
Marburg einen Gesamtpreis von 500 RM ausgesetzt
für einen Wettbewerb zur Gewinnung eines leicht sing-
baren Liedes über Marburg mit eigener Melodie. Ter
Umfang des Liedes soll möglichst 5 Verse nicht über-
steigen. Zur Beteiligung ist jedermann aufgefordert.
Einsendungen sind bis zum 1. Mai 1927 mit einem
Kennwort an den Magistrat der Stadt Marburg (Lahn)
zu richten. Tie genaue Anschrift des Verfassers ist in
einem mit gleichem Kennwort versehenen Umschlag nie-
derzulegen.
Eine 100jährige Fuldaer Firma. Tie
mechanische Leinen- und Gebildweberei I. Jacobson
blickte am l. Januar auf eilt 100 jähriges Bestehen
zurück. Ter Gründer der Firma, Jakob Jacobson,
stammte atis Zwesten.
Z tt r F ilmvorführung des 11 n i v e r s i --
tätsbundes. Der Universitätsbund Marburg wird
seinen Mitgliedern das „Blumenwunde r" vor-
führen. Es ist zu hoffen, daß auch noch zahlreiche bis-
her Abseitsstehende diesen Anlaß benutzen werden, dem
Bunde beizutreten. Auskunft erteilt gern die Geschäfts-
stelle Landgrafenhaus, Zimmer 22. Die Entstehung
des fünfaktigeit Films „Das Blumenwunder" wird von
zuständiger Seite wie folgt geschildert: Die Badische
Anilin- und Sodafabrik, Ludwigshafen a. Rh., wollte
Stickstoff zum Düngen der Äcker verkaufen. Um den
Bauern die Wirkung des Stickstoffes zu zeigen, stellte
sie Filme her, Filme, in denen dokumentarisch bewiesen
wurde, wie der Mais, lute der Tabak und aildere Pflan-
zen ohne und mit Stickstoff gedeihen, also ungeschminkte
Werbefilme mit dem einzigen Motiv, Geld zu verdienen.
Die Aufnahmen gestalteten sich schwierig. Tag und
Nacht wurde monatelang alle halbe und viertel Stunde
mit der kinematographischen Kamera je ein Bildchen auf-
genommen. Und siehe! Es geigten sich bei der Vor-
führung der Filme regelmäßige, von außen unbeein-
flußte, individuelle Beivegungen, z. B. in der Zeit-
spanne von vierundzwanzig Stunden ein Heben und
Senken der Blätter bei der Tabakpflanze, also natür-
liche, nicht durch Aufnahme, Licht oder Wind hervorge-
rufene Bewegungen. Tie kinematographische Wunder-
lampe hat es also möglich gemacht, unser Auge auf
Landgraf Philipp der Großmütige.
Standbild am Denkmal in der St. MartinSkirche zu Kassel.
(Aus „K. Schmidt, Hinterländer Heimatbuch".)
Siehe Bücherschau 1926 S. 250.
einen anderen Lebensrhythmus einzustellen, auf den Le-
bensrhythmus der Pflanzen. Vierundzwanzig Stunden
sind auf eine Sekunde zusammengedrängt, und vor
unseren Augen spielen sich bei den Pflanzen Bewe-
gungen, die lvir sonst kaum beobachten können, ab. Nun
kam der große Entschluß. Stickstoff hin, Stickstoff her:
Werbearbeit hin, Werbearbeit her! Hier hatte man mit
Höherem zu tun. Ohne jegliche Rücksicht aus geschäft-
liche Interessen wurden Ranken und Blumen aufblühend
lind verwelkend aufgenommen. Man kann diese Bewe-
gungen nicht beschreiben, dieses Suchen, Kämpfen und
Greifen der Kletterpflanzen, die Kramvfbewegungen der
Knospe vor der Entfaltung, das Sterben der Blumen.
Es fehlen der geschriebenen Sprache die Worte. Das
schildert uns nur das bewegte Bild. Dieses lodernde
Lied von Blühen und Welken rührt das Innerste in
uns auf. Unsere Augen werden sehend. Wir sehen in
einen Spiegel, wir sehen Gottes Augen im Spiegel
der Natur. Die Blnmenfilme der Badischen Anilin-
und Sodafabrik zeigen in ihrer Art der Ausführung
und Wirkung, wie gerade die Technik infolge ihrer
strengen Methodik und des lvciten Bereichs ihrer Mög-
lichkeiten geeignet und in der Lage ist, auch auf einem
scheinbar von ihrem Tätigkeitsfeld abliegenden Gebiete
die wissenschaftliche Forschung anzuregen und neue Schön-
heitswerte zu schaffen. — Bor dem Film werden her-
vorragend schöne Bilder aus den Gebirgen Südchiles,
der sogenannten „Chilenische n Schwei z" ge-
zeigt. Die Photographien verdankte der Universitäts-
bund einem gebürtigen Hessen und Vorkämpfer des
Deutschtums in Chile, Or. med. Adolfo Schürmann,
Santiago, der die Aufnahmen jahrelang sammelte und
kürzlich dem Universitätsbund zur freien Verfügung
schenkte. Die Bilder wurden dem Geographischen In-
stitut der Universität überwiesen und werden jetzt zum
erstenmale der Lssentlichkeit zugänglich gemacht.
Jüdische Kultgegenstände. Es ist eine
Vereinigung im Entstehen, die den Zweck hat, künst-
lerisch und historisch tvertvolle jüdische Kultusgegen-
stände, die dem synagogalen und häuslichen Gebrauch
dienen, zu sammeln. Das gesammelte Material soll
dem wissenschaftlichen Studium und der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht tverden. Auch eine Anzahl Syna-
gogengemeinden haben ihre zum Teil sehr interessanten
und alten Bestünde an Vorhängen und anderem Gerät
zur Verfügung gestellt. Voraussichtlich wird die Aus-
stellung der Sammlungen irrt Hessischen Landesmusenm
erfolgen. Auch in anderen Städten, wie z. B. München
und Würzburg, erfreuen sich diese Abteilungen der Mu-
seen des besonderen Interesses und regen Besuches des
Publikums.
Aus E s ch tv e g e. Tie „D i e t e m ä n n e r" wol-
len ihreir Tntemann tvieder haben. Das Wahrzeichen
der Stadt Eschwege, das auch ihren Bewohnern den
Spitznamen gegeben hat, ist ein kleines Männchen, das
auf dem Schloßturm stand und die Stunden durch .tzorn-
töne anzeigte. Jetzt soll die Gestalt, die schon lange
Jahrzehnte verschwunden ist, wiederhergestellt und auf
dem alten Schloßturm tvieder aufgestellt werden. Ein
Kind der Stadt, der Direktor der Kunstgewerbeschule
in Hildesheim, Sandrock, will die nötigen Entwürfe
liefern, die Mittel sollen durch freiwillige Spenden
aufgebracht werden.
Zierenberg. Tie Stadtverwaltung geht jetzt
daran, das alte prächtige Rathaus in einen wür-
digen Zustand zu versetzen. Schon ist es auf allen Vier-
Seiten von seinem alten Verputz befreit, aber die Stadt-
väter koirnten sich bis jetzt noch nicht zur Bewilligung
der Wiederherstellungskosten entschließen.
Aus Rüssels heim. Bei Grabungen für die
Wasserleitung legte man Skelett- und Waffenreste, Urnen,
Geld und andere Stücke frei, die auf eine römische
Siedlung hindeuten. Ferner stieß man auf gut er-
haltene Reste von altgeschichtlichen Straßen der Rich-
tung Frankfurt, Mainz und Rüsselsheim nach dem
Süden.
Aus Hvmbe r g. - Nachdem Studiendirektor Koch,
der letzte Seminardirektor, Homberg verlassen hat, um
19
Studiendirektor an der Oberrealschule Marburg zu tver-
den, tvird ein Rückblick auf das Hornberger Seminar von
Interesse sein. Bekanntlich tvurde das Seminar in
Kassel 1835 nach Homberg verlegt und 1925 aufgelöst.
Silben Direktoren haben in der Zeit hier gewirkt, näm-
lich Baumann von 1835 bis 1862, Wetzell bis 1869,
Tömich bis 1887, Dr. Otto bis 1891, bis 1899 Dr.
Rank, bis 1911 Dr. Frenzel. Als letzter Direktor tvar
Koch bis 1925 tätig. Nach Auflösung des Seminars
wurdeir die Räume der neuen Aufbauschule überwiesen.
W i e e n t st a n d d a s Wort La h n? Das Wort
Lahn tritt erst verhältnismäßig spät in der Geschichte
aus. Ten Römern tvar der Fluß, der vom Nordosten
her aus fast undurchdringlichen Bergwäldern dem Rhein
zuströmte, bereits bekannt. An seiner Mündung schlu-
gen römische Baumeister eine Brücke über die grünen
Fluten. Aber bei keinem römischen Schriftsteller wird
dieser Fluß mit Namen genannt. Erst mehr als ein
halbes Jahrtausend später zur Zeit der Frankenherr-
schaft taucht bei einem fränkischen Geschichtsschreiber zu-
erst ein Name für den Fluß auf: L a n g a n a, eine Be-
zeichnung, die aller Wahrscheinlichkeit nach keltischen
Ursprungs ist, da lange vor den Germanen in West-
deutschland Kelten im Besitz dieses Gebietes waren.
Erst 300 Jahre später, um die Mitte des 8. Jahrhun-
derts, wird der Fluß in einem päpstlichen Anschreiben
erwähnt, indem hier die Anwohner dieses Gebietes
Lognaer genannt werden. In der Urkunde über die
Teilung Nassaus in die ivalramische und ottonische Linie
1255 wird der Fluß Longina genannt. Dann verschwin-
det aus dem Wort das g, schließlich spaltet es sich, und
im fünfzehnten Jahrhundert findet man in Urkunden
nebeneinander die Bezeichnungen Lön und Lon. Schließ-
lich verbleibt allein das Wort Lon, es hat sich aber
verhochdeutscht, allerdings sprachlich nicht richtig. In
der Schriftsprache setzte sich dann die überhochdeutsche
Form Lahn im 17. und 18. Jahrhundert durch, eine
Bezeichnung, die Geltung behielt, während das Wort
Lohn sprachlich mehr am Platze wäre.
Weihnachts-Würfeln. In verschiedenen Dör-
fern des Vogelsberges hat sich aus alter Zeit
noch ein Brauch erhalten, der alljährlich um die Weih-
nachtszeit geübt wird und zeigt, wie wenig unsere Alt-
vordern brauchten, um sich eine angenehme Unterhaltung
zu verschaffen. Es ist das sogenannte Weihnachtswürfeln.
Es nahm am ersten Feiertag nach dem Mittagsmahl
seinen Anfang und wurde in einer großen Bauern-
stube des Torfes gepflegt. Tort traf sich die ganze Dorf-
jugend, mitunter auch viele der Alten. Jeder mußte
dem Würfelmann fünf Heller bringen. Tie höchste Punkt-
zahl entschied beim Würfeln. Der oder die Gewinnerin
erhielten einen Weihnachtswecke. Voller Begeisterung
tvurde dem Spiel gehuldigt und manche frohe Bauern-
schnurre erhöhte die Stimmung. Gewonnene Wecke wur-
den nicht selten wieder dem Würfelmann verkauft,
tvenn dessen Vorrat ausging, bis sie schließlich doch
ihren Esser fanden. — Auch anderwärts ist das Weih-
nachtswürseln noch in Brauch. So wurde der Ober-
hessischen Zeitung aus K i r ch h a i n geschrieben: Seit
gestern haben in unserer Stadt die Würfelabende be-
gonnen. Jung und Alt wird von den Bäckermeistern
eingeladen und würfelt um Gebäck aller Art. Diese
alte, schöne Sitte wird alljährlich nur in der Zeit
zwischen Weihnachten und Neujahr geübt. Wie vor
50 Jahren, so sind noch heute von Mittag bis Mitter-
nacht die Bäckereien und die Gastwirtschaften gedrängt
voll und die Würfel klappern ans den Tischen. Mit ein-
tretender Dunkelheit vermehren sich die Gruppen, und
aus langen Brettern werden vom Bäckermeister oder
20
Wirt die Bärches, Napfkuchen, Torten, Baumstämme
und Herze herbeigetragen, und im Nu ist das alles
ausgewürfelt. Das Geld tvird eingestrichen, und der
Wirt verschwindet tvieder, um neues Gebäck zu holen,
und es ist sein Schaden, wenn er keinen Vorrat hat.
Meistens aber haben die Bäckereien für Vorrat gesorgt,
denn alljährlich werden in Kirchhain zwischen den Jah-
ren tausende von Napfkuchen, Torten, große Bretzel
ujtv. ausgewürfelt. Die Bäckermeister unserer Stadt
fördern diese schöne alte Sitte immer wieder, und cs
ist wahrlich nicht ihr Schaden, denn ihr größter Tages-
umsatz fällt in die Zeit zwischen Weihnachten und
Neujahr, tvenn „gewürfelt" wird.
S ch erztag i m „K i b i tz g r u n d". Den 3. Weih-
nachtstag zu feiern, ist eine Sitte, die immer mehr in!
Vergessenheit gerät und nur noch in Dörfern, die ab-
seits des großen Verkehrs liegen, in alter Vollkommen-
heit hochgehalten werden. Der „Scherztag" ist in rein
evangelischen Gegenden das, was in den katholischen
„Lichtmeß" für den Wechsel der Dienstboten ist. Wechselt
ein Mädchen die Stellung, so helfen Gespielinnen ihr
die Truhe zum andern Hof tragen. Am Abend aber
herrscht in den Spinnstuben ein lustigeres Leben denn
je. Was sich da an den langen Winterabenden, geordnet
nach den verschiedenen Altersklassen, meist von 14—17,
von 17—20 Jahren usw. zum „Spellen" zusammen-
findet, feiert dann auch mit den Burschen, die sich mehr
nach dem Zug des Herzens, als nach Altersunterschied
dazu finden, bei dem Klang einer Geige oder Harmonika.
Jedes Mädchen bringt aus der Würstekammer der
Eltern eine Bratwurst mit, Kartosfelklöße werden ge-
kocht, Kreppeln gebacken oder sonstiger Kuchen, und daß
auch die durstige Leber nicht zu kurz komme, dafür
sorgen die Burschen. Wenn es dann zur „Achtuhr"
geht, lacht und „kriescht", singt und klingt es in den
sonst so winterlich stillen Dorfstraßen, denn alle Spinn-
stuben sind eine Viertelstunde in Bewegung, sie besuchen
sich gegenseitig, treiben Schabernack allerhand, werfen
mit Erbsen die Fenster und tvas der harmlosen Allotria
überschäumender Jugendkraft mehr ist. Kleine Feind-
schaften werden ausgekämpft und nicht selten passiert
es, daß die bereitgestellte Gasterei aus der Küche aus-
getragen werden soll und alles verschwunden ist, und
nur noch die Reste, säuberlich in ein Schnupftnch ge-
bunden, an der Türklinke hängen. So vergehen die
langen Winterwochen nicht in tödlicher Langeiveile, ivie
der an wechselnde Feste, Kino und Theater gewöhnte
Städter denken mag, sondern in harmlosem, kräfte-
sammelndem Vergnügen, ivobei doch die fleißigen Finger
der Mädchen nicht ruhen. (Hersf. Zeitung.) >
Wildfütterung in Knüll, Rhön und
V o g e l s b e r g. Der Wildbestand in Knüll, Rhön und
Vogelsberg ist in dem letzten Jahrzehnt arg mitgenom-
men worden. Erstmals hat die Not der Kriegszeit
manchen dazu verleitet, gelegentlich mal den Sonntags-
jäger zu spielen, ohne dabei die weidmännischen Regeln
zu beachten. Verschiedentlich hat die Wilddieberei ge-
radezu überhand genommen, was besonders in verschie-
denen Teilen der Rhön der Fall ist. Aber auch die
Kälte, reiche und anhaltende Schneefälle haben dem
Wild argen Schaden zugefügt. Wenn in den Städten
und Dörfern der Schnee längst geschwunden ist, liegt
er in den Höhen über 500 Metern oft noch tage- und
wochenlang. Dem Wild ist während dieser Zeit fast
jede Möglichkeit genommen, sich sein Futter selbst zu
suchen. Alle diese Umstände haben zusammen gewirkt,
daß der Wildbestand in Knüll und Vogelsberg arg zu-
sammengeschmolzen ist. Um diesem Übelstande möglichst
abzuhelfen, sind in der Rhön die staatlichen Förste-
Ausblick. Federzeichnung von Hans von Volkinann.
(A»S dem Kalender „Kunst und Leben" 1927, 19. Jahrgang. Verlag Fritz Heyder, Berlin-Zehlendorf. Dgl. Büchersthan Seile 22.)
21
men, die Gemeinden und Jagdpächter angewiesen wur-
den, besonders auf den weiten Huten Wildfütterungeu
anzubringen und diese regelmäßig mit Futter zu ver-
sorgen. Man hofft aus diese Weise, dem Wildbestand
wieder aufzuhelfen und ihn über den Winter zu bringen.
Auch in Knüll und Vogelsberg wird diese Praxis teil-
Bücherschau.
Kalende r.
Ein erfreuliches Zeichen erstarkenden Heimatgefühls
ist die fast jährlich wachsende Zunahme heimatlicher Ka-
lender. Es ist noch gar nicht so lange her, daß ein
einziger Hessenkalender den Bedarf der Heimat deckte;
jetzt sind wir dem Ziele nicht mehr fern, daß fast jedem
Kreis sein eigener Kalender beschieden wird. Als alter
Bekannter stellt sich uns zum 44 ten Mal der von
Pfarrer Ellenberg herausgegebene vortreffliche H e s -
fische V o l k s k a l e-n der vor (Fr. Lometsch, Kassel,
0.60 RM). Wie immer reichhaltig, bringt er u. a. zwei
Erzählungen des 70 jährigen Heinrich Naumann; Pfar-
rer Witzel berichtet über das Erlebnis eines Wolken-
bruchs im Jahre 1872, K. v. Baumbach über das
Grabdenkmal des Pfarrers RUppersberg (1683) in ^chön-
stadt und weiter über Müller und Mühlen in .Haus-
inschristen, Chr. Paul behandelt die Ursache der Grün-
dung des Waldecker Klosters Marienthal, Fr. Fritsch
die christliche Bauernhochschule in Rickerode und L.
Büff weiß mit köstlichem Humor über den alten Grau,
den Oberförster des ersten hessischen Kurfürsten, zu
plaudern. Neben reichem Bilderschmuck bringt der Ka-
lender eine farbenfrohe Kunstbeilage „Am Dörnberg"
nach einem Gemälde von Hellner. — Im 3. Jahrgang
erscheint der von Valentin Traudt im Weser-Main-
Verlag, Kassel <0.80 RM) herausgegebene illustrierte Volks-
kalender Zwischen W e s e r und Mai n. Er will,
sozialistisch eingestellt, in erster Linie „dem Aufklä-
rungs-, Kunst- und Unterhaltungsbedürfnis des arbei-
tenden Volkes" dienen. Der Herausgeber selbst steuerte
eine lustige Humoreske bei und läßt außerdem einen
„griesgrämigen Rhönpilger" die Tage der alten Rhön
herbeisehnen, da noch kein Lärm die stillen Täler
füllte und es noch keine bequem angelegten, mit Ziga-
rettenmundstücken gesäumten Wege gab. Von den übri-
gen Aufsätzen sei der von A. Fricke über das Bücher-
lesen und eine ausgezeichnete, durch mehrere ganzseitige
Bilder unterstützte Würdigung des vor Jahresfrist ver-
storbenen Friedrich Fennel durch Christian Burger her-
vorgehoben. Tie Kunstbeilage zeigt das Bildnis eines
Schwälmer Bauern von Willy Preetorius. — Das
Handbuch des Kreises M e l s u n g e n, das
seinerzeit als Nachschlagebuch für die öffentlichen An-
gelegenheiten des Kreises vorbildlich wirkte, erscheint
nunmehr (A. Bernecker, Melsungen, 0.60 RM) im
8. Jahrgang, bringt auch diesmal ein ausführliches
Verzeichnis der Kreisbehörden und öffentlichen Ein-
richtungen und im übrigen, reich illustriert, Aufsätze
von Di'. L. Armbrust über Familiennamen in den Dör-
fern des Kreises Melsungen, von F. Lange aus ver-
gangenen Tagen Röhrenfurths und über den Schatz
des Kurfürsten, von Dr. E. Wenzel über die Altenburg
a. d. Edder sowie Beiträge von Heinrich Nuppel und
Helene Brehm. Daß die „Gespräche zweier Röhren-
further Bauern" wieder der Vergessenheit entrissen wur-
den, soll besonders anerkannt werden. — Im 5. Jahr-
gang bringt Wilhelm Neuhaus im Hersfelder Hans
Ott-Verlag (0.60 RM) den H e s s i s ch eit Heimat-
kalender heraus, dessen Monatsleisten heimatliche
iveise schon geübt. Es könnte aber in noch größerem
Maße der Fall sein. Die Erhaltung eines reichen
Wildbestandes ist nicht nur eine Freude für den weid-
gerechten Jäger und den Wildbretesser, sondern beson-
ders auch für den Naturfreund und unsere Jugend,
die zur Freude an der Natur erzogen werden soll.
Landschaften vorführen und der neben anderen Illu-
strationen Zeichnungen von H. Rothe, O. Westphal
und Schimmelpfennig bringt. Neben den Erzäh-
lungen von Deist und Klink und Gedichten von
Neuhaus und Agnes Gewecke seien folgende Beiträge
hervorgehoben: Baist, die Landecker Tracht, Hochgreve,
die Verödung unserer Tierwelt, A. Gewecke-Berg, Braut-
wagenfahren, K. R. Fischer, die Vogelliebhaberei im
Vogelsberg, W. Schesfler, Sprüche im Hersfelder Mu-
seum, Dr. A. Hüneberg, Hessische Frühlings- und Pfingst-
bräuche, Wilhelm Neuhaus, das Wahrzeichen von Hers-
feld, vom Rotenburger Schloß, die Kalilager an der
Werra und schließlich eine wertvolle Zusammenstellung
der von ihm in Hersfeld und Umgebung gesammelten
Volksdichtung. — Reichen Inhalt hat auch der im
ziveiten Jahrgang bei Olten und Wiegand, Homberg
(0.80 RM) erscheinende illustrierte Heimatkalender
des Kreises Homberg. K. Wittich teilt zunächst
einiges mit aus dem Kreise Homberg ums Jahr 1770;
cs folgt ein Verzeichnis der Behörden des Kreises;
.Heinrich Nuppel steuerte eine Erzählung und eine Bal-
lade bei, Werner behandelt die Synode in Homberg
1526, W. Killmer das Ende des St. Georgsklosters
bei Homberg und die Burg Falkenberg und ihre Be-
sitzer, Wilhelm Schmitt den ersten reformatorischen Pre-
diger Hombergs, Gerhard Ungefug, sowie Hornberger
Sagen und alte Schnurren, Heinrich Nuppel berichtet
über den wiedererstandenen Seefahrer Hans Staden
aus Homberg, Amtsgerichtsrat Rabe über den Reim-
chronisten Pfarrer Johannes Ratz (st 1580) aus Borken
und K. Annacker über die Bäume, Sträucher und Kräu-
ter unseres Waldes in Sage, Geschichte und Vvlksaber-
glauben. Über weitere Kalender berichten wir im näch-
sten Heft.
Von den uns zugegangenen Abreißkalendern sei für
diesmal auf zwei hingewiesen. Zunächst aus den im
19. Jahrgang bei Fritz Heyder, Berlin-Zehlendorf
(3.— RM) erscheinenden Kalender „Kunst und Le-
b e n", der sich auch diesmal wieder das Ziel gesetzt
hat, in 53 Original-Zeichnungen und Holzschnitten deut-
scher Künstler mit der zeitgenössischen deutschen Schwarz-
Weiß-Kunst bekannt zu machen und deren Verständnis
in die weitesten Kreise unseres Volkes zu tragen. So
vermittelt dieser Kalender mit seinen trefflichen Wie-
dergaben zu wohlfeilem Preis Fühlung mit der Kunst
der Gegenwart. Wie immer, kommen auf den Werk-
tagblättern neben Versen und Sprüchen der großen
Toten etwa 50 Dichter der Zeit zu Worte. — Etwas
ganz Neues bietet der Konkordia-Verlag, Leipzig, in sei-
nem von Dr. .Hans Baumann im Auftrag der deutschen
Reichsbahn-Gesellschaft herausgegebenen „D e u t s ch e n
Reichsbahn - K a lende r" (3.— RM), der auf über
100, teils farbigen Blättern die geschichtliche Entwick-
lung und das Wirken des größten Betriebsuntcrnehmcns
der Welt, der nahezu 3 Millionen Deutschen Brot
gebenden deutschen Reichsbahn anschaulich vor Augen
führt. Staunenswerte Organisation, Wunder der Tech-
nik und herrliche Landschaftsbilder treten dem Beschauer
dieser Blätter entgegen, die somit auf kulturhistorischen
Wert Anspruch machen dürfen. H.
Veremsnachrichten.
Hessis ch er G e s ch i ch t s v e r e i n. Im K a s -
s e l e v Verein sprach am 13. Dezember einer der
besten Kenner unseres hessischen Landvolkes, der Ver-
fasser der drei trefflichen Bände „Aus einer vergessenen
Ecke", Metropolitan Dr. Lic. Boette - Marburg, über
die „Arbeit als Seele des Volkes". Redner schil-
derte die Arbeit des Bauern als die Wurzel seines
liefen Heimatgefühls. Er ist nie ohne Beschäftigung,
die Arbeit begleitet ihn von früher Jugend an bis
ins Altenteil,' und sie geschieht im eigenen Interesse
wie in dem der Dorfgemeinschaft, vor allem aber gilt sie
seinen Kindern. Diese bäuerliche Arbeit kann aber
nur recht einschätzen, wer ein Herz für das Volk hat.
(Bericht: Kasseler Tageblatt 16. Dezember.)
Am wissenschaftlichen Unterhaltungsabend des K a s -
s e l e r Vereins am 3. Januar gab der Vorsitzende,
Bibliotheksdirektor Dr. H o p f, Kantor H o r w i tz das
Wort zu einem Referat über die Beziehungen des Land-
grafen Wilhelm IX. zu dem frankfurter Bankier
Meyer Amschel Rothschild, rvie sie uns Berghöfer
in seiner Monographie eingehend schilderte. Tann sprach
Volkswirt Bruno Jacob über die von Adam T r a -
b e r t herausgegebenen Zeitungen und einige verschol-
lene Blätter der Zeit um 18-18. Zum Schluss schil-
derte er Traberts letzte Anwesenheit in der hessischen
.Heimat 1902 und seinen, des Redners, letzten Besuch
bei ihm in Wien 1912. Zum Schluß sprach Geheimrat
Prof. Di-, Edward Schröder- Göttingen über die
Geschichte der Universitätsmatrikeln, namentlich die Ma-
trikel der 1809 eingezogenen braunschweigischen Uni-
versität Helmstedt. (Bericht: Kasseler Post 5. Januar.)
In der Sitzung des Gelnhäuser Vereins am 3. Ja-
nuar 1927, begrüßte der Vorsitzende, Herr Stock, die
Erschienenen mit dem Gelnhäuser Neujahrsgruß und
wünschte im neuen Jahr Wachsen und Blühen; der
Redner des Abends, Oberstleutnant v. Carlshausen,
sprach über das Thema: „Aus dem Leben eines kurh.
Beamten in ernster Zeit". (Kammerpräsident Buderus,
bevollmächtigter Minister und außerordentlicher Gesand-
ter von Hessen und Hessen-Darmstadt.) Er entrollte
ein lebensvolles Bild seines Vorfahren, der in ernster
Arbeit sich aus kleinen Verhältnissen emporgearbeitet
und seinem Landesherrn unschätzbare Dienste geleistet
hatte. Ein Schreiben des Regierungs-Präsidenten wurde
bekannt gemacht, in dem das deutsche Geschlechterbuch
von Körner (bei Starke, Görlitz) empfohlen wurde.
Hinweise auf den großen ideellen und praktischen Wert
der Familienforschung wurden gegeben und als beson-
ders wertvolle Hilfsmittel „Die Deutsche Sippe" und
Hildebrands Wappenfibel empfohlen. (Verlag von
Starke, Görlitz.) Eine lebhafte Aussprache hielt die
Mitglieder lange zusammen.
Der R h ö n k l u b, Zweigverein Fulda, wählte in
seiner Jahreshauptversammlung am 8. Dezember fol-
genden Vorstand: 1. Vorsitzender O. Miller, 2. Bors.
A. Wiegand, 1. Schriftführer P. Kramer, 2. Schrift-
führer E. Koch, 1. Kassierer H. Franke, 2. Kas-
sierer H. Trabert, Vorsitzender des Wanderausschusses
Steher, des Bau- und Wegeausschusses Will, des Hüt-
tenausschusses Gregor, des Werbe- und Vergnügungs-
ausschusses Lange, Bibliothekarin Fräulein M. Mollen-
hauer. Direktor Siems würdigte die verdienstvolle Ar-
beit des ausscheidenden seitherigen ersten Vorsitzenden
Sanitätsrat Dr. Schneider. (Bericht: Fuldaer Zeitung
10. Dezember.)
Gebet.
Eine Schwalbe möcht' ich werden, nicht von Erdenlast beschwert,
Die mit weichen, schlanken Flügeln aufwärts in die Sonne fährt. . .
Weder Zeit noch Liebe kennen, fortgeweht von Land zum Meer —
Eine Schwalbe möcht' ich werden ... Herr, die Erde drückt so schwer . . .
Kassel. Klara Steckhan.
Personalien.
_ Ernannt: die Regierungsräte Heine und Dr.
Simons zu Oberregierungsräten, Regierungsrat Dr.
Webe r in Kassel zum Oberregierungsrat bei der Re-
gierung in Erfurt; die Pfarrer S ch l o t t in Bieber
zum Pfarrer in Niederrodenbach, S ch e f s e r in Hepha-
ta bei Treysa zum Pfarrer in Fritzlar, Eckhardt in
.Heinebach zum Pfarrer in Wasenberg, W e p l e r in
Velmeden zum Pfarrer in Eschwege, B i e r s ch e n k in
Kalden zum Pfarrer in Liebenau; Studienassessor Ernst
B o l tz zum Studienrat des Staatlichen Gymnasium
in Hersfeld; Provinzial-Rabbiner Dr. Cahn in Fulda
zum Rabbiner der israelitischen Kult-Gemeinden Gers-
feld, Schmalnau, Hettenhausen, Tann und Wüsten-
sachsen ; Lehrerin Reinhardt von der Domschule
und Österreich von der stadtpfarrlichen Schule zu
Fulda zu Konrektorinnen.
Übertragen: dem Studienrat Dr. Klee aus Mar-
burg die Leitung der Aufbauschule in Homberg: eine
Oberpostmeisterstelle dem Postmeister Reinhard in
Kirchhain, eine Postinspektorstelle dem Oberpostsekretär
Hildebrandt in Kassel, eine Telegrapheninspekior-
stelle dem Obertelegraphensekretär Hinneburg in
Marburg.
Verliehen: den Regierungsbauräten Müller in
Hersfeld und T ö n s m a n n in Rinteln je eine Regie-
rungsbaüratstelle in Besoldungsgruppe A 11.
Beauftragt: Regierungsrat vom Polizeipräsidium
Stettin Dr. S ch u st e r mit der Verwaltung des Land-
ratsamles Melsungen.
Versetzt: Regierungsrat Dr. Koppen von der
Regierung Potsdam unter Ernennung znm Oberregie-
rungsrat zur Regierung Kassel, Regierungsrat K u t -
ter zur Regierung Potsdam; Polizeimajor Janocha
von der Regierung Kassel zur Schutzpolizei in Münster
i. W. und Polizeimajor H a a ck von der Regierung
Wiesbaden zur Regierung Kassel.
Angestellt: technischer Bürohilfsarbeiter bei dem Hoch-
bauamt Schmalkalden E h m e r als Reaiernnqsbause-
kretär.
23
x>n den Ruhestand versetzt: Hegemeister Dörr in
Wildeck; Regierungsoberinspektor, Rechnungsrat Leim-
b a ch.
Vermählte: Dr. Joseph H o ck und Frau, Grete, geb.
Heim (Fulda, 20. 11.); Prof. Dr. Fritz v o n Scheele
und Frau, Gudrun, geb. Borg (Boräs sSchwedcnj
11. 12.); Gerichtsassessor Georg Bersch und Frau,
Ursula, geb. Urban (Breslau); Lehramtsassessor Wil-
W i m m e l und Frau, Annemarie, geb. Stoeckicht (Wert-
heim,^23. 12.); Dr. Walter Bauler und Frau, Loffka,
geb. Hughes (Kassel): Gärtnereibesitzer Otto Ecke und
Frau, Hede, geb. Krug (Kassel-K.); Studienassessor Wil-
helm -F e r r e a u und Frau, Christel, geb. Otto (An-
dernach Rh., 1. 1.); Dr. med. Martin R üben und
Frau, Jenui, geb. Landau (Berlin-W., 2. 1.); Dr.
Ernst Sch >v a r z und Frau, Hildegard, geb. Rohr-
hirsch (Fulda, 4. 1.); Regierungs-Medizinalrat Dr.
Paul U l l ni a n n und Frau, Jda, geb. Kloppmann
(Kassel, 8. 12.); Berbandssyndikus Dr. Erwin Ger-
land und Frau, Lisa, geb. Range (Kassel, 18. 12.);
Dr. med. Julius Ziegelstein und Frau, Else, geb.
Lebach (M.-Gladbach, 26. 12.).
Geboren: ein Sohn: Dr. med. Hack und Frau,
Therese, geb. Walter (Fulda); prakt. Zahnarzt Dr.
K. S ch a u m l ö f f e l und Frau, Margarete, geb. Metz
(Kassel, 20. 12.); Oberförster Otto Reinhard und
Frau, Gertrud, geb. Steinvorth (Naumburg); Landrat
Max W i t t m e r und Frau, Marianne, geb. Wölbing
(Arolsen, 25. 12.); Oberförster Heinrich Andrae und
Frau, Liselotte, geb. Stahl (Kassel-K., 1. 1.); Amts-
und Landrichter Walther T i m m und Frau, Gustel,
geb. Bock (Berlin, 30. 12.); — eine Tochter: Dr.
med. Paul R o u x und Frau, Annemarie, geb. Müller-
Kulenkampff (Homberg, 28. 11.); Dipl.-Jng. Erwin
Neitzert und Frau, Margrit, geb. Biesenbach (Ful-
da) ; Dipl.-Kaufmann Dr. Paul S p i u d l e r und Frau,
Mia, geb. Tanier (Kassel, 21. 12.); Pfarrer Ernst
Spaugenberg und Frau, Lotte, geb. Hoffmann
(Belnhausen, 21. 12.); Landrat Carl Freiherr von
F u n ck und Freifrau, Oda, geb. Freiin von Münch-
hausen (Homberg, 2. 1.); Oberförster H e r b st und
Frau, Hildegard, geb. Bachmann (Wallenstein, 9. 1.);
Lehrer A. D e i st und Frau, Hanna, geb. Georg (Nie-
deraula, 21. 12.); Hauptmann a. D. Barthol dh
und Frau, Aenne, geb. Engelhardt (Kassel, 26. 12.).
Gestorben: Klempnermeister Gustav 5) o ch h u t h,
67 I. alt (Eschioege, 2. 11.); Frau Berta Kliugel-
höser, geb. Keppler (Marburg, 19. 11.);' Pfarrer
Otto S t o e ck e r, 48 I. alt (Kirchberg, 9. 12.); Witwe
Christiane Walle, geb. Scheel, 77 I. alt (Kassel,
11. 12.); Schauspieler Fritz Odemar (Frankfurt);
Freiherr Adolf Friedrich von Oeynhause n, 82
I. alt (Homberg, 12. 12.); Kaufmann Wilhelm F i n -
g e r, 76 I. alt (Frankenberg); Stadtsekretär Jean
N e u d o r f, 64 I. alt (Kassel, 14. 12.); Fabrikant B.
Mosbacher, 75 I. alt (Kassel, 7. 12.); Kauf-
mann Wilhelm Finger, 76 I. alt (Frankenberg);
Schulrat i. R. Heinrich Andres, 69 I. alt (Lauter-
bach); Major der Landwehr a. D. Karl Wenck, 63 I.
alt (Karlshasen, 13. 12.);'Landwirt Jakob Hilgen-
b e r g, 71 I. alt (Borken, 17. 12.); Oberpostsekre-
tär Karl Wimmel, 56 I. alt (Kassel, 17. 12.);
Prof. Dr. Eduard G ö t t i n g, 66 I. alt (Göttingen,
18. 12.); Rechnungsrat i. R. Fritz Gehlhaar (Mar-
burg) ; Mühlenbesitzer Heinrich Otto, 40 I. alt (Harle-
Mühle b. Wabern, 20. 12.); Lehrer Otto Werner
(Buschhütten, früher Schwarzenborn); Fabrikdirektor i.
R. Dr. phil. Rudolf Eberl, 65 I. alt (Kassel, 23. 12.);
Justizrat Franz U t h, 71 I. alt (aus Hanau, .Hom-
burg, 24. 12.); Dr. med. Hans Schultheiß (Ger-
stungen, 24. 12.); Kantor u. Lehrer i. R. Adam Hoß-
f e l d, 70 I. alt (Kirchheim, 26. 12.); Justizoberinspektor
a. D„ Rechnungsrat Will). W eber, 69 I. alt (Kassel,
26. 12.); Eisenbahnsekretär i. R. Aug. W alter (Nie-
dervellmar, 26. 12.); Pfarrer Ernst Wolfs (Kassel,
27. 12.); Konzert- u. Oratoriensänger Heinrich K ü h l -
born (Celle); Pros. i. R. Richard Lambert, 80 I.
alt (Marburg); Kaufmann Heinrich Gievers, 68 I.
alt (Kassel, 31. 12.); Hauptmann a. D. Gustav
Schmitt, 91 I. all (Weimar, 31. 12.); Rentnerin
Fräulein Marie B e y e r, Mitgründerin des Kasseler
M' servatoriums für Musik (Kassel, 1. 1.); Frau Hege-
meister Maria M a r t i n, geb. Fladuug, 60 I. alt
(Holzheim, 2. 1.); Ingenieur Kaspar S ch ä f e r (Ful-
da, 7. 1.); Generalmajor a. D. Erich v. B ö ck m a n n
(Oberurs, 8. 1.); Frau Hegemeister Minna Walser,
geb. Wehrhahn (Obersuhl, 8. 1.); Frau Karoline
F l ö r s h e i m, geb. Neuhaus (Rotenburg); Amtsan-
waltschaftsrat i. R. Wilhelm K link, 65 I. alt (Hers-
feld) ; Ehefrau des Revierförsters a. D. Helene S t r o f f,
geb. Schomann (Romsthal, 8. 1.); Ehefrau des Sani-
tätsrats, Helene Heil, geb. Rexrodt, 47 I. alt (Kas-
sel, 9. 1.); Staatl. Hegemeister i. R. Louis Cent-
n e r, 69 I. alt (Bischhausen, 10. 1.); Förster a. D.
Martin G o m b e r t, 92 I. alt (Selgertshausen, 10.1.);
Frau Prof. Erna W e i g e l, geb. Froboese, 38 I. alt
(Marburg, 10. 1.); Maschinenmeister Peter F u r k e l
(Gudensberg); Regierungs-Bauoberinspektor Carl T i l -
eher, 55 I. alt (Marburg, 11. 1.).
„Knierim3 Kaffee
rote Tüte,
ist von ganz besondrer Güte“
Zu haben in den
einschlägigen Geschäften des Bezirkes Kassel
Bernhardistrabe 1/2 (am Wal1)
Bezugsbedingungen für „Hessenland": Mitglieder der unter dem Jnnentitel aufgeführten Vereine bestellen
das „Hessenland" beim Verlag (Dr. K. Braun, Eschwege, Herrengasse 10) zum Vorzugspreis von R.-M. 1.75
vierteljährlich portofrei. Nichtmitglieder bestellen bei ihrer Buchhandlung oder direkt beim Verlag, bzw. beim nächsten
Postzeitungsamt zu R -M. 2.— vierteljährlich. Preis für das Ausland 3 $
Verlag: Dr. Karl Braun, Eschwege, Herrengasse 10.
Postscheckkonto: Frankfurt a. M. 82145, Johs. Braun, Eschwege.
Schriftleiter! Paul Heidelbach. Kassel. Druck: Friedr. Scheel. Kassel. Alle Rechte vorbehalten.
Manuskripte sind zu senden an Paul Heidelbach. Kassel, Hohenzollernstraße 16.
Für unverlangte Einsendungen keine Verbindlichkeit. Rücksendung nur, w e n n d a 8 P o st g e l d b e i l i e g t.
24
Illustrierte Monatsblatter für Heimatforschung, Kunst und Literatur
Schriftleiter Paul Heidelbach, Kassel. Unter Mitwirkung von Bezirkskonservator Baurat Dr. H o l tmey er, Kassel,-
Direktor der Landesbibliothek vr. Hopf, Kassel,-Lyzeallehrer Ke ller, Kassel,- Staatsarchivrat vr. Knetsch, Marburg,-
Oberbibliothekar Professor vr. Losch, Steglitz,- Schriftsteller Heinrich Ruppel, Homberg,- Professor vr. Schaefer,
Kommissar für Naturdenkmalpflege im Reg.-Bez. Kassel,- Geheimrat Universitätsprofessor vr. Schröder, Göttingen,-
Universitätsprofeffor vr. Schwa nt ke, Marburg,- vr. Werner S unkel, Marburg,- Professor vr. Bonderau, Fulda,-
Unkversitätsprofeffor vr. W e d e k i n d, Marburg.
—........ ........... 3m Einverständnis mit den Vereinen: —————————
Verein für hessische Geschichte und Landeskunde,- Hessischer Gebirgsverein,- Knüllgebirgsverein,- Allgemeiner Deutscher
Sprachverein, Kassel,- Verein für Naturkunde, Kassel,- GeologischerVerein, Marburg,- Biologische Vereinigung, Marburg,-
Gesellschaft für Familienkunde in Kurhessen und Waldeck,- Hessischer Volksschullehrerverein.
Bezugspreis vierteljährlich 2.— Mark ■> »»—
39. Jahrgang Heft 2 Kassel, Februar 1927
Eduard Douwes Dekker (Multatuli) in Kassel.
Von Prof. Dr. M. 3. van der Meer, Direktor des Holland-Instituts an der Universität Frankfurt a. M.
(Frau Mathilde Mardorf-Dellevie und Fräulein Else Katzenstein hochachtungsvoll zugeeignet.)
Ein französischer Aphorismus lautet: „Ter
Mann ist von Natur polygam, es ist die Aufgabe
der Frau, ihn zum Monogamismus zu bekehren."
Wenn diese Behauptung zu Recht besteht, dann
sind weder Multatulis erste Frau, noch seine spätere
zweite, die schon lange, bevor er sie heiratete, sein
Leben geteilt hat, ihrer Ausgabe gewachsen gewesen.
Schon während seiner Verlobungszeit (1845/47),
als er aus dem idyllischen, kleinen indischen Städt-
chen Purivakarta, wo sich die .Häuser der Europäer
so malerisch um den kleinen See lagern, an seine
Braut Everdine Huberte Baronesse van Wijnbergen,
die Tine seiner Werke, die auf der Teeplantage
Parkan Salak in dem Preanger (Westjava) bei Ver-
wandten wohnt, die Briefe schreibt, die solch ein
unschätzbares Material für Dekkers Charakter und
Seelenleben liefern, kann er es nicht unterlassen,
ihr alle Einzelheiten aus seinem Umgang mit Cateau
Teunisz, einem armen aber hübschen Mädchen,
oas er in seinen Schutz genominen hat, zu berichten.
Obgleich es zwischen diesen beiden wohl nicht zu
einer Liebschaft gekommen sein wird, so macht es
doch einen sonderbaren Eindruck, daß in dem Brief-
wechsel zweier Verlobten ein anderes Mädchen eine
so wichtige Rolle spielt?
In den Jahren zwischen seiner Verheiratung
und seiner Beurlaubung nach Europa (1852) hört
1 Multatuli, Brieven, geraugschikt en toegelicht door
M. Toutves Dekker-Hamminck Schepel. 2 de Uitgaaf.
Amsterdam 1912. Bd. 1 S. 84 ff.
Multatuli, Briese, herausgegeben von Wilh. Spohr.
Frankfurt a. M. 1906. Bd. 1 S. 21 ff.
man nichts von Liebschaften; in dieser Zeit mag
das regelmäßige Familienleben und die regelmäßige
Arbeit einen beruhigenden Einfluß auf ihn aus-
geübt haben. Während seiner Urlaubszeit erzählt
er wieder ausführlich seine Abenteuer mit jungen
Mädchen aus einer Reise in Westdeutschland? Und
nachdem er endlich Indien für immer verlassen hat,
nehmerr in dem Briefwechsel mit seiner Frau Liebes-
abenteuer einen sehr bedeutenden Platz ein. Tine
wagt hie und da nur einen schüchternen Versuch,
zu zeigen, wie ihr dies alles zuwider ist und wie
sie darunter leidet, dann aber weist er sie darauf
hin, daß sie über solche Vorurteile erhaben sein
müsse, weil ihre Ehe keine gewöhnliche sei und er
stets mit großer Hochachtung vott seiner Frau
spreche, wie aus Briefen der verschiedenen Damen
hervorgehe, und wenn sie sich damit noch nicht
zufrieden gibt, datin wirft er ihr vor, daß sie
moralisch zurückgehe. Wie Tine darunter gelitten
hat, enthüllt sie zum Teil in ihren Briefen an
ihre Freundin Stefanie Etzerodt, spätere Frau Om-
boni2 3 * *, immer noch schonend, um Dekker nicht zu
sehr bloßzustellen. „Dies ist gerade das Tragische,
daß Tine wohl versucht ihn zu warnen, aber schließ-
lich niemals kräftig ihre Auffassung stark genug
betont hat; sie wollte den reizbaren Mann schonen;
sie will als die Gattin eines Genies alles opfern;
2 Brieven Bd. 2 S. 140.
3 Tine, Brieven van Mevr. E. H. Douwes Dekker-
Van Wijnbergen aan Mej. Steph. Etzerodt, later mevr.
Omboni, met een schrijven van de laatste en enkele
aanteekeningen van I. Poe. 's-Grav. 1895.
25
sie weis; sich geliebt über viele, sie wirft sich bis-
weilen vor/ baß sie sich nicht genügend zu seiner
Seelenhoheit emporschwingen kann"4.
Mer auch seiner späteren zweiten Frau, Fräu-
lein M. Hamminck Schepel, der Mimi der Briefe,
die von 1865 an fast ununterbrochen sein Leben
geteilt, ihm schwere Zeiten erträglich gemacht, ihn
vor mancher Unbesonnenheit bewahrt hat und, viel
leidenschaftlicher als Tine, seiner sinnlichen Natur
mehr entgegenkommt, ist er nicht immer treu geblie-
ben. 'Ein großer Teil der zur „niederen Minne"
gehörigen Beziehungen haben nur für die chronique
86nnänl6U86 Interesse, nicht für die ernste Literatur-
geschichte. Wer mehr darüber erfahren will, lese
die beiden Bücher von Marie Anderson: „Multa-
tuli-Wespen door Veritas, Amsterdam o. I." (Tez.
1888 oder Jan. 1889) und das ausführlichere,
teilweise eine Wiederholung des vorhergehenden,
„Uit Multatulis Leven, bijdrage tot de kennis van
zijn karakter, door Marie Anderson, Amsterdam
o. I." (Aus Multatulis Leben, Beitrag zur Kennt-
nis seines Charakters, von Marie Anderson), in
denen sie aus zynische Weise auch ihre eigenen
Liebesbeziehungen zu Dekker schildert. Auch das
Werk von I. B. Meerkerk, „Multatuli. 2. Aus-
lage", Groningen 1912, streift hart an die chronique
scandaleuse. Mit philiströser tugendsamer Entrü-
stung ohne irgendwelche psychologische Vertiefung,
als ob Dekker durch die Verstöße gegen die bürger-
liche Moral den Verfasser persönlich beleidigt hätte,
zetert er gegen Dekkers extramatrimoniale Streif-
züge.
Bisher werden in der ernsten Literaturgeschichte
drei Frauen erwähnt, die auf das literarische Schas-
sen des Schriftstellers Einfluß ausgeübt haben.
Tine, die besonders in dem „Max Havelaar," aber
auch in seinen späteren Werken die Heldin ist,
seine Nichte Sietske Swart Abrahamsz, deren leiden-
schaftliche Verehrung im Sommer 1861 seinen Schaf-
fensdrang plötzlich aufflammen lies;, so daß er in
einigen Wochen die Liebesbriefe schrieb 5; und seine
spätere zweite 'Frau, die von 1865 bis an seinen
Tod sein guter Engel gewesen ist und ihm wenig-
stens später die Ruhe hat verschaffen können, die
für eine gedeihliche schriftstellerische Tätigkeit er-
forderlich ist.
Der Einfluß einer vierten Frau, die in den
Briefen „Ottilie aus Kassel" genannt wird, wird
nur flüchtig gestreift, weil man bisher zu wenig von
ihr wußte. Allerdings kommt ihr voller Name und
ihre Adresse auch in einer niederländischen Quelle
vor, wie ich nachträglich gesehen habe, nachdem ich
schon von anderer Seite Wichtiges über sie er-
fahren hatte, und zwar in einem ziemlich verwor-
renen und schlechtgeschriebenen Buch: „Rudolf Char-
les d'Ablaing van Giessenburg (Firma R. C.
Meyer, Amsterdam Damrak 97) 1895—1904, per-
4 Dr. I. van den Bergh-Elias, Multatuli. Amster-
dam o. I.
s Ban den Bergh-Elias ebd. S. 104.
soolijke Herinneringen door M(eersmans), alsinede
d'Ablaings omgang met Multatuli (Ed. Douwes
Dekker) in de jaren 1860—1866 geschetst uit beider
nog onuitgegeven brieven en bescheiden, inet een
voorwoorb van Chr. Nuys, Amsterdam, 1904" (Ru-
dolf Charles d'Ablaing van Giessenburg (Firma
R. C. Meyer, Amsterdam Damrak 97) 1895—1904;
persönliche Erinnerungen von Mseersmans), sowie
d'Ablaings Verkehr mit Multatuli (Ed. Douwes
Dekker) in den Jahren 1860—1866, dargestellt
nach beider unveröffentlichten Briefen und Doku-
menten mit einem Vortvort von Chr. Nuys). D'Ab-
laing war damals Dekkers Verleger. Auf Seite 8
findet sich ein undatierter Brief von Dekker an
d'Ablaing: Spediere heute durch die Post eomplette
Ideen (23 Bogen) an Fräulein Ottilie Coß, Kö-
ningstraße6 7, Cassel. Sie bittet mich darum. Sie
gerade ist geeignet, sie in Deutschland zu verbreiten/
Aus dieser Quelle wird wohl auch der Name
Ottilie Cos; stammen, den wir in der Einleitung
zu einer Auswahl aus Multatuli von
I. B. Meerkerk, A m st e r d a m, 192 0, finden.
Auch in der zweiten Auslage seines obenerwähnten
Werkes spricht Meerkerk in einer Fußnote von
Ottilie Coß. In dem Text nennt er sie noch Ottilie
Worthmann. In der ersten Auflage hielt er sie für
die Tochter des Hotelbesitzers, bei dem Dekker ge-
wohnt haben soll. Den .Hotelbesitzer nennt er noch
in der zweiten Auflage Worthmann. Woher dieser
Name stainmt, ist nicht zu ermitteln, da er nicht
systematisch seine Quellen nennt. Wie mir ver-
sichert wirb, hat es keinen Hotelbesitzer Worthmann
in Kassel gegeben.
Durch einen glücklichen Zufall bin ich in der
Lage, über Ottilie unb ihre Familienverhältnisse
neues Material zu beschaffen. Dies verdanke ich
an erster Stelle einer jetzt hier ansässigen Dame,
Frau Mathilbe Mardorf-Dellevie. Anläßlich einer
in ber Frankfurter Presse aufgenommenen Mittei-
lung über vom Holland-Institut veranstaltete Vor-
trüge, unter denen auch ein Vortrag von mir über
Multatuli angekünoigt wurde, schrieb sie mir, daß
sie Dekker in Kassel gekannt unb den „Max Have-
laar" in ber Ursprache gelesen habe. Mündlich
teilte sie mir bann später mit, daß sie Ottiliens
Freunoin gewesen sei und mit ihr das Werk gelesen
habe. Von ihr erfuhr ich noch andere Einzelheiten,
die weiter unten zur Sprache kommen werden.
Sie teilte mir u. a. mit, daß Ottilie früh gestorben
sei, ihre Tochter, Fräulein Else Katzenstein, aber
6 Wahrscheinlich ein Schreibfehler des Herausgebers.
7 Weil die dreiundzwanzig Bogen wohl die ersten
vier Lieferungen und einen Teil der 5 ten des ersten
„bundels" der Ideen werden enthalten haben, die vierte
Lieferung im Aug. und die 5 te und Schlußlieferung
im Nov. 1862 erschienen ist, muß der Brief zwischen
Aug. und Nov. geschrieben sein. Bergl. Nultatuliana,
verspreide en onuitgegeven stukken, medegedeeld door
Or. A. S. Kok, met een bibliographisch overzicht der
geschriften van Multatuli door L. D. Petit, Baarn
1903 S. 4.
26
noch in Kassel lebe. Für weitere Auskunft wandte
ich mich bann an den Vorstand des Vereins für
Hessische Geschichte uno Landeskunde, und der stell-
vertretende Vorsitzende dieses Vereins, Zolldirektor
a. D. Woringer, hat sich in liebenswürdigster Weise
bemüht, Näheres über Dekkers Aufenthalt in Kassel
zu ermitteln. Dies ist ihm leider nicht gelungen;
wohl aber hat er mir durch seine Lokalkenntnis des
damaligen Kassel manchen wertvollen Aufschluß ge-
geben. Weiter hat er sich mit Fräulein Katzenstein
in Verbindung gesetzt, die von Dekker und seinen
Beziehungen zu ihrer Mutter niemals etwas gehört
hatte; wohl habe sie
unter den Büchern
ihrer Mutter ein hol-
ländisches Buch gefun-
den, worüber sie sich
immer gewundert habe.
Bei einem Besuch, den
ich ihr in Kassel machte
und wobei sie mich aus
die liebenswürdigste
Weise empfing, ergab
sich mir, daß das Buch
ein Exemplar der ersten
AusgabederLiebesbriefe
(Amsterdam,1861) war,
mit einer Widmung
von Dekker und mit
einer Anzahl Notizen
in französischer und
deutscher Sprache von
Ottiliens Hand? Auch
auf die Widmung wird
später zurückzukonunen
sein. Ihnen allen,
statte ich für ihre Un-
terstützung hier meinen
verbindlichsten Dank ab.
Zum besseren Ver-
ständnis sei es mir bei
meinen weiteren Aus-
führungen erlaubt, an
Bekanntes anzuknüp-
fen. Im Jahre 1856
hatte die „Tat von Le-
bak" stattgefunven, die
vier Jahre später zur
Entstehung des „Max Havelaar" Veranlassung ge-
ben sollte: Dekker war um Entlassung aus den:
Landesdienst eingekommen, weil die Regierung in
Buitenzorg nicht mit der Art und Weise zufrieden
war, wie er seine Pflicht aufgefaßt hatte, und er
„nicht anders handeln könne, als er dort getan
habe") und diesem Gesuch war stattgegeben worden.
Er hatte in Indien vergebens versucht Arbeit zu
finden. Anfang 1857 ging er nach Europa, nach-
dem er seine Frau und seinen Sohn, Eduard, den
8 Sie hatte die große Liebenswürdigkeit, mir das
Buch als Geschenk zu überlassen.
kleinen Max aus dem „Havelaar", bei seinem Bru-
der Jan, der in Ostjava Pflanzer geworden war,
untergebracht hatte. Dieser hatte ihm auch das
Geld für die Reise gegeben. Er reiste mit der
„land-mail", verbrachte einige Zeit in Kairo und
in Südfrankreich. Weil er, wegen der vielen Schul-
den, die er in Holland während seines Urlaubs
gemacht hatte, sich fürchtete, dorthin zu gehen,
reiste er nur sehr langsam weiter. Nach den er-
müdenden und aufregenden Versuchen, in Indien
eine Stellung zu bekommen, war diese Zeit für
ihn eine Zeit der Muße. Seine Frau und sein
Kind waren vorläufig
versorgt. Er fühlte sich
wie erlöst und genoß
von dieser Ruhepause,
ohne viel an die Zu-
kunft zu denken. In
seinen: späteren Werk
finden wir zahlreiche
Erinnerungen aus Vie-
ser Periove, u. a. die
Geschichte ver Sainte
Vierge, eine Geschichte
höchster Menschlichkeit?
Er besuchte auch Arles.
Diesem Besuch verdan-
ken wir in vem elften
Kapitel oes „Max Ha-
velaar" (nach Lub-
linski io das Glanzstück
dieses Werkes), die ex-
tatische Träumerei über
die Schönheit der
Frauen dieser Stadt,
die den Wunsch in ihm
weckt, daß alle diese
Frauen nur ein Haupt
haben möchten, alle mit-
einander, nicht um es
abzuschlagen, nein, uin
unverwandt daraufhin-
zuschauen und davon zu
träumen und um . . .
gut zu sein. Dann
reiste er langsam über
Straßburg nach Deutsch-
land,. wo er sich in
Wiesbaden und Homburg aufhielt, seiner alten Lei-
denschaft, dem Spiel, fröhnte und große Summen
verlor, so daß er genötigt >var, in Brüssel in einer
kleinen Wirtschaft Unterkunft zu suchen. Daß er
vor Brüssel auch Kassel besucht hat, ivie van den
Bergh-Elias behauptet, läßt sich nicht nachweisen.
Die Mitteilungen von Frau Maroors-Dellevie kön-
b Idem 3, S. 124. Spohr, Multatuli. Auswahl
aus seinen Werken. Minden 1899. S. 198 ff.
Portraits, herausgegeben und eingeleitet von Adal-
bert Lnntowski, Berlin o. I. Multatuli von S. Lub-
linski.
E. D. Dekker (Multatuli).
27
neu sich jedenfalls nur auf den Aufenthalt in den
Jahren 1858—1859 beziehen, weil sie am 1. April
1843 geboren ist, Dekker in Gesellschaften getroffen
hat, uno es nicht anzunehmen ist, daß sie vor ihrem
sechzehnten Jahr sich an oem gesellschaftlichen Ver-
kehr beteiligte. Aus oen Briefen Bd. 3 S. 8, Spohr
Bo. 1 S. 101, ergibt sich nur, daß er im Spät-
jahr 1858, nachdem sein Bruder Jan seine Schulden
in Brüssel beglichen und ihm wahrscheinlich auch
Reisegeld gegeben hat, Kassel besuchte.
Daß er, wie Meerkerk sagt, abgebrannt nach
Kassel kam, ist itidjt wahrscheinlich, weil er die
ganze Zeit als Grandseigneur gelebt hat und in
dem ersten Hotel Kassels, dem Hotel zum König
von Preußen, auf oessen Schild der alte Fritz ab-
gebildet war, abstieg. Das Hotel, das jetzt nicht
mehr besteht, lag am Königsplatz, das Haus war
in: Jahre 1824 als Palais für den damaligen hessi-
schen Minister von Schliessen gebaut. Jm Jähre 1858
war der Besitzer Johann Gottlieb Schambeck, ein
Mann, der von der Pike auf gedient hatte, aber
damals als Grandseigneur lebte und als Sammler
bekannt war. Er war u. a. im Besitz des pracht-
vollen Schlittens, den „König Loustic" (Jerome)
zu seinen Luftfahrten benutzt hatte." Es ist aber
nicht wahrscheinlich, daß Dekker durch ihn die Kas-
seler Gesellschaft kennen gelernt hat.
In diesem Hotel aßen sehr viele Künstler zu
Mittag. Dadurch hat Dekker wohl Zutritt zu den
damaligen Künstlerkreisen bekommen; er soll be-
sonders in diesen Kreisen verkehrt haben. Kassel
war damals eine Stadt von 37 000 Einwohnern,
es hatte eine Kunstakademie und einen ziemlich be-
deutenden Künstlerkreis. Aber das Interesse für die
Kunst war bei der Bevölkerung und den Fürsten
nicht sehr groß. Der Maler Katzenstein, von dem
noch weiter die Rede sein wird, berichtet im „Hes-
senland" 1887, S. 113 und 128 über „Kasseler
Maler in den Jahren 1840—1850", also aus einer
etwas früheren Zeit. Er führt darin n. a. Folgen-
des aus: „Wenn man zurückblickt auf die stattliche
Reihe von Künstlern, talentvoll und zum Teil
hochbegabte Männer, die in dem obigen Dezen-
nium teils längere, teils kürzere Zeit in Kassel
tätig waren, so muß man sich wundern, daß ein
eigentliches Kunstleben trotzdem hier niemals hat
zur Blüte kommen können, daß wahrhaft Bedeuten-
des in Bezug aus Malerei hier nicht entstand. Und
doch war unsere schöne Stadt mehr wie manche
andere von gleicher Bedeutung dazu angetan, um
eine anregende Heimstätte für die bildenden Künste
zu werden. Die Bedingungen dazu waren vorhan-
11 Io dem Haus befindet sich jetzt das Bankhaus der
Firma Werthauer, die daneben einen großen Bankpalast
gebaut hat. Auf der anderen Seite steht das neue Haupt-
postamt, so daß der Teil, der von dem alten Hotel übrig
ist, jetzt einen sehr unscheinbaren Eindruck macht. Als
Dekker dort wohnte, bestand noch die alte Hauptpost, die
auch ein Hotel für die Postreisenden enthielt. Ob Dekker
gewußt hat, daß Goethe, der ihm sehr wenig sympathisch
war, wiederholt in diesem Hotel gewohnt hat?
28
den, in sofern eine herrliche landschaftliche Natur
und ein Schatz von Meisterwerken der Malerei aus
der Blütezeit der niederländischen Kunst, wie ihn
kostbarer kein Ort der Welt ausweist, genügt hätte,
um Künstler heranzuziehen. Aber freilich, was nicht
vorhanden war, und ohne welches ein Gedeihen der
Kunst nicht denkbar ist, das war eine lebendige
Teilnahme der Bevölkerung an künstlerischen Din-
gen uno die Gunst und das Verständnis eines
kunstsinnigen Fürsten.
Kassel besaß schon seit Jahren eine Akademie
der bildenden Künste . . . Die Ungunst der Ver-
hältnisse war so groß, daß man in Kassel kaum
Kenntnis von der Existenz der Akademie hatte. Der
kurfürstliche Hof verhielt sich ablehnend . . . und
es kam so weit, daß unsere herrlichen Sammlungen
deni Studium ganz verschlossen wurden . . . Uns
Schülern der Akademie war es nur in langen
Pausen gestattet, unter Führung des Inspektors
einen flüchtigen Blick auf die Meisterwerke zu wer-
fen, ohne den geringsten Nutzen von diesen Be-
suchen zu haben . . .
Trotz aller dieser wenig erfreulichen Zustände
war Kassel nahe daran, in den vierziger Jahren
eine Kunststadt zu werden. Schon lange hatte unsere
herrliche Waldlandschaft Künstler in unsere Nähe
gezogen, um Studien zu machen, und Düsseldorfer
Maler füllten ihre Mappen und Skizzenbücher mit
Darstellungen hessischen Bauernlebens. Unter die-
sen .. . entstand der Gedanken, nach Kassel über-
zusiedeln und noch andere Genossen mitzubringen.
Nach eingehenderen Erkundigungen über hiesige Ver-
hältnisse, nachdem man erfahren, daß in Kassel kein
einziges Maleratelier zu finden sei und the last
not least, nach dem, was von den höheren Ortes
herrschenden Eigentümlichkeiten verlautete, beschloß
man zu Hause zu bleiben . . ."
Dieser Louis Katzenstein war im Jahre 1822"
geboren und ist im Jahre 1907 gestorben. Nach
seiner Ausbildung an der Kasseler Akademie hat
er viel gereist. Er studierte in Paris, später in
9tom.12 13 In seiner Jugend war ihm in England
nach einem Sturz vom Pferde der Unterschenkel
abgenommen worden. Er war trotzdem ein statt-
licher Mann, nicht ohne äußere Würde und mit
einem selbstbewußten Auftreten. Weil er Verwandte!
in Portugal hatte, bekam er durch deren Vermitt-
lung einen Ruf an den portugiesischen Hof und
hat dort mehrere fürstliche Personen gemalt." Er
war ein tüchtiger, wenn auch nicht erstklassiger
12 Unter seinen Bildern steht geb. 1824, er hat sich
aber immer für zwei Jahre zu jung ausgegeben. Als
sein 80 jähriger Geburtstag begangen werden sollte,
hat Fräulein Katzenstein aus dem Register der israeli-
tischen Gemeinde ser war israelitischer Herkunft) fest-
stellen lassen, daß er 1822 geboren ist.
13 L. Katzenstein, Römische Erinnerungen. Hessen-
land, XVI, S. 63—65, 76—78, 93—98. Den Haupt-
inhalt bildet eine Novelle, in der Dichtung und Wahrheit
verwoben sind.
" L. Katzenstein, Erinnerung an Portugal. Hessenland,
XVI, S. 160- 161, 175-178.
Maler. Eins seiner besten Bilder ist das Portrait
seiner Frau der Ottilie Coß, wohl aus der ersten
Zeit der Ehe, das sich jetzt int Besitz von Fräulein
Katzenstein befindet. Das Bild ist undatiert.^
Im Jahre 1858 war er in Kassel und verkehrte
viel im Hause der Familie Coß. Der Vater war
Hofwagensabrikant in der Unteren Königstraße,
jetzt Nr. 71. Diese Wagenfabrik besteht noch und
wird unter dem Namen C. W. Coß betrieben. Der
jetzige Besitzer ist der Enkel des damaligen Be-
sitzers.
Die Mutter war im Jahre 1845 gestorben, und
die älteste Tochter führte den Haushalt. Die Familie
bestand aus vier Töchtern und einem Sohn. Ottilie
war die jüngste Tochter; sie war am 1. April 1837
geboren. Sie hatte eine sehr gute Erziehung ge-
nossen und wurde, als sie 17 Jahre alt war, zu
ihrer weiteren Ausbildung auf ein Jahr nach Genf
geschickt. Katzenstein soll erst für die älteste Tochter
Albertine Neigung gefaßt haben, als aber Ottilie
aus Gens zurückkam, scheint seine Liebe aus die
begabtere und . . . jüngere Schwester übergegangen
zu sein. Daß die älteren Schwestern das nicht gerne
gesehen haben, läßt sich begreifen. Das mag auch
der Grund dafür gewesen sein, daß man Ottilie
in ihrein zwanzigsten Jahre noch auf ein Jahr nach
Paris schickte, um die beiden Liebenden zu trennen.
Dies hat aber nichts genutzt, das junge Paar
scheint doch noch die Gelegenheit gefunden zu haben,
von einander Abschied zu nehmen, bevor Ottilie
nach Paris reiste. Dekker hatte wohl recht, als er
später Ottilie „ein leidenschaftliches Köpfchen"10
nannte. Dem Aufenthalt in Paris und Genf ver-
dankt Ottilie ihre eingehenden französischen Kennt-
nisse, die erklären, daß die Übersetzungen in den
„Liebesbriefen" häufig französisch sind. Auch sonst
war sie begabt, sie zeichnete und malte sehr nett,
wie eine von ihr gezeichnete „Schnitterin", welches
15 In leisen Andeutungen begann nach der Wende
des Jahrhunderts eine Richtung sich kund zu tun, der
malerische Probleme prinzipiell wichtiger waren, als
der vorangegangenen Zeit .... Ausgezeichnete Bei-
spiele bieten die Bilder von Louis Katzenstein; aus
dem Bilde des letzteren Gattin ist jede Einzelheit als
malerische Delikatesse behandelt. Georg Gronau, Kas-
seler Maler des neunzehnten Jahrhunderts (1800—
1880). Kassel 1918, Einleitung.
16 Brieven Bd. 5 S. 46.
Bausteine II.
Über künstlerische Denkmale der Be-
ziehungen zwischen Landgraf Moritz
und König Heinrich iv. von Frankreich.
Im Jahre 1839 hat v. Rommel im VII. Band
seiner Geschichte von Hessen (S. 166 Amu. 244)
aus dem Tagebuch des Landgrafen Moritz die Mit-
teilung veröffentlicht, daß König Heinrich IV. seinem
neuernannten Generalobristen aller deutschen in
französischen Sold tretenden Truppen bei der Ab-
Bild der Frau Mardorf gehörte, und mehrere sich
im Besitz von Fräulein Katzenstein befindliche Aqua-
relle beweisen. Als Dekker nach Kassel kam, scheinen
die beiden heimlich mit einander verlobt gewesen zu
sein. Ob Dekker Katzenstein zuerst kennen gelernt
hat und durch ihn in die Familie Coß eingeführt
wurde, oder mit den jungen Mädchen aus einem
Künstlerfest bekannt lvuroe (die Damen waren als
sehr begabte und geschickte Mädchen in Künstler-
kreisen sehr beliebt, und auch Fräulein Dellevie
hat Dekker aus einer solchen Veranstaltung gespro-
chen), ist nicht sicher; fest steht, daß er dort Besuche
machte, da Fräulein Dellevie ihn auch einmal dort
getroffen hat. Zwischen Dekker und Ottilie entstand
ein reger geistiger Verkehr; auch die andern Schwe-
stern scheinen sich daran beteiligt zu haben, denn
Dekker spricht später ziveimal von „diesen Mäd-
djeit".17 Frau Mardorf glaubt zu wissen, daß
Dekker in der ersten Zeit die Tatsache, daß er ver-
heiratet war, mehr oder weniger im Schatten gelassen
habe; daß er dies aber vor Ottilie verborgen ge-
halten hat, scheint mir unwahrscheinlich; denn das
deutsche Gedieht, das unter Mitwirkung von Ottilie
und ihren Schwestern entstanden ist, wurde durch
eine Mitteilung aus einem Brief seiner Frau ver-
anlaßt, daß Eduard gesagt habe: „Mutter, wenn
ich groß bin, werde ich Sterne für dich pflücken".
Daß „diese Mädchen" dafür gesorgt haben, daß
das Deutsch des Gedichtes sprachrichtig wurde, ist
schon an sich wahrscheinlich, weil Dekker in der
Sehule wohl keinen deutschen Unterricht gehabt haben
wird iS und er während seines Umherschweisens in
Deutschland wohl gelernt haben wird, das Deutsch
geläufig zu sprechen; die Schwierigkeiten der deut-
schen Grammatik wird er aber wohl nicht beherrscht
haben. In den deutschen Zitaten in seinen Werken
finden sich denn auch sehr oft Fehler.79
i' Brieven Bd. 3 S. 67 und Bd. 5 S. 22.
18 Dekker besuchte einige Jahre die sogenannte latei-
nische Schule in Amsterdam. In den lateinischen Schulen
wurde damls kein Hochdeutsch unterrichtet.
19 Vergl. über Dekkers Kenntnisse des Deutschen auch
das Urteil von Wilhelm Busch in Marie Anderson,
Multatuli-Wespen, S. 45 und in Wilhelm Busch an
Maria Anderson, siebzig Briefe. Rostock i. M. 1908.
S. S. 87 und 91.
(Schluß folgt.)
Bon Rudolf Hallo.
reise aus Paris 1602 ein besonderes Kleinod für
seinen Sohn Otto verehrt habe, und er hat ebenda
(S. 459) den Satz aus dem Tagebuch wörtlich ab-
gedruckt: „den 16. Oktober bin ich nachmittag von
Paris verrückt und hat vor meinem Abzug der
König mir ein sehr stattlich Cleinod übersehickt,
welches I. Maj. meinem eltesten Sohn Otto ver-
ehret". (Bl. 68 b).
Rommel hat aber die Unvorsichtigkeit begangen,
anschließend an derselben Stelle unter Bezugnahme
29
auf Schminkes „Versuch einer Beschreibung Cassels"
von 1767 (S. 153), auch von dem kostbaren mit
Diamanten (und Türkisen) besetzten Degen zu spre-
chen — Schminke hatte gesagt: ein goldener Degen
nebst dazugehörigem schwarzen sammeten Gehänge,
daran mehr als 1500 Tafel steine und Rosetten —
der, unter der Bezeichnung: Geschenk Heinrichs IV.,
als ein angeblich von der Kaiserin Josephine be-
raubtes Ausstellungsstück ein märtprerhaft-roman-
tisches Fortleben im Museum fristete. Zwar scheint
Rommel, wie die Einklammerung der Türkisen ver-
rät, bei seiner Behauptung nicht ganz behaglich
gewesen zu sein, aber sie genügte doch, Pinder in
seinem Leitfaden von 1873 zu bewegen, bei An-
führung einer grifflosen Klinge mit Scheide die
Nachrichten vom Kleinod, von Heinrich und von
Josephine zu verschmelzen. Und so entstand, zumal
seit Duncker in seiner verdienstlichen Ausgabe der
Völkelschen Erinnerungen in Zeitschr. H.G.V. 1882,
326 den Behauptungen den Schimmer aktenmüßiger
Bezeugung lieh, der Glaube, die Schenkung des
von Josephine geplünderten Degens durch Heinrich
an Landgraf Moritz sei durch alte urkundliche Nach-
richten gestützt? Demgegenüber ist zunächst festzu-
stellen, daß unter dem Kleinod, das das Tagebuch
erwähnt, ebenso wie in anderen Fällen, in denen
Otto mit goldenen, silbernen oder diamanten-be-
setzten Kleinodien, sei es von seinem Vater, sei es
vom englischen König beschenkt lvird — Rommel VI,
325, 327 (Quelle ist der Bericht des Obristen Wid-
marckter Bl. 139 Ms. Hass, 4 0 66 Kassel) — mit
Bestimmtheit kein Degen zu verstehen ist, so wenig
der allgemein gehaltene Ansdruck auch erlaubt, Deut-
licheres zu erfassen. Auch Moritz, der, wie es im
Monnmentum Mauritianum S. 79 (ähnlich Oratio I
bist. 40) heißt „mit sonderlichen praesenten dimit-
tiert" wurde, hat sicherlich keinen der Erwähnung
tverten Degen aus Paris nach Hause gebracht; das
hätte das selbgesührte Tagebuch ohne Zweifel her-
vorgehoben. Ilm klarer zu sehen, ist es aber nötig,
die nur den Degen gesponnenen Legenden zu teilen,
und Schenkung und Beraubung getrennt zu be-
handeln.
Zunächst suchen wir für die erstere nach Be-
zeugung. Nun findet sich in der „Specification
der 1763 auf ldgfl. Befehl von dem (Hofbeamten?)
Schütting an Rat Arckenholtz aufs Kunsthaus ab-
gelieferten Sachen" (Akt. Mus. 11 Nr. 4): Ein
Degen Gefäß samt Kuppelt und Schnalle woran
über 1500 st. Brillanten befindl. ist von Kg. Hen-
rich IV an Ld gf. Wilhelm IV. geschenkt wor-
den?
1 Pinder konnte sich auch ans S. 67 A 1 der Rom-
melschen Ausgabe der Correspondance inedite de
Henri IV et du Landgrave de Hesse, Paris 1840,
beziehen.
2 Damals kam nach derselben Akte S. 4 auch ein
„golden emailliert Degengefäß in 9 Stücken bestehend
nebst zugehöriger Klinge und Scheide welche unten und
oben dem Gefäß egal mondiert ist" ins Kunsthaus.
1807 nahm Denon diesen Degen, demontiert uue er
Daß dieser 1763 ins Kunsthaus gewanderte Degen
mit dem Schminkeschen identisch ist, belveist schon
die Übereinstimmung in den 1500 Steinen. Um
so ausfälliger ist, daß statt Moritzens Wilhelm
der IV. als der damit Beschenkte genannt wird.
Obwohl bei den ztvischen Wilhelm und Heinrich
bestehenden Beziehungen — s. Rommel V, 564 bis
577 — zumal der immensen Verschuldung Heinrichs
an Wilhelm die Möglichkeit eines so kostbaren Ge-
schenks nicht zu. bestreiten ist, hat man doch im
Kunsthaus selbst wohl aus Grund anderer, aber
kaum besserer Tradition (ich habe in Schminkes
Kollektaneen nichts Bezügliches gefunden) schon
balo den Namen Moritz an die Stelle Wilhelms
gesetzt. In dem von mir bereits in dem Aussatz
über den Goldmacher Cajetan — Hess. Blätter f.
Volkskunde 1926 — angezogenen Gutachten des
Juweliers G. H. Lennep vom 11. 12. 1775 über
die Nachprüfung der dein Rat Raspe anvertraut
gewesenen Pretiosen wird der von König Hein-
rich IV. Herrn Ldgs. Moritz geschenkte Degen,
„welcher mit sehr vielen Rosetten gezieret ist,"
insonderheit als völlig intakt bezeichnet.
Und so heißt es denn auch in Kriegers „Cassel
in hist. top. Hinsicht", 1805, S. 169: ein goldenes
Degengefäß nebst Degengehänge von schwarzem
Sammet, welches Ldgs. Moritz von Kg. Heinrich IV.
1602 zum Geschenk bekommen hat und woran mehr
als 1500 Edelsteine von verschiedener Art und
Größe angebracht sind. Brillanten (1763), Tafel-
steine und Rosetten (1767), Rosetten (1775) und
Edelsteine (1805), das sind die Ausdrücke, mit
denen dieser kostbare Degen beschrieben wird. Und
des schwarzen Samtes wird auch gedacht. Aber
kein Wort von den bei Rommel so verschämt auf-
tretenden Türkisen!
Es ist daher ein erlaubter Schluß, auch ivenn kein
Wort von Heinrich oder Moritz dabeisteht, Völkels
Eintragung im Pretioseninventar von 1786 (das
uns in einer Kopie aus Ruhlscher Zeit französisch
erhalten ist, deshalb französisches Inventar ge-
nannt) unter Nr. 62 a auf diesen Heinrichsdegen
zu beziehen. Dort steht: Epee tres richement
garnie de Diamans roses et en tadle (Tafel-
uoch immer war, mit nach Paris, von wo er 1815
„und zwar montiert", wie das sog. französische In-
ventar bemerkt, zurückkam. Es ist der jetzt dem Mün-
chener Renaissancemeifter Hans Mülich zugeschriebene
Degen im Goldsaal. Der in Mus.-Akt. 146 vom Sep-
tember 1719 sab 1 erwähnte, jetzt magazinierte „Degen
mit rosen Diamanten besetzt so nicht tvohl wegen Viel-
heit der Steinen zu zählen", und die sub 5 aufgeführte
„güldene Schnalle zum Degengehenk mit 20 Ltück
rosen Diamanten besetzt", kamen auf Ldgs. Karls Spe-
zialanordnung ins Kunsthaus. Die zugleich mitcingelie-
ferten „drei Stück dick- undt Tafelsteine zur Huthschnur"
sind nicht mit den jetzt im Kleinodienpult ausgelegten
Hutagraffen identisch; denn diese entstammen mitsamt
dem Georgsmedaillon und der goldenen Halskette des
Herzogs Eberhard von Württemberg dem 1823 ge-
öffneten Sarg Ldgs. Ludwig III. (f 1604) in der Pfarr-
kirche zu Marburg.
10
steine!), eile consiste en dix morceaux, demontee
comme eile Test; le ceinturon (das Gehänge) est
en Velours noir orne de douze boucles et autres
morceaux garnis en Diamans de diverses gran-
deur et forme. Wie ein Blick in das von Duncker
mit nicht ganz zulänglicher Aktenbenutzung ver-
öffentlichte Völkelsche Verzeichnis der aus dem Museo
1806 nach Sababurg verschickten Kostbarkeiten zeigt,
ist das der Zeitschr. 1882, S. 339 mit gleichlau-
tender Beschreibung angeführte Degen, der einzige
unter den im Pretioseninventar von 1786 aufge-
zählten fünf Degen, dem dieser verhängnisvolle
Dienst, offenbar seiner ungewöhnlichen Kostbarkeit
willen, erwiesen wurde. Bekanntlich sind alle diese
nach Sababurg verschickten Kostbarkeiten verschollen.
Sie sind, tvie Duncker in seinem lesenswerten Aus-
satz über die Kasseler Kunstschätze in den Zeiten
des Königsreichs Westphalen (Deutsche Rundschau
1883, 224) ausführt, als Prise der Armee nach
Mainz und vielleicht nach Paris gegangen. Der
Heinrichsdegen verschwand ohne Zutun, ohne Wissen
Josephiueus, ja wohl gar, ohne daß Josephine je
von seiner Existenz erfahren hatte. Auskunft dar-
über hätte nur der General Lagrange zu geben
vermocht.
Josephs n e n s Name taucht an einer ganz an-
deren Stelle aus! Unter Nr. 202 des Pretioseninven-
tars von 1786 — Duncker hat diese Nummer ange-
führt, ohne seine Inkonsequenz S. 326 zu bemerken —
steht in der französischen Kopie: keilte Epee toute
couverte de Turqoises factices, mit der Randnote:
enlevee; Weggenommen! Voyez l’Inventaire eite
Num. 17 und dem Zusatz Völkels(?): „Blos die
Klinge mit der Scheide ist zurückgekommen denn
das Gefäß mit den Türküssen ist der Kaiserin Jo-
sephine gegeben worden. S. den Etat des dessins
von La ValleeNr. 17. Klinge und Scheide liegen
(folgt Ordnungsangabe)".*
Nun wird klar, woher bei Rommel die Türkisen
kommen, und nun tvird auch verständlich, wie es
der Kaiserin möglich war, an diesen angeblich in
Sababurg vermauerten Degen überhaupt herauzu--
kommen. Vor allem tvird aber erst jetzt begreiflich,
ivoher der Kaiserin die Keckheit kam, sich an einer
so unschätzbaren Kostbarkeit zu vergreifen. Sie ver-
griff sich eben garnicht au einem Wunderwerk der
Edelschmiedekunst, womit sie sich ja nur selbst ge-
schädigt hätte, sondern an einem mit k ü n st l i ch e n
Türkisen besetzten kleinen Degen, dem Hessen
seine Geringschätzung offiziell aufgebrannt hatte,
indem es ihn nicht des Versteckens wert befand.
So kam es, daß er, in Kassel zurückgeblieben, dem
Generaldirecteur des Musee Napoleon, Vivant
Denon, in die Hände fiel — tvie das zitierte Inven-
taire des Statues . . . choisis par Denon 1807,
9. Jan. Nr. 17 bezeugt — und eine unfreiwillige
und gefährliche Reis? nach Paris antrat.
Mau hat gelviß in Hessen keinen Grund, der
Kaiserin Josephine ein Recht auf den Türkiseu-
schmuck des alten Degens einzuräumen, aber man
tvird über ihr Verfahren milder denken, tvenn man
es nicht mehr als einen Raub am kostbarsten Schatz
der Sammlung sehen lernt und vor allem, wenn
man hören tvird, daß wenige Jahre zuvor das am
höchsten gepriesene Stück der Sammlung, der soge-
nannte Schmuck der griechischen Prinzessin, nicht
von den Franzosen, sondern — von Kurfürst Wilhelm
auseinandergerissen worden war, um als billiges
Geschenk an die Königin Louise von Preußen zu
dienen! Völkel beschied sich, 1827 in sein Pretiosen-
inventar zu schreiben: „die Türkisen hatte man
ausgebrochen und tvie es hieß, habe Josephine sie
zum Schmuck eines Kleides gebraucht".
Jedoch, wir sind über die Frage der Heinrichs-
tradition zu rasch himveggegangen. Ich zeigte, daß
sich diese Tradition im besten Falle bis 1763 zurück-
verfolgen läßt. Das ist für ein Ereignis, das sich
1602 zugetragen haben soll, sehr wenig; um so
weniger, als seit 1647 Hessen ein anderes franzö-
sisches Reisegeschenk besaß, das sicher ein Degen
war! s
Unter den Einzelakten des Museums befindet
sich als Nr. 5 eine alte Abschrift ex Annalibus
Hassiacis Mstis, die folgendes berichtet: Anno 1647
Wilhelmus Hassiae Landgravius Lutetiam (Paris)
venit et 12. Septbr. in Regis pilento (Kgl. Karosse)
ad hospitium sibi assignatum deductus est; das
war, wie Wilhelms eigenhändiges Tagebuch (Lan-
desbibl. Ms. dass. 4 0 69 <&. 39) angibt, das Hostel
des ambassadeurs extraordinaires, wo er mit sei-
nem ganzen Gefolge als Gast des Königs logierte,
tvas den König Tag für Tag 1000 Kronen, an
Fischtagen sogar 1200 Kronen kostete, tvie der Prinz
feststellte. Der Auszug fährt fort: Rex landgravio
sua manu gladium adamantibus resplendescentem
et 24 000 circiter coronatorum pretium aequan-
temdonavit et equitem creavit.
Diese Nachricht unbekannter Herkunft muß auch
Rommel gekannt haben, denn er hat sie Bd. VIII
S. 730 A 211 mit des Landgrafen eigenen Worten
ungenau kombiniert, die in der Schrift des noch
nicht Zwanzigjährigen Bl. 41 b so lauten: „Sept. 18.
1647 würd ich ins Königs gemach gefordert, den —
damals neunjährigen — König (Ludwig XIV.]
tantzen zu sehen; darauf praesentierte mir der König
mit eigener Handt und Munde einen schönen Degen
und gehenge mit diamanten besetz, welchen ich auch
in Ihr Majestät praesentz anhieng und selbigen
tag trug".
An der Quartierrechnung hat uran einen nütz-
lichen Maßstab für den Phantastischen Wert dieses
diamantenbesetzten, tragfertig mit Gehänge über-
reichten Geschenks, das, wenn irgend etwas, danach
° Auf den Umstand, daß Balth. Klaute im Diarium
Italwum der Reise Ldgf. Karls (Kassel 1722, 238) unter
den Kostbarkeiten des Zeughauses von Florenz einen
Degen beschreibt, den Kg. Henri IV dem Großherzog
Ferdinand emst geschenkt hatte, ohne den Kasseler an-
geblichen Heinrichsdegen zu erwähnen, lege ich nicht viel
Gewicht; denn Klaute spricht auch von Karls Besuch
bei Capello in Venedig, ohne zu verraten, daß Capello
10 Jahre später den Besuch in Kassel erwiderte.
U
verlangte, mit Sorgfalt aufbewahrt zu werden. Die-
ser Wert, der Steinbesatz und das Gehänge zu-
sammen betrachtet, drängen die Vermutung ge-
radezu auf, in dem einzigen der fünf Prunkdegen
des Inventars von 1786, bei denk unermeßlicher
Wert, Diamantschmuck und Gehänge ausdrücklich
erwähnt werden, dies Geschenk des jungen Sonnen-
königs zu erkennen. Diesen Schluß hat, nachdein
der Degen „bei der letzten Besetzung Cassels durch
die Franzosen weggenommen und nicht zurückge-
geben worden" war, bereits 1828, 15 Jahre vor
Rommels Verschlimmbesserung, der ungenannte Ver-
fasser der „Nützlichen Nachweisungen für Einwohner
und Fremde über Cassel und Wilhelmshöhe" (Geeh
und Rausch 1828, 78) schon gezogen: ein außer-
ordentlich reich mit Diamanten besetztes Degen-
gesäß mit Gehänge, das Kg. Ludwig XIV. a n
Ldgf. Wilhelm VI. geschenkt hatte! Man wird
kaum fehlgehen, wenn man die spätere Verknüpfung
dieses Prunkdegens mit Heinrich IV. für eine Legende
hält, die aus der falschen Auffassung jenes „statt-
lichen Cleinods" von 1602 und der Erinnerung
an die langjährigen Beziehungen zwischen Heinrich
und Moritz entstand. Die isolierte Zuweisung des
Geschenks an Wilhelm IV. im ersten Inventar von
1763 spricht gewiß nicht für die Zuverlässigkeit
der Moritzlegende.
* Während die Landesbibliothek mehrere Werke La-
vallees, darunter die von ihm eingeteilete „Krönung
Napoleons", besitzt, gelang es nicht, den Etat des dessins
aufzufinden, auch nicht mit Hilfe der Berliner Aus-
kunftsstelle und des Louvre. Da der Titel in dieser Form
unmöglich ist, meint Völkel wohl den Etat des objets
d art, conquis en pays etrangers qui, lors de la
spoliation du Musee Napoleon (durch die Sieger von
1814,1815) ont ete conserves ä la France par les soins
de Lavallee, secretaire general, der unter anderen 800
„dessins" des Herzogs von Modena enthält und wohl
in den Archives nationales von Paris ruht. Völkel, der
nur 1814 persönlich in Paris war (Duncker 323), mag
durch Mittelsmänner von dem Verzeichnis unterrichtet
worden sein. Er bezieht sich noch in einem anderen In-
ventar (L VI, 39) bei einer verlorenen Elfenbeindose mit
Hermann Wenning f.
Schatten tiefer Trauer legten sich am 12. Fe-
bruar aus die erschrockenen Herzen, als sich die
fast unfaßbare Kunde verbreitete, daß in der Frühe
dieses Tages Justizrat Hermann Wenning, der
am Abend zuvor noch in frohem Freundeskreis ge-
weilt, int Flur des Kasseler Landgerichtsgebäudes
einem jähen Herzschlag erlegen war. Wurde doch
mit ihm nicht nur einer der bekanntesten hessischen
Juristen, sondern auch ein Mann aus unserer Mitte
gerissen, der ein Menschenalter hindurch neben sei-
nem Berufsleben seinen Dienst am Volke in einer
Weise auffaßte und betätigte, wie sie in selbstloser
Opferfreudigkeit und erfolggekrönter Tatkraft ge-
radezu vorbildlich erscheinen mußte.
Es kann und soll hier nicht der Ort sein, all
32
Türken schleicht darauf, auf diesen Etat. Ich kenne ihn nur
aus Ch. Saunier, Ees conquetes artistiques de la Revo-
lution et de FEmpire, Paris 1902, 171 f. Der lange
Titel charakterisiert vortrefflich die Bedeutung La-
vallees für Frankreich. (L.'s Biographie bei Michaud
Bd. 42 unter Joseph la Vallee. Saunier nennt ihn
fälschlich Antoine). Denn Lavallee war nicht nur der
Redaktor der monumentalen Galerie du Musee de
France, publ. par Filhol graveur, der sog. Galerie
F i 1 h o 1, in der zum ersten Mal die von Kassel nach
Paris entführten Antiken in Kupferstich und Beschrei-
bung würdig bekanntgemacht wurden; er war auch bei
der Eroberung von Paris durch die Alliierten neben
Denon der zäheste und nach Denons Rücktritt, 8. 10.
1815 (Saunier 157) der eigentliche Gegner der alliierten
Unterhändler, der für Frankreich an Kunstschätzen rettete,
was zu retten war. In diesem Zusammenhang gedenkt
seiner auch Völkel im Verzeichnis der kl. Antiken 1824,
S. 95 und danach Marg. Bieber in der Geschichte der
Antiken-Sammlung (Beschreibung der Skulpturen) Kas-
sel 1913, S. VI. Saunier hat ihm in dem angeführten
Werk ein Denkmal gesetzt und sein Porträt von Prud'hon
veröffentlicht. Das Ehrenmal hat Lavallee von fran-
zösischer Seite umsomehr verdient, als ihn seine großen
Leistungen nicht davor bewahrt haben, als Bonapartist
nach 20 treuen Dienstjahren von dem Bourbonen Lud-
wig XVIII. des Amts enthoben zu werden. Alt und
gebrochen ging 1816 der fast Siebzigjährige nach Eng-
land, noch immer ein warmer, aber kraftloser Freund
der Kunst (Justi, Velazquez 211101) und starb dort noch
im selben Jahre; ein Nachfolger, A. Jal, schloß 1828
mit dem XI. Band das Galeriewerk Filhols ab. Ein
merkwürdiges Werk: geplant zur Verherrlichung Napo-
leons, dessen Porträt nebst dem des 1812 verstorbenen
Filhol dem ersten Band (Paris 1814) vorgesetzt ist; er-
schienen von Band I bis IX 1814 unter dem Bour-
bonen (ab Band IV stammt der Text von einem anderen
„artiste" — Jal?) und dann doch einmal mit Band X,
1815 in den Hundert Tagen demjenigen gewidmet, dem
allein diese einzigartige Konzentrierung aller Kunst-
iverke verdankt wurde, dediee ä 8. M. L’Empereur
Napoleon I«r Wenige Wochen später, Oktober 1815,
holten sich die preußischen Kommissäre ihre und der
Hessen Schätze zurück, und Lavallee, verdächtig durch seine
Dedikation an den Kaiser, trat auf Geheiß des resti-
tuierten Königs vom Schauplatz ab.
(Schluß folgt.)
das auszuzählen, lvas Hermann Wenning in groß-
zügigern, nimmermüdem, zielsicherem Streben als
langjähriger Vorsitzender des Hessischen Geibirgs-
v'ereins, als Vorstandsmitglied des großen Ver-
bandes detitscher Gebirgs- und Wandervereine, des
Verbandes für deutsche Jugendherbergen im Gau
Niederhessen und des Kasseler Verschönerungsvereins
für die Allgemeinheit geleistet hat. Unter dem
Berg von Kränzen, die seinen frischen Grabhügel
deckte, entbot auch die Stadt Kassel „dem Herold
der hessischen Heimat" ihren letzten Gruß.
Nichts kann das Wirken dieses Hessensohnes
treffender umschreiben als diese wenigen Worbe.
Politisch ist Wenning nicht hervorgetreten. Er hielt
es mit Jean Paul, der einnral gesagt hat: „Vater-
landsliebe besteht nicht im Schreien und Schreiben
darüber, sondern in tätiger Anteilnahme an allem
Öffentlichen". Und da er in der Heimatliebe die
Grundlage der Vaterlandsliebe sah, stellte er den
Heimatgedanken in den Mittelpunkt seines idealen
Schaffens. Mit einer Arbeitskraft, die oft in Er-
staunen setzen mußte, und einer Zähigkeit, die auch
dann nicht zurückschreckte, wenn sich scheinbar un-
überwindbare Schwierigkeiten auftürmten, Wichte er
auch die Zaghaften mit sich fortzureißen. Und welche
Schwierigkeiten hatte nicht gerade der Hessische Ge-
schafst's!" Diese Zuversicht zu dem Führer ist
nicht zu Schanden geworden, und wenn sein Geist
in denen, denen er voranging, wach bleibt, werden
auch in Zukunft Schwierigkeiten dazu da sein, um
überwunden zu werden. Und er wird wachbleiben,
denn dieser seltene Mann, der so früh seine klaren
und treuen Augen schließen und dem dunklen Tal zu-
schreiten mußte, von dem kein Wanderer zurück-
kehrt, kann so bald nicht vergessen werden.
Die breiten Massen nehmen so leicht mühsam
Erworbenes danklos als selbstverständlich hin, bleibt
Zustizrat Wenning. Pho«. Wesemann.
birgsverein in den letzten Jahrzehnten zu über-
winden! Der 615 m über dem Meeresspiegel von
hessischer Höhenluft umwehte .Hohe Grasturm, das
„Ehrenmal hessischer Starrköpfigkeit in der Ver-
folgung gesteckter Hochziele", weiß davon zu er-
zählen, und als im Vorjahr in der Morgenstunde
des 31. Januar der Hessische Gebirgsverein aus
dem Gefühl tiefster Dankbarkeit heraus an eben
diesem Turm ein Bronzebildnis Hermann Wennings
anbrachte, als des Mannes, der seit 25 Jahren die
Seele dieses Vereins war, konnte Turninspektor
Buchenau sagen: „die Arbeit wächst ins Riesen-
hafte. Aber Wenning ist Steuermann . . . er
ihnen doch meist verborgen, mit welcher Unsumme
rastloser zäher Arbeit es errungen werden mußte.
So uralt der deutsche Wandertrieb sein mag — ist
es doch bezeichnend, daß der Franzose kein Wort
für „wandern" kennt und der Engländer es der
deutschen Sprache entlehnen muß — so waren die
Deutschen doch lange Zeit hindurch wanderunfroh.
Da waren es die deutschen Touristenvereine, wie
sie damals noch hießen, die hier wieder Wandel
schafften. Noch sind sechzig Jahre nicht verflossen,
seit in Frankfurt der Taunusklub 1868 als erster
deutscher Wanderverein gegründet wurde. 1883 trat
der Niederhessische Touristenverein ins Leben, ohne
11
bei der Neuheit seiner Bestrebungen zunächst eine
starke Wirkung nach außen zn erzielen. Erst um
die Wende des Jahrhunderts hub eine Blütezeit
des Manderns an, wie sie Deutschland noch nicht
gesehen hatte. Jetzt hatte man den ethischen, sozialen,
wirtschaftlichen und heimatkundlichen Wert der Ziele
erkannt, die sich die deutschen Wandervereine ge-
steckt hatten. Wie für den Wandervogel, der das
Wandern geradezu in den Mittelpunkt einer neuen
Kultur stellte, galt es auch fite die deutschen Wan-
dervereine, das Wandern auch solchen Volkskreisen
wieder nahe zu bringen, die ihm bisher wenig Ver-
ständnis entgegengebracht hatten. Und noch nie ist
gerade der Hessische Gebirgsverein so volkstümlich
und werbekräftig gewesen wie unter Wenning, dessen
beste Eigenschaft wohl seine treue Heimatliebe war.
Hermann Wenning entstammte einer althessischen
Familie. Wie der Vater, waren auch beide Groß-
väter hessische Juristen. Am 22. Februar 1872 zu
Rotenburg an der Fulda als Sohn des Rechtsan-
walts August Friedrich Wenning und seiner Gattin
Emma geb. Hattenbach geboren, siedelte er 1879
mit der Familie nach Kassel über. Gerade in diesen
Tagen ist mir wieder zum Bewußtsein gekommen,
daß ich meine Wanderlust recht eigentlich Hermann
Wenning und seinen: jetzt wieder in Kassel als
Kulturamtsdirektor lebenden Bruder Otto Wenning
verdanke. Der Marställerplatz, unser Tummel-
platz zu Beginn der achtziger Jahre, wurde uns
schon früh zn eng. Der Weg zum Tannenwäldchen,
wo wir uns die Maulbeerblätter für unsere Seiden-
raupen holten, ivar zu einer Zeit, die noch keine
durchgehenden freien Schulnachmittage kannte, >vohl
zeitraubend, aber wenig lohnend, und so kamen wir
.zwölf- bis dreizehnjährigen Friedrichspeunäler bald
dazu, kühne Streifzüge nach dem damals noch nicht
auf Promenadenwegen zugänglichen Ahnatal, nach
dem Dörnberg, der Firnskuppe und dem Odenberg
zu unternehmen. Eine Fußwanderung nach Wolf-
hagen oder über den Umschwang nach Witzenhausen
gehörte zu den Höhepunkten unserer damaligen
Waudersreuden. Das läßt sich heute belächeln, wie
man es seinerzeit belächelt haben mochte: heule,
iveil es etwas Alltägliches ist, damals, weil es etwas
Außergewöhnliches war. Wer wanderte überhaupt
damals? Selbst die einmal im Jahr stattfindenden
eintägigen Schulausflüge ließen viel zu wünschen
übrig, und wenn Meinhold in seinem „Leben Wil-
helms II.", der wenige Jahre zuvor als Prinz das
Kasseler Friedrichsgymnasium besuchte, solche Aus-
flüge, an denen der Prinz teilnahm, als „stumpf-
sinnige Klassenspaziergänge mit elegantem Stück-
chen, schwarzen Jacketts und einer Zigarre" kenn-
Zwei Alsfelder Truhen.
Das Hessische Landesmuseum in Darmstadt
besitzt zwei besonders schöne Truhen aus Alsfeld in
Oberhessen. Sie stehen in der Hessischen Sammlung
im Untergeschoß des Westflügels und wecken mit ihrer
Behäbigkeit die Vorstellung altbürgerlichen Behagens.
zeichnet, so trifft er das Richtige. Es lvar also
eine seltene Ausnahme, wenn Hermann Wenning
Jahrzehnte vor dem Auftreten des Wandervogels
das Wanderglück in vollen Ziigen genoß. Ich iveiß
noch, wie der Fünfzehnjährige 1887 mit seinem
Bruder Otto von Kassel aus zu Fuß über Fulda
und Rhön nach Kissingen und dann weiter nach
Hanau wanderte; in den großen Ferien des fol-
genden Jahres durchstreiften beide den Thüringer
Wald, um im nächsten Jahr lvieder über Waldeck
und Kellerwald nach Fulda und Rhön zu pilgern.
Schwarzgebraunt kehrten sie jedesmal von diesen
Wanderungen zurück. Es kann nicht Wunder neh-
men, daß die beiden jungen Naturfreunde nach
den Studienjahren in Leipzig und Marburg in:
März 1897 zusammen dem Niederhessischen Touri-
stenverein beitraten und hier als eifrigste Mitglieder
kaum eine der angesetzten Wanderungen versäumten.
Hermann Wenning ivurde dann bald nacheinander
Schriftführer, zweiter und erster Vorsitzender dieses
Vereins, dem er mit seltener Treue seine außer-
berufliche Arbeitskraft widmete. Auch der Heimat
hielt er die Treue. Ihm lag nichts daran, Gott
weiß wo gewesen zu sein, er hatte sich vorgenommen,
nicht nach fernen Zielen zu streben, bevor er sich
nicht die Heimat gründlich erwandert hätte, und
es liegt eine Tragik darin, daß er gerade für dieses
Jahr zum ersten Mal eine Alpenwanderung geplant
hatte. Das Schicksal hat es anders gewollt. So
blieb er, von gelegentlichen Fernfahrten abgesehen,
auf seine Hessenheimat beschränkt, die er kannte wie
kaum ein zweiter. Ihr galt seine Sehnsucht in
jeder freien Stunde, in ihr zu wandern ivar ihm
eine Lebenskunst, die zur Höhe führte. Wenn er
draußen in der Natur den Hauch des ersten Mor-
genwindes spürte, von hoher Bergkuppe auf hes-
sische Fluren hinabschaute, deren Geschichte ihm
vertraut war, wurde ihm die Seele weit, und
wenn er dann den Frieden des Waldes in di«
engen Gassen des Alltags mitheimtrug, dann fand
er immer neue Kraft, auch anderen Heimatemp-
finden nahe zu bringen und aufs tatkräftigste
mitzuarbeiten am körperlichen und geistigen Aus-
stieg unseres Vaterlandes.
So steht der aufrechte und lautere Charakter vor
uns in seiner frühen Vollendung, eine vom Sturm
gefüllte hessische Eiche, tief in der heimischen Erde
wurzelnd, der er allzufrüh wiedergegeben wurde,
lind so wird er uns lebendig bleiben als der Herold
der hessischen Heimat, dem wir alle, die wir unser
Hessenland lieben, viel zu danken haben.
Paul Heidelbach.
Dr. Hans Will.
In der „altdeutschen" Zeit, als man, besonders in Süd-
deutschland, die Wohnräume ganz oder teilweise zu
täfeln pflegte, waren solche Truhen, an eine Wand
des Zimmers oder des Flurs gestellt, oft ein Mittel-
punkt der Einrichtung wie Tisch oder Kachelofen. Das
34
Familienleben flutete um diese Pole. Die Schränke
gehörten damals noch nicht zum selbstverständlichen Be-
standteil des Mobiliars, darum kam den Truhen eine
ganz andere Bedeutung zu als später, >vo man die
altmodisch gewordenen Stücke vielfach in einem Winkel
verstaute, bis endlich 'ein Liebhaber oder ein Museum
sie aus ihrem Dornröschenschlaf erweckte.
So haben sicher auch die beiden Alsfelder Truhen
mancherlei erlebt, ehe sie an ihren jetzigen Platz gekom-
Kerbschmttüberarbeitung). Das Zierwerk selbst ist aber
echte R e n a i s s a n c e, so das; wir die Entstehung der
Truhe in das 16. Jahrhundert (von der Mitte an) ver-
legen dürfen. Nachbildungen kantig geschlissener Steine
(der sog. Diamantschnitt), Bandwerk in der Form ge-
triebener Metallspangen und, freier und leichter als
beides, zwei beherrschend auftretende V a s e n m o t i v e,
wie sie in hundertfacher Abwandlung schon das Jahr-
hundert der italienischen Frührenaissance, das ewig köst-
MT
iiv i
pyJj M
SsjüC
mm.'
Alsfelder Rathaus.
?IȤ: W. Meycr-Barkhausen, Alsfeld.
men sind. Schon dadurch haben sie Wert und Würde
gewonnen. Tie Form, die ihnen der Schreiner ge-
geben hat, sagt aber auch k u n st g e s ch i ch t l i ch etlvas
aus. Der einen von beiden merkt man trotz der gut
durchgebildeten Profile die einfache Kastenform des Mit-
telalters noch sehr an; ihre Seitenwände sind stützbrett-
artig zur Erde hinabgeführt, und zwischen ihnen ist der
Boden eingespannt. Vorn sind aus dem graubraunen
Eichenholz verschiedene Ornamentfelder heransgeschnitzt
in der alten gotischen Manier des Flachschnitts (mit
Saal im zweiten Stock.
Verlag N. G. Elwert, Marburg.
liehe Quattrocento, hervorgebracht hatte: Aus anti-
kisierend geformter Base wächst eine Staude, deren Blätter
und Blattstiele sich mit halb zusammengerollten Bändern
wunderlich verbinden.
Um jedes dieser Hauptmotive legt sich rahmenartig
ein Bogen, dessen ganze Fläche in kleine Schuppen auf-
gelöst ist. Ein Rahmen in schreinermäßigem Sinn ist
es allerdings nicht, ebenso wenig wie die eingerahmten
Felder „Füllungen" sind, da diese, wie bereits gesagt,
aus den durchlaufenden Brettern der Vorderseite heraus-
35
geschnitten sind. Für diese ganze Art der Gliederung
durch Umschließen und Einfügen ist aber das seit dem
15. Jahrhundert aufgekommene Rahmenwerk maßge-
bend gewesen. Und noch eine Wirkung hat dieser Bogen:
Es kommt dadurch etwas Architektonisches in
die vordere Truhenwand, wie es in noch höherem Maße
bei den gleichzeitigen Schränken der Fall ist, die ja
geradezu die Schauseite eines Hauses nachbilden.
An der zweiten Truhe aus hellen und mittelbraunen
Holzarten ist noch „mehr daran". Die Vorderseite ist
über und über mit Ornament bedeckt. Hier zeigt sich
der zierwütige Geist der Renaissance in vollster Aus-
wirkung. Wir stehen am Gegenpol des heutigen Schlacht-
rufs: Form ohne Ornament! Die Wurzel dieser über-
fülle, die zuletzt nur kleinlich wirkt, ist wieder in Italien
eingelegt. Der Abschluß der Vorderwand über den Ka-
pitellen, zusammen mit der vorderen Leiste des profi-
lierten Deckelrandes, erscheint dadurch von selbst als
Gebälk im antiken Sinn, auch ohne daß dessen Formen
bis in alle Einzelheiten wiederholt sind. Nur der Fries
ist eingehender behandelt: Auf geschwärztem Grund
helles, symmetrisches Rollwerk in Laubsägearbeit, abwech-
selnd mit Rosetten. Beides ist durch Holzstifte und
Nägel mit ornamentierten Köpfen befestigt.
Deutet schon die starke Anschwellung der Pilaster auf
die S p ä t z e i t der Renaissance, so zeigt das Füll-
werk zwischen ihnen vollends die weich geschwungenen
Linien des beginnenden Barock. In profilierter, nach
außen durchbrochen geschnitzter Umrahmung sind Furnier-
platten in reicher Einlegearbeit zu sehen: Ge-
Alsfelder Museum. Zunftschild der Schmiede.
Aus: W. Meyer-Barkhausen, Alsfeld. Verlag N. G. Eiwert, Marburg.
zu suchen, wo man im ersten Rausch das neuerstandeue
Wunderland der Antike nach Zierformen durchsuchte
und alles bis zum Lebkuchen herab damit bedeckte. Die
Ornamentik dieser zweiten Truhe aus dem frühen 1 7.
Jahrhundert ist natürlich nicht rein antik. Zu-
nächst muß festgestellt werden, daß der architektonische
Zug hier stärker geworden ist. Die ganze Vorderseite
ist durch vier Pilaster gegliedert, welche sie nicht nur
als Schauseite, sondern zugleich als Stützwand des
darauf ruhenden wuchtigen Truhendeckels erscheinen las-
sen. Wie unzählig oft hat man nicht in den Tagen der
Renaissance diese Halbpfeiler verwandt, an Fassaden,
Chorschranken, Kanzelbrüstungen und Möbeln! Immer
wieder hat man sie anders zurechtgerückt, zu Paaren
zusammengestellt ihnen eine schlankere oder gedrungere
Form gegeben, mit diesem oder jenem Kapitell gekrönt.
An unsrer Truhe sind sie jonisch gebildet und im Schaft
schlinge von Bändern, die nach außen züngeln und hier
so umgerollt sind, daß diese unter sich verbundenen
Bandenden tvieder eine Art Einfassung bilden, wie sie
an Renaissanceschilden und -Tafeln die Regel ist. Aber
der klare Geist, der anfänglich geherrscht hatte, hat sich
merklich verändert. Nach älterem Muster scheinen da-
gegen die stilisierten, zum Teil nur angedeuteten Pflan-
zenformen des Mittelfeldes gearbeitet zu sein, wie sie
vom Orient her über Venedig in die deutsche Renaissance
gekommen waren. — Auf den Seitenwänden sind große
Sterne eingelegt, die für eine gewisse Hinneigung zu
heraldischer Darstellung sprechen, wie ja bei Truhen in
adeligem Besitz das Wappen naturgemäß nie fehlt, oft
aber nur aufgemalt ist. Auf diesen Sternen sitzen die
Handgriffe, die beim Fortbewegen des schweren Möbels
unentbehrlich waren. Erleichtert wird der Transport
auch durch die Kugelfüße, auf denen diese Lade im
Alsfeld. Blick vom Hochzeitshaus auf Rathaus, Weinhaus und Walpurgiskirche.
Aus: W. Meyer-Barkhausen, Alsfeld. Verlag N. G. Elwert, Marburg.
Gegensatz zur ersten steht; sie allein geben ihr schon
ein eleganteres Aussehen. Eine besondere Eigenart emp-
fängt sie ferner durch kleine Rosetten aus Alabaster,
die in den Füllungen und Pilastern aufgesetzt sind.
Man kann bei dieser Truhe also schon von einer
gewissen luxuriösen Ausstattung reden. Kein Bürgerhaus
brauchte sich ihrer zu schämen, und vielleicht war sie
die erste ihrer Art, die in der Stadt an der Schwalm
Einzug hielt und von einer Wendung im Geschmack
Rahels Liebe.
Der Ball lvar eröffnet. Die schöne Rahel Löwen-,
stein legte eben die Hand ans den Arm ihres Tän-
zers, als sie den Salomo Hammerschlag erblickte,
der sie auch hatte auffordern wollen, aber zu spät
gekommen war. Der Salomo war der Sohn der
nächsten Nachbarin der Löwensteins, der mit Glücks-
gütern nicht gesegneten Madel, und er war Rahels
liebster Spielgefährte gewesen.
Rahel wußte, daß Salomo heute auf Erholungs-
urlaub nach Hause gekommen war, aber sie hatte
ihn noch nicht gesehen. Der Salomo hatte sich zu
einem ansehnlichen jungen Manne ausgewachsen,
er war blond, helläugig und hatte einen flotten
Schnurrbart — er war so recht das Ideal einer
jungen Jüdin.
Auch den zweiten Tanz erhielt Salomo nicht —
der Max Rosenfeld hatte ihn sich schon gesichert,
als jener Rahel auffordern ivollte. Aber sie nickte
dem Salomo freundlich zu und sagte: „den näch-
sten!^ Und nun tanzten sie, einmal herum —
zweimal herum — da bat Rahel um eine Pause,
weil sie ermüdet sei und Herzklopfen habe. So
setzten sie sich und plauderten. Sie fragte nach sei-
nem mehrjährigen Aufenthalt in England, nach
seiner jetzigen Stellung in Hamburg, hörte, daß
er sich später doch in der Heimat ansässig machen
wolle, wenn es „einmal passe". Auch sie berichtete
über sich. Sie hatte die Töchterschule besucht und
ein Jahr in einem Großstadtpensionat zugebracht.
Eine Reise jährlich zu Verwandten am Rhein, viel
Lektüre und der Briefwechsel mit ein paar Freun-
dinnen machten so ziemlich ihr Erleben aus. Dann
ergingen sie sich in Kindheitserinnerungen. Wie
war es doch schön gewesen, als sie sich aus Matzen,
Milch und Zucker köstlichen „Schales" bereiteten!
Wie war Mutter Löwenstein ungehalten gewesen,
als sie ihr einmal beim Bäcker Brötchen geholt,
und diese, weil sie noch warm waren, zum Ab-
kühlen in den Bach gehalten hatten, bis sie wieder
zu Teig wurden. Wie waren sie sich wichtig vor-
gekommen, als sie zur Ausschmückung der Laub-
hütten zusammen Hagebutten gesucht und diese,
abwechselnd mit winzigen Viereckchen weißen Kar-
tons, auf Fäden schnürten. In welch großer Ge-
fahr waren sie einmal gewesen! Er, der Salomo,
hatte beim Soldatenspiel mit den bösen Christen-
jungen Posten gestanden und dabei den vorüber-
kommenden Herrn Landrat nicht mit „Halt, wer
da?" angerufen. Aus Furcht vor Strafe war er
„desertiert", aber ergriffen und in des Schuldieners
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Kunde gab, von dem folgenreichen Übergang aus der
Renaissance in den Barock. Es wäre für die Ortsfor-
schuug eine dankbare Aufgabe festzustellen, ob im 16.
und 17. Jahrhundert Truhenmacher von Ruf in Als-
feld ansässig gewesen sind. Dann könnte man die beiden
Truhen vielleicht einmal näher datieren, und die Kul-
turgeschichte Oberhessens wäre um einen interessanten
Beitrag reicher.
Erzählung von Marie Brehm.
.Hühnerstall gesteckt lvorden. Und sie, Rahel, hatte,
nachdem die Kerkermeister sich entfernt, ihn mit
Zittern und Zagen befreit. — Eine Erinnerung
rief die andere wach — weißt du noch? — Weißt
du noch? Sie plauderten, lachten und vergaßen
das Tanzen, bis Mutter Löwenstein der Unter-
haltung ein Ziel setzte.
Am andern Vormittag machte Salomo Besuch
bei Löwensteins in Zylinder und GlacöHandschuhen,
wie er es „draußen" gelernt hatte. Frau Löwen-
stein und ihre Söhlle waren zugegen bei dem Emp-
fang, ganz „wie es sich gehörte", Rahel hatte ihli
nicht für sich allein. — Ein Jahr verging, dann
machte Salomo in dein kleinen Hause [einer Mutter,
nebenan bei Löwensteins, mit viel Kredit und wenig
eigenem Kapital einen Manufakturladen auf. Das
Geschäft ging gilt, und nach abermals einem Jahr
kaufte der Salomo ein am Markt gelegenes großes
Geschäftshaus.
Zu dieser Zeit fanden Rahels Brüder — ihr
Vater war lange tot —, daß die Schwester das
Heiratsalter erreicht habe. Sie machten ihr ver-
schiedene „Vorschläge", aber Rahel lehnte ab. Sie
wollte sich nur aus Neigung verheiraten, aus „rei-
ner Neigung". Mehrere Schadchen1 erschienen —
die Rahel lehnte ab, lehnte entrüstet ab und er-
klärte der Mutter unter vier Augen, daß sie den
Salomo und keinen andern heiraten werde. lind
der Salomo kam, hielt in aller Form um Rahels
Hand an und erhielt sie. Weder von Mitgift noch
von Aussteuer war die Rede gewesen, als das Ver-
löbnis vor sich ging. Es war auch nicht nötig,
gewesen, denn Vater Löwenstein, der reiche Ge-
treidehändler, hatte ein Testament hinterlassen, und
Rahels Erbteil ivar genau festgesetzt. Aber Rahel,
die Jdealistin, empfand es als große Genugtuung,
daß sie nicht „verhandelt" worden war. Und Sa-
lomo? Bisher schon hatte er keine geringe Mei-
nung von sich gehabt. Daß er aber, der Sohn der
armen Madel, in die angesehene Familie Löwen-
stein heiratete, das hob ihn gleichsam über sich
selbst empor.
Ein großes Kasmal2 wurde angesetzt, die ersten
jüdischen Familien des Städtchens eingeladen. Aber
als das Fest seinen Höhepunkt erreicht hatte, als
Joel, der ältere Bruder Rahels, eine wohlgesetzte
1 Heiratsvermittler.
2 Verlobungsfeier.
Rede gehalten, die Sektpfropfen geknallt, die Gläser
geklungen und die Gaste glückwünschend dem Paare
die Hände geschüttelt hatten, fühlte sich Rahel plötz-
lich, ganz plötzlich, von einer großen, einer unsag-
baren Traurigkeit überkommen — woher — wes-
halb — ? Sie wußte es nicht. Doch wie ein körper-
lächer Schmerz durchzuckte sie blitzgleich die Er-
kenntnis: Nie, niemals wirst du ihm angehören!
Tränen füllten ihre schönen dunklen Augen, sie
sank auf ihren bekränzten Stuhl, und während
sie sich nach dem .Herzen griff, faßte sie mit der
andern Hand Salomos Rechte. Ter sah sie be-
troffen au. „Du weinst?!" — „Nu, vor Freide
weint se, vor Glück" sagte Mutter Hammerschlag,
die neben Frau Lö>venstein dem Brautpaar gegen-
über saß.
* * *
Der Zeitpunkt, auf den man Rahels und Sa-
lomos Vermählung angesetzt hatte, ivar längst ver-
strichen. Im Rosenmonat hatte sie stattfinden sollen
— nun blühten die Herbstzeitlosen. Niemand im
Hause Löwenstein sprach noch von .Hochzeit, oder
dachte daran, die Braut selbst am wenigsten. Rahel
war krank, von dein Abend des Kasmal an krank.
Die zarte Röte ihrer Wangen war tiefer Blässe
gewichen, um ihre schönen Augen lagen dunkle
Ringe. An warmen Tagen war sie noch in den
Garten hinaus gegangen. Jetzt, da der Herbst
nahte, saß sie meistens im Lehnstuhl am Fenster.
Heute hatte Joel, der Rahel sehr lieb hatte,
ihr einen Strauß der Herbstzeitlosen gebracht, die
die große Rasenfläche, in die der Löwensteiusche
Garten auslies, mit ihrem zarten Lila überzogen.
Rahel nahm die Blüten aus des Bruders Hand —
eine große Träne rann über ihre blasse Wange.
Sie mußte daran denken, wie sie Hand in Hand
mit Salomo ain Kasmaltage in den Garten ge-
gangen war, Schneeglöckchen zu pflücken, mit denen
damals die Grasfläche wie überschüttet war, wie
heute mit Herbstzeitlosen. Damals Frühling, heute
Herbst — welch ein Wandel in der kurzen Zeit,
nicht nur draußen in der Natur! Joel zog den
Kopf der Schwester an seine Brust, streichelte ihr
Haar. Da brach Rahel in einen Strom von Trä-
nen aus.--------
Täglich kam Salomo, um nach der Braut zu
sehen, oft auch mehrmals am Tage. Häufig brachte
er ihr Blumen und Süßigkeiten. Aber Süßigkeiten
liebte sie nun nicht mehr, und die Blumen wurden
jetzt, da es auf den Herbst ging, teurer. Er sprach
viel, vom Geschäft, daß es gut gehe und daß er
feine Kundschaft habe. Von den Tagesneuigkeiten,
den kleinern und größern Geschehnissen, die sich
im Städtchen zutrugen. Ach, das Geschäft! Sie
freute sich für ihn, aber was galt ihr das Geschäft
angesichts dessen, was ihre Seele jetzt erfüllte?
Und die Leute mit ihren Sorgen, ihren Freuden —
wie weit hatte sie, Rahel, die alle hinter sich ge-
lassen auf dem Wege, den sie nun wandelte, wan-
delu mußte.
Es mußte Salomo auffallen, daß Rahel immer
nur mit halber Seele bei dem ivar, was er sagte.
Darum ivohl wurde er schweigsamer. Seine Blicke
gingen an ihr vorbei iinb hafteten an den: Kirch-
turm drüben am Ende der Straße, oder er sah ge-
dankenlos nach einem der Bilder an der Wand,
nach dem Blumentisch, den Rahel nun nicht mehr
betreute. Wenn sie ihn dann ansprach, war es
ihr, als kämen seine Gedanken von weit her zu ihr
zurück. Er hatte daun wohl an seine Geschäfte, an
einen Auftrag, einen Wechsel gedacht. Ach, er
war gesund, er gehörte ganz der Gegenwart, dem
Diesseits an. Sie, ihre Seele, eilte dem verfallenden
Körper voraus, einer andern Welt entgegen. Was
band ihn noch an sie, die von ihm sortgezwungeu
wurde durch eine höhere Macht?
Zu Anfang ihrer Erkrankung hatte Rahel auf
Gesundung gehofft. Jehova würde nicht so grausam
sein, sie aus ihrem jauchzenden Glück heraus in
den Abgrund, in die ewige Nacht zu stoßen! Auch
war sie sich keiner Schuld bewußt, die Jehova etwa
rächen wollte. Und doch — zeigte nicht das Leben,
bewies nicht die Geschichte ihres Volkes, daß auch
Unschuldige von Jehovas Zorn getroffen, zerschmet-
tert wurden? Waren nicht die Knaben des Levi
drüben vor nicht langer Zeit qualvoll zu Tode
gekommen? Und Jephtas Tochter? War sie nicht,
völlig rein von jeder Schuld, furchtbarem Geschick
zum Opfer gefallen? Oder war an diesen Unglück-
lichen Schuld der Väter gerächt worden, von der
es heißt, daß sie heimgesucht werden solle an den
Kindern bis ins dritte und vierte Glied? Sollten
auch an ihr, Rahel, vielleicht längstvergessene Sün-
den geahndet werden?
In bangen Nächten beschäftigten quälende Vor-
stellungen von Jehovas Zorn und seinen Strafen
Rahels erregte Phantasie und verscheuchten ihr
den Schlaf. Und ihre Hoffnung auf Genesung
schwand dahin — Jephtas Tochter! Warum dachte
sie so viel an diese? Deren Geschick war ein
grausigeres, ja. Oder doch nicht? Es erfüllte sich
schnell. Sie, Rahel, sah, fühlte Wurzel um Wurzel
ihres Seins sich langsam lösen.
Joel, in seiner zarten, verstehenden Liebe, war
der einzige, der un: der Schwester Seelenkämpsje
wußte. Moritz in seiner leichten, heitern Art stand
ihr innerlich ferner als der tiefer veranlagte
Joel, sie weihte ihn nicht ein in das, was sie
mit Furcht und Zittern erfüllte. Frau Löwensteins
geschäftige Fürsorge galt mehr der Tochter kör-
perlichem Wohl und Wehe, sie hatte kein Ver-
ständnis für deren Seelenleben. —
Zu Beginn von Rahels Krankheit ivar viel Be-
such gekommen. Nun ließ Joel alle abweisen, nur
ein Paar Freundinnen und Salomos Mutter durften
sie sehen. Ihr Zustand verschlimmerte sich. Öfter
und öfter griff sie sich in jäher Angst nach dem
kranken Herzen, wie am Abend ihres Kasmal. Ihr
Atem wurde kürzer, schwerer, weitere Anzeichen
eines nicht zu behebenden Leidens traten ans. Joel
ließ immer andere berühmte Ärzte kommen, be-
39
schaffte die teuersten Heilmittel — Rahel iourbe
kränker, hinfälliger. In Schmerz und Ehrfurcht
sah der Bruder das Außere der Kranken sich so
gänzlich verwandeln. Die starken schwarzen Flechten,
die Rahel sonst modisch aufgesteckt getragen hatte,
lagen jcht schlicht um ihren feinen Kopf, das gab
ihr etwas rührend Kindliches Das liebliche Gesicht,
schmal geworden und totenblaß, wurde von den
Augen, die schon eine andere, höhere Welt zu sehen
schienen, seltsam überleuchtet. Sie war auch jetzt
noch schön, Joels geliebte Schwester, aber es war
eine ergreifende, eine unirdische Schönheit gleichsam,
die ihr jetzt eignete. Joel fand, daß ihr Leben gleich
sei einer niederbrennenden Kerze.
In dieser Zeit, da Rahel dem Grabe zueilte,
machte sieh ein Umschwung in den Gefühlen der
meisten jüdischen Einwohner des Städtchens dem
Paare gegenüber bemerklieh. Hatte bisher die Teil-
nahme der Glaubensgenossen mehr der kranken
Braut gegolten, so wandte sie sich jetzt dem Ver-
lobten zu. „Der arme Mensch! Rn hat er schon
so lang 'ne Braut und er kann doch nich heiraten.
Un d's Geschäft —• Geld müßte er reinstecken, und
woher soll er's nehmen, wenn er nich hat 'ne Frau,
die ihm zubringt 's Kapital?!"
Auch Mutter Hammerschlag beklagte ihren Sohn,
und als sie eines Tags der Frage nach Rahels Er-
gehen hinzusetzte: „Es ist auch schlimm for den
Salomo, daß er nich kann heiraten —" gebot ein
flammender Blick Joels ihr Schweigen, Nachher,
da er sie hinausbegleitete, drückte er ihr die Schale
mit Eingemachtem wieder in die Hand, die sie
Rahel mitgebracht hatte. „Das darf sie nicht mehr
genießen," sagte er unfreundlich, „und Besuch, der
sie aufregt, darf Rahel auch nicht mehr empfangen."
Da blieb Frau Hammerschlag fort.
Die Tage wurden kürzer, Salomos Geschäft leb-
hafter — das Weihnachtsfest der Christen nahte
heran. Und auch Salomos Besuche bei Rahel wür-
ben kürzer, seine Liebkosungen kühler, gemessener,
seine Küsse flüchtiger. Mit jähem Schreck durchfuhr
da Rahel plötzlich der Gedanke, daß ihre Krankheit
den Verlobten abstoßen, seine Zärtlichkeit ihm Über-
windung kosten möchte. Ach — wenn Salomo krank
geworden wäre — ihr Empfinden für ihn würde
Februar.
5hm sind die Haselkähchen da,
Sie schaukeln an den Zweigen,
Und weiße Blütenwunder seh'
Aus brauner Gruft ich steigen.
Und muß auch nächtens noch der Reif
Sich auf die Fluren legen.
Die Saaten halten's Köpfchen steif,
Sie ahnen Frühltngssegen.
Schon treibt es machtvoll sonnenwärts
Aus tatbereiter Erde,
Und neu zum Schaffen drängt's das Herz
Bach Winternachtsbeschwerde.
Rinteln a.W. Helene Brebm.
nicht schwach werden, nicht nachlassen. Dann —
bedurfte nicht gerade der Kranke, der hoffnungslos
Kranke, für den Rest seiner Erdentage die verdop-
pelte Liebe des andern, die völlige Aufgabe des
eigenen Ichs? Wenn jetzt, da sie bald hindurch
mußte durch das dunkle Tor — ganz allein — Sa-
lomos Liebe erkaltete, war sie niemals echt gewesen.
Rahel dachte es in Qualen. In dieser Nacht floh
der Schlaf ihr Lager. Als der Morgen graute, hatte
sie in Schmerz und Tränen sich zu einem Entschluß
hindurchgerungen: sie wollte Salomo sein Wort
zurückgeben, er sollte frei sein.
Aber heute, nach der schlaflosen Nacht, fühlte
sie sich nicht stark genug, das Bett zu verlassen, und
als Salomo um die Mittagszeit erschien, sah er
sich von Joel empfangen. Joel führte den Schwager
in das Geschäftszimmer, schickte den hier arbeitenden
jungen Mann hinaus und trat dann dicht an
Salomo heran. „Sie brauchen Geld?" fragte er
ihn. Es hatte nicht in Joels Absicht gelegen, Rahels
Verlobten wieder mit dem fremden Sie anzureden.
Aber da es ihm ungewollt entschlüpft war, blieb
er dabei. Er hatte gestern abend gehört, daß schon
mehrere Schadchen 3 bei Salomo gewesen waren,
und daß der sie nicht hinausgeworfen hatte. Salomo
war sehr betroffen, verlegen schlenkerte er den .Hut
leicht hin und her. „Sagen Sie nur wieviel — ich
weiß, daß ein junges Geschäft Kapital braucht, und
ich will nicht, daß die Krankheit meiner Schwester
Ihnen Ungelegenheiten schafft." Da nannte Salomo
die Summe. Joel ging zu dem Pult und schrieb
eine Anweisung für sein Bankhaus, dann gab er
Salomo den Schein. „§ier, holen Sie sich's, und
wenn Sie mehr brauchen, sagen Sie's. Aber,"
Joels schwarze Augenbraunen rückten dicht anein-
ander, „seien Sie zu Rahel wieder tvie früher —
in der Spanne Zeit, die ihr noch beschieden ist —
lange brauchen Sie sich nicht mehr zu verstellen!"
Joel hatte die Tür geöffnet, als ob er mit
hinaus wolle, aber er hielt sie nur für den andern
offen. Als der gegangen, schloß er sie wieder. Mehr-
mals schritt er im Zimmer auf und nieder, dann
warf er sich auf einen Stuhl, schlug die Hände vor
die Augen und schluchzte — —
3 Heiratsvermittler. Schluß folgt.
Sandmann.
Weißt du, wie im Kinderspiele
Deiner Mutter Stimme klang,
Die vom Sandmann uns erzählte?
Und wir lauschten froh und bang. —
Wollten gern das Männlein sehen,
Das den Schlaf ins Auge streut. —
Ach, ich bin so still geworden,
Käm' der Sandmann doch noch heut. . .
Aus den lieben Kinderspielen
Ward ein Spiel, das brennt und quält —
Eine Stimme möcht' ich hören,
Die vom Sandmann mir erzählt...
Kassel Klara Steckha».
40
Aus alter und neuer Zeit.
Ein junger Dichter.
Pfleger für kulturgeschichtliche Bo -
ziger Jahren ein Junge mit uns zur Schule, Fritz R.
mit Namen. Er war eine künstlerisch veranlagte Per-
sönlichkeit. Seine Karikaturen bekannter Stadtoriginale,
die er mit Kohle oder Kreide an jede Fläche schmierte,
die nur irgend dazu geeignet war, waren vortrefflich,
seine Erzählergabe so großartig, daß sich an manchem
lauen Sommerabend eine große Schar Jungen auf dem
Turnhagen sammelte, um ihm zuzuhören. Er saß auf
der Leiter des Turngerüstes, und über und unter ihm,
ja selbst oben auf dem Querbalken hockten rittlings die
Jungen. Dann erzählte er z. B., wie der Metzger R.,
der Ziegenhirte N. und noch ein anderes Original in
der Kommode ihrer Großmutter eine Reise über das
Weltmeer nach Afrika machten. Die Schilderung war
von überwältigender Komik, weil sie jeden Teilnehmer
der Fahrt in seiner bekannten Eigenart vor Augen
malte. Von seinen Gedichten habe ich in meinen alten
Papieren leider nur noch eins gefunden, das in heimat-
licher Mundart das Gespräch zweier Schnapser über
den Branntwein wiedergibt. Wegen feiner Originalität
verdient er es wohl, weiteren hessischen Kreisen bekannt
zu werden, wenn es auch mundartlich oft nicht ganz
richtig ist. Die Eltern des Dichters verzogen im Jahre
1876 nach Fulda, und dort soll er schon bald nachher
an der Schwindsucht gestorben sein. Fr.
De Branntwin smekkt doch gar so god,
he spölt de Gorgel rene,
he wärmt dat Harte,
röhrt das Blot
un makt auk muntre Beene.
Tom Tüwel all de Medezin
Aus Heimat und Fremde.
Pfleger für kulturgeschichtliche Bo-
denaltertümer. Der Oberpräsident hat durch Er-
laß vom 23. Dezember 1926 gemäß Ziffer 5 der Aus-
führungsbestimmungen vom 30. Juli 1920 zum Aus-
grabungsgefetz vom 26. März 1914 ehrenamtlich zum
Pfleger für kulturgeschichtliche Bodenaltertümer bestellt
für die Kreste Eschwege: Schulrat Dittmar, Eschwege,
Lehrer H. Wittmann, Hitzelrode, Lehrer Jäger, Eschwege.
Frankenberg: Oberförster Frhr. v. Berlepsch, Vöhl,
Lehrer Theiß, Dodenhausen, Post Jesberg, Lehrer Fritz
Himmelmann, Rosenthal. Fritzlar: Rektor Wickenhöfer,
Gudensberg. Gelnhausen: Rektor Kaufmann, Geln-
hausen. Gersfeld: Lehrer L. Storch, Weyhers. Hers-
feld: Studienassessor Schmidt, Hersfeld. Hofgeismar:
Rektor H. Grosse-Heitmeyer, Hofgeismar, Studienrat
Dr. Andrae, Hofgeismar, Hauptlehrer Schier, Hom-
bressen. Homberg: Lehrer Boley, Dillich. Hünfeld:
Rektor Sondergeld, Hünfeld. Kirchhain: Pfarrer Fürst,
Amöneburg. Melsungen: Lehrer S. Müller, Melsungen,
Lehrer Heinlein, Spangenberg, Lehrer F. Thauer, Gen-
fungen. Rotenburg: Lehrer H. Faber, Sontra, Lehrer
Schulz, Bebra, Lehrer Stumpf, Obersuhl, Lehrer Flach,
Hönebach. Schlüchtern: Rektor Maldfeld, Schlüchtern.
Witzenhausen: Lehrer W. Hauck, Kleinalmerode. Wolf-
hagen: Lehrer Kempf, Oberlistingen, Justizinspektor §.
Aufsarth, Wolfhagen, Lehrer W. Eysel, Bründersen,
Rektor F. Hufschmidt, Zierenberg. Ziegenhain: Haupt-
un all de Plasterschmere!
De Branntwin fall min Dotier sin,
de Schnaps fall mick kurere. —
Süh, Krischan, wenn ick uppestah,
un 's is mick noch so dulle,
dann rop ick fix: „Sofiken, gah
nu lang mick ma de Pulle!"
Dat quullert denn tom Magen rin,
führt worm im Liewe rümme,
un Forsche krieg ick, frohen Sinn,
de Dusel, der is ümme.
Un an de Arbiet frisch un froh
un an das Misten geih ick,
de Greipe schwing ick, 't kracht nur so.
Nit, Krischan, dat versteih ick? — —
Jau, brummt de Krischan, weet ick woll,
von emme kam'me leren.
Vom Branntwin aberst, Nolde, soll
me gar so zittrig weren. —
I, spricht der Nolde, ganz erbost,
dat lüggen de Gelehrten,
de Branntwin giwwet Kraft un Trost,
wat hät me süs up Erden! —
Nä, sad de Krischan, dat 's nun so,
ick Han et sülwst verspüret,
mick kummt männ'gmal en Zittern an,
wie 'n ales Wies, wenn's frieret. —
I, säd de Nolde, Krischan, süh!
will mick dat Zittern kommen,
dann weet ick auk 'u Mettel for:
'n Bittern moß'te nommen.
'n Bittern is for allens god,
däut dick de Buchch so kniepen,
wenn dick de Kopp so brennen tut,
moßt nur zur Pulle griepen.
lehrer L. Korell, Schrecksbach, Pfarrer Hütteroth, Treysa,
Lehrer Fr. Schäfer, Michelsberg.
H o ch s ch u l n a ch r i ch t e n Marburg: Der Geh.
Kons.-Rat Professor D. Dr. G. A. I ü l i ch e r, der
frühere langjährige Vertreter des Neuen Testamentes
und der Kirchengeschichte in der theol. Fakultät beging
am 26. Januar feinen 70. Geburtstag. — Antritts-
vorlesungen hielten Dr. med. Otto Geßner über
„Digitalis", Dr. Hans Naujoks über „die Berech-
tigung und Methodik der Schmerzlinderung unter der
Geburt", Dr. Hans-Otto Neumann über „Flaoerckia
praevia“, Dr. med. et med. vet. Hans-Joachim Arndt,
1. Assistent am patholgischen Institut, „über verglei-
chende Pathologie", Dr. Otto Flößner über „neuere
Anschauungen über die Konstitution der Eiweißkörper".
— Dem stud. jur. Wilfried Krause, Sohn des
Pfarrers Krause in Wetter, wurde die Rettungsmedaille
am Bande verliehen. — Die drei Landeskirchen Kur-
hessen, Nassau und Frankfurt haben den Marburger
Forsthof angekauft, um ihn anläßlich des Universitäts-
jubiläums der theologischen Fakultät als Heim für
junge Theologen aus ihren Gebieten als Jubelgabe
darzubieten. — Der Abgeordnete Sonnenschein bean-
tragte im preußischen Landtag, beim Jubiläumskunst-
institut eine ordentliche Professur für Prähistorie zu
errichten und ferner ein prähistorisches Seminar ein-
zurichten und zu doUeren und ein planmäßiges Lek-
torat für Photographie zu schaffen. Der Jubiläumsbau
steht jetzt unter Dach und Fach. Der Magistrat beschloß,
weiteres Gelände zur Verbesserung des nördlichen Zu-
gansweges stiftungsweise zur Verfügung zu stellen. —
Bis zum Universitätsjubiläum soll der Jnnenraum der
Universitätskirche umgestaltet iverden, drei wertvolle Ge-
mälde an der Südwand werden durch den Maler Kurt
Schmelz für die Akten kopiert, da sie voraussichtlich
übertüncht oder verschalt iverden müssen. — Zum Ju-
biläum haben der Kurhessenverein und der Hessische
Volksfestverein in Newyork ihren Besuch in Aussicht
gestellt. — Die Stadtverwaltung plant den Ankauf von
Gelände am Ortenberg für die Universität: voraus-
sichtlich soll dort ein neues Laboratorium gebaut werden.
— Um die Pfingstzeit wird ein Festspiel auf dem Platz
vor der alten Marienkirche aufgeführt werden. Die
künstlerische Leitung hat Lektor Dr. Fritz B udde über-
nommen. Tie Spielzeit ist vorläufig auf 14 Tage fest-
gesetzt. — Gießen: Ter ord. Prof. Dr. meä. vet.
I. N ö r r in Sofia wurde zum ord. Pros, für innere
Veterinärmedizin ernannt. — Ter Direktor des physi-
kalischen Instituts der Universität Leipzig, Ehrendoktor
unserer Universität, Geh. Hofrat Prof. Dr. phil. et med.
W eber starb im Alter von 65 Jahren. — Im 66. Le-
bensjahr verschied der Germanist Prof. Dr. R. E. O t t -
in a n n. — Tie Universität lvird im Wintersemester 1926
bis 1927 von insgesamt 1544 Studierenden besucht.
Davon sind 1351 immatrikuliert, 114 Gasthörer, 77
Gasthörerinnen und 2 Hospitantinnen. Den größten
Teil der Studierenden stellen Hessen (743) und Preußen
(410). Tie übrigen verteilen sich auf die anderen deut-
schen Länder und das Ausland. Es studieren 41 Theo-
logie, 293 Jura, 163 Medizin, 114 Veterinärmedizin
und 718 Philosophie. — Im ehemaligen Militärlazarett
in der Braugasse sollen nach dem Umbau das Forst-
wissenschaftliche Institut, die Agikulturchemie und das
Geologische Institut untergebracht werden. — Darm-
st a d t: Der ord. Pros, der Philosophie an der philoso-
phisch-theologischen Hochschule in Dillingen a. D. Dr. M.
Meier hat einen Ruf au unsere technische Hochschule
angenommen. — Tie technische Hochschule hat denr
Generaldirektor Paul Thomas in Düsseldorf die
Würde eines Dr. ing. E. h. verliehen. — Ter Mathe-
matiker Dr. Jakob H o r n beging am 14. Februar
seinen 60. Geburtstag.
P e r s o n a l ch r o n i k. Ter Minister für Wissen-
schaft, Kunst und Volksbildung genehmigte die Beru-
fung des Graphikers Alfons N i e m a n n an die Staat-
liche Kunstakademie in Kassel. Damit ist die Wirksamkeit
des Künstlers, dessen Vertrag mit der Kasseler Kunst-
gewerbeschule von dieser unbegreiflicherweise nicht er-
neuert worden war, für Kassel erhalten geblieben.
Todesfälle. Am 23. Januar verschied in Kassel
77jährig der evang. Pfarrer a. D. Dr. theol. Franz
Sardemann, Ehrendoktor der Universität Marburg
und Ehrenvorsitzender des Vereins Philippstift. In
Marburg, lvo er studierte, ivurde er Lizentiat und Pri-
vatdozent; 1870 zog er als Kriegsfreiwilliger ins Feld,
im Weltkrieg übernahm er ein Lazarett. Das Hessische
Tiakonissenhaus verliert in ihm seinen langjährigen
ersten Vorsitzenden, das er von Treysa nach Kassel über-
führte und dem er 1877—1910 vorstand. Sardemann,
der dreißig Jahre lang die Monatsschrift für innere
Mission leitete, lvar vor vierzig Jahren auch Mit-
gründer des Vereins für Innere Mission, lvie er denn
Wort und Feder allzeit in den Dienst der christlichen
Liebeswerke in Hessen stellte. — Am 28. Januar starb
im Alter vou 84 Jahren der Oberlehrer a. T. Rudolf
Grebe. In Oberkaufungen 1843 geboren, war er in
42
Elberfeld als Lehrer tätig, trat 1895 in den Ruhestand
und siedelte nach Kassel über. Lange Jahre betätigte
sich Grebe im Sinne der hessischen Rechtspartei. Der
hessischen Geschichte und Volkskunde galt seine Arbeit.
Sv schrieb er in Hehlers Hessischer Landes- und Volks-
pfarrer I). Sardemann. Phot. Karl Eberth.
Aus der Festschrift des Vereins für innere Mission. (Fr. Lometsch, Kassel.)
künde die Abschnitte „die religiösen Verhältnisse der
Hessen in heidnischer und christlicher Zeit", „Bedeutung
der Sitten und Gebräuche", „Handel und Industrie".
Von seinen Werken ivurde außer seinen Epen „der
Fall der Donnereiche" und „St. Elisabeth" seine Bro-
schüre „der hessische Volkscharakter im Lichte der Ver-
gangenheit und Gegenwart" und seine Biographie des
letzten Kurfürsten und Vilmars bekannt. — Im Alter
von fast 82 Jahren verschied am 2. Februar in Kassel
der Geheime Justizrat Albrecht C a s p a r i an den Fol-
gen eines Schlaganfalles. In Blomberg 1845 als
Sohn eines Lippischen Kreisdirektors geboren, studierte
er in Jena und Heidelberg, erwarb im Feldzug 1870/71
als Kriegsfreiwilliger das Eiserne Kreuz, war Patrio-
monialrichter in Lippe und kam vor 52 Jahren nach
Kassel, lvo er jetzt als der älteste, an Lebensalter der
zweitälteste Kasseler Rechtsanwalt verstarb. Seine Amts-
genossen betrauern in dem hochgewachsenen rüstigen
Herrn, der noch bis in seine letzten Jahre ein eifriger
Fußwanderer und auch wegen seines schlagfertigen Hu-
mors allgemein beliebt war, einen Mann von aufrechter
Gesinnung, stärkstem Unabhängigkeitsgefühl und schar-
fem Geist.
Die Kasseler Kunst akademie. Am 18. Ok-
tober 1927 sind 150 Jahre verflossen, seit die Kasseler
Akademie durch Landgraf Friedrich II. gegründet wurde.
Aus diesem Anlaß wird die Akademie eine große Kunst-
ausstellung in den Räumen des Orangerieschlosses ver-
anstalten, die Werke der bedeutendsten Lehrer und Schüler
des verflossenen Zeitraumes zeigen, daneben aber auch
erne Üoersicht über das zeitgenössische künstlerische Schaffen
und über die deutsche Malerei der Gegenwart bieten wird.
8 0 0 Jahre Bettenhausen. Bcttenhausen,
das vor zwanzig Jahren in Kassel eingemeindet wurde,
rüstet sich zu einer 800-Jahrfeier. — Eine Urkunde von
1126 spricht betn Stift Oberkaufungen bie Erhebung bei-
Novalzehnten in bem Ort Bettenhausen zu.
Gubensberg. Der hiesige Schützenverein hält
seine 300-Jahrfeier am 30. Juli bis 1. August ab.
B i e b e n k o p f. Nach 21jähriger Pause soll im
nächsten Jahre hier tvieber ein Grenzgangfest abgehalten
iverben.
Wächtersba ch. Im benachbarten Lanborte
Spielberg, einem ber ältesten Orte bes Kreises
Gelnhausen, kann im Frühsommer bieses Jahres bie
evangelische Kirchengemeinbe auf bas 200jährige Be-
stehen ihres Gotteshauses zurückblicken. Die im Jahre
1727 von bem Grafen Ferbinanb Maximilian II. zu
Henburg auf Schloß Wächtersbach erbaute Kirche ist
bie Nachfolgerin einer auf bem gleichen Platze errich-
teten, aus bem Mittelalter stammenben Kapelle, ber
„Capella saneti Jacobi", unb tvirb im Laufe ber kom-
menben Monate einer grünblichen Erneuerung unterzogen
iverben. Der Ort Spielberg selber tvirb urkundlich
zum ersten Male 1365 erwähnt; es steht aber fest, baß
er weit älter ist.
L a u t e r b a ch. In biesem Jahre sinb 400 Jahre
verflossen, baß Lauterbach lutherisch geworben ist, unb
ztvar burch Hermann III. Riebesel. Jenes Zeitalter-
kanute keine Toleranz. So zogen bamals bie Katho-
liken ins Fuldaer Lanb und bie Protestanten ins Rieb-
eselsche. Bon bett Stätten, wo bamals in Lauterbach
bie neue Lehre verkündet würbe, ist heute nichts mehr
vorhanben.
Salzschlirf. 650 Jahre Salzschlirf. Das
in ber ganzen Welt bekannte Bab Salzschlirf kann im
nächsten Jahre ans ein 650jähriges Bestehen zurück-
blicken. Wohl war bamals von einem Babe im heutigen
Sinne noch nichts vorhanben, wenn man auch den
Wert ber Quelle schon geahnt haben mag. Es war im
Jahre 1278, als ein Graf Dito bie Salzquelle bem
Abte von Fulda übertrug. Sie hat bann im Laufe ber
Jahrhunberte vielfach ihren Besitzer gewechselt. So wa-
ren später bie Herren von Schlitz ihre Besitzer, im
14. Jahrhunbert bie Herren von Eisenbach, bann wieder
bie Abtei Fulda. Im 18. Jahrhunbert würben bebeu-
tenbe Verbesserungen burchgeführt. Unter ber napo-
leonischen Herrschaft endlich verfiel die Saline voll-
stänbig. 1836, also vor 90 Jahren, wurde sie durch den
Grafen Friedrich Wilhelm genannt von Goertz zu neuem
Leben erweckt. 1838 verkaufte sie dieser an den be-
kannten Arzt Dr. Martiny, ber durch den Hersselber
Regierungsbaurat Müller den Brunnen wieder aufgraben
ließ. Von hier datiert das Aufblühen des heutigen
Bades, das 1860 an den kurhessischen Staat überging.
1900 übernahm es eine Aktiengesellschaft. Besonders
seit dieser Zeit erfuhren das Bad sowohl wie der Ort
eine in jeder Beziehung neuzeitliche Ausgestaltung.
G e l n h a u ) e n. Wie bekannt, ist die Teufels-
höhle bei Steinau als Naturschutzgebiet erklärt wor-
den. Im Laufe der Zeit soll alles geschehen, um das
gesamte Gebiet zu erschließen. Dr. Hans Karl Becker-
Frankfurt a. M., Mitglied der Gesellschaft für Höhlen-
forschung und Höhlenkunde, sagt über die Geschichte
der Höhle: Der Ulmbach schuf sich seinerzeit seine
unterirdische Verbindung zum Steinabach. Hierbei hielt
er sich anscheinend an tektonisch vorbedingte Linien.
In jener Zeit mehr Wasser führend, schuf er hallen-
artige Gänge. Diese stürzten später ein und wurden
mit Gestein ausgefüllt. Hieraus erklärt sich auch, daß
die Ulmbachwasser trotz der geringen Entfernung von
5 km immer noch 54 Std. gebrauchen, um die heutigen
Höhlenräume zu durchbringen.
Schenklengsfeld. Land e cf e r T r a ch ten -
A b e n b. Um die alten Trachten wieder einmal zu
ihrem Rechte kommen zu lassen, veranstaltete der Turn-
und Sportverein Landeck einen „Landecker Trachten-
Abend". Was da nach Jahrzehnten alles wieder aus
Schränken und Truhen, Ivo es ein stilles Dasein fristete,
ausgekramt war, konnte jedes Auge erfreuen. Neben
den schmucken weißledernen Hosen der Männer konnte
man die wunderbaren Beiderwand-Faltenröcke der Frauen
bewundern. Einige Mädchen hatten es verstanden, ihr
Haar in Flechten um den Kopf zu legen, was dem
farbenfreudigen Bild ein besonderes Gepräge gab. Tie
für die ältesten Trachten ausgesetzten Preise mußten
durch das Los entschieden werden.
M a r b u r g. In dieser Woche wird mit den Arbeiten
zur Wiederherstellung und Ausmalung der l u t h e -
r i s ch e n P f a r r k i r ch e begonnen. Die Arbeiten sollen
so beschleunigt werden, daß am Himmelfahrtstage die
Neueinweihung der Kirche, verbunden mit der 400-Jahr-
feier der Einführung der Reformation in Marburg,
erfolgen kann. — Im nächsten Jahre sind es hundert
Jahre her, daß der hiesigen katholischen Gemeinde
die K u g e l k i r ch e als Pfarrkirche wieder übergeben wor-
den ist Eigentlich ist dies schon 1823 geschehen, aber die
Restauration dauerte bis 1828, so daß die Kugelkirche
von da an wieder katholische Pfarrkirche ist. Die Kugel-
kirche, ein einschiffiger spätgotischer Quadersteinbau,
wurde 1482 vollendet. Sie sowohl wie die angrenzende
Probstei verdanken ihre Errichtung einer frommen Stif-
tung, die 1477, also vor 450 Jahren zur Gründung der
Vereinigung der Kugelherren führte. Die Kugelherren,
wegen ihrer runden Kopfbedeckung so genannt, beschäf-
tigten sich, ohne ein eigentliches Gelübde abzulegen,
mit geistlichen Übungen und Stiftungen. Pater Friedr.
Mohrmann war ein berühmter Gelehrter und der Bru-
der Geek Lehrer des Landgrafen Philipp des Großmü-
tigen. Vor ihrer Wiedergabe an die Katholiken wurde
die Kugelkirche im Laufe der Jahrhunderte den ver-
schiedensten Zwecken dienstbar gemacht. Sie diente als
theologischer Hörsaal, zur Abhaltung von Universitäts-
feiern, der reformierten Gemeinde als Gotteshaus und
1667 wurde sie den französischen Flüchtlingen einge-
räumt. Tie Propstei, durch An- und Umbauten erwei-
tert, ist jetzt Seminar für historische Hilfswissenschaften
und enthält die philosophische Abteilung des philosophi-
schen Seminars. — Das Gymnasium Philip-
p i n u m kann in diesem Jahre ebenso wie die Mar-
burger Universität auf ein 400jähriges ununterbrochenes
Bestehen zurückblicken und gedenkt dieses Jubiläum in
den Tagen vom 29. bis 31. Mai festlich zu begehen.
Alle ehemaligen Lehrer und Schüler werden zwecks Zu-
sendung eines ausführlichen Programms gebeten, ihre
Anschrift dem Gymnasial-Jubiläumsausschuß, Marburg,
Untergasse 4, mitzuteilen.
Buchenau. In diesen Tagen sind 600 Jahre ver-
flossen, daß Wilhelm von Buchenan im Verein mit
Otto von Stotternheim den Erzbischof Heidecke von
Magdeburg, der sich auf einer Reise nach Avignon be-
fand, in hiesiger Gegend überfiel und als Gefangenen
auf die Burg Brandenfels bei Eisenach brachte. Das
Magdeburger Domkapitel lehnte die Zahlung des sehr
hohen Lösegelbes ab mit der Begründung, daß Heidecke
noch kein Erzbischof sei, da er sich ja erst die Bestätigung
vom Papst holen wollte. Das gleiche tat der Mönchs-
orden, dem Speibecfe angehört hatte, indem er erklärte,
Heidecke sei kein Mönch mehr. Der schon betagte Bischof
erkrankte in der anderthalbjährigen Gefangenschaft
schwer, so daß die Raubritter ihn entlassen mußten.
43
In bei Tut kam Heidecke bann auch bis Eisenach, wo
er starb.
A r ch i v für Familienforschun g. Vom Vor-
stände der „Gesellschaft für Familienkunde in Kurhessen
und Walbeck" wirb uns geschrieben:
Der in Heft 10 des „Hessenlanbes" ausgesprochene
Wunsch, es möge ein hessisches Archiv für Familienfor-
schung angelegt werben, hat bereits seine Erledigung ge-
funden. Die „Gesellschaft für Familienkunde in Kur-
hessen und Waldeck" besitzt ein solches Archiv. Sie ist
gern bereit, Anfragen daraus zu beantworten, bittet
aber andererseits, sie durch Zuweisung von Ahnenlisten,
Stammbäumen und Familienpapieren aller Art zu
Bücherschau.
Tie Bau- und Kunstdenkmäler im Regierungsbezirk
Cassel. Band 7. Kreis Hofgeismar. Erster Teil.
Schloß Wilhelmstab Im Aufträge des Be-
zirksverbandes vom Regierungsbezirk Cassel be-
arbeitet von Friedrich Bleibaum. Mit
105 Tafeln nach photographischen Aufnahmen und
Zeichnungen. Cassel. Selbstverlag der Landesver-
waltung Auslieferung Ferd. Keßlersche Buchhand-
lung 1926. (VIII, 152 Seiten und 105 Tafeln.)
Preis geheftet 25 RM, halbleinen 30 RM, halb-
leder 35 RM, Liebhabereinband in Ganzleinen
40 RM.
Tie verdienstvolle Reihe der Jnventarisationswerke
der Bau- und Kunstdenkmäler unseres Regierungsbe-
zirks ist durch einen neuen stattlichen Band ergänzt
worden, der auch über Hessen hinaus eine starke An-
ziehungskraft ausüben wird; behandelt er doch jenes
köstliche Wilhelmsthaler Schlößchen, das.Gurlitt schon
vor mehr als einem Mer^chenalter als eine der reiz-
vollsten Schöpfungen Deutschlands bezeichnete. Legt
der reiche Bildnisschmuck hiervon beredtes Zeugnis ab,
so löst der von Dr. Bleibaum verfaßte, durchweg aus
den Quellen fußende Text manche Frage, die bisher
auch dem Fachmann offen geblieben war. Wenn auch
der Jnventarcharakter zu knapper Darstellung zwang,
so ist doch in der Fülle des Stoffes auch das scheinbar
Geringste berücksichtigt, so daß uns ein abgeschlossenes
Bild der künstlerischen Kultur des 18. Jahrhunderts ent-
gegentritt. Im ersten Teil, der die Geschichte der
ganzen Anlage behandelt, sehen wir, wie oft der heutige
Gutsbezirk Wilhelmsthal (warum in Ortsnamen die
neue Orthographie?) im Lauf der Jahrhunderte seinen
Besitzer gewechselt hat; die Siedlung Amelgotzen, schon
in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts nachweisbar,
geht aus dem Besitz des Erzbistums Mainz nachein-
ander an das Kloster Helmarshausen, an den hessischen
Landgrafen Heinrich II., an die Familie von Schachten,
die Brüder vom Weißen Hof in Kassel, an den Mergen-
hof in Jmmenhausen, wieder an die von Schachten und
1643 an die Landgräfin Amelia (nicht Amalie) Elisabeth
über, die wohl in diesem ihrem Amelienthal einen Som-
mersitz plante, aber schon 1651 verstarb. Landgraf Karl
überließ diesen Sitz seinem Sohne Wilhelm (VIII.), der
sich schon als Statthalter zu einem Neubau des Herren-
hauses njib einer großzügigen Parkanlage entschloß.
Es entsteht 1749 der Nordflügel, 1753 der Südflügel,
beide durch Karl du Rh, die technische Oberleitung beim
Mittelban hat der spätere Oberst Huth und nach ihm
Simon Louis du Rh. Die Bildnisse der Ahnen- und
Schönheitsgalerie und die Supraporten stammen zum
größten Teil vom älteren I. H. Tischbein, die dekora-
tive Ausgestaltung, die unvergleichliche Raumkunst ist
Schöpfung Johann August Nahls. Das nachdrücklich
unterstützen. Nähere Auskunft erteilen gern die Mit-
glieder des geschäftsführenden Vorstandes der Gesellschaft:
Regierungsrat v. D i t f u r t h, Kassel, Reginastraße 16,
Zolldirektor i. R. W o r i n g e r, Kassel, Kölnische Str. 84,
Direktor Dr. G r e v e, Kassel, Dörnbergstraße 3.
K u n st n o t i z. Tie Kasseler Ausstellung der Werke
des vor Jahresfrist verstorbenen Malers Friedrich F e n -
n e l, die im Vorjahr nach Gießen ging, wird durch Ver-
mittlung Professor Berningers im März ihren Weg
nach Mannheim, Karlsruhe, Stuttgart, Heidelberg, Heil-
bronn und Bruchsal nehmen und so hoffentlich auch in
Süddeutschland der Kunst dieses trefflichen Hessenmalers
viele Freunde gewinnen.
unterstrichen zu haben ist das unbestreitbare Verdienst
Bleibaums. Gerade hier hätten wir gern mehr erfahren.
Das härte aber ein weiteres Ausholen auf Nahls
frühere Schöpfungen für Friedrich den Großen in Charlot-
tenburg und Potsdam erfordert, und so sind wir hier aus
das mit Spannung erwartete Werk des Verfassers über
I. N, Nahls Lebenswerk angewiesen. Bleibaum räumt
u. a. auch mit der Legende von den zahlreichen, durch
Joröme beschafften Möbeln auf, die längst vor Jerome
zum größten Teil Erzeugnisse des' hochwertigen Kasseler
Kunsthandwerks sind. Große Veränderungen brachte
dann das Jahr 1822, als Wilhelm II. zahlreiche Wil-
helmshöher Schloßmöbel nach Wilhelmsthal bringen ließ,
wobei gleichzeitig viele Rokokomöbel untergingen. Auch
die kostbaren Tapeten, die allgemein als Rokokodekoration
galten, wurden erst damals geschaffen. Tie Entwicklung des
Gartens kann Bleibaum an der Hand von 5, bis auf
einen bisher unbekannten Plänen eingehend rekonstru-
ieren, wenn auch die Frage nach dem Schöpfer des
Rokokogartens noch ungelöst bleiben muß. Nachdem
unter Friedrich II. Schloß und Garten wirklich vollendet
waren, weicht 1795 durch Karl Hentze unter Leitung
von Schwartzkopf die architektonische Gestaltung des
holländisch-französisch beeinflußten Rokokoparkes dem
natürlichen Wachstum der englisch beeinflußten Roman-
tik. Der zweite Teil bringt auf nahezu hundert Folio-
1 eiten den Jnventarbestand, der Anhang u. a. eine über-
sichtliche Zusammenstellung der Rechnungsbelege und
damit zugleich eine Fülle wertvollen Materials zur
Geschichte des heimischen Kunsthandwerks. Zu bedauern
bleibt, daß das prächtige Werk trotz seinem relativ bil-
ligen, nur die Auslagen der Landesverwaltung deckenden
Preis bei den heutigen Verhältnissen manchem uner-
reichbar bleiben wird. Hbach.
Werner Meyer-Barkhause n. A l s f e l d. Mit
7 Plänen, 91 Abbildungen und 56 Seiten Text.
Marburg (N. G. Elwert) 1927. Preis 4 RM.
Es muß dem Elwert-Berlag in Marburg hoch ange-
rechnet werden, daß er sich durch die Ungunst der Zeiten
in seinen Verlagsplänen nicht beirren läßt. So konnte
soeben Werner Meyer-Barkhausen, dem wir die Mono-
graphie über die Elisabethkirche verdanken, eine neue
Schriftenreihe „Alte Städte in 5) e s s e n" mit
einem Alsfeldband eröffnen. Alsfeld ist um 1231 Stadt
geworden. Es gibt nicht allzuviele Städtchen, in denen
seit dem Mittelalter die Werke künstlerisch schaffender
Generationen zu einem so einheitlichen Gesamtkunst-
werk, dem Stadtbild, zusammenflössen, und in denen
die Kultur so stark die Handwerksleistungen durchdrang.
Erst nach dem 30jährigen Krieg wird aus der ansehn-
licheu Handelsstadt ein Land- unö Ackerstädtchen. Das
19. Jahrhundert bringt zwar einen wirtschaftlichen Wie-
deraufstieg, aber eine künstlerisch lvenig erfreuliche Ent-
Wicklung. Aber es lohnt sich in hohem Grade, dem
Werden dieser Stadt nachzuspüren. Im Abschnitt „Stra-
ßenaufbau" läßt der Verfasser erkennen, wie sehr er in das
Wesen dieses Stadtkörpers mit seinen wirkungsvollen
Straßenbildern und dem kraftvollen Renaissancegeist
atmenden Marktplatz eingedrungen ist. Eingehend werden
die Steinbauten der Stadt, als da sind die Kirchen,
Kapellen, Stadttürme, Weinhaus, Hochzeitshaus und
das Minnigerodehaus von 1687 als Höhepunkte im
alten Stadtbild gekennzeichnet; aber wie auch in den
übrigen hessischen Städtchen, sind auch hier die Holz-
bauten in der Überzahl. Sie werden durch vier Jahr-
hunderte hindurch nach ihren charakteristischen Typen
abgewandelt. Im Mittelpunkt steht das künstlerisch be-
deutsamste Bauwerk der Stadt, das Rathaus, als eine
glückliche Verbindung von spätgotischer Steinarchitektur
mit deni Holzbau. Einer eingehenden Behandlung der
hauptsächlichen Fachwerkbauten folgt ein Verzeichnis der
im einzelnen datierten und beschriebenen Fachwerkhäuser.
Zahlreiche Anmerkungen bieten auch dem Familien-
forscher willkommenes Material. Hoffentlich wird dieser
Band, von dessen reichem und schönem Bildmaterial wir
einige Proben bringen, bald weitere Nachfolger finden.
8.
Arbeit in Gottes Ernte. Festschrift zur Feier
des 40jährigen Bestehens des Evangelischen Vereins
für innere Mission zu Kassel. Mit Anhang: Evangel.
kirchliche Wohlfahrtsarbeit in Kassel. Mit 8 Bild-
nissen. Kassel (Fr. Lometsch) 1926. 71 Seiten.
Das 40jährigc Bestehen des Vereins für innere
Mission in Kassel gab Anlaß zu dieser inhaltreichen
kleinen Schrift, in der Pfarrer Lic. Francke einen ge-
schichtlichen Rückblick giebt, Kirchenrat I). Merzyn das
Wesen und Pfarrer Ed. Fritsch Stand, Wege und Ziele
der inneren Mission behandelt. So ergibt sich ein ab-
gerundetes Bild der Arbeit und Ziele. Von besonders
praktischem Wert ist im Anhang eine systematische Über-
sicht über den Bestand der evangelisch-kirchlichen Wohl-
fahrtsarbeit in Kassel. 8.
Wilhelm D e r s ch, Die Anfänge de r R e -
f o r m a t i o n in Hessen. Ein Vortrag zur Vier-
hundertjahrfeier der hessischen Reformation. (Son-
derabdruck aus den Oberhess. Blättern. Marburg
1926. Nr. 32—35.) 31 Seiten.
Der berufene Kenner der hessischen Kirchengeschichte,
Staatsarchivrat Or. Dersch-Marburg, weist in dieser
gründlichen Arbeit darauf hin, daß die Homberger
Synode vom Oktober 1526 nicht der Ausgangspunkt
der hessischen Reformation oder gar der Zeitpunkt
ihrer Einführung war, sondern das Ende der zaghaften
Vorbereitungen, denen endlich die Tat folgen mußte.
So behandelt Dersch zunächst die Vorgeschichte der Spurn*
berger Tagung, ehe er sich deren Auswirkungen zu-
wendet, untersucht die Anfänge des landesherrlichen
Kirchenregiments seit dem 14. Jahrhundert, behandelt
dann das Verhalten des jungen Philipp sowie der Be-
völkerung gegenüber der neuen religiösen Bewegung und
zeigt, wie die Hömberger Synode keineswegs den Grund
legte für die Einführung der Reformation, sondern die
theologische Grundlage schuf. Ausgangspunkt der nun
einsetzenden Reformationsarbeit ist Marburg, der Sitz
der neu zu gründenden Hochschule. 8.
Vereinsnachrichtm.
Hessischer Geschichtsverein. Am 19. Ja-
nuar sprach im Kasseler Verein Staatsarchiv rat
8r. G u t b i e r - Marburg über „h esst s ch e Musi-
kante n" und gab ein anschauliches Bild der Entwick-
H o m b e r g. 20.—22. Oktober 1526—1926. Kassel
(Friedr. Lometsch) 1927. 78 Seiten. Preis 2 RM,
in Leinen 3.50 RM.
Das mit 4 Aufnahmen geschmückte Bändchen enthalt
die von der Kirchenregierung der Evang. Landeskirche
zu Hessen-Kassel herausgegebenen Predigten und An-
sprachen bei der Reformationsfeier in Homberg im
Wortlaut und bildet eine würdige Erinnerung an jene
Tage. 8.
Karl Engelhards ausgewählte Werke.
Karl Engelhard, der Frühverblichene, war einer der
wenigen wirklichen Dichter Hessens und daneben auch
einer der wenigen, die über ihre engere Heimat hinaus
eine Gemeinde fanden. Schon deshalb ist es zu be-
grüßen, daß der Heimatschollenverlag (A. Bernecker)
Melsungen es unternahm, die zerstreuten und zum Teil
vergriffenen Werke des Dichters zu sammeln und mit
deni Nachlaß neu herauszugeben. Schon jetzt wollen
wir nachdrücklich darauf hinweisen, daß bis zum Er-
scheinen dieser Ausgabe noch Einzelbände ausgegeben
werden. Uns liegen bereits vor Engelhards fünfaktiges
packendes Schauspiel „D ö r n b e r g" (162 S., 1.50 RM),
das den Dörnbergschen Aufstand und die Befreiung
Kassels durch die Russen behandelt, ferner die drama-
tische Idylle in vier 'Auszügen „P e st a l o z z i s Liebe"
(96 Seiten, 1.50 RM), die gerade jetzt ebenso zeitgemäß
in einer Neuauflage erscheint wie „P e st a l o z z i s Lie-
be s f r r: h l i n g" (196 Seiten, 3 RM), der von Engel-
hard ausgewählte und mit einer feinsinnigen Einleitung
eingeführte Briefwechsel Pestalozzis mit seiner Braut.
Engelhards Lyrikband aus dem Nachlaß „Sonnen-
sohn" (2.50 RM) war schon 1924 erschienen. Wir
werden seinerzeit auf die Gesamtausgabe noch zurück-
kommen. Es muß Ehrensache jedes literarisch inter-
essierten Hessen sein, sich mit den Werken dieses kern-
deutschen und hochbegabten Hessendichters bekannt zu
machen. 8.
Die Erinnerungen an Beethoven. Gesam-
melt und herausgegeben von Friedrich K e r st. Zwei
Bände (XVI, 295 und 367 Seiten). In Leinen
15 RM, Halbleder 25 RM. Stuttgart (Julius
Hofsmann).
Das Jubiläumsjahr 1927 hat uns eine reiche Beet-
hovenliteratur geschenkt. Mit zum Wertvollsten gehören
die von Friedr. Kerst gesammelten Erinnerungen an
Beethoven, die jetzt, um 20 Bildnisse vermehrt, in
2. Auflage vorliegen. Sie stellen wohl das bedeutendste
Quellenwerk über den Meister dar, da nicht weniger
als 140 Freunde und Bekannte dieses gewaltigsten
deutschen Musikers in Briefen, Tagebüchern, Berichten
und Erzählungen ein lückenloses Bild seines Lebens
schassen und so das Werk zu einer wichtigen Ergänzung
jeder Beethovenbiographie machen. Die kritischen und
erklärenden Anmerkungen des Herausgebers ziehen die
letzten Forschungsergebnisse zu Rate, ein sorgfältiges
Personen- und Sachregister erleichtert die Benutzung.
Diese vornehm ausgestatteten Bände werden nicht nur
den Musikfreunden unentbehrlich sein, sondern bieten
dadurch, daß sie die Zeitgenossen zu Worte kommen
lassen, gleichzeitig ein eindringliches Kulturbild. 8.
lung des hessischen Berufsmusikerstandes im Verlauf der
Jahrhunderte. Gemeinsam blieb allen Gruppen der
Musikanten die vom Spielmann des 11.—13. Jahrhun-
derts geerbte gesellschaftliche Rechtlosigkeit. Eine be-
sondere Entwicklungsstufe beginnt mit dem Eintritt in
den Dienst der Fürsten. Unter Philipp dem Großmütigen
beginnt die erste Organisation des Hoforchesters, unter
Karl und Friedrich II. gewinnt in der Kasseler Kapelle
das Virtuosentum Eingang. Die Militärmusiker wurden
durch Landgraf Karl organisiert. Seit dem 13. Jahr-
hundert haben auch die kleineren hessischen Städte an-
sässige Musikanten, deren Führung meist der Türmer
hat. Zum Schluß ließ der Vortragende durch ein Orche-
ster alle Tänze aus dem Archiv der Treysaer Stadt-
musikanten vorführen. (Bericht Kass. Post 19. Jan.) —
Am 28. Januar sprach an einem vom Marburger
Verein veranstalteten Vortragsabend Kreisschulrat
D i t h m a r-Eschwege über „h essischen V o l k s w i tz
und hessischen V o l k s ch a r a k t e r". Redner
zeigte vor allem, wie die hessischen Ortseigentümlich-
kciten und dörflichen Sitten im Volkswitz zum Ausdruck
gelangen. Auch die Spitznamen zahlreicher Ortschaften
wurden behandelt. Ter unterhaltende Abend bot ein
interessantes Bild des hessischen Volkscharakters und
der Sitten und Gebräuche in Hessen. (Bericht: Oberhess.
Zeitg. 29. Jan.) — Am Unterhaltungsabend des Kas-
seler Vereins am 7. Februar sprach Or. Hallo über
die Kasseler B a u m e i st e r f a m i l i e Wolfs. Grün-
der des Kasseler Zweiges ist Johann Wolfs aus der
Schweiz, den Landgraf Karl als Seidenraupenzüchter
und Seidenbauer nach Kassel berief. Er starb um 1730.
Sem Sohn Johann war Steinmetz und später Stadt-
baumeister, er ist der Schöpfer des Tannenwäldchens.
Einer seiner vier Söhne, Johann, war gleichfalls Stadt-
baumeister und starb 1801. Dessen Bruder Heinrich
Abraham, der Gehilfe Jussows beim Wilhelmshöher
Schloßbau, war Hofwerkmeister. Der dritte Bruder
Johann Konrad leistete sein Wertvollstes in den Stück-
arbeiten des Kasseler und Wilhelmshöher Schlosses.
Der Sohn Heinrich Abrahams, der Akademieprofessor
Johann Heinrich, war der Schwiegersohn Louis Spohrs
und Vater des Dichters Louis Wolfs, der als letzter
der Familie 1922 starb. Ergänzungen zu diesen wert-
vollen Ausführungen gaben Bankherr Fiorino, Privat-
mann Wentzell und Zolldirektor Woringer. Volkswirt
Bruno Jacob zeigte und erläuterte den Lageplan
eines Militärlagers auf dem Hartfelde. (Bericht: Kass.
Post 9. Febr.)
Im G e l u h ä u s e r Geschichtsverein fand
am 7. Februar eine Versammlung statt. Rektor
K a u f m a n n sprach über das „I s e n b u r g i s ch e
Bataillon von 1806 — 1 8 14". Die drei
Denkmünzen mit Originalbändern wurden herum-
gereicht. Anschließend sprach er über „O f s e n b a ch
als M ü n z st ä t t e". Herr Eber Hardt zeigte
die von ihm für die Stadt, bzw. den Geschichts-
Verein von einem kürzlich hier gemachten Münzfund
angekauften Stücke, die zwar von geringem numisma-
tischen Wert, für die Ortsgeschichte doch von Bedeutung
sind. Es handelt sich um Stücke von Franz II., Karl
Theodor von Bayern und der Pfalz, sonne um Stücke
von Maria Theresia, im ganzen 17 Stück von 1765
bis 1809. Alte Schmuckstücke erregten lebhaftes Inter-
esse und regten zur lebhaften Besprechung an. Der
Artikel im „Hessenland" von Prof. Z i m m e r m a n n -
Hanau über den Ursprung des Ortsnamens Gelnhausen
wurde bekannt gegeben.
Biologische Vereinigung für Hessen
(M a r b u r g). Entsprechend dem Plan, ganz .Hessen
in das Arbeitsgebiet der „Biologischen Vereinigung für
Hessen" (beide Hessen, Nassau und Nachbargebiete) ein-
zubeziehen, haben wir mit dem Friedberger Vogellieb-
46
Haber- und Vogelschutzverein die Vereinbarung getroffen,
daß sich dieser Verein der B. V. f. £>. als „Ortsgruppe
Friedberg" anschließt. Dadurch haben wir neben einer
Ortsgruppe im Reg.-Bez. Kassel (Marburg) und einer
in Reg.-Bez. Wiesbaden (Biedenkopf) nun auch eine
solche im Freistaat Hessen, der hoffentlich weitere fol-
gen werden. Durch unsere Arbeit sollen ältere Vereine
nicht ausgeschaltet werden, im Gegenteil wollen wir
deren Wirken ergänzen, gegebenenfalls sie fördern und
anregen und gemeinsame Ergebnisse bearbeiten und der
Wissenschaft und dem Naturschutz dienstbar machen. Durch
die Veröffentlichung der „Vogelfauna von Hessen",
unsere phänologischen, z. T. im „Hessenland" erschie-
nenen Berichte, die „Vogelkundlichen Ferienkurse in
Hessen" und anderes ist dies bereits geschehen. Alle
diese Gebiete werden jetzt weiter ausgebaut. Um dafür
neue Mitarbeiter zu werben, veranstaltete die B. V. f. H.
am 19. Januar in der Marburger Oberrealschule einen
Lichtbildervortrag von W. S u n k e l über „Zugvögel
und Vogelzug", der sehr gut besucht war; unter den
Zuhörern waren die Schüler von Oberrealschule und
Realgymnasium besonders stark vertreten, und ihnen
dankte der Redner bei dieser Gelegenheit gern für die
eifrige und treue Hilfe, die sie ihm bei seinen vielen
Beobachtungsgängen und der oft recht mühevollen „Be-
ringung" von Vögeln in den letzten Jahren geleistet
hatten. Dabei wurden auch die bisher in Marburg und
überhaupt in Hessen mit der „Beringung" erzielten Er-
gebnisse der Vogelzug - Forschung erwähnt und durch
Kartenskizzen veranschaulicht. Die Zugvögel wurden z.
T. in farbigen Abbildungen, z. T. in photographischen
Naturaufnahmen gezeigt. Auch der Vogelschutz wurde
erwähnt und der geglückten Ansiedlung mehrerer Nachti-
gallen in Marburg gedacht, wobei die Stadt-Gartenver-
waltung großes Verständnis zeigte. Der Vortrag, be-
sonders das Lob der bisherigen jungen Mitarbeiter und
der Appell an die Marburger Jugend hatte den schönen
Erfolg, daß sich die jugendliche Mitarbeitergarde durch
neue eifrige Helfer in erfreulicher Weise verstärkte;
dies berechtigt zu der Hoffnung, daß die B. V. f. H.
die Ziele, die sie sich für 1927 gesteckt hat, erreicht.
Natürlich ist uns jede weitere Mitarbeit und sonstige
(auch materielle) Unterstützung sehr willkommen, um
unsere Arbeit durchzuführen. Werbezwecken und dem
Ziel, Naturverständnis und Naturschutz zu verbreiten,
sollen auch mehrere Vorträge dienen, die für Corbach,
Friedberg u. a. Orte geplant sind. Dasselbe gilt für
die vogelkundlichen Ferienkurse, deren nächster Ostern
1927 am Rhein, auf dem hessischen Vogeldorado „Küh-
kopf" bei Erfelden stattfinden soll; der Kurs ist vor allem
für die Jugend gedacht, doch kann jeder Naturfreund
sich melden; einfache, billige Lebensweise (Anmeldung
möglichst mit kurzem Lebenslauf bald an den Unter-
zeichneten zu empfehlen, da nur eine beschränkte Zahl
Teilnehmer zugelassen wird). Die Kosten (ohne Reise)
betragen täglich etwa 1.— bis 2.— RM. Zur Ergän-
zung des in der urwüchsigsten Natur Gesehenen ist ein
ein- bis zweitägiger Studienaufenthalt im Frankfurter
Zoologischen Garten vorgesehen, der uns in jeder Weise
unterstützt. — Ich wiederhole an dieser Stelle unsere
Bitte, uns für die geplante Ausstellung Bilder, Photo-
graphien, Modelle aus dem Gebiet der heimischen Natur
und Landschaft leihweise zu überlassen (besonders Natur-
denkmäler, charakteristische Landschaften, Darstellungen
zu dem Thema „Naturschutz und Unterricht"); vor allem
soll die hessische Jugend durch ihre Mitarbeit ein Zeug-
nis ablegen von ihrer Einstellung zur Natur und
Heimat. Jeder trage an seinem Teile dazu bei, daß
die Ausstellung, die auf dem Kasseler „Deutschen Natur-
schutztag" gezeigt werden soll, unserem Hessenlande Ehre
macht. Jede Auskunft über die B. V. f. H., die ver-
schiedenen Möglichkeiten, an ihren Zielen mitzuarbeiten,
Personalien.
Ernannt: zu Rektoren: in Herges-Vogtei Lehrer
Hilgenberg in Herrenbreitungen; in Kassel der
Rektor H ö d t, zu Konrektoren: Hauptlehrer Fischer
in Herges-Vogtei; die Lehrer Müller in Kirchhain;
in Rönshausen; Siebert in Lehnhausen; Stein
in Melsungen; zu Konrektorinnen: die Lehrerinnen
H e i n z e und Lindemann in Kassel; zu Haupt-
lehrern : die Lehrer Göing in Beckedorf; Mülle r
in Marburg in Wetter; Creß in Sand; Pfarrer
R u d l o f f aus Duisburg zum Pfarrer in Barchfeld;
Pfarrer extr. M e tz in Tann zum Pfarrer in Oet-
mannshausen ; Pfarrer F r a n ck e in Fritzlar zum Pfar-
rer in Hombressen; zu Justizoberfekretären die Aktuare:
Hans Rössing in Steinbach-Hallenberg; Stein-
hoff in Weyhers; U l m in Jesberg; Heinzerling
m Netra; F e r g e r in Windecken; S t i e tz in Bieber;
T r e tz in Nentershausen; Schmer in Schenklengs-
feld; Sem m l e r in Homberg; Reg.-Assessor Dr. K o l --
lath in Kassel zum Stellvertreter des Reg.-Präsidenten
im Bez.-Ausschuß, abgesehen vom Vorsitz; Prorek-
tor i. e. R. Waldeck in Kassel zum Polizeischulrat;
die Landgerichtsräte Paul B a ch m a n n und Franz
U h l e n d o r ff in Kassel zu Landgerichtsdirektoren; Stu-
dienrat Dr. Ernst Holl st e i n vom Realgymnasium I in
Kassel zum Oberstudienrat; Studienrat Dr. Heinz e aus
Frankenberg zum Studiendirektor an der Staatlichen
Eddertal-Schule; Studienrat Karl G a ß an der Ober-
realschule in Kassel zum Oberstudienrat und Fachbe-
rater; Amts- und Landgerichtsrat F. Wolfs zum
Landgerichtsrat und Amtsgerichtsrat in Hanau; Rechts-
anwalt Dr. Plaut in Kassel zum Notar; Justizsekretär
F r i ck e in Hanau zum Justizobersekretär in Langen-
selbold.
Befördert: die Steuerinspektoren Volland beim
Finanzamt Ost in Frankfurt a. M., W o e st e beim
Landesfinanzamt Finanzgericht und Wolfs beim Lan-
desfinanzamt Abt. 1 zu Obersteuerinspektoren; der
Steuersekretär G r a b o w beim Landesfinanzamt Ober-
fmanzkasse zum Obersteuersekretär.
Berufen: Professor Niemann als Lehrer an die
graphisch: Klasse der Staatlichen Kunstakademie zu Kassel.
Übertragen: Postinspektorstellen den Oberpostsekre-
tären F e u ß n e r und Siegel in Kassel; dem Forst-
sekretär der Oberförsterer Schönstein, S e i tz, die Forst-
sekretärstelle der Oberförsterei Jesberg; die Pfarrstelle
Morschen dem Pfarrer Brand in Rengshausen.
Verliehen: dem Reg.- und Landeskulturrat v. Moren -
hoffen in Kassel eine planmäßige Ob.-Reg.-Rat- und
Landeskulturratstelle; dem Landeskulturpraktikant Eng-
land in Treysa eine planmäßige Landeskulturober-
sekretärstelle.
Endgültig angestellt: Lehrer Haarberg und Leh-
rerin Wittmund in Kassel; die Lehrer Boden-
burg in Haindorf; .Hem p fing in Langenthal;
S ch i ck e l in Hauswurz; R e u ß in Wickersrode;
S ch reiber in Hanau.
Gewählt: die Lehrerinnen Knnold und Hüpe-
den zu Konrektorinnen.
Versetzt: der Oberregierungsrat Schlitze vom Lan-
desfinanzamt Berlin zum Landesfinanzamt Kassel und
mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Finanzgerichts-
direktors beauftragt; der Steuerinspektor Ar necke vom
ihre Veranstaltungen (Kurse, Vorträge) erteile ich stets
gern. Dr. Werner S u n t c t, Marburg (H.), Frank-
furter Straße 55.
Landesfinanzamt zum Finanzamt Hanau; der Zollin-
spektor Gernhöfer vom Landesfinanzamt Oberfinanz-
kasse zum Landesfinanzamt Oberfinanzkasse Münster in
Westfalen; der Oberzollsekretär Groß vom Landes-
finanzamt zum Hauptzollamt Oberlahnstein; der Ober-
zollsekretär Zimmer vom Hauptzollamt Oberlahnstein
zum Landesfinanzamt; Reg.-Landmesser Hentschel
von Frankenberg nach Eschwege; Landmesser M a l k -
m u s von Eschwege nach Frankenberg; Ob.-Reg.-Rat
Geh.-Reg.-R. Hausleutner zur Regierung Wiesba-
den; Reg.-R. T i nca n z er von der Regierung Stettin
zur Regrernng Kassel; Negierungsassessor Dr. v. Waldt-
hansen von der Regierung Düsseldorf zur Regierung
Kassel; Förster Bertram zu Wennenkamp nach Harde-
hausen; Justizinspektor Müller von Gladenbach nach
Hanau (Amtsgericht); Justizobersekretär Vogt von
Bischhausen nach Fulda; Seminarmusikoberlehrer Eickel
von Eschwege als Musikoberlehrer an das humanistische
Gymnasium in Duisburg; die Lehrer R e i m a n n von
Järischau nach Rückers; Wiukelbach von Lahrbach
nach Eschwege.
Entlassen auf Antrag: Rektor P a e s ch k e in Elgers-
hausen.
Entlassen: der Lehrer Gloria in Fechenheim.
In den einstweiligen Ruhestand versetzt: Regie-
rungspräsident in Kassel, Geheimer Oberregierungsrat
Stoelzel.
Vermählt: Pfarrer August Hafner und Frau,
Luise, geb. Hartwig (Iba, 16. 1.); Dr. moä. Fritz
K n a b und Frau, Trudel, geb. Woitaschek (Geisa, 6. 2.);
Dr. Walter E w o l d t und Frau, Hanni, geb. Wolfschlag
(Marburg-Kassel, 12. 2.); Kreisausschust-Oberinspektor
Wilhelm K e m p f und Frau, Gertrud, geb. Ludwig
(Marburg-Treysa, 12. 2.); Veterinärrat Dr. Karl G o l d-
m a ii n und Frau, Elisabeth, geb. Holling (Sögel-
Fulda, 17. 2.).
Geboren: ein Sohn: Dr. Demnitz und Frau,
Charlotte, geb. Obst (Santiago de Chile, Nov. 26);
Pfarrer Brand und Frau, Luzie, geb. Dewitz (Alt-
morschen, 7. 1.); Kaufmann Fritz S ch o p p a ch und
Frau, Martha, geb. Scheibe (Kassel-W., 11. 1.); Syndi-
kus Willy B r e h m uno Frau, Käte, geb. Lessau (Kas-
sel, 16. 1.); Dr. Gerhard Hab ich und Frau, Ilse, geb.
Breithaupt (Kassel, 20. 1.); Leiter der Volkshochschule
Dr. Hans Pflug und Frau, Luise, geb. Orlick (Kas-
sel, 26. 1.); Dr. mock. äont. Otto Rexhausen und
Frau, Margarete, geb. Degenhardt (Friedland, 28.1.);
Regierungsbaumeister G. Leutheußer und Frau,
Elisabeth, geb. Gonnermann (Eisenach, 1. 2.); Landes-
bankrat Dr. v. Meyer und Frau, Clara, geb. Witte
(Kassel, 9. 2.); Erich von Gehlen und Frau, Gretel,
geb. Hucke (Kiel, 9. 2.); Zahnarzt Dr. Schmidt und
Frau, Emmy, gab. Zickendraht (Witzenhausen, 11. 2.); —
eine Tochter: Landesinspektor Walter Holzhaus
und Frau, Paula, geb. Oliv (Kassel, 12. 1.); Lehrer
Heinrich B ä h r und Frau, Maria, geb. Jochen (Kleba,
17. l.); Farmer Alfred Rieventhal und Frau,
Adelheid, geb. Pavel (Centralia-Jllinois, 18. 1.); Georg
Evert Hab r'ch und Frau, Ada, geb. Decken (Vecker-
hagen, 20. 1.); Zahnarzt Dr. Georg L ö b e r und Frau,
Annemarie, geb. Marowsky (Kassel, 28. 1.); Dr. Fried-
rich U h l b o r n und Frau, Meta, geb. Triebet (Mar-
burg, 31. 1.); Zahnarzt Dr. Z i m m ermann und
17
Frau, Ae»ne, geb. Amelung (Grebenstein, 31. 1.);
Landrat Walther und Frau, Gerda, geb. Nicolai
(Gumbinnen, 12. 2.); Dr. Karl Scholl und Frau,
Elly, geb. Has (Kassel, 12. 2.); Dr. mock. Walter
Flotho und Frau, Martha, geb. Schäfer (Hofgeis-
mar, 13. 2.).
Gestorben: Ehefrau des Badehalters Charlotte G e r-
hardt (Kassel); Regierungsbauoberinspektor Tilcher
tn Marburg; Frau Luise L aß, geb. Ahlers (Halle a.S.);
Fräulein Minna Becke r, 82 I. alt (Duisburg, 4. 1.);
Lazarettoerwaltungsdirektor a. D. Philipp Pfeffer-
mann, 71 I. alt (Kassel, 4. 1.); Frau Dorothea
Mardorf, geb. Schilde (Marburg, 6. 1.); Rechnungs-
rat Hugo St ende, 69 I. alt (Kassel, 8. 1.); Justiz-
oberinspektor i. M. Wilhelm S u n k e l, 72 I. alt (Mühl-
hausen, 11. 1.); Bildhauermeister Heinrich Joseph
E u f i u g e r, 61 I. alt (Kirchhain); Schuhmacherober-
meister Theobald Schmand (Volkmarsen, 13. 1.);
Pfarrer t. R. Adolf Noll (Karlshafen, 14. 1.); Fabrik-
besitzer Arthur Hille, 52 I. alt (Emden, 15. 1.);
Hegemeister i. R. Paul Bruno Richard B u r i ch, 66. I.
alt (Ehrsten, 16. 1.); Witwe des Rechuungsrats Luise
Mackenrot h, geb. Schreiber, 75 I. alt (Kassel,
17. 1.); Förster a. D. Martin G o m b e r t, 92 I. alt
(Seigertshausen); Kreisausschuß-Obersekretär Adam
R a a b e, 48 I. alt (Hünfeld); Witwe des Lehrers Elisa-
beth Völker, geb. Ruppel, 80 I. alt (Hersfeld, 19.1.);
Landwirt und Mühlenbesitzer Emil L e d e r h o s e, 57 I.
alt (Kassel-W. 20. 1.); Fräulein Vally Freitag
(London, 21. 1.); Vorsteher des Hessischen Diakonissen-
hauses a. D. Pfarrer D. theol. Franz Sardemann,
77 I. alt (Kassel, 23. 1.); Bürgermeister Wilhelm
Bonn, 56 I. alt (Guxhagen, 23. 1.); Fräulein Emilie
M e n k, 73 I. alt (Kassel, 24. 1.); Witwe des Spczial-
kommissionssekretärs Marie Thal, geb. Grebe (Kas-
sel-W., 24. 1.); Witwe Minna L i e b e r k n e ch t, geb.
Meurer, 82 I. alt (Marburg, 24. 1.); Bürgermeister
Schmitt (Ehringen, 24. 1.); Studienrat Prof. Dr.
Arendt, 82 I. alt (Hanau); Reichsbahnoberrat Wil-
helm Koch (Kassel-B., 25. 1.); Eisenbahnbauinspektor
Reinhold Gebauhr, 50 I. alt (Kirchhain, 26. 1.);
Witwe des Hofwagcnfabrikanten Johanna N a e g e l e,
geb. Zülch, 77 I. alt (Hanau, 27. 1.); Schriftsetzer
Adam Hamburg, 70 I. alt (Kassel, 28. 1.); Ober-
lehrer a. D. Ed. Rud. Grebe, 83 I. alt (Kassel,
28. 1.); Kaufmann Hermann S ch l e e n st e i n, 71 I.
alt (Kassel); Frau Anna F a l ck, geb. Sonneborn (Mar-
burg, 28. 1.); Witwe des Lehrers Auguste Grebe,
geb. Gottbehüt, 75 I. alt (Kassel, 31. 1.); Frau Pfarrer
Marie I b e r, geb. Dörinckel, 71 I. alt (Kassel, 31. 1.);
Okonomierat Welle (Elleringhausen); Landesbüroin-
spektor a. D. Johann Georg Schäfer, 70 I. alt
(Kassel, 1. 2.); Steuerinspektor i. R. Adolf Fetz,
81 I. alt (Hanau, 1. 2.); Frau Auguste W e st p h a l,
geb. Schomburg, 78 I. alt (Kassel, 1. 2.); Förster i. R.
Peter G ö b e l, 83 I. alt (Hersfeld, 2. 2.); früherer
Badeaustaltbcsttzer Johannes Becke r, 81 I. alt (Bad
Homburg, 2. 2.); Hegemeister i. R. Karl F i e b i g
(Schwälmerhaus, 4. 2.); Geheimer Regierungs- und
Schulrat Theodor B o t t e r m a n n, 77 I. alt (Kassel,
4. 2.); Frau Ottilie Engelhardt, geb. Gehring,
86 I. alt (Wolfhagen, 6. 2.); Lehrer a. D. Augustin
Leche r, 86 I. alt (Niederklein, 7. 2.); Rentner Jo-
hann K i n d, 73 I. alt (Fulda, 8. 2.); Rentner Georg
Feh, 80 I. alt (Hersfeld, 8. 2.); Frau Marie Gae-
b e l, geb. Thimm (Marburg, 9. 2.); Witwe Minna
L o r e n tz, geb. Kramm, 80 I. alt (Kassel, 9. 2.); Kauf-
mann Heinrich S t ö h r, 72 I. alt (Kassel, 10. 2.);
Buchdrucker Karl Staubesand, 69 I. alt (Kassel,
11. 2.); Frau Minna Klee, geb. Nöll, 74 I. alt (Mar-
bach, 11. 2.); Verleger und Redakteur Hugo S ch e n ck,
73 I. alt (Hanau); Frau Franziska Mehlburger,
geb. Schulz, 73 I. alt (Kassel, 11. 2.); Frau Luise
K ö b e r i ch, geb. Dilcher (Kassel, 11. 2.); Justizrat
Hermann W e n n i n g, 54 I. alt (Kassel, 12. 2.); Rent-
ner Emil Schmitt, 81 I. alt (Geisa, 13. 2.); Pfar-
rer i. R. Hugo Knipping, 77 I. alt (Marburg,
14. 2.); Fräulein Helmine Stern, 80 I. alt (Kassel,
14. 2.); Lehrer i. R. Heinrich D e i ß, 77 I. alt (Kas-
sel, 14. 2.); Gewerbeoberschullehrerin Ella Stahl
(Kassel, 14. 2.); Gemeinderechner Ludwig Heger,
42 I. alt (Lehnerz, 15. 2.); Frau Emilie B r e i d i n g,
geb. Ritter, 81 I. alt (Kassel, 15. 2.); Bürgermeister
Wilhelm K ü n n e ck e, 79 I. alt (Großalmerode, 16.2.);
Fräulein Elise P e t e r, 80 I. alt (Niedermeiser, 16. 2.);
Pfarrer Edward Lautemann (Nordshaufen, 16. 2.);
Direktor Heinrich R e u ß, 59 I. alt (Harleshausen,
16. 2.) Oberpostsekretär i. R. Edmund Witter, 68 I. alt
Kassel, 16. 2.); Frau Lotte Scheel, geb. Hahn (Kas-
sel, 16. 2.); Frau Emilie Bergmann, geb. Linnen-
kohl, 77 I. alt (Kassel-B., 16. 2.); Apotheker Otto
Cornelius (Nentershausen, 17. 2.); Lehrer a. D.
Fridolin Dickert, 80 I. alt (Salmünster, 17. 2.);
Prof. Dr. K r u l l, 67 I. alt (Eschwege); Landwirt
Dr. Ernst Gebhardt, 65 I. alt (Wanfried); Hege-
meister a. T>. Friedr. P r e n z e 1, 79 I. alt (Hers-
feld, 17. 2.); Gerichtssekretär i. R. Ludwig Engel,
67 I. alt (Kassel, 18. 2.); Apotheker Albert Brand,
44 I. alt (Kassel-R., 18. 2.).
„Knierims Kaffee •
rote Tüte,
ist von ganz besondrer Güte
Zu haben in den
einschlägigen Geschäften des Bezirkes Kassel
Bernhardistrahe J/2 (um Wall)
Bezugsbedingungen für „Hessenland": Mitglieder der unter dem Jnnentitel aufgeführten Vereine bestellen
das „Hessenland" beim Verlag (Dr. K. Braun, Eschwege, Herrengasse 10) zum Vorzugspreis von R.-M. 1.75
vierteljährlich portofrei. Nichtmitglieder bestellen bei ihrer Buchhandlung oder direkt beim Verlag, bzw. beim nächsten
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Verlag: Dr. Karl Braun, Eschwege, Herrengasse 10.
Postscheckkonto: Frankfurt a. M. 82145, Johs. Braun, Eschwege.
Schriftleiter: Paul Heidelbach, Kastei. Druck: Friedr. Scheel, Kastei. Alle Rechte vorbehalten.
Manuskripte sind zu senden an Paul Heidelbach, Kassel, Hohenzollern st ratze 15.
Für unverlangte Einsendungen keine Verbindlichkeit. Rücksendung nur, wenn das Po st geld beiliegt.
48
Illustrierte Monatsblätter für Seimatsorschung, Kunst und Literatur
Schriftleiter Paul Heidelbach, Kassel. Unter Mitwirkung von Bezirkskonservator Baurat Dr.Holtmeyer, Kassel/
Direktor der Landesbibliothek Or. Hopf, Kassel,- Lyzeallehrer K e ller, Kassel,- Staatsarchivrat Ur. Kn et sch, Marburg,-
Oberbibliothekar Professor Or. Losch, Steglitz,- Schriftsteller Heinrich Ruppel, Homberg,- Professor vr. Schaefer,
Kommissar für Naturdenkmalpflege im Reg.-Bez. Kassel/ Geheimrat Unkversitätsprofessor vr. Schröder, Göttingen/
Universitätsprofessor vr. Schwanike, Marburg/ vr. Werner Sunkel, Marburg/ Professor vr. Vonderau, Fulda,-
Universitätsprofeffor Or. W e d e k i n d, Marburg.
——— 3m Einverständnis mit den Vereinen: ........
Verein für hessische Geschichte und Landeskunde,- Hessischer Gebirgsverein,- Knüllgebirgsverekn,- Allgemeiner Deutscher
Sprachverein, Kassel,- Verein für Naturkunde, Kassel,- Geologischer Verein, Marburg,- Biologische Vereinigung, Marburg/
Gesellschaft für Familienkunde in Kurhessen und Waldeck/ Hessischer Volksschullehrerveretn.
— ii in.... Bezugspreis vierteljährlich 2.— Mark >->
39. Jahrgang Heft 3 Kassel, März 1927
Aus der Geschichte einer Kasseler Andrücke/
Mit dem Anwachsen der Stadt Kassel hatte sich
begreiflicherweise das Bedürfnis für eine zweite
Gelegenheit zum Überschreiten der die Stadt in
einen größeren (Altstadt und Oberneustadt) und
einen kleineren Teil (Unterneustadt) zerlegenden!
Fulda ergeben. Besonders erforderte der Verkehr
mit den ans dem rechten Fuldaufer oberhalb der
Stadt liegenden Dörfern einen solchen zweiten Über-
gang. Die alte Brücke, deren Pfeiler bis vor kur-
zem noch als Eisbrecher über dem Wasserspiegel
der Fulda zu erblicken waren, war selbst schmal
und nur durch enge Gassen, die beiden Fuldagassen
und die Kettengasse1 2, zu erreichen. Von ihr aus
mußte man erst zum Leipziger Tor gehen, das etwa
an der Stelle der jetzigen Kurzen Straße lag; von
diesem aus führten dann Garten- und Feldwege
zu den benachbarten Dörfern. Ein Übergang über die
Fulda an der Stelle der jetzigen Drahtbrücke mußte
also den Weg zu den Dörfern erheblich abkürzen. So
lange Kassel Festung war, erschien eine solche
zweite Verbindung der beiden Fuldauser aus mili-
tärischen Gründen unzulässig. Nachdem aber am
15. Dezember 1767 Landgraf Friedrich II. den Be-
fehl zur Entfestigung Kassels gegeben hatte, mit
dessen Ausführung bereits am 21. desselben Mts.
begonnen wurde, fiel das Haupthindernis für einen
zweiten Fuldaübergang weg. Der Landgraf ließ
deshalb an der Stelle, an der sich jetzt die 1870
erbaute sog. Drahtbrücke befindet, eine Schiffbrücke
1 Soweit nicht andere Quellen angegeben sind, nach
den Akten der ehemaligen kurhessischen Oberzolldirektion,
betr. die Fuldafähre an der Karlsau bei Kassel.
2 Die drei Gassen führten früher den Namen obere,
mittlere, untere Fuldagasse.
Von Zolldirektor i. R. A. Woringer.
erbauen. In welchem Jahre dies geschehen ist,
läßt sich nicht mehr feststellen. Schminke in seinem
1767 erschienenen „Versuch einer Beschreibung der
Residenz- und Hauptstadt Cassel" erwähnt die Schiff-
brücke noch nicht, ebensowenig auch Engelhard in
seiner 1778 herausgegebenen „Erdbeschreibung der
Hessischen Lande Casselischen Antheiles". Dagegen
erscheint die Brücke auf dem Stadtplan von 1781.
Sie muß also wohl 1779 oder 1780 zum ersten
Male erbaut worden sein. Denn sie stand nicht
dauernd. 1792 und 1797 erwähnt Apell in seiner
„Beschreibung von Eassel und dessen Umgebungen",
daß sie nur im Sommer aufgeschlagen werde. Im
Winter Pflegen ja Schiffbrücken vielfach des Eis-
gangs und des Hochwassers wegen abgefahren zu
werden. 1803 war sie nicht mehr vorhanden? Man
hatte sie beseitigt, weil sie, wie ein Bericht des
Maires der Stadt Kassel, v. Canstein ^ vom 7. De-
zember 1810, Nr. 1374 ch besagt, unzweckmäßig
gewesen war. An ihrer Stelle wurde eine Überfahrt
eingerichtet, die nun um so mehr erforderlich war,
als mittlerweile am rechten Fuldauser vor der sog.
Maulbeerplantage Badeanstalten angelegt worden
waren. Das Fährrecht auf den hessischen Flüssen
war ein Regal, seine Ausübung stand daher der
Landesherrschaft zu, die sie verpachtete. Der erste
Pächter der neuen Fähre war der Schreiner An-
dreas Hartdegen. Ties Pachtverhältnis bestand aber
s Krieger in seinem 1803 erschienenen Buche: „Cassel
in historisch-topographischer Hinsicht" erwähnt sie nicht
mehr.
1 Wilhelm Friedrich Gustav von Canstein war 1806
kurhessischer Geheimer Kriegsrat und Kammerherr.
5 Archiv der Stadt Kassel.
49
nur kurze Zeit. Dann übernahm der Kriegsrat
Karl Wilhelm Lennep 6 die Fähre in Erbleihe oder
in Zeitpacht. Welches Pachtverhältnis vorgelegen
hat, war bereits 18107 nicht mehr festzustellen.
Ta viele Fähren in Hessen, namentlich ans der
Weser, in Erbleihe gegeben waren8 *, könnte dies
auch hier der Fall gewesen sein; dagegen spricht
aber, daß 1810, nach dem Tode Lenneps, keine
Erbleihe mehr vorlag. Lennep verpachtete die Fähre
weiter an den früheren Pächter Andreas Hartdegen.
Es scheint demnach, als ob Lennep seine dienstliche
Eigenschaft zu einer Schiebung benutzt habe, indem
er sich zwischen die Verpächterin (die Regierung)
und den bisherigen Fährpächter einschob. Außer
dem ihm durch den Zwischengewinn erwachsenden
Nutzen hatte Lennep noch ein weiteres Interesse
daran, die Führe in seine Hand zu bringen. Er
besaß nämlich selbst eine Badeanstalt am rechten
Fuldaufer, die „die schöne Einrichtung hatte, daß
nach Belieben sowohl kalt, als warm darin gebadet
werden" konnte? Lennep ließ auf seine Kosten am
Landeplatz der Fähre auf dem linken Fuldauser,
also in der Voraue, ein kleines Haus bauen 10 11, das
der Fährpächter bezog.
Im Jahre 1810 ließ sich, wie bereits erwähnt,
der Präsekt des Fulda-Departements, Reimannn,
über die Verhältnisse der Fähre durch den Maire
v. Canstein eingehenden Bericht erstatten; aus wel-
cher Veranlassung dies geschehen ist, ließ sich nicht
feststellen.
Der Weg zur Fähre führte über die kleine Fulda.
Über diese bestanden damals drei Brücken, die stei-
nerne Brücke an der Orangerie, die sog. Löwenbrücke,
die vom Schloß in die Voran führte, und eine
nur für Fußgänger bestimmte schmale Holzbrücke
zwischen beiden Brücken, an der Stelle, wo sich jetzt die
zur Drahtbrücke führende steinerne Brücke befindet; zn
6 K. W. Lennep, geb. 26. September 1757, wurde
1775 Assessor, dann Justizrat bei der Regierung in
Kassel, 1788 bei der in Rinteln, im November dess.
Jahres Kriegsrat und Geheimer Kriegs-Secretarius in
Kassel, 15. März 1803 Geheimer Kriegsrat daselbst. Er-
heiratete im Dezember 1792 Katharine Florentine Es-
kuche aus Hersfeld und starb 1805 oder 1806.
7 Nach dem oben erwähnten Berichte des Maires
v. Canstein.
8 1888 bestand bei zwei Weserfähren, wenn ich nicht
irre, zn Gieselwerder und Lippoldsberg, noch die Erb-
leihe, nach deren Bestimmungen beim Tode des Bestätters
und des Beständers ein Weinkauf bezahlt werden mußte.
In dem genannten Jahre mußten beim Tode der beiden
Könige von Preußen die Erbleihebeständer zweimal diesen
im Verhältnis zum Pachtbetrag nicht unerheblichen Wein-
kauf bezahlen.
b Krieger, Cassel in historisch-topographischer Hin-
sicht, S. 400.
10 Er soll dies ursprünglich für seinen Koch erbaut
haben. Holtmeyer, Baudenkmäler, Kassel-Stadt, S. 777.
11 Reimann war 1806 Rat bei der preußischen To-
mänenkammer in Minden, wurde 1812 Präfekt des Oker-
departements, nach Auflösung des Königreichs West-
falen preußischer Regierungspräsident in Aachen, dann
Mitglied des Staatsrats.
50
dieser führte ein Fußweg hinab, der oben von der
Maillebahn, die vom Friedrichstor (Auetor)12 zur
Orangerie hinabführte, abzweigte und den Abhang
hinunter unmittelbar zu dieser mittleren Brücke
führte. Für die Benutzung der Fähre kam beson-
ders diese mittlere Brücke in Betracht. Der Weg
über die Orangeriebrücke führte zu weit um. Die
Löwenbrücke aber war nur vom Schloß aus zn er-
reichen; als das Schloß 1811 abgebrannt war, ver-
fiel sie und >var bald unbenutzbar. Die Benutzer
der Fähre, unter denen sich viele Besucher der am
rechten Fuldaufer liegenden Badeanstalten befanden,
überschritten die kleine Fulda deshalb meist auf
der mittleren Fußgängerbrücke. Von dieser führte
ein Fußweg zur Fähre, der ungefähr dem jetzigen
Fahrweg vom Ende der von der Orangerie an der
kleinen Fulda entlang führenden Allee zur Draht-
brücke entsprach.
Der Fährpächter Andreas Hartdegen war um
das Jahr 1820 gestorben. Sein Sohn Heinrich
Hartdegen trat in das Pachtverhältnis ein. Er
wohnte, wie sein Vater, in dem von Lennep er-
bauten kleinen Hause an der Fähre13, in dem er
auch seiner Mutter Unterkunft gewährte. Er hatte
in seinem Fährbetriebe vielen Verdruß. Die am
rechten Ufer wohnenden Gärtner und sonstigen Per-
sonen waren vielfach im Besitz von Kähnen und
benutzten diese, um Freunde und Verwandte un-
entgeltlich, aber auch fremde Personen gegen Ent-
gelt überzusetzen. Auf Hartdegens Beschwerde erließ
deshalb die Kurfürstliche Polizeikommission am
7. August 1828 eine Bekanntmachung folgenden
Inhalts: „Sämtlichen am rechten Ufer der Fulda
wohnenden Gärtnern und Einwohnern wird bei
Strafe von 10 Kammergulden untersagt, gegen Be-
zahlung irgend jemand über die Fulda zu fahren".
Es drohte dem Fährpächter Hartdegen aber noch
eine andere Gefahr, nämlich die, daß man ihm
den Zugang zu seiner Fähre, der durch die Vorau
führte, absperrte. Im Jahre 1834 war der immer
nur aus einige Jahre abgeschlossene Pachtvertrag
zwischen der Regierung und Hartdegen wieder ein-
mal abgelaufen. Ehe der neue Vertrag abgeschlossen
wurde, wies das Ministerium des Innern (unter-
zeichnet vom Minister Hassenpflug selbst) am
18. Dezember 1834, Nr. 11 389, die Oberbaudirek-
tion an, unter einstweiliger Aussetzung der Ver-
pachtung anzuzeigen, ob der vom Friedrichstor (Au-
tor) nach der Fähre führende Weg früher und
bisher als ein öffentlicher Weg behandelt worden
sei, ob er unter die Luftwege um Kassel gehöre, die
1833 auf den Straßenunterhaltungsfonds übernom-
men worden seien und ob dieser Weg außerhalb
der vormaligen Befriedigung der Karlsau gelegen
sei. Ein älterer Plan der Karlsau und deren Be-
friedigung gegen den fraglichen Weg sollte beige-
fügt werden. Die Oberbaudirektion wußte selbst
nicht Bescheid. Sie forderte deshalb den Straßen-
12 An der Stelle des jetzigen Staatstheaters.
13 Adreßbuch von Kassel, 1828, S. 65.
Baumeister Rudolph44 zum Berichte auf. Vor der
Berichterstattung solle er Steuerkarte und Steuer-
bericht einsehen und bei seinem Berichte möglichst
bis zum siebenjährigen Krieg oder dem Übergang
der Karlsau in den Besitz des Kurhauses zurück-
gehen, auch angeben, zu welchen Zwecken in den
verschiedenen Epochen der Weg gedient habe, von
wem und wie er gebaut und unterhalten sei, ob
und weshalb er noch von öffentlichem Interesse
sei. SituationsPlan und Zeichnung seien beizu-
fügen. Nun kam Rudolph in Verlegenheit; er wußte
auch nicht Bescheid. Er wies deshalb den Bau-
kommissar Ehrhard 45 46 an, den Registrator Kop-
pen 10 und alte Männer in der Alteneustadt47 * 49 * zu be-
fragen ; die Quartierkominissare Volmar18 und
Landgrebe19 sollten angeben, wann und wie lange
die Schiffbrücke zu Zeiten Landgraf Friedrichs II.
bestanden habe und zu welchem Zwecke sie benutzt
worden sei. Den Bauaufseher Wenzel solle er be-
fragen, ob die Steineschlagd an der Au gewesen
fei.20 Leider sind die Berichte der einzelnen In-
stanzen nicht mehr in den Akten vorhanden. Die
Auskunft muß aber für Hartdegen günstig gewesen
sein; denn man nahm von der jedenfalls beabsich-
tigt gewesenen Absperrung des Weges Abstand und
die Oberbaudirektion schloß einen neuen Pachtvertrag
mit Hartdegen ab, allerdings erst am 10. August
1835. Man hatte also 8 Monate gebraucht, um
sich schlüssig zu machen! Der Vertrag lautete auf
die Dauer von 6 Jahren; der Pachtbetrag wurde
aus jährlich 60 Tlr. festgesetzt, welche Summe in
vierteljährlichen Teilzahlungen im voraus zu ent-
richten war. Tie Fähre sollte am rechten Fulda-
ufer verbleiben; Wohnung wurde dem Pächter nicht
gestellt. Das von Lennep erbaute Häuschen am
linken Ufer, in dem der Fährpächter früher gewohnt
hatte, war nämlich mittlerweile entfernt worden;
Hartdegen hatte ein Grundstück an einem von der
Maulbeerplantage abgehenden, senkrecht gegen den
44 Heinrich Rudolph war Straßenbaumeister für den
Kreis Kassel.
45 Wilhelm Ehrhard war einer der drei Baukom-
missare, die den drei Baumeistern für den Kreis Kassel
(dem Land-, dem Straßen- und dem Wasserbaumeister)
beigegeben waren.
46 Der Registrator Friedrich Nikolaus Koppen war
Karten-Repvsitar in der Karten-Repositur des Ober-
steuerkollegiums.
47 Früher vielfach übliche Bezeichnung der Unterneu-
stadt im Gegensatz zu der neueren Oberneustadt.
18 Quartierkommissar war die damalige Bezeichnung
der später Bezirksvorsteher genannten, ehrenamtlich als
Hilfsbeamte der Stadtverwaltung tätigen vier Bürger.
Im Volksmunde führten sie auch die Bezeichnung Vier-
telsburgemeister. Der Quartier-Kommissar und Ökonom
Engelbert Volmar war für das 5. Quartier der Altstadt
zuständig.
49 Bäckermeister Heinrich Landgrebe, in der Waisen-
hansstraße Ivohnhaft, war für die Unterneustadt zuständig.
Da er einen Zuchteber (den bore) hielt, so nannte man
ihn den Berenburgemeister. Sein Bildnis hängt in
der „Bayerischen Bierhalle".
20 Das war nicht der Fall.
Fuldafluß verlaufenden schmalen Gartenwege ge-
kauft, so daß ihm die Anlegestelle auf dem rechten
Ufer bequem war. Vielleicht war aber auch von der
Regierung aus die Verlegung betrieben worden.
Nach den weiteren Bedingungen des Vertrags hatte
Pächter das dem Staate gehörige Schiff und die
zugehörigen Gerätschaften zu unterhalten und bei
Ablauf des Pachtverhältnisses in gutem Zustande,
aber ohne Anspruch aus eine Entschädigung, zurück-
zuliefern. Gerieten Schiss oder Gerätschaften durch
Hochwasser, Diebstahl und dergl. in Verlust, so
hatte der Fährpächter den Schaden zu tragen. Nachts
sollte das Schiss befestigt liegen. Überfahren bei
Nacht war verboten, dagegen war der Fährpächter
verpflichtet daraus zu achten, daß nächtlicherweile
keine Schiffe mit Mehl, Backwaren usw. auf der
Fulda zur Stadt kämen, um die Abgaben24 zu
hinterziehen. Den Überfahrenden gegenüber sollte
der Fährpächter Bescheidenheit zeigen und nicht
mehr als 4 Heller22 für die einzelne Person als
Fährgeld erheben. Da der Vertragsabschluß um
fast 3k Jahr verzögert worden war, waren drei
vierteljährliche Teilzahlungen unberichtigt geblieben.
Nunmehr mußte Hartdegen die rückständigen 45 Ta-
ler auf einmal und sofort entrichten. Berücksichtigt
man, daß Hartdegen 4050 Personen übersetzen mußte,
um diesen Betrag auszubringen, so darf man an-
nehmen, daß ihm diese sofortige Zahlung der nicht
durch seine Schuld, sondern durch die Verschleppung
der Sache seitens der Regierung so hoch angewach-
sene Summe recht schwer geworden ist, zumal ihm
nach wie vor Unberechtigte seinen Fährbetrieb be-
einträchtigten. Alle Versuche Hartdegens, dies zu
verhindern, schlugen fehl. Im Jahre 1836 zeigte
er der Oberbaudirektion an, der Holzhändler A.
Koch setze gegen Bezahlung Leute über die Fulda.
Tie Oberbaudirektion setzte die Residenz-Polizei-
Kommission davon in Kenntnis, die aber am
22. Juni 1836 antwortete, Koch stelle die Beschul-
digung gänzlich in Abrede. Hartdegen möge be-
stimmte einzelne Fälle, in denen Koch sich vergan-
gen habe, anzeigen. Das Polizei-Unterpersonal sei
übrigens auf die Beachtung der oben erwähnten
Bekanntmachung vom 7. August 1828 hingewiesen
worden.
Am 1. Januar 1841 lief der Pachtvertrag wieder
ab. Aber weder Hartdegen noch die zuständige
Dienststelle kümmerte sich darum, diese angeblich
deshalb nicht, weil gerade ein Wechsel in der Person
des Landbaumeisters eingetreten war. Erst nach
einem halben Jahre, am 2. Juli 1841, bat Hart-
degen die.Hauptstaatskasse um Erneuerung des Pacht-
vertrages. Nachdem durch Bericht des Landbau-
meisters Matthei23 festgestellt war, daß gegen die
Führung und den Dienstbetrieb Hartdegens nichts
24 Den sog. Brotheller.
22 12 Heller — 1 Silbergroschen; 30 Silbergroschen
—: 1 Taler — 3 Reichsmark.
28 Johann Friedrich Matthei !var Land-, Straßen-
und Wasserbaumeister für den Bandistrikt Kassel rechts
der Fulda.
51
einzuwenden, auch die Pacht stets richtig bezahlt
worden sei, genehmigte endlich am 20. Juli 1841
das Finanzministerium die weitere Verpachtung an
Hartdegen, aber nur auf 3 Jahre. Damit war
die Sache aber noch lange nicht erledigt. Erst am
4. September 1841 wurde Matthei angewiesen, den
nun endlich fertiggestellten Vertrag dem Hartdegen
auszuhändigen. Also wieder eine Verschleppung von
über 8 Monaten!
Es war noch nicht Jahresfrist verstrichen, da
mischte sich plötzlich und ohne Angabe eines Grun-
des der Kurprinz und Mitregent persönlich in die
Fährangelegenheit. An: 29. August 1842 erging ein
höchstes Reskript an das Finanzministerium, in dem
dieses angewiesen wurde, den Pachtvertrag mit Hart-
degen einzuziehen und dem Kurprinzen vorzulegen.
Das ging nun sehr schnell. Schon nach 3 Tagen
gab das Finanzministerium den Vertrag an den
Kurprinzen, um nach wenigen Tagen die Weisung
zu erhalten, es solle Anzeige erstatten, sobald die
Fähre neuverpachtet werden müsse.
In der Zwischenzeit hatte .Hartdegen weiter unter
unberechtigten Eingriffen in sein Fährrecht zu leiden.
Am 6. Juni 1843 zeigte er der Kurfürstlichen
Residenz-Polizei-Kommission an, daß der Haus-
bursch Eckhard des vor dem Leipziger Tor wohn-
haften Badehalters Rathmann unbefugt mehrere
Personen über die Fulda übergesetzt habe. In der
Verhandlung vor dieser Kommission 24 gab der An-
geklagte zu, das; er am 4. Juni 1843 mehrere Per-
sonen übergesetzt habe; die Zeugen, Polizeisergeant
Wiegand, Papierhändler Stief und Knecht Rudolph,
bestätigten dies. Trotzdem wurde der Angeklagte
„wegen mangelnden Strafverbots" freigesprochen,
weil das obenerwähnte Strafverbot, das die jetzt
erkennende Polizei-Kommission selbst erlassen hatte,
nicht in gesetzlicher Form erlassen sei. Es sei näm-
lich nicht allgemein, sondern nur einzelnen Per-
24 Die Kommission bestand aus 13 Mitgliedern, von
denen aber in diesem Falle nur drei, nämlich die Land-
gerichtsassessoren Christian Nippoldt, Ludwig Mertz und
Louis von Colson urteilten.
sonen bekannt gemacht und nicht durch das Wochen-
blatt 25 veröffentlicht worden. Nun bat Hartdegen
ain 14. Juni 1843 bei der Hauptstaatskasse um
Schutz in seinen Fährrechten. Es geschähen be-
ständig Eingriffe in seine Rechte durch Übersetzen
von Passanten durch unberechtigte Personen. Zeige
er diese an, so erklärten die Übergesetzten, sie hätten
dem Angeschuldigten das Fährgeld geschenkt oder
er habe nichts gefordert. Trotzdem beides keine
stichhaltigen Gründe seien, werde er dann mit der
Klage abgewiesen; selbst wenn er seine Klage durch
Zeugen beweise, erhalte er kein Recht, wie der
vorangesührte Fall beweise. Deshalb und „wegen
des traurigen Sommers" bitte er auch um Erlaß
des Pachtgeldes für das 1. Halbjahr 1843, mit dem
er noch rückständig war. Auf Befragen sprach sich der
Landbaumeister Matthei gegen den Erlaß des Pacht-
geldes aus; eine geringere Frequenz der Fähre
infolge des schlechten Wetters im Sommer 1843
sei nicht festzustellen gewesen. Wünschenswert sei
allerdings, daß den Schiffseigentümern das Über-
setzen von Passanten, soweit sie nicht die Badean-
stalten besuchten, bei einer nachdrücklichen Strafe
streng untersagt werde. Woher Matthei ein Recht
der Schiffseigentümer, die Besucher der Badean-
stalten übersetzen zu dürfen, herleiten will, gibt er
nicht an. Ein solches Recht bestand eben so wenig
als für Passanten. Infolge dieses Berichts wandte
sich nun die Hauptstaatskasse an die Polizeikommis-
sion. Hartdegen wollte wegen der steten Störung
in seinem Betriebe nur noch jährlich 20 Taler Pacht
bezahlen. Das Urteil der Kommission in der Eck-
hardschen Sache müsse befremden. Es scheine, als
ob das freisprechende Urteil darauf gegründet sei,
daß der Beweis gefehlt habe. Eckhard habe aber
doch gegen Bezahlung, „d. h. gegen Berichtigung
der von ihm gestellten Forderung" übergefahren.
Wenn die Freisprechung nicht wegen mangelnden
Beweises erfolgt sei, bitte man um ein Erlaß
eines Verbots, gegen Entgelt überzufahren.
25 Das „Wochenblatt für die Provinz Niederhessen"
entsprach etwa den jetzigen Kreisblättern.
(Schluß folgt.)
Eduard Douwes Dekker (MuÜatuli) in Kassel.
Von Prof. Dr. M. I. van der Meer, Direktor des Holland-Instituts an der Universität Frankfurt a. M.
(Schluß.)
Wir haben aber dafür auch einen positiven Be-
weis. Aus S. 67 Bd. 3 der ndl. Ausgabe der Briese
schreibt er seiner Frau (8. Oktober 1859): Schicke
mir das Gedicht „Mein Kind, da schlägt die neunte
Stunde, hör!" von der .Hand eines dieser Mädchen,
nicht von meiner Hand, weil darin Fehler sind,
die die Mädchen korrigiert haben.
Das Gedicht lautet: (Max Havelaar, S. 171.
Spohr S. 226)
Mein Kind, da schlägt die neunte Stunde, hör!
Der Nachtwind säuselt, und die Luft wird kühl,
Zu kühl für dich vielleicht; dein Stirnchen glüht!
Du hast den ganzen Tag so wild gespielt,
Und bist wohl müde, komm, dein Tikar * harret.
Ach, Mutter, laß mich noch 'neu Augenblick!
Es ist so sanft zu ruhen hier . . . und dort,
Da drin auf meiner Matte, schlaf ich gleich,
Kann ich doch gleich dir sagen, was ich träume,
Und fragen was mein Traum bedeutet . . . hör.
Was war das?
's war ein Klapper **, der da fiel,
Tut das dem Klapper weh?
Ich glaube nicht,
Man sagt, die Frucht, der Stein, hat kein Gefühl.
* Schlafmatte. — ** Kokosnuß.
Doch eine Blume fühlt die auch nicht?
Nein,
Man sagt, sie fühle nicht.
Warum denn, Mutter,
Als gestern ieh die Pukul ampat * brach,
Hast du gesagt: es tut der Blume >veh.
Mein Kind, die Pukul ampat war so schön,
Du zogst die zarten Blättchen roh entzwei,
Das tat mir für die arme Blume leid.
Wenn gleich die Blume selbst es nicht gefühlt.
Ich fühlt' es für die Blume, weil sie schön war.
Doch, Mutter, bist du auch schön?
Nein, mein Kind.
Ich glaube nicht.
Allein du hast Gefühl?
Ja, Menschen haben's . . . doch nicht alle gleich.
Uni) kann dir etwas weh tun? Tut dir's weh,
Wenn dir im Schoß so schwer mein Köpfchen ruht?
Nein, das tut mir nicht weh!
Und, Mutter, ich . . .
Hab' ich Gefühl?
Gewiß! Erinn're dich,
Wie du, gestrauchelt einst, an einem Stein
Tein Händchen hast verwundet und geweint.
Auch weintest du, als Suadien ** dir erzählte,
Daß auf den Hügeln dort ein Schäslein tief
In eine Schlucht hinunter siel und starb.
Ta hast du lang geweint . . . das war Gefühl.
Doch. Mutter, ist Gefühl denn Schmerz?
Ja, oft!
Doch . . . immer nicht, bisweilen nicht! Tu weißt,
Wenn's Schwesterlein dir in die Haare greift,
Und krähend dir's Gesichtchen nahe drückt,
Tann lachst du freudig, das ist auch Gefühl.
Uno Sann mein Schwesterlein ... es weint so oft.
Ist das von Schmerz? Hat sie denn auch Gefühl?
Vielleicht, mein Kind, wir wissen's aber nicht,
Weil sie, so Nein, es noch nicht sagen kann.
Doch, Mutter, was war das?
Ein Hirsch,
Ter sich verspätet im Gebüsch und jetzt
Mit Eile heimwärts kehrt und Ruhe sucht
Bei andren Hirschen, die ihm lieb sind.
Mutter,
.Hat solch ein Hirsch ein Schwesterlein wie ich?
Und eine Mutter auch?
Ich weiß es nicht, Kind.
Tas würde traurig sein, wenn's nicht so wäre!
Doch, Mutter, seh, ... was schimmert dort im Strauch?
Seh', wie es hüpft und tanzt . . . ist das ein Funk?
's ist eine Feuerfliege.
Tarf ich's fangen?
Tu darfst es, doch das Flieglein ist so zart,
Du wirst gewiß ihm weh tun, und sobald
Tu's mit den Fingern allzu roh berührst,
Jst's Tierchen krank und stirbt und glänzt nicht mehr.
* Eigentlich „vier Uhr", der Name einer Blume, die
sich erst nachmittags um 4 Uhr öffnet.
** Malaiischer Personenname, Name eines Dieners.
Das wäre schade! Nein, ich fang' es nicht!
Seh', da verschwindt es... nein, es kommt hierher. ..
Ich fang' es doch nicht! Wieder fliegt es fort,
Und freut sich, daß ich's nicht gefangen habe.
Ta fliegt es . . . hoch! Hoch, oben . . . was ist das,
Sind das auch Feuerflieglein dort?
Tas sind
Tie Sterne.
Ein und zehn, und tausend!
Wieviel sind denn wohl da?
Ich weiß es nicht.
Der Sterne Zahl hat niemand noch gezählt.
Sag', Mutter, zählt auch Er die Sterne nicht?
Nein, liebes Kind, auch E r nicht.
Ist das weit,
Tort oben, Ivo die Sterne sind?
Sehr weit!
Toch haben diese Sterne auch Gefühl?
Und würden sie, wenn ich sie mit der Hand
Berührte, gleich erkranken und den Glanz
Verlieren, ivie das Flieglein? — Seh, noch schwebt
ses! —
Sag', würd' es auch den Sternen weh tun?
Nein,
Weh tut's den Sternen nicht! Doch 's ist zu iveit
Für deine kleine Hand: du reichst so hoch nicht.
Kann Er die Sterne fangen mit der Hand?
Auch E r nicht: das kann niemand.
Das ist schade!
Ich gab' so gern dir einen! Wenn ich groß bin,
Tann Ivill i ch 1 o d i ch lieben, da ß i ch's k a n n.
Tas Kind schlief ein und träumte von Gefühl,
Von Sternen, die es faßte mit der Hand . . .
Tie Mutter schlief noch lange nicht! Doch träumte
Auch sie, und dacht' an den, der fern war . . .
Schon damals scheint der ganze Plan des Max
Havelaar in seinem Geist fertig gewesen oder imter
Ottiliens Einfluß fertig geworden zu sein. Aus
ihrem später zu zitierenden Brief ergibt sich, dass
er ihr viel daraus mitgeteilt hat, „alles komme ihr
so bekannt vor". Sie lernt Malaiisch von ihm,
und wir müssen annehmen, daß sie, sprachbegabt
wie sie war, schnelle Fortschritte gemacht hat, denn
für sie dichtet er das malaiische Gedicht, das Saidjah.
singt, als er unter dem Ketapan Adinda erwartet,
und das in ndl. Übersetzung später in den Max
Havelaar ausgenommen wurde. (S. 245). Laut
Einleitung zu „Brieven" Bd. 3 S. 8 ist das
Gedicht noch handschriftlich im Besitz der Herans-
geberin, die sich noch nicht dazu hat entschließen
können, es zu veröffentlichen. In Note 445, hinter
dem Max Havelaar, zitiert Multatuli den Beginn-
vers, der im Hd. lautet: (Spohr, Multatuli Aus-
wahl S. 464) „Sieh, wie der Badjing Atzung
sucht" liatlah badjing tjari penghidupan20, was
wörtlich heißt: „siehe doch das Eichhörnchen suchen
Lebensbedürfnis". Das Lied heißt in der Spohrschen
Übersetzung:
20 penghidupan ist das Verbalsubstantiv zu (h)idup
„leben".
53
„Sieh, wie der Badjing * Atzung sucht
Auf dem Klappabaum. Er steigt auf und ab, hopst links
fund rechts,
Er kreist um den Baum, springt, fällt, klimmt und fällt
fwieder:
Er hat keine Flügel und ist doch hurtig nne ein Vogel.
Viel Glück, mein Badjing, ich wünsch' dir Heil!
Sicher wirst du finden die Atzung, die du suchst . . .
Doch i ch sitze allein bei dem Djatibusch,
Wartend auf Atzung für mein Herz.
Lang' schon ist der kleine Bauch meines Badjing ge-
fsättigt . . .
Lang' schon ist er zurückgekehrt in sein Nestchen . . .
Toch immerdar ist meine Seele
Und mein Herz bitter betrübt . . . A d i u d a!"
„Sieh, inte der Falter dort rundflattert.
Seine Schwingen prangen tvie eine vielfarbige Blume.
Sein Herz ist verliebt in die Kenarieblüte;
Gewiß sucht er sein wohlriechendes Liebchen.
Biel Glück, mein Falter, ich wünsch' dir Heil;
Sicher wirst du finden, was du suchst . . .
Toch ich sitze allein bei dem Djatibusch,
Wartend auf die, die mein Herz lieb hat.
Lang' schon hat der Falter geküßt
Die Kenarieblumc, die er so lieb hat . . .
Doch immerdar noch ist meine Seele
Und mein Herz bitter betrübt . . . A d i n d a!"
„Sieh, inte die Sonne leuchtet dort in der Höhe,
Hoch über dem Waringi-Hügel.
Sie fühlt sich zu warm und wünscht niederzusteigen,
Daß sie schlafe in der See, wie im Arm eines Gatten.
Biel'Glück, o Sonne, ich wünsch' dir Heil!
Was du suchst, wirst sicher du finden . . .
Toch ich sitze allein bei dem Djatibusch,
Wartend auf Ruh' für mein Herz.
Lang' schon tvird die Sonne untergegangen sein
Und schlafen in der See, wenn alles dunkel ist . . . H
Und immerdar noch wird meine Seele
Und mein Herz bitter betrübt sein . . . A d i n d a!"
„Wenn nicht länger Falter werden rundflattern,
Wenn nicht die Sterne mehr werden glänzen,
Wenn die Melatti nicht mehr wohlriechend sein tvird,
Wenn da nicht länger Herzen betrübt sind,
Nicht mehr sein wird wildes Getier in dem Wald . . .
Wenn die Sonne verkehrt wird laufen,
Und der Mond vergessen, wo Ost und West ist . . .
Wenn dann Adinda noch nicht gekommen ist,
Tann wird ein Engel mit blinkenden Flügeln
Niederkommen zur Erde, daß er suche, tvas da allein
[blieb.
Tann wird mein Leichnam hier liegen unter dem Ketapan
Meine Seele ist bitter betrübt . . . Adinda!"
„Tann wird mein Leichnam von dem Engel gesehen
fwerden.
Er wird ihn seinen Brüdern mit den Fingern weisen:
„Sehet, dort ist ein gestorb'ner Mensch vergessen,
Sein erstarrter Mund küßt eine Melattiblume.
Kommt, daß tvir ihn aufnehmen und gen Himmel tragen.
Ihn, der Adindas harrte, bis er tot war.
Fürwahr, er darf nicht allein dahier bleiben,
Dessen Herz die Kraft hatte, so zu lieben!"
* Eichhörnchen.
Dann soll noch einmal mein erstarrter Mund sich öffnen,
Um Adinda zu rufen, die mein Herz lieb hat . . .
Noch einmal will ich die Melatti küssen,
Die s i e mir gab . . . Adinda. . . Adinda!"
Das; bei einem derartigen Verkehr Tekkers leicht
entflammbares Gemüt bald lichterloh brannte, ist
leicht zu verstehen, aber auch Ottiliens Herz blieb
nicht unberührt. Wir erfahren, daß sie sich ernst-
haft mit dem Gedanken trug, ihre Verlobung aufzu-
lösen, wir wissen auch, daß ihre Schwestern die
große Gefahr ihres Umgangs mit Dekker allmählich
erkannten; wir erfahren aus Ottiliens Brief (Brie-
den Bd. 5, S. 22), daß sie Dekker Schmerz hat
bereiten müssen, wofür sie ihn noch drei Jahre
später um Verzeihung bittet. Wahrscheinlich hat
eine Aussprache zwischen beiden stattgefunden, in
der sie ihn über ihr Verhältnis zu Katzenstein auf-
klärt. Das ergibt sich wohl aus der Erklärung,
die Dekker dem Brief, den er für seine Frau ab-
schreibt, beifügte: „Auch die Furcht, daß ich böse
bin, weil sie mir Verdruß bereitet hat. Das war
dieser Roman mit dem Maler."
Dekker hatte einige Monate in Kassel verbracht.
Seine Barschaft ging zur Neige. Er hatte den
Hotelbesitzer nicht regelmäßig bezahlt und auch Be-
kannte angepumpt.21 Er sah sich deshalb mit Hinter-
lassung von Schulden genötigt, Kassel zu verlassen.
Er nahm Abschied von Ottilie. Wie schwer ihr
dieser Abschied wurde, ergibt sich aus dem oben
schon erwähnten Brief. Sie bewahrt ein Vergiß-
meinnicht, ein zerbrochenes tlhrglas und ein Taschen-
tuch, das er am Abend des Abschieds zurückließ,
als heiliges Andenken. Obgleich sie weiß, daß sie
vernünftig gehandelt, indem sie ihrem Verlobten
treu bleibt, ihr Herz hängt noch immer an Dekker.
Er schämte sich aber, daß er auf eine so unwürdige
Weise Kassel verlassen hat, und ließ nichts mehr!
von sich hören. Diese Scham ist um so erklärlicher,
als er in Kassel in den besten Kreisen verkehrt
hatte und sonst die schönsten Erinnerungen an die
landschaftlich so schöne Stadt und Umgebung be-
wahrte. So spricht er in den „Millionenstudien"
(Spohr, Übersetzung, Minden 1903. S. 94) von der
Kasseler Au, der lieblich poetischen Au. Wie sehr
ihn die Tatsache, daß er in Kassel Schulden hinter-
lassen hat, quälte, ergibt sich daraus, daß er in
seinen Briefen stets daraus zurückkommt22 und stets
wieder überlegt, wie er die Schulden bezahlen soll.
Die Herausgeberin teilt Bd. 3 S. 65 mit, daß
Dekker noch Jahre danach, sogar bis an sein Lebens-
ende, es bedauert hat, daß er die Hotelschuld und
besonders die Freürtdschaftsschnlden in Kassel nicht
hat begleichen können. Der Hotelbesitzer Schambeck
ließ ihn auch nicht in Ruhe, schrieb sogar an seinen
Bruder. 23 Er fand wieder in der kleinen Wirtschaft
in Brüssel Unterkunft und schrieb dort unter aller-
hand Not und Entbehrungen den „Max' Havelaar".
21 Brieven Bd. 3 S. 65.
22 Brieven Bd. 3 S. 65, 66, 67, 94.
23 Brieven Bd. 3 S. 65, Bd. 5 S. 22, 24.
54
Ottilie dachte aber noch immer an ihn, und das
Gefühl, daß ihr Herz eigentlich nicht frei, mag der
Grund gewesen sein, umrttm sie sich erst int Jahre
1863 mit Katzenstein verheiratete.
Da erscheint im Jahre 1860 der „.Havelaar",
sie hört ans irgend welche Weise davon, man weiß
nicht wie, es gelingt ihr, eines Exemplares habhaft
zil werden, und sie fängt mit ihrer Freundin Fräu-
lein Dellevie an, das Werk zu lesen. Die Sprache
scheint ihr nicht so viel Mühe zu machen, sie hat
eingehend fremde Sprachen studiert; vieles kann
sie erraten, weil in Kassel der Entwurf des Buches
schon konzipiert
war und Dekker
ihr davon sehr viel
mitgeteilt halte,
und obendrein, sie
liest nicht nur mit
dem Kopf, sondern
auch mit dem Her-
zen. Daß sic dabei
nicht oberflächlich
verfahren ist, wird
dadurch wahr-
scheinlich, daß sie
mit großer Sorg-
falt die ersten 35
Seiten der „Lie-
besbriefe" gelesen
hat. Sie befürchtet
aber, daß Dekker
gestorben sei und
daß nicht er selbst,
sondern ein ande-
rer das Werk aus
seinem Nachlaß
veröffentlicht habe.
Sie kann es nicht
länger aushalten,
sie fragt den Ver-
leger de Ruyter
nach Dekkers
Adresse und hört
zu ihrer großen
Freude, daß er
noch am Leben ist.
Trotzdem sie weiß,
daß ihre Schwe-
stern und ihr Ver-
lobter es ungern sehen, schreibt sie den unten zi-
tierten Brief, der so bezeichnend ist für ihre Persön-
lichkeit und für den tiefen Eindruck, den Dekker auf
sie gemacht hat. Ter Brief lautet (Brieven Bd. 5,
S. 22):
„Theurer Freund, Sie leben! O, wie unaus-
sprechlich glücklich hat mich diese Gewißheit gemacht.
Ich habe ihr Buch gelesen! Durch Herrn de Pupter,
an den ich mich brieflich wendete, habe ich Ihre
Adresse erfahren, denn immer noch fürchtete ich,
Sie seien gestorben und ein anderer habe Ihre
Papiere veröffentlicht. Ich habe alles verstanden.
Alles feint mir so bekannt vor, — alles, alles! Wie
vieles habe ich aus ihrem Munde gehört. Ach mein
theurer Freund, mein Bruder! Ob es unrecht ist,
daß ich Ihnen heute schreibe, ich weiß es nicht, —
ich kann nicht anders! — aber ich muß Ihnen
sagen, daß Sie mir nicht grollen dürfen, daß Sie
mir sagen, warum Sie mich zwei lange Jahre in
dem furchtbaren Glauben ließen, Sie müßten ge-
storben sein? Todt! O Jute hat mich dieser Gedanken
gequält, — wie schrecklich klagte mich mein Ge-
wissen an, mein theurer Bruder, Ihre Schwester
kann sie nicht vergessen, und hat mein Bruder mich
ganz vergessen?
Sie sind jetzt
wieder vereinigt
mit ihrer edlen
Everdine und den
theuren Kindern.
Ich achte, ich ver-
ehre, ich bewun-
dere sie so sehr,
doch kann sie, de-
ren Herz so erfüllt
ist von reiner .Hin-
gebung und Liebe
zu Ihnen, kann sie
es ohne Schmerz
ertragen, lvenn
das große edele
Herz, das ihr ge-
hört, noch Raum
hat für eine an-
dere? Kann ein
Mensch so groß,
so hochherzig füh-
len? Schreiben
Sie mir, ich muß
von Ihnen hören,
ob Sie mich Ihres
Angedenkens für
unwürdig halten.
Sagen Sie mir,
daß Sie mir den
Schmerz verzeihen,
den ich Ihnen
verursacht habe,
und daß Sie mir
dereinst das Ver-
phot. Eberth-Kaffel. sprechen halten
werden, ich solle Sie und Everdine wiedersehen. Ver-
sprachen Sie mir nicht, mein Bruder zu sein, und wäre
es ivohl der Wille einer Vorsehung, daß unsere Wege
sich nie wieder begegneten? Ich bete für Ihr Wohl,
ich bewahre Ihr Andenken ivie ein Heiligtum. Das
kleine Vergißmeinnicht und das zerbrochene Uhr-
glas, ein Taschentuch, das Sie am Abend des Ab-
schieds zurückließen, und mehrere Briefe sind meine
Reliquien. Ich habe den 24. Dezember nicht ver-
gessen und des kleinen Eduard Geburtstag habe
ich im Geiste mitgefeiert. Schreiben Sie mir, sagen
Sie nlir, daß auch Sie meiner ohne Bitterkeit manch-
Ottilke Kahenstein.
Nach dein Gemälde ihres Gatten Louis Kahenstei».
mal gedenken, doch erwähnen Sie diesen Brief
nicht, niemand weiß davon, und erwähnen Sie nur
meinen Brief an Herrn de Ruyter.
Leben Sie wohl. Schreiben Sie mir bald, mein
theurer Bruder, lutiuku 24 25, ich grüße die edele
Everdine von ganzem Herzen und hoffe fest Sie
wiederzusehen, ehe Sie nach dein schönen Java der-
einst zurückkehren.
Ottilie.
Bitte, bitte, schreiben Sie bald, beruhigen Sie
mich, ich konnte nicht anders; ich mußte Ihnen
schreiben um ruhig zu werden."
Dekker freute sich sehr über diesen Brief. Seit-
dem er auf eine für seinen Stolz so erniedrigende
Weise die Stadt hatte verlassen müssen, konnte er
nur mit Grauen an Kassel denken, besonders drückte
es ihn, daß diese Mädchen, die so lieb mit ihm ge-
wesen waren, eine schlechte Meinung von ihm be-
kommen hatten. Vielleicht war dies auch mit den
Schwestern der Fall. Ottilie aber wurde nicht irre
an ihm.
Mit stolzer Freude schrieb er den Brief für
Tine ab und vergaß nicht zu betonen, daß auch
Ottilie mit so viel Liebe und Ehrfurcht von ihr
spricht. Er beantwortete gleich ihr Schreiben. Es
entstand wieder ein Briefwechsel zwischen Dekker
und Ottilie. Von Dekkers Briefen an Ottilie ist
nichts mehr übrig. Vielleicht hat sie die Briefe
selbst vernichtet. Bittet sie doch auch Dekker, in
seiner Antwort den Brief nicht zu erwähnen, den
sie ihm geschrieben hat. Möglich ist es auch, daß.
Katzenstein dies nach Ottiliens Tod getan hat. Be-
zeichnend ist es jedensalls, daß Fräulein Katzenstein
den Namen Dekker niemals gehört hat; weder ihr
Vater, noch eine der „Tanten" (die zweitälteste,
Melite, ist erst im Jahre 1906 gestorben) haben
Dekker jemals erwähnt. Die Tochter hat sich stets
über die Anwesenheit des holländischen Buches in
der Bibliothek ihrer Mutter gewundert. Sie konnte
nicht mehr nach der Herkunft fragen, weil auch der
Vater, als sie das Buch fand, schon gestorben >var?5
Auch nach dem Erscheinen der Liebesbriefe, die
Dekker unter dem Eindruck der leidenschaftlichen
Verehrung seiner Nichte Sietske Swart Abrahams;
geschrieben hatte, dachte er noch mit Sehnsucht an
die schönen Kasseler Tage. Er schickte Ottilie ein
Exemplar und wollte es ihr mit den einfachen
Worten widmen: „meiner lieben Ottilie hochach-
tungsvoll gewidmet". Da aber überwältigen ihn
die Erinnerungen, er streicht diese Worte, und an
24 hitiu bedeutet im Malaiischen „drollig", ku ist
eine Abkürzung von aku, das i ch bedeutet. Wenn ku
an ein Substantiv gehängt wird, bedeutet es „mein".
Im Javanischen bedeutet lutiu (auch Tine nennt in
ihren französisch geschriebenen Briefen, vergl. S. 2,
ihre Freundin „ma loutjou“) „drolliges Kerlchen",
„Käuzchen", so daß vielleicht lutiuku als Liebkosungs-
wort bedeuten kann „mein Kerlchen". (Freundliche Mit-
teilung von Prof. v. Ronkel, Leiden.)
25 Änch finden sich keine Briefe von Ottilie in dem
Besitz der Herausgeberin der „Brieven".
ihre Stelle tretet; die folgenden französischen:
„Non — ne pouvant dire ce que j’ai sur le coeur,
je prefere ne rien dire du tout. Ce seul mot:
remember!
Voici un livre qu’en Hollande on ne comprend
pas ... Tu le comprendras, Ottilie, — toi qui
me compris toujours!
Ed.
Amsterdam 8 Oct. 1861."
Und Ottilie, mit wieviel Freude wird sie es
empfangen haben, wie fleißig hat sie den ersten
Teil gelesen, wie die vielen französischen und deut-
schen Übersetzungen bezeugen.
Ob sie wirklich das ganze Buch gelesen und ver-
standen hat, ist schwer festzustellen. Im Anfang
hat sie sehr viele Wörter mit französischen und
deutschen Übersetzungen versehen, die im allgemeinen
richtig sind, nnr wird aus Seite 21 b e g r o o t i n g
„Etat, Budget" mit „Begrüßung" übersetzt. Die
Notizen werden immer weniger, bis sie nach Seite 43
ganz aufhören. Muß man daraus folgern, daß sie
das Weitere ohne Wörterbuch verstanden hat, oder
daß sie nicht tveiter gelesen hat, weil auch ihr die
Tendenz des schwer verständlichen Buches nicht klar
war?
Der aus Seite 4 erwähnte Brief beweist, daß
nach dem Erscheinen der Liebesbriefe die Korre-
spondenz nicht aufgehört hat. Die darin erwähnten
Lieferungen der Ideen sind eben so wenig wie dev
Max Havelaar unter Ottiliens Büchern aufgefunden
worden.
Auch später werden sie einander noch geschrieben
haben. Sonst würde die Herausgeberin der Briese
sie nicht besucht haben. Sie schreibt in der Ein-
leitung zu den Briefen (Bd. 3, S. 8): „Lange Zeit
nachher (nach Dekkers Aufenthalt in Kassel) lernte
ich in derselben Stadt die Frau kennen, für die er
damals Saidjahs Lied dichtete im Malaiischen".
Diese Begegnung hat, wie sie mir freundlichst mit-
teilte, noch vor Ottiliens Verheiratung stattgefunden.
Ottilie heiratete im Jahre 1863 Katzenstein,
1864 wurde die jetzt noch lebende Tochter Else
Katzenstein geboren, und zwei Jahre später ein
Sohn. In dem Besitz von Fräulein Katzenstein
befindet sich noch ein Brief, in dem ihre Mutter
ihre Freundin Fräulein Dellevie zur Taufe dieses
Kindes einlädt. Aus diesem Brief lernt »ran sie
als eine witzige Briefschreiberin kennen. Sie schreibt
u. a., daß ihr Sohn, wenn er ein berühmter Mann
geworden sei, es ihr niemals verzeihen würde, daß
Fräulein Dellevie nicht bei seiner Taufe zugegen
gewesen wäre.
Im Frühjahr 1871 erkrankt sie an der galoppie-
renden Schwindsucht und stirbt nach einem Kranken-
bett von sechs Wochen am 28. Mai 1871. Auch
während ihrer Erkrankung verläßt > sie der Humor
nicht; sie spricht von ihrem Kanarienvogel und
ihrem Mann als von ihrem fressenden Kapital,
das sie jemand vermachen möchte.
Es ist sehr schwer, sich über die Natur von Dek-
kers Beziehungen zu Ottilien ein abschließendes
Urteil zu bilden, weil alle Briefe von Dekker an
sie vernichtet worden sind und uns nur ein Brief
von Ottilie an Dekker bekannt geworden ist. So-
weit wir aber sehen können, lag kein Grund vor,
das; Ottiliens Verwandte sich über dieses Verhältnis
zu schämen Hütten, wie offenbar doch der Fall ge-
Bausteine II. i@w)
Der französische Degen ist verloren. Dagegen
dürfte noch von jener Reise des Prinzen Wilhelm
das vorzügliche runde Wachsmedaillon mit seinem
Reliesportrait herrühren, das die feinen sympathi-
schen Züge des jungen Prinzen zeigt (im Renais-
sancezimmer des Museums); denn die Qualität
dieser farbigen Wachsarbeit weist aus einen höchst
durchgebildeten Künstler hin, wie ihn Paris eher
als andere Städte 'aufweisen konnte. Des Prinzen
Tagebuchnotiz Bl. 43 vom 2. 6. 1647, daß er dort dem
Maler und dem Wachspossierer gesessen habe, fügt
sich gut dazu. Als Portrait schließt dieses Me-
daillon vortrefflich an.die Miniatur-Hochreliesbüste
des Prinzen in Wachs an, die mit der Jahreszahl
1644 datiert ist. Fraglich ist bloß, ob sich die In-
schrift des Rundmedaillons: Wilhelmus Pacif(icus)
D. G. Hassiae Landgravius schon 1647 denken läßt.
Landgraf nennt sich Wilhelm ans Münzen schon
1638, princeps Hersfeld. fügt er seit 1651 zu. Aber
wann das Paeiliens aufkommt, das ihm auch der
Kilianische Stich in der Ehrensänle von 1663 gibt,
konnte ich nicht ermitteln. B o r dem Ulmer Waf-
fenstillstand vom März 1647 dürfte es aber kaum
anzusetzen sein. Die Vormundsck)ast der Mutter er-
losch 1650.
Saß Wilhelm dem Wachspossierer in Paris kurz
und gern, so zwang ihn im Januar 1648 ans der
Rückreise in Kleve der Bruder seiner Braut, der
große Kurfürst, zu einer anstrengenderen Sitzung.
Er mußte (Bl. 56 b) „den gantzen Morgen dem
Mahler Hundhorsten sitzen. Der Churfürst
kahm dazu und mußt ich wieder willen langer
sitzen bleiben, der Mahler mußt in des Churfürsten
beysein ein Maas von meiner lenge nehmen".
Das Honthorstportrait ist anscheinend verloren, denn
das im Rathausgang hängende arg mißhandelte
Kniestück dürfte es kaum sein. Ein anderes, wohl
1646 in Amsterdam entstandenes Portrait des an-
mutigen Knaben hat sich glücklicherweise erhalten.
Es ist das dem Thomas de Keiser zugeschriebene
kleine Bildnis ans Kupfer in Kabinett 17 der Galerie
(Katalog Eisenmann 1888 Nr. 202 mit Tagebuch-
auszug). Ein Reiterbildnis Wilhelms, 1651 von
A. van Hülle gemalt, hat v. Drach 1888 identifi-
ziert, Galerie Nr. 184 a.
Die übrigen Kunstwerke, die an Heinrich IV. er-
innern, sind, von der Wachsbüste abgesehen, bald
aufgezählt, zumal ich den seit 1800 aus Schloß
Wilhelmshöhe, jetzt in der Löwenburg stehenden
Bronzereiter, der unter dem Namen Heinrich IV.
geht rind über den ich im Anhang handeln werde,
wesen ist. Ottilie mag anfänglich Liebe für Dekker
empfunden haben, sie hat mutig dagegen gekämpft,
Dekker über ihre Beziehungen zu Katzenstein auf-
geklärt, und nur die Verehrung für einen großen
und im Verkehr liebenswürdigen Menschen ist übrig
geblieben.
Von Rudolf Hallo.
auslassen darf, weil die Benennung falsch ist. Es
ist das hervorragend gute flache Goldrelief auf
Schildpatt in kreisrundem Porphyrrahmen mit des
Königs Brustbild im Profil, das schon im Inventar
von 1786 erscheint, ferner eine Aqnarellminiatur
des Henri de Petüune, One de Sully, des klugen
Ministers Heinrichs, über dessen kühles Verhältnis
zu Moritz man die Gorrespondanee inedite S. 411
nachlese; ebenfalls schon tm Inventar 1786. Ferner
besitzt das Museum, in zwei Bleiabschläge zerlegt,
Avers und Revers der schönen Medaille G. Du-
ft r 6 s aus die 1603 erfolgte Geburt Ludwigs XIII.,
des Sohnes von Heinrich und Maria di Medici,
und zwar in der variierten Ausführung, die Duftrs
1605 herausgab, mit Heinrichs Kopf in Dreiviertel-
profil. Ob die Kasseler Abschläge eigene Arbeiten
des Meisters sind oder Vervielfältigungen, die trotz
des königlichen Patents, daß „kein Goldschmied und
kein Sandformer" sie abformen dürfe, immer wieder
fremde Hände vornahmen, ist schwer zu sagen; jeden-
falls trägt der Abschlag der Vorderseite außer der
Signatur G Dupre F 1605 noch die Jahreszahl
1607 ans dem Armstumpf. Wie lang Kassel die Blei-
medaillons besitzt, ist unbekannt. (Abbildung des
ersten Zustandes in A. Michels Histoire de PArt
V 2, S. 764.)
Schon im Inventar von 1786 erscheint das ovale
4 cm hohe Bisquitrelief mit Heinrichs Prosilkopf,
das sich aber nach Technik und Stil als Arbeit des
XVIII. Jahrhunderts erweist. Eine in einem Ver-
zeichnis „von Statuen und Gruppen" aufgeführte
Nummer: Henri IV. und Sully en biscuit wurde
in Jeromes Zeit aus dem Wilhelmshöher Schloß
verschleppt (Heidelbach, Hessenland 1905, 61). Und
ein Henri IV en terre de Lorraine, dem hellen
elsässischen Tonmaterial, das das ausgehende XVIII.
Jahrhundert so gern verarbeitete, ist nach Mus.-
Akt. 20 im Januar 1778 „aus Serenissimi Eabinett
zum Kunsthaus abgegeben" worden. Auch er scheint
verloren^
4 Zu meiner Zeitschrst. 5p. G. V. Bd. 55 S. 290 ge-
machten Anmerkung 3 über Nachbildungen des Nahl-
schen Grabmals zu Hindelbank in Terre de Lorraine,
die sich in Halle und Kassel befinden, füge ich aus
Brinkmanns monumentalem Führer durch das Ham-
burgische Museum f. Kst. u. Gew. 1894, 470 noch ein
weiteres Exemplar in Hamburg hinzu. Auch Nachbil-
dungen in Bisquit sind bekannt. Nach den Hess. Bei-
trägen zur Gelehrsamkeit und Kunst I, 1785, 406 stellte
1783 der „Rat Nahl" ein von ihm gefertigtes Ton-
modell des von seinem Vater geschaffenen Grabmals
in der Kasseler Akademie aus.
57
Geblieben ist nur die ähnlich dein Degen von
Sagen umwobene Wachsbüste des Königs in ihren
seidenen Gewandstücken, das angebliche Geschenk
Heinrichs an Landgraf Moritz von 1609.
Merkwürdigerweise ist kaum ein Stück der Samm-
lung schwerer zu „belegen" als dies. Zwar ersieht
man aus der Art, wie Ruhl 1840 seine Eintra-
gungen über Wachsarbeiten im Armaturinventar
vornimmt, daß die Büste bereits in dem ersten
Wachsinventar von 1786 gestanden hat, aber dort
steht kein Wort über ihre Herkunft und weiter ist sie
durch Akten nicht zurückzuverfolgen. 1781 erwähnt
sie von Günderode in seinen Briefen über Kassel
(S. 119), ohne mehr von ihr zu sagen, als daß sie ihm
den in Paris gesehenen Bildnissen nach zu urteilen,
sehr ähnlich scheine; Schminke, der sich 1767 auf
S. 153 seiner Beschreibung bei Anführung des De-
gens bemüht, Beweise dafür vorzulegen „wie unge-
mein werth dieser König den Landgrafen gehalten",
erwähnt die Büste überhaupt nicht. Und wenn ich hin-
zufüge, daß weder Krieger (1805, S. 206) noch Rom-
mel (1839, VII 266) bei Anführung des Wachses eine
Bemerkung über ihre geschenkweise Überlassung an
Moritz machen, daß selbst der findige Lenz in seinem
Inventar der 80er Jahre für die von ihm wohl
aus Ruhl übernommene Legende auch nicht den
geringsten Beleg anzuführen weiß, so darf man
sagen, daß diese dem ältesten Wachsinventar noch
fremde Mythe von sehr schwacher Substanz ist.
Es wird sich gleich zeigen, ans welchem Grunde
kein Beweis für die Behauptung erbracht werden
konnte; — sie war falsch!
Zuvor aber muß noch eine irreführende Jnven-
tarnotiz von 1747 (Mus-Akt. 76) erörtert werden,
wo es unter „Wachs" heißt: Nr. 62 Henrich IV.
in einer schwarzen Eapsul, 63 Cath. de Medicis
dessen Gemahlin ebenfalls". Leider hilft die zweite
Eintragung nicht zur Bestimmung der ersten, denn
das Museum besitzt weder ein Porträt von Hein-
richs Gemahlin Maria von Medici, noch von seiner
Schwester der Herzogin Katharina von Lothringen,
noch von seiner Schwiegermutter Katharina von
Medici, so beachtlich es auch sein mag, festzuhalten,
daß von dieser 1589 eine Totenefsigie in Wachs
angefertigt wurde (Jul. v. Schlosser, Geschichte der
Portrütbildnerei in Wachs in Jahrb. d. Kunst-
sammlungen des A. H. K. Wien XXIX 1910,
S. 194). Außerdem aber handelt es sich, wo sonst
dies Inventar von 1747 die „schwartze Capsul"
erwähnt, nachweislich um kleine Reliefmedaillons,
lote man an dem Rundmedaillon des Ldgsn. Wil-
helm Pacisicus, dessen oben gedacht wurde, nach-
prüfen kann. Es ist heute noch wie 1747 „ohne
glaß".
Danach ist von einer Identifikation der lebens-
großen Heinrichsbüste mit dem Henrich IV. von
1747 abzusehen, und es bleibt nichts, seinen alten
Aufenthalt in Kassel wahrscheinlich zu machen, als
die um das alte Kunstwerk sich rankende Tradition
und — ihr Holzgehäuse, das in der gleichen Art
mir derselben grünen Seide ausgeschlagen ist, wie
das in der Form abweichende Gehäuse um die
Miniaturfiguren von Ldgf. Moritz und dessen Ge-
mahlin Juliane, und wie das damit formgleiche um
den Kopf des greisen Steininspektors Korsinski, der
nach 1715 in Kassel starb (s. Hoffmeister-Prior,
Nachrichten von Handwerkern usw.); aber selbst
diese Gehäuse gehen mit ihren Beschlägen, Schar-
nieren und Formen nicht weit ins XVIII. Jahr-
hundert zurück, und über die Epoche Landgraf
Karls sehe ich keine Möglichkeit, zurückzukommen?
Mag der Legende aber auch eine richtige Ahnung
von alten Beziehungen zwischen dem Dargestelten
und dem hessischen Landesfürsten zugrundeliegen, —
in der Form wie sie sich gibt, ist sie sinnlos. Die
Büste, die in Kassel steht, hat König Heinrich nicht
schenken können, weil sie — über seiner Leiche ab-
geformt worden ist! Sie ist ein Totenbild, wie das
durch Bapsts, Paul Vitrys und Schlossers Unter-
suchungen feststeht.
Im Jahre 1891 hatte Bapst in der „Gazette des
beaux arts“ zum ersten Mal das eigenartige Toten-
zermoniell der französischen Könige geschildert. Ge-
rade über Heinrichs Exequien sind wir gut unter-
richtet. Sofort nach seiner Ermordung wurden
zwei der angesehensten Künstler, der uns schon be-
kannte G. Dupre und Jaquet dit Grenoble, berufen,
die Figur des Königs abzuformen und seine Wachs-
efsigie, das heißt sein Abbild in Wachs, zum Wett-
bewerb einzureichen. Beide kamen der Aufforde-
rung nach, ein dritter Meister, Bourdin ans Orleans,
beteiligte sich unaufgefordert. Grenobles Büste er-
hielt den Preis, aber die des Bourdin war, wie
Malherbe an Peiresc schrieb, auch nicht schlecht.
5 Kassel besitzt an Plastiken in Wachs außer einer
Reihe von Köpfen in natürl. Größe (dabei auch der Ldgf.
Moritz) nur noch 1. Henri IV., 2. Moritz und Juliane,
s. oben, 3. eine nach Marburg ausgeliehene Kostüm-
statuette von Moritz, 4. Ldgf. Karl von der Braunin
modelliert, 50 cm hoch, im Jnvtr. 1747 mit der Be-
deutung: ganze Figur, als „geharnischt in Lebensgröße"
angeführt, 5. den Leibzwerg Nicolaus Ferry des Kgs.
Stanislaus von Polen, in gelbem Atlassrack, vermutlich
in natürlicher Größe, 6. eine Diana mit zwei Hunden
und — die Stöcke Philipps des Gr. von schwarzem Holz
und Wilhelms IV. mit dreieckiger Klinge, die, wie
Völkel im Armaturinventar S. 12 nachtrug „sonst bei
den Wachsbildern dieser Herren standen", ehe diese un-
ersetzliche Reihe von 19 lebensgroßen Kostüm-Portrüt-
siguren 1825 kassiert wurde. — Zu der oben er-
wähnten Hochreliefbüste Wilhelms VI. von 1644 ge-
hört als Pendant feine Mutter Amelia Elisabeth; beide
in 3/4-Profil, fast rundplastisch, Halbstücke, auf ovalem
Feld in rechteckigem Gehäuse. Die Stücke rechnen unter
die besten der ganzen Wachssammlung. Sie stammen
offenbar von demselben Meister, der das DVH B 1648 sig-
nierte Wachsporträt en miniature von Kg. Christian IV.
von Dänemark in Schloß Rosenborg, Kopenhagen, ge-
schaffen hat. Möglicherweise ist unter dieser Signatur-
David Heschler Ulm zu erkennen, der sich auf einer
Handzeichnung in Berlin Bildhauer nennt und dem von
Scherer die im Landesmuseum stehende 0IIB 1635
signierte prächtige Elfenbeingruppe von Herkules und
Antaios zugeschrieben wird.
Tie des Duprs war, als Malherbe kam, um sie zu
sehen, schon verkauft.
Nun gelang es Bapst, z>vei der Konkurrenzbüsten
zn ermitteln, die eine, jetzt zu Chantilly, ans dem
Besitz der Condss (Duc d'Aumale), in deren Hän-
den sie mindestens seit 1740 nachweisbar war
(S. 294), die andere bei einem Privatmann Des-
mottes, jetzt im Musee Carnavalet in Paris. Bapst
schrieb die erstere dem Duprs, die zweite dem Bour-
din zu und schloß die Möglichkeit, Grenobles Biiste
wiederzufinden, durch die scheinbar bündige Über-
legung ans, daß diese doch in den Bestattungs-
feierlichkeiten zu St. Denis zugrunde gegangen sein
müßte.
Indes fand Paul Vitry eine dritte Büste — in
Kassel, und veröffentlichte sie in der Gazette 1898.
(Man findet jetzt alle drei Büsten gut abgebildet
in Schlossers Abhandlung beisammen; ein kurzes
Resume gibt Michels Ilistoire äs l’Art V 2 von
1913.) Sie stieß, zumal bei der von Vitry in Be-
tracht gezogenen Kasseler Tradition über den alten
Besitzstand, die Bapstsche Aufstellung, daß über-
haupt nur zwei Büsten da sein dürften, und daß
Grenobles Werk vergeblich gesucht würde, um; im
Gegenteil schien sie mit ihrem zwar billigen und
ersatzmäßigen, aber historisch getreuen Kleidungs-
und Ordensschmuck der Grenobleschen Zeremonial-
esfigie am nächsten zu kommen, näher als der
Condssche Kopf auf dem spät zugefügten Brust-
abschnitt 6 oder die Desmottesche Büste mit ihrem
unpassenden Brustharnisch. Indessen gibt auch die
Kasseler Büste bei weitem nicht das fürstliche Ornat,
in dem uns Briots Stich (bei Schlosser S. 195)
die aufgebahrte Leiche zeigt, sondern nur ein fürst-
liches Alltagsgewand mit Ordenskette und Stern,
und ohne Kopfbedeckung.
Allein es wäre voreilig, daraus den Schluß zu
ziehen, daß die gerade auf diese Weise aus-
staffierte Kasseler Büste nun das Exemplar Gre-
nobles wäre, das so lang vermißt wurde. Denn
Vitry hat im selben Jähr, in denc er die Kasseler
Büste veröffentlichte, auch Akten gefunden, in denen
gerade Bourdin, dem man bisher die Desmottesche
Büste zuschrieb, über sein „pourtraiet st effigie“
mit einem Schausteller prozessiert, der dieser mit
Stoff drapierten und mit falschem Gold aufgeputzten
Wachsfigur einen Finger abgebrochen hatte (Prozeß
zu Samtes 1611, veröffentlicht in Gbronchus des
arts 1898, 290 ff). Bourdin weigerte sich damals,
vom Schausteller das beschädigte pourtraiet — ge-
rade nur so wird die Figur an der Stelle bezeichnet,
wv ihre Hände erwähnt werden, die man am
Portrait nicht vermuten würde — zurückzunehmen.
Was aus ihm wurde, berichten die Akten nicht
mehr. Da aber Bechefer, der Wachsfigurenführer,
sich seeretairs des prines Conty nennt, wäre es
nicht ganz unmöglich, anzunehmen, er habe seine
Figur, auf Büste gestutzt und so der 5^andbeschädi-
6 Die Büste, nach Schlosser Empire, ist aus Terra-
kotta. Ein schöner Stich dieses Henri IV., von Gilbert,
in Gaz. d. beaux arts 1881, Tome 28, hinter S. 326.
gung radikal überhoben, dem Prinzen Conds ab-
getreten. Daß sich die Büste zu Chantilly seit 1740
im Hause Conds nachweisen läßt und daß sie keinen
ursprünglichen Büstenabschnitt mehr austveist, fände
dann eine ungezwungene Erklärung.
Jedoch, solange sich die Schicksale der drei be-
kannten Büsten nicht lückenlos von 1610 bis in
ihre jetzigen Aufenthaltsorte verfolgen lassen, bleibt,
wie schon Vitry sagte, ihre Zuweisung an den einen
oder anderen Meister ungewiß. Stilkriterien sind
auf diese aus Absormungen herausgeholten Arbeiten
nur bedingt anwendbar; und die Vermutung Vitrys,
daß die Dreizahl der literarisch bezeugten und der
tatsächlich erhaltenen Büsten überhaupt keinen zwin-
genden Schluß darauf zulasse, daß nie mehr als
drei vorhanden gewesen seien, darf bei dem schau-
stellerischen Betrieb, den uns Bourdins Prozeß
erschließt, nicht außer Acht gelassen werden.
Ließe sich auch nur exmitteln, >vie Hessen in
den Besitz seines Exemplars gekommen ist, so wäre
schon viel gewonnen. Wilhelm VI. hat es 1647
nicht mitgebracht, sein Tagebuch würde es sonst be-
richten. Und auch die 1610 nach des Königs Ermor-
dung zwischen Kassel und Paris ausgetauschten Kor-
respondenzen erwähnen es mit keinem Wort. In
den weitausgreifenden Denkwürdigkeiten des Her-
zogs von Sully (in Zürich 1783 in 7 Bänden
deutsch) wird Hessen kaum zweimal erwähnt, Moritzs
Besuch von 1602 sogar im Gegensatz zu dem der
Brandenburger und Schweizer schweigend übergan-
gen. Dabei hatte die unter Schminckes Kollektaneen
erhaltene DsUneatio Itinsris doch unterm 10. Sep-
tember 1602 verzeichnet, daß der König selbst bei
feierlichem Hochamt in Notre Dame das Bündnis
mit der antikatholischen Union erneuert und 42 Ge-
sandte zur Festtafel geladen hätte, Hessen gewiß
einbegriffen!
Aber an Möglichkeiten zum Erwerb der in ihrer
Ausstattung sehr geringwertigen, modellhasten Büste
hat es nicht gefehlt. Befand sich doch Moritzens älte-
ster Sohn, denc einst Heinrich das Kleinod übersandt
hatte, 1610 gerade auf der Reise zum französischen
König in Sedan, als ihn die Nachricht von Ravail-
lacs Bluttat erreichte. Und wenige Jahre später,
1615, war er in Paris selbst, um dem eben mündig er-
klärten König Ludwig XIII., der ihn auf dem
Staatsbett liegend empfing, die Glückwünsche Hes-
sens zur Übernahme der Regierung zu überbringen.
Es dauert geraume Zeit, bis wir wieder von
Einkäufen eines hessischen Fürsten in Paris hören.
Weder Wilhelm VII., der 1670 in Paris war, noch
die Prinzen Karl und Wilhelm, die sich 1698 ein
halbes Jahr lang dort aushielten, scheinen regeres
Interesse an Kunstwerken genommen zu haben,
trotzdem sie dank ihrer Tante Liselotte von der Pfalz,
nicht nur beim Prinzen Conds in Chantilly, son-
dern auch in Versailles selbst beim König eingeführt
wurden (Knetsch, Elisabeth Charlotte v. d. Pfalz
S. 29—33). Und als Prinz Georg 1716 nach Paris
kam, war die Büste sicher schon in Kassel. Fried-
rich II. kaufte, wie die Tradition sagt, in Paris die
herrlichen Bronzereiter von Tacca nnd Susini,
über die der Anhang handelt, er kaufte in ?Omes
antike Kleinbronzen und er erwarb ganz konse-
quent auf die Antike hinsteuernd aus Rom jenes
wundervolle Bronzerelief der Venus mit Gespie-
linnen, das Brinckmann im Jahrbuch der preust.
Kunstsammlungen (1924) dem Raphael Donner zu-
zuschreiben versucht?
Nicht, um diese Zuweisung zu kritisieren oder zu
ersetzen, füge ich dies Relief hier an, sondern des-
halb, weil es im Verlauf des vergangenen Jahr-
hunderts von Völkel bis Pinder als eine Arbeit des
XVI. Jahrhdts. und vorzüglich französischer Schule
angesehen wurde. Dem lag die Vorstellung zu-
grunde, daß es mit seinem langgestreckten Frauen-
körpern in die Schule Goujons nach Fontainebleau
— die Venus erinnert ganz unmittelbar an die
Diana von Chateau d'Anet — das heißt unter die
Lehrer der Generation Henri IV. und Dupres, ge-
hören müsse. Mir scheint, daß Brinckmann durch
Beachtung der im Relief benutzten Variation des
pompejanischen Taubenmosaiks, das erst 1737 ge-
sunden wurde, diese Verknüpfung unmöglich gemacht
hat. Was aber ihm nnd allen früheren entgangen
ist, ist eine Akte, die wenigstens über die Herkunft
des Reliefs sicheren Ausschluß gibt.
7 Aus Nimes stammt nach dem Verzeichnis der kl.
Antiken von 1824 die in der Bieberschen Beschreibung
der Kasseler Skulpturen und Bronzen als Nr. 413 auf-
geführte Attache und, weniger bestimmt, auch die radial
gezackte Rosette mit Medusenhaupt, von der Braun in:
Die deutschen Renaissanceplaketten der ^lg. Walcher
Wien 1917, Nr. 64 eine Replik zeigt. Er beschreibt sie
dort irrig als Jünglingskopf.
J^ahels Zieste. <©<i>i«w
In den nächsten Tagen ging es Rahel etwas
besser. Die Ärzte hatten einen operativen Eingriff
vorgenommen, der ihr Erleichterung brachte, sic
konnte wieder freier atmen. Salomo war jvieder
ganz der frühere, zärtlich, heiter, gesprächig. Frau
Löwenstein faßte jvieder Hoffnung. Moritz' mun-
teres Pfeifen schallte wieder durch das .Haus, und
die Schwester hörte ihn, jvie früher, auf der Straße
mit den Getreide anfahrenden Bauern scherzen.
Joel blieb ernst und traurig, er wußte, daß Rahel
sterben jvürde. Im Krankenzimmer war er heiter,
sich immer gleich in Güte und Fürsorge für die
Schwester.
Die Tage wurden düster. Auch in der Seele
Rahels wurde es wieder dunkler. Sie litt sehr,
die Besserung war nur vorübergehend gewesen nnd
Salomo kam seltener, im Geschäft war viel zu tun.
Heute, am Sabbat, blieb er länger, er trank Kaffee
mit Löwensteins. Aber es wurde wenig gesprochen,
trübe Stimnlung lastete ans allen. Ein jeder sah
die dunkle Macht hinter dem Stuhle der Kranken
stehen, der sie nicht zu entrinnen vermochte. Nach-
her, als die Verlobten allein im Zimmer geblieben
60
Bei den Akten des Museums befindet sich eine
alte Kopie eines französisch geschriebenen Berichts
des Abbe Giordani in Rom an Ldgf. Friedrich II.
vom 17. 2. 1779 über die Erwerbung zweier Anti-
quites, von denen die eine ein Relief zu dem ge-
ringen Preis von 60 röm. Scudi war. Es sei ein
sehr schönes Basrelief von Bronze, worauf eine
Venus auf ihrem prächtigen Bett und die 3 Grazien
zu sehen ivären. Zlvei hielten den Vorhang des
Bettes, die dritte wende sich gegen einen Cupido.
Der Rest des Zimmers sei mit Blumengehängcn
verziert . . . und zur Seite stehe ein Altar . . .
sowie ein Adler oder eine Taube, welch letztere
bekanntlich nach der Fabel der Venus heilig. Da
der Preis in der Tat niedrig war — 10 Jahre
vorher sollte ein Gipsabguß des Apoll vom Bel-
vedere 70 Scudi kosten — und da Giordani ver-
sicherte, er werde die Bronzen bald schicken, so ist
nicht daran zu zweifeln, daß unser Relief, das man
in dieser Beschreibung Zug um Zug erkennt, als eine
Antiquität aus R o m kam.
Das überwältigend reiche Silbergeschirr aber, das
Ldgf. Moritz „Ihrer gelibtten Gemahlin in Frank-
reich hatte verfertigen lassen ^ nnd das er ihr am
1. III. 1606 ns eine Furstentafsell verehret hatte",
ist restlos untergegangen. Es wäre wohl das sinn-
fälligste Zeugnis der politischen Inklination Hessens
am Vorabend der großen Religionskriege gewesen.
Nur eben die N a ch richt noch hat uns der Spür-
sinn A. von Drachs in seinen: „Älteren Silberar-
beiten zu Kassel", S. 37 aufbewahrt.
s Des Landgrafen Einkommen soll jährlich fünf Ton-
nen Goldes sein, erzählte man sich 1606; Hessische
Chronik I 1912, 137.
Erzählung von Marie Brehm.
jvaren, verstummte Salomo ganz. Er sah an der
Braut vorüber, nnd inte in tiefen Gedanken ließ
er die Finger der Rechten auf der geballten Linken
spielen. Rahel, in körperlichen Qualen und tiefstem
Seelenschmerz, kämpfte einen schweren Kampf. Plötze
lich löste sie den Halsschmuck, den Salomo am Tage
des Kasmal ihr geschenkt und den sie seither immer
getragen, zog den Verlobungsring vom Finger nnd
legte beides auf den kleinen Tisch, der zwischen ihr
und ihm an dem Fenster stand. „Nimm das zu-
rück," sagte sie mit halber Stimme „und dein Wort
dazu — du sollst wieder frei sein!" Eine jähe
Röte stieg ihm ins Gesicht, nnd es war ihr, als
hätten seine Augen flüchtig aufgeleuchtet. Aber
dann faltete sich seine Stirne, und seine Stimme
nahm einen dunklen Klang an. „Wie kannst du mich
so kränken, Rahel? Hast du mich so wenig lieb?"
Er nahm den Schmuck, legte ihn ihr wieder um.
Sie vermochte nicht sich zu jvehren, ihre Kräfte
reichten nicht dazu, und auch ihr Wille nicht. Als
Joel eben wieder eintrat, steckte auch der Ring
wieder an Rahels Finger, und Salomo küßte sie
gerade zum Abschied.
Rahel las einen Brief Salomos, sein junger
Mann hatte ihn eben bei Moritz abgegeben. Er
teilte ihr mit, daß er einiger nötiger Einkäufe
wegen für ein paar Tage nach der Hauptstadt reise.
Der Ton des Schreibens war ein so warmer,
inniger, daß es Rahel hoch beglückt haben würde,
wenn nicht der Zweifel an des Verlobten Liebe
an ihrer Seele genagt hätte. Daß sie ihn zunächst
nicht sehen würde, war ihr fast eine Erleichterung,
Sie beherrschte sich in seiner Gegenwart, um ihn
die ganze Schwere ihres Leidens nicht wissen zu
lassen. Das stellte hohe Anforderungen an ihre
Willenskraft und machte sie doppelt elend. Und —
tvenn er sich nicht zu ihr gezogen fühlte — war es
nicht menschlich, dachte sie in Herzensgüte, nicht
verzeihlich, daß er, der Gesunde, von ihr, der dem
Tode Verfallenen, sich mählich loslöste?! Freilich,
Joel — er würde seine kleine Schwester niemals
allein lassen in ihren körperlichen und seelischen
Nöten. Er würde sie immer lieb haben, würde mit
ihr, für sie sterben können. So band das Blut doch
wohl fester als die Liebe des Mannes zum Weibe,
eine Liebe, die mit Schönheit, Jugend und Lebens-
kraft dahinivelkt, erlischt?! — —
Es war am Spätnachmittag des folgenden Tages,
als Moritz, von der Post zurückkommend, bei Rah'el
eintrat. „Der Salomo ist wieder da," sagte er,
„er zündete gerade das Licht an, als ich am Ge-
schäft vorüber kam." Moritz hatte der Schtvester
eine Freude bereiten wollen, aber er löste mit der
Botschaft nur eine starke Spannung in ihr aus —
würde der Salomo morgen kommen? Oder vielleicht
heute noch?
Joel sah, wie Rahel ordnend nach ihrem Haar
faßte, ihre Kissen ein wenig zurechtrückte, prüfend
an sich niedersah. Er erriet ihre Gedanken — sie
erwartete Salomo. Er zog die Uhr. „Heute wird
er nicht mehr kommen," sagte Joel leichthin, „er
wird viel Arbeit gefunden haben". Er wollte der
Schtvester eine Täuschung ersparen.
* * *
Rahel war sehr krank. Ihr Atem ging schwer,
stoßweise. Ihre Züge verfielen sichtlich, kaum daß
sie vermochte, sich aufrecht zu halten. Aber da sie
liegend ärger litt, trug Joel sie, nachdem sie an-
gekleidet war, ins Wohnzimmer hinüber zu ihrem
Stuhl — der Salomo würde doch auch wohl kom-
men — —
Salomo war nicht gekommen, gestern abend nicht
und heute nicht. Am Mittag des dritten Tages
fiel der erste Schnee. Die Flocken kamen so dicht
herab, daß sie das Tageslicht zur Dämmerung
dämpften. Da sah Rahel den Verlobten die Straßx
heraufkommen. Sie hörte ihn im Flur auf der
Strohmatte die Stiesel abtreten, und als das Mäd-
chen ihm die Zimmertür öffnete, wischte er sich
noch mit dem Taschentuch die Tropfen vom Rock.
Rahel, mit von Liebe und Ziveifel geschärftem
Blick, bemerkte, wie er, betroffen von ihrem An-
blick, eine Sekunde zögerte — hatte die Spanne
Zeit, in der er sie nicht gesehen, sie so schreckhaft'
verändert?
Salomo, schnell gefaßt, begrüßte die Verlobte
mit herzlichen Worten, seine Liebkosung beschränkte
sich auf eine flüchtige Berührung ihrer Stirne
mit den Lippen. Dann trat ein Schweigen ein.
„Wann bist du zurück?" fragte Rahel, durch die
Stille zwischen ihnen bedrückt; sie hatte nicht sein
Fernbleiben hervorheben wollen. „Gestern abend!"
Mit erschrockenen Augen sah Rahel zu ihm empor.
Ta öffnete das Mädchen noch einmal die Tür. „Das
haben Sie auf dem Flur verloren," sagte sie zu
Salomo, und legte eine Photographie auf den
kleinen Tisch, der vor der Kranken stand.
Salomo ergriff in Hast das Bild, steckte es in
die Brusttasche — er hatte es wohl mit dem Taschen-
tuch herausgezogen — aber Rahel hatte doch ge-
sehen, daß es das Bild einer jungen Stammesge-
nossin von sehr dunklem Typus und mit sehr
vollem Busen war.
Einen Augenblick schien Rahel erstarrt. Dann
löste sie ihren Halsschmuck — er entglitt ihren be-
benden Händen und lag glitzernd auf der roten
Plüschdecke, die um ihre Knie geschlagen war. Sie
zog den Ring vdm Finger und legte ihn, wie an
jenem Sabbat, mit dem Halsschmuck aus den Tisch.
„Wenn du es nicht anders willst," sagte da Sa-
lomo kalt, legte auch seinen Ring aus den Tisch
und nahm den Rahels auf, das Schmuckstück ließ
er liegen. Er drehte sich um und ging ohne ein
lveiteres Wort aus dem Zimmer, an Moritz vorbei,
der gerade eintreten wollte. Drinnen ein Schrei. —
* * *
Der Arzt packte ein paar Fläschchen und eine
kleine Spritze in seine Jnstrumententasche und ging.
Um Rahels Stuhl standen ihre Mutter und Brüder,
auf den Atem der Sterbenden lauschend, dessen
furchtbare Stöße nun schwächer, leiser wurden. —
Rahels Sinne schwanden, ihre Seele glitt hinweg.
Durch den Garten schwebte sie, hinaus auf die
große Rasenfläche. Der Rasen war übergössen mit
kleinen weißen Blumen, die alle die Köpfchen ge-
senkt hielten. Und die Rasenfläche dehnte sich weit,
weit hinaus in die Unendlichkeit. Und dann war
sie nicht mehr allein, Rahels Seele, eine andere
Seele ging, schwebte, neben ihr, weiter, immer
weiter in die unendliche Rasenfläche hinaus. Dann
waren es plötzlich keine weißen Blüten mehr, die
da standen zu Tausend und Abertausend — ein
zartes Lila hatten sie jetzt, und sie trugen die Köpf-
chen aufrecht. Lauter kleine lila Blumenbecherlein
waren es nun. Und Rahels Seele war ivieder
allein. Die andere Seele war zurückgeblieben, wäh-
rend die ihrige immer weiter dahin mußte, immer
weiter-------
61
Der Schneiderkarl als Landsturmmann. Von G. 3$er.
Als an jenem unvergeßlichen Angnsttage 1914
der Ortsdiener des Hinterländer Dorfes O. mit
der Schelle durch die Gassen eilte und verkündete:
„Mobilmachung befohlen!" saß der Schneiderkarl
mit untergeschlagenen Beinen auf seinem Werk-
tisch, horchte ein Weile durchs halbgeöffnete Fenster
hin und fuhr in seiner Beschäftigung ruhig fort.
Eben befestigte er den letzten Knopf an die nagel-
neue Kirmeshose seines Nachbarsohnes Jörg. Wer
ihm dabei hätte zuschauen dürfen, der konnte einen
Begriff davon bekommen, was gründliche Hand-
werksarbeit heißt. Sodann erhob er sich und hielt
das nunmehr vollendete Kleidungsstück mit ausge-
streckten Armen vor sich hin, um es einer letzten
Musterung zu unterziehen. Das war eine Hose,
wie sie im Buche steht. Tie Paßte wie angegossen —
darauf konnte der Meister mit gutem Gewissen einen
Eid schwören. Nicht zu lang, daß sie sich in Har-
monikafalten aus die Stiefel legte, noch zu kurz,
wie man sie jetzt bei den geputzten Herrchen sieht
und glauben muß, ihr Träger habe, als er am
Morgen mit beiden Beinen hineinfuhr, zu spät
gebremst. Überhaupt kümmerte sich der Schneider-
karl blitzwenig um die jeweilige Mode und noch
weniger um das, was die Leute sagten. Er lebte
am liebsten für sich und war, ohne menschenscheu
zu sein, kein Freund vom vielen Reden.
Mittlerweile bildeten sich draußen aufgeregte
Gruppen. Während viele der dienstpflichtigen Män-
ner und Burschen voll vaterländischer Begeiste-
rung einen günstigen Ausgang des Krieges voraus-
sagten, hatte blasser Schrecken den Gesichtern einiger
seinen sichtbaren Stempel ausgedrückt. Wieder
andere standen in Gedanken versunken und über-
legten, ob das Vaterland nicht auch Männer brauche,
die als unabkömmlich im Lande bleiben müßten,
damit zu Hause nicht alles drunter und drüber ginge.
Etliche fanden Magen, Lunge, Herz und Leber
nicht ganz in Ordnung und ein kreisärztliches Attest
in Anbetracht der ungesunden Zeitverhältnisse als
durchaus wünschenswert.
„Karl, nun hör' doch endlich auf mit dem, hummen
Gestichel!" Mit diesen Worten kamen jetzt einige
Männer zur Stube hereingepoltert, die gleich dem
Schneiderkarl dem „gedienten" Landsturm ange-
hörten und sich in wenigen Tagen stellen mußten.
„Mach Schluß!" riefen sie, „das hat doch alles
jetzt keinen Wert mehr!"
„Wert hin, Wert her," brummte Karl, „was ich
noch fertig machen kann, wird gemacht, und damit
basta!" —
Eine Woche später hatte er die Elle mit dem
Gewehr vertauscht und mußte samt seinen Kame-
raden, obgleich sie doch seiner Zeit als wohlaus--
gebildete Kriegsleute entlassen worden waren, wie-
der von vorne ansangen wie ein junger Rekrut.
Einzelmarsch, Wendungen, Griffe, Grüße üben und
62
was dergleichen nützliche Beschäftigungen noch mehr
sind aus dem Kasernenhofe.
Seltsam genug sahen die Landstürmer aus. Fast
alle trugen noch, den Bürgerrock, in dem sie von
daheim weggegangen waren, und darüber hatten
sie das Koppel mit dem Seitengewehr geschnallt.
Als einziges Uniformstück saß auf ihren teilweise
schon stark angegrauten Köpfen die Feldmütze, auch
„Krätzchen" genannt, die auch dem aufgewecktesten
Gesicht den Ausdruck blöder Stumpfheit zu ver-
leihen geeignet war. Nur der Herr Hauptmann
war vollständig eingekleidet und thronte aus einem
Schimmel, der sich während seiner langjährigen
Dienste auf einem hessischen Bauernguts diese hohe
Ehre niemals hatte träumen lassen. Ein schneidiger
Herr, der Hauptmann! Offenbar hatte er sich's
zum Ziel gesetzt, die Kerls, von denen nicht wenige
bereits Großvaterfrenden erlebt hatten, ordentlich
auf den Schwung zu bringen. Wenn sein Mund
zuweilen von weniger lieblichen Reden überfloß,
daß manchem die Röte des Unwillens in die bär-
tigen Wangen schoß, hatte der Schneiderkarl nur ein
kaum merkliches Lächeln übrig. Er dachte sich sein
Teil, und über den Liebesdienst, den er in der
Stille seines Herzens von dem Hauptmann begehrte,
wollen wir schweigen.
Schon langten die ersten gefangenen Franzosen
in: Bahnhof an. Karl hatte gerade dort Wachdienst
und mußte aufpassen, daß sich Müßiggänger und
törichte Jungfrauen nicht herzudrängten und die
Parlewus den Zug nicht eigenmächtig verließen.
Gelassen schritt er den Bahnsteig auf und ab, als
sein Blick auf zwei Franzosen fiel, die sich in ihren
blauen Mänteln und knallroten Hchen an die Wa-
gentür gestellt hatten.
„Mußt doch einmal sehen," sagte er zu sich,
„was die für Zeugs anhaben." Hinzutretend prüfte
er mit Kennermiene das Gewebe nebst dessen Zu-
sammensetzung und Verarbeitung. „Nicht schlecht",
murmelte er vor sich hin und ging nunmehr dazu
über, die Knöpfe auf ihre Befestigung hin zu unter-
suchen.
Sei es, daß die Franzmänner der Meinung
waren, als Kriegsgefangene jeglicher militärischen
Besichtigung überhoben zu sein und sich durch das
Gebaren des Feindes in ihrer Ehre verletzt fühl-
ten, oder war es die Angst vor dem ausgepflanzten
Seitengewehr des Landstürmers — genug, sie ga-
ben ihre Unzufriedenheit auf eine Art kund, die
auch dem Sprachunkundigen ohne weiteres ein-
leuchten mußte.
Ter Schneiderkarl in dem Bewußtsein, nichts
Arges im Schilde geführt zu haben, trat entrüstet
zurück, schob das Priemchen mit der Zunge von der
linken auf die rechte Seite, maß die zweie mit einem
verächtlichen Blick, spuckte kräftig ans und sagte
weiter nichts als: „Ihr Blässe!" Nun muß man
wissen: der „Bläß" ist in Karls Heimatdorf wie
in der ganzen Gegend ein beliebtes Schimpfwort
und will den mit ihm Ausgezeichneten bezüglich
seines Verstandes dem lieben Rindvieh gleichstellen.
Tie Franzosen aber, von denen noch keiner im
Hinterland zur Sommerfrische gewesen war, über
die Maßen erstaunt, einen Barbaren in ihrer Mut-
tersprache reden zu hören und erschrocken zugleich,
keit einen wahren Platzregen welscher Redensarten
folgen.
Von alldem verstand unser Karl soviel wie die
Kuh vom Walzertanzen. Nur schien es ihm, als
ob sich die beiden auf ihrer langen Eisenbahnfahrt
den Stockschnupfen geholt hätten, weil sie so sehr
Johann Baptist Lingg, der Erretter Hersfelds, in Generalsuniform.
Bild aus dem Nachlaß Linggs. (Stadt. Museum.)
Aus: Wilh. Neuhaus, Geschichte von Hersfeld. (Hans Ott Verlag, Hersfeid.)
fuchtelten ängstlich mit den Händen in der Lust
herum und schrieen wie aus einem Munde: „Nix
blesse, Mosjöh, nix blesfee!" Womit sie einerseits
sagen wollten, sie seien weder verwundet, noch
trügen sie nachträglich Verlangen darnach, nach-
dem sie dem Schlachtengetümmel glücklich entronnen
seien, und ließen mit unglaublicher Zungensertig-
durch die Nase sprachen. Als ihm aber endlich des
Geschnatters zu viel wurde, bedeutete er ihnen mit
einer gebieterischen Handbewegung, das Maul zu
halten, und sagte in gemessenem Ernst: „Ihr dürft
schwätze, was ihr wollt — Blässe seid ihr doch!"
Sprach's, wandte den Feinden den Rücken und
war wieder ganz Soldat und Landsturmmann.
63
Vulkanismus und Sage.
Nicht weit von Großropperhausen im Kreise
Ziegenhain liegt ein Basaltkegel, der große Schöne-
berg genannt, der sich von den anderen in dieser
Gegend viel vorkommenden Basaltbergen dadurch
auszeichnet, daß er auch Basalttufs enthält. Nur
der Eichelskopf bei Homberg und ein Berg bei
Rhünda haben meines Wissens in jener Gegend
diesen Tuff, der eine vulkanische Asche darstellt,
die durch den auflagernden Basalt gegen Verwit-
terung und Abtragung geschützt war und durch
den Truck sich in Stein verwandelte, der in früheren
Zeiten gerade bei Ropperhausen gern zu Bau-
zwecken benutzt wurde, weil er den heute künstlich
hergestellten Schwemmsteinen in der Konstruktion
sehr ähnlich war. Nun wissen wir, daß diese Ba-
saltvulkane zur Zeit des Tertiärs in voller Tätig-
keit waren. Und es gehören die meisten Basalte
dem Jungtertiär und zwar genauer dem Miocän,
an. Tie in den Basalttussen vorkommenden Blatt-
abdrücke von Eiche, Zimtbaum, Pappel, Erlen, Wei-
den zeugen von einer reichlichen Flora. Auch Ver-
steinerungen von Eidechsen sind schon gefunden
worden. Es folgte dieser Zeit mit einem außer-
ordentlichen warmen Klima die Eiszeit; jedoch sind
die Gletschermassen nicht bis in das Knüllgebiet
vorgedrungen. Nun haben wir bis jetzt noch keine
Funde von Menschenresten aus dem Tertiär ge-
Narben.
Von so manchen bösen Wunden
Trägt die Narben meine Seele,
Und will sie sich selig dehnen,
Weit die Fittiche zu breiten
Und sich hoch empor zu schwingen
Uber Wust und Erdenleid:
Aus Heimat und Fremde.
H o ch s ch u l n a ch r i ch t e n: Marburg: Der Di-
rektor der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt Geheim-
rat Prof. Or. Grüneisen wurde zum ord. Prof, in
der philos. Fakultät der hiesigen Universität ernannt. —
Für das Fach der allgemeinen Pathologie und patholo-
gischen Anatomie habilitierte sich in der medizinischen
Fakultät der erste Assistent am pathologischen Institut
Dr. med. et med. vet. Hans Joachim Arndt. — Bis
zum Jubiläum sollen die Museumsräume des Jubiläums-
baues und die für die antike Plastik bestimmten Säle
fertig und teilweise eingerichtet sein und die Galerie-
räume für eine geplante Sonderausstellung zur Ver-
fügung stehen. Von den Jnstitutsräumen dagegen wer-
den, wie von vornherein in Aussicht genommen war,
voraussichtlich nur der Lesesaal und einzelne Fach-
büchereien sowie einige Professorenzimmer fertig zu stellen
sein. Auf der Lahnseite wird der Garten vor dem In-
stitut durch eine Weiheranlage in Verbindung mit einer
Bronzeplastik geschmückt werden. Zur Gewinnung eines
künstlerischen Entwurfs bereitet der Minister einen engeren
Wettbewerb vor. Tie Stadt Marburg hat ihrer früheren
Schenkung des Bauplatzes eine tveitere hinzugefügt, die
es gestattet, eine breitere Zugangsrampe an der Nord-
64
Von K. §iese.
macht; aber eine Sage, die in der oben genannten
Gegend bekannt ist und in der der Schöneberg eilte
Rolle spielt, hat mich schon lange zu der Vermutung
geführt, daß der Mensch Zeuge dieser tertiären, vul-
kanischen Tätigkeit unbedingt gewesen sein muß.
Tie Sage erzählt, daß eine Gastwirtsfrau, die
zugleich Krämerei hatte und in Homberg wohnte,
wegen Unredlichkeit nach ihrem Tode keine Ruhe
mehr hatte und in ihrem Wohnhause allerlei Spuk
trieb, so daß die Angehörigen beunruhigt wurden
und sie verbannen ließen. Nach der ersten Ver-
bannung in eineir Holunderstrauch in der Wiese
kaut sie wieder, als der Knecht im Frühjahr beim
Reinigen der Wiese den Strauch abhieb. Da
wurde sie in den großen Schöneberg verbannt, lutb
wenn die Jugend später dorthin ging, um Heidel-
beeren zil sammeln, so ries sie der Frau Unruheruf
nach ihrem Tode nach: „Halbe Metze, dreiviertel
Metze, falsch Gewicht!" Alsdann kam jedesmal
eine feurige Woge gefahren von der
Spitze des Berges bis zu einer be -
st i m m t e n G r e n z e, d i e d u r ch e i n e n K r a n z
von B a s a l t b r o ck e n gezeichnet war. Das
gibt die Vermutung, daß die Sage ans einer
alten Vorstellung von mündlichen Überlieferungen,
der ältesten Vorfahren von vulkanischer Tätigkeit
entstanden ist.
O, dann schmerzen diese Narben
Unerträglich, und sie faltet
Stille wieder ein die Flügel,
Schmiegt sich leise trauernd wieder
In den armen Erdenleib.
Luise Lauer.
feite des Baues anzulegen. Für das Universitätsmuseum
hat die Marburger Bürgerschaft eine Reihe wertvoller
Stiftungen gemacht. Die Universität denkt daran, den
größten und schönsten ihrer Räume als „Schatzkammer"
der Elisabethkirche zur Verfügung zu stellen, in der wert-
volle Kunstwerke dieser Kirche Schutz und Pflege finden
sollen. — Der Marburger Universitätsbund hatte ain
1. Januar 2924 Mitglieder gegenüber 2807 im Vor-
jahr. — Die Festfolge der 400-Jahrfeier der Marburger
Universität vom 29. bis 31. Juli d. Js. sieht nach
einigen Änderungen heute wie folgt aus: Freitag,
den 2 9. Juli: 4 Uhr turnerische Veranstaltungen
auf dem Stadion und Enthüllung eines Gefallenen-
denkmals, abends Fackelzug und Begrüßungsabend in
der Festhalle auf dem Kämpfrasen. — Samstag,
den 30. Juli: 10 Uhr Festgottesdienst in der luthe-
rischen Pfarrkirche, II1/2 Uhr erster Festakt in der Uni-
versitätskirche (Überreichung der Stiftungen, Begrüßung
durch die Behörden, Universitäten usw.); anschließend
Imbiß für die geladenen Gäste in der Aula. Nachmittags
Übergabe der neuen Institute (Kunstinstitut, Kinderklinik,
Ohrenklinik), abends Festessen, voraussichtlich in den
Stadtsälen. Im Laufe des Tages sind ferner tünst-
lerische Veranstaltungen größeren Stils, lvie Theater
und Symphoniekonzerte, geplant. — Sonntag, den
31. Juli: 11 Uhr zweiter Festakt in der Festhalle
(Festrede und Ehrenpromotionen), nachmittags Festzug
und Volksfest auf dem Schloßberg, 9 Uhr abends Fest-
kommers. Tie Festfolge steht zwar noch nicht in allen
Einzelheiten fest, jedoch wird sich an der Wahl der Tage
nichts mehr ändern. Wahrscheinlich werden noch einige
Ergänzungen (wissenschaftliche Vorträge von Dozenten,
Zusammenkünfte der Damen usw.) vorgesehen. —
Gießen: Das deutsche Kulturamt in Estland lud den
ordentlichen Professor für Volkswirtschaftslehre Dr. Fried-
rich Lenz ein, im April eine Reihe von Vortrügen
in Dorpat und Reval zu halten. — Dr. Arthur Som -
m e r erhielt die venia legendi für das Fach der Wirt-
schaftswissenschaft. — Die medizinische Fakultät erneuerte
dein Sanitätsrat Dr. Otto Buch hold in Darmstadt
anläßlich seines goldenen Doktorjubiläums das Diplom.
— D a r m st adt: Rektor und Senat der technischen
Hochschule verliehen dem Geh. Reg.-Rat Prof. a. D.
Dr. phil. Dr. jur. h. c. Richard A n s ch ü tz in Tarm-
stadt in Anerkennung seiner erfolgreichen Tätigkeit als
akademischer Lehrer und Forscher zugleich in besonderer
Würdigung seiner Verdienste um die Geschichte der
Chemie die Würde eines Tr.-Jng. h. c. — M ü n ch e n:
Tr.-Jng. Klemens Schöpf aus Fulda, Assistent am
Chemischen Laboratorium, habilitierte sich für das Fach
der organischen Chemie mit einer Vorlesung über die
Chemie der Hormone.
Personal ch r o n i k. Der zum Regierungspräsi-
denten in Kassel ernannte bisherige Berliner Polizei-
präsident Dr. Ferdinand Friedensburg wurde 1886
als Sohn des Geh. Regierungsrates und Senatspräsi-
denten Prof. Dr. Friedensburg geboren, studierte in
Marburg und Berlin, bestand 1911 die Bergassessor-
prüfung, wurde 1921 Landrat des Kreises Rosenberg
in Westpreußen und 1925 als Vizepräsident in das Ber-
liner Polizeipräsidium berufen. — Ernst Legal, der
bisherige Intendant des Landestheaters in Tarmstadr,
wurde zum, Intendant des Staatstheaters in Kassel er-
nannt. — Am 18. März beging Geheimer Baurat Prof.
Dr. Albrecht Haupt in Hannover seinen 75. Geburts-
tag. Zu Büdingen geboren, studierte er in Gießen
Architektur, war dann als Architekt in Karlsruhe, Bü-
dingen und seit 1878 in Hannover tätig, wo er sich 1880
an der technischen Hochschule als Privatdozent sür deutsche
Renaissance habilitierte, 1893 zum Professor und 1915
zum ord. Honorarprofessor ernannt wurde. Als aus-
übender Architekt hat er eine große Zahl von Neu-
bauten ausgeführt; besonders widmete er sich der Her-
stellung alter Bauten, u. a. der Kirche zu Fischbeck, des
Schlosses Schaumburg und des Leibnizhauses zu .Han-
nover. Er gilt als einer der besten Kenner der Renais-
sance in Deutschland, der auch die meisten seiner zahl-
reichen Werke gelten. Anläßlich seines 75. Geburtstages
verlieh ihm die technische Hochschule zu Hannover die
Würde eines Tr.-Jng. ehrenhalber.
Todesfälle. Am 20. Februar verschied zu Kassel
im 77 Lebensjahr der Seifenfabrikant Friedrich R e u l.
In der väterlichen Fabrik in der Ziegengasse groß ge-
worden, hat er diese im Laus der Jahre zu großer
Blüte gebracht. Daneben beseelte ihn ein starkes und
seines Kunstempfinden, dem er auch praktisch durch
Unterstützung der heimischen Künstler Ausdruck gab.
So schuf er in seinem Heim eine kleine, aber erlesene
Galerie. Kennzeichnend für sein geistiges Streben ist
es, daß ihn nicht nur mit den früheren Künstlern unserer
einstigen Hofbühne, sondern auch mit Martin Greif,
mit Otto Ernst, Maximilian Harden und Bismarcks
Leibarzt Schwenningcr enge Freundschaft verband. Reul,
der am Krieg 1870/71 als Artillerist teilnahm, wußte
sich als eifriger Turner und Wanderer bis in sein
hohes Alter frisch zu erhalten. Eine kernige und selbst-
eigene Persönlichkeit ist mit ihm dahingegangen. — Am
21. Februar entschlief 80-jährig der in Marburg im
Ruhestand lebende Generalleutnant a. D. und Ehren-
Toktor der Universität Marburg Bernhard R a t h g e n.
Einer niederdeutschen Familie entstammend und 1817
in Kopenhagen geboren, machte er den Feldzug 1866
mit, wurde Ende des Jahres Artillerieleutnant in Kassel,
nahm dann am Krieg 1870/71 und am Weltkrieg teil
und siedelte 1918 von Straßburg nach Marburg über.
Rathgen war ein bedeutender Forscher auf dem Gebiete
der artilleristischen Wissenschaft. Sein Hauptwerk,
„Geschichte der Pulverwaffe", die er als deutsche Er-
findung nachweist, wiro demnächst erscheinen. Daneben
schrieb er u. a. die Biographie des Schöpfers der preu-
ßischen Fußartillerie, des Generals v. Müller, und ein
Werk über die „Faule Grete", das Riesengeschütz des
Kurfürsten von Brandenburg. — In Hersfeld starb am
21. Februar im Alter von 63' Jahren Sanitätsrat Dr.
Hermann Hillebrecht. Zu New-Uork 1861 geboren,
kam er 5 jährig nach Deutschland, besuchte die Schule
in Rinteln, war nach vollendetem Studium Chefarzt
beim Norddeutschen Lloyd, praktizierte lange Zeit in
Rodenberg, war seit 1901 Badearzt in Hersfelo und
nahm als solcher an der Entwicklung des Lullusbades
großen Anteil. — Am 7. März erlag zu Melsungen
der Pfarrer des renitenten Kirchspieles Melsungen-Schem-
mern Rudolf S ch l u n ck in seinem 56. Lebensjahr
einem schweren Leiden. In Kassel am 7. Juni 1871
als Sohn des Kaufmanns Rudolf Schlunck geboren,
studierte er Theologie, um sich dann nach innerster
Überzeugung dem Dienst der renitenten Kirche zu widmen.
Während des Weltkrieges, in dem er als Landsturmmann
mit an die Dünafront gezogen war, um als Offizier
mit dem E. 51.1 zurückzukehren, hatte er den Grund zu
einem Herzleiden gelegt, das er in diesem Jahre durch
einen längeren Aufenthalt auf den Höhen der Schweiz
zu kurieren suchte. Ungeheilt in die Heimat zurückge-
kehrt, starb er schon wenige Tage später. Tie Bestre-
bungen, denen er diente, gingen weit über den engen
Kreis der renitenten Bewegung, zu deren rührigsten
Führern er gehörte, hinaus. Nachdem ihn die inter-
nationale Organisation von Faith und Order in den
Fortsetzungsausschuß für die Stockholmer Weltkonferenz
gewählt hatte, war er für die Lausanner Tagung als
Redner für Deutschland bestimmt. Auch die, die seinem
Streben fern standen, ehrten und schätzten in diesem
unerschrockenen und grundehrlichen Kämpfer den treff-
lichen, opferfreudigen Menschen, über dessen Leben der
Satz Tertullians stand, den er seinem Werke über
„die 13 renitenten Pfarrer" (Marburg, Elwert, 1923)
voransetzte: „Eine andere Fahne als die der Freiheit
haben wir nicht, und für diese wissen wir zu sterben".
— Am 13. März verstarb zu Kassel der Schriftsteller
Richard Wagner (Homo) im 58. Lebensjahr am
Herzschlag. Am 22. November 1868 zu Odenhausen
bei Gießen als Sohn eines Gutspächters geboren, ver-
brachte er seine Jugend in Lauterbach und wandte sich
nach der in Büdingen bestandenen Reifeprüfung dem
höheren Postdienst zu. Nachdem er in Kassel und Hanau
als Oberpostpraktikant tätig gewesen war, erfolgte 1903
wegen seines Übertritts zur Sozialdemokratie seine Dienst-
entlassung. Er war hierauf in Leipzig und Braunschweig
als Redakteur tätig und dann als Schriftsteller in
Kassel. Wagner, der u. a. verschiedene philosophische
Schriften veröffentlichte, schrieb Gedichte, Dramen und
65
Romane, die Begabung, echten Humor und eine starke
Heimatliebe atmen. Besonders glücklich war er in der
Schilderung des Kleinstadtmilieus.
Jubiläums-Ausstellung der K u n st a k a -
d e m i e. Von der Pressestelle der Jubiläumsausstel-
lung wird uns geschrieben: Wie bereits mitgeteilt,
wirld die große Jubiläums-Ausstellung der Kasseler
Kunstakademie, die vom 1. Juni bis September d. I.
im Orangerieschloß zu Kassel stattfindet, eine Abteilung
„Hessische Kunst der Gegenwart" umfassen, die einen
Überblick über das Kunstschaffen im heutigen Hessen
gewähren soll. Im Gegensatz zu früheren Ausstellungen
steht diese sämtlichen hessischen Malern und Bildhauern
offen. Außerdem soll eine Abteilung „Hessischer Bau-
kunst der Gegenwart" gezeigt werden. Tie Ausmaße des
für diese Abteilung verfügbaren Raumes stehen noch
nicht völlig fest, da die Verhandlungen der Stadt zwecks
Freimachung der benötigten Räume noch nicht abge-
schlossen sind. Der B. D. A. und D. W. B. werden be-
nachrichtigt.
Marburger F e st s p i e l e 1 9 2 7. Tie Kunde,
daß im Frühsommer in Marburg ein großes Festspiel
zur Feier der Einführung der Reformation aufgeführt
werden wird, hat nicht nur in der Provinz Hessen-
Nassau, sondern weit darüber hinaus, frohen Widerhall
gefunden. Sogar aus Amerika liegen die ersten Nach-
fragen und Spenden vor. Größte Aufmerksamkeit er-
fordert aber die Beteiligung aus den kleinen Orten
der Provinz. Es ist ratsam, aus mehreren Gemeinden
und Ortschaften eine Besuchergemeinde von 1000 Köpfen
zusammenzuschließen, der die erhebliche Eintritts- und
evtl. Fahrpreisvergünstigung gesichert werden kann.
Hundert Jahre waren am 1. Februar ver-
flossen, seit Karl Friedrich Heinrich D e i ch m a n n mit
Otto Wiederhold das heute noch in der Brüderstraße 2
zu Kassel bestehende Manufaktur- uno Modewarengeschäft
Karl Deichmanu Nachf. gründete. Schon 1828 wurde
nach Wiederholds Tod Karl Deichmann Alleininhaber,
nach dessen Tod 1858 sein Sohn Emil (f 1898) das
Geschäft übernahm, dessen Inhaber heute sein früherer
Gehilfe Friedrich Müller ist. Das auf dem Grundstück
des alten Karmeliterordens 1603 von Gerwin Sand-
mann erbaute Geschäftshaus gehört zu den schönsten
Fachwerkbauten Kassels. Bis 1748 war in ihm der
Gasthof „Stadt Basel", 1767 war es im Besitz des
Kaufmanns Sartorius, dessen Geschäft 1812 der Tuch-
macher Wilhelm Lorenz und 1825—1827 der Tuch-
macher Wilhelm Geßner weiterführten.
L a u t e r b a ch. In diesem Jahre sind 400 Jahre
verflossen, daß in Lauterbach die Reformation
eingeführt wurde. Dieses denkwürdige Ereignis soll
am 12. Juni festlich begangen werden.
F r a n k e n b e r g. Im Mai will die Nachbargc-
meinde Friedrichshausen, die kirchlich nach hier einge-
pfarrt ist und deren Bewohner hier allgemein die
„Kolonisten" genannt werden, ihr 150-jähriges Bestehen
durch ein größeres Volksfest feiern. Unter Landgraf
Friedrich II. wurde 1777 diese Kolonie auf städtischem
Felde, das die alte Freimark hieß, angelegt.
P o p p e n h a u s e n. ' Unser zwischen den schönsten
Rhönbergen im herrlichen Lüttertale gelegener Markt-
flecken kann in diesem Jahre auf ein 600-jähriges Be-
stehen zurückblicken. Es war im Jahre 1327, als die
Herren von Ebersberg und Steinau hier eine Burg
erbauten. Diese wurde 1470 von Abt Reinhard von
Fulda und Graf Heinrich von Thüringen erobert. Im
Laufe der Jahrhunderte blieben dem Orte mancherlei
Heimsuchungen nicht erspart. Das letzte Mal wütete
im Jahre 1903 ein großer Brand. Poppenhausen hat
66
dann aber doch eine neuzeitliche Entwicklung durch-
gemacht und zählt jetzt 900 Einwohner. Neben Land-
wirtschaft und Holzschnitzerei ist die Fremdenindustrie
zu einem Erwerbszweig geworden. Von Fremden wird
besonders die prächtige Kirche bewundert.
Büdingen. Vor 300 Jahren bestätigte Kaiser-
Ferdinand II. dem Grafen Wolfgang Ernst zu Psenburg
uno Büdingen das Münzrecht, das von den Büdingern
rund zweihundert Jahre lang ausgeübt wurde. Mit
dem Verlust der Souveränität des Büdinger Landes er-
losch auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts dieses Recht.
Zur Erinnerung an ihr Prägerecht ließen seit dieser
Zeit die Grafen und später die vom Großherzog ge-
fürsteten Herren zu Menburg-Büdingen die sogenannten
Schnepfenheller prägen. Die ersten offiziellen
Schnepfenheller, als Schaumünze mit einer Schnepfe
drauf, wurden vor hundert Jahren vom Grafen Ernst
zu Isenburg und dem Grafen Otto zum Solms-Laubach
gemeinsam geschlagen. Diese erste Prägung zeigt die
Schnepfe mehr als Storch, die zweite schon bessere Prä-
gung erfolgte 1828, die dritte 1840. Die Vorderseiten
zeigen die Namenszüge der jeweiligen Fürsten. Tie
vierte Prägung ließ man 1861 vornehmen. Fürst Bruno
führte damals die originelle Sitte ein, die Schnepfen-
münzen zu Ostern unter die Büdinger Jugend zu werfen,
ein Brauch, der heute noch im Schloßhof unter starker
Beteiligung der Jugeno geübt wird. Aber nicht nur
die Jugend erhält ihre Schnepfenheller, sondern auch
besonders glückliche Schnepfenjäger. Diese Münzen be-
stehen aus Silber, während man kupferne Abzüge bei
Treibjagden an die Treiber verteilt.
Alsfeld. An der Stelle der Abzweigung der Lau-
terbacher Landstraße von der Eifaer Straße ist bei Feld-
bereinigungsarbeiten der Querschnitt einer alten be-
festigten Straße freigelegt worden. Die Straße zog von
Norden nach Süden und die Lagerung der Stein- und
Sandmassen ist noch deutlich zu erkennen. Es muß
sich um eine alte Zollstraße handeln.
Gelnhausen. Im benachbarten L a n z i n g e n
fand man bei der Anlegung der Wasserleitung in etwa
50 Zentimeter Tiefe eine eiserne Urne, die, oben teil-
weise verschlossen, gegen 200 alte, aus einer unbe-
kannten Legierung ' bestehende Münzen aus früheren
Jahrhunderten enthielt. Viele sind ganz dünn, fein
in der Ausführung und waren durch das in die Urne
eingedrungene Wasser unkenntlich gemacht. Die Stücke
kamen in Privatbesitz — ein.Gelnhäuser Lehrer erwarb
sie. — Bei den Wiederherstellungsarbeiten der um 1200
anstelle einer alten Holzkirche errichteten Peterskirche
stieß man im Kirchengewölbe auf eine Reihe alter Grab-
stätten.
Rotenburg a. F. Dem Alheimerverein ist vom
Oberpräsidenten zu der für den 15. Juni 1927 beab-
sichtigten Verlosung zur Errichtung einer Jugendher-
berge auf dem Alheimer bei Rotenburg die Genehmigung
erteilt worden. Es sollen 60 000 Lose zu je 0.60 RAI
ausgegeben werden und 6263 Gewinne im Gesamtwerte
von 19 880 RM zur Ausspielung gelangen. Die Lose
sollen im Regierungsbezirk Kassel vertrieben werden.
Sababurg. In dem unter Denkmalsschutz stehen-
den Urwald zwischen Beberbeck und Sababurg entstand
ein Brand, der au dem Unterholz und den manns-
hohen trockenen Farnkräutern überreiche Nahrung fand.
Ein großes Feuerwehraufgebot löschte schließlich die
Flammen. Trotzdem sind schon mehrere Morgen Ur-
waldbestand niedergebrannt.
W ö r r st a d t (Rheinhesscn). Bei umfangreichen Erd-
arbeiten an der Landstraße Obersaulheim—Wörrstadt
wurde in der Nähe der sog. Hospitalsmühle eine größere
Gesamtansicht der Hers seid er Stiftsruine.
Aus: Wilh. Neuhaus, Geschichte von Hersfeld. (Hans Ott Verlag, Hersfeld.)
römische Niederlassung freigelegt, die aufschlußreiche
Funde aus der frühesten Römerzeit vermittelt. Über
die Fundstelle führte in frühgeschichtlicher Zeit die be-
kannte Römerstraße.
Eine 700-jährige hessische Kultur-
st ä t t e. An der Grenze zum Kreise Hersfeld hin liegen
an der alten Nürnberger Straße Torf und Gutsbezirk
Blankenheim, die beide zusammen etwa 400 Ein-
wohner zählen. Es ist eine alte hessische Kulturstätte,
die in diesem Jahre auf ein 700-jähriges Bestehen zu-
rückblicken kann. Abt Ludwig I. von Hersfeld verlegte
1227 das Benediktinerinnenkloster von Owe (das heutige
Aua an der Geis) nach Blankenheim, wo es auffälliger-
weise Augustinerinnenjungfrauenkloster genannt wird.
Im Anfang des 15. Jahrhunderts verbrannte es nebst
dem Chore der Kirche und allen Büchern lind Kirchen-
geräten. 1409 ivurde es wieder hergestellt. Ein Diplom
des Papstes Jnnocenz VIII. aus dem Jahre 1489 titu-
lierte Frau Mechthild, Landgräfin zu Hessen, Gemahlin
des Landgrafen Ludwigs II., die ihren Witwensitz in
Rotenburg hatte und dort 1495 starb, als NnAistrnin
6onv6ntus Llonasterii in Blankenheim. Im 16. Jahr-
hundert ivurde das Kloster verlassen. Anfangs blieb
noch ein Propst, bis unter der hessischen Verwaltung
des Stiftes Hersfeld auch dieser beseitigt wurde, 1602
fuhr Landgraf Moritz mit drei Schiffen, von Rotenburg
nach Hersfeld und übernachtete in Blankenheim. 1634
wurde das Dorf eingeäschert, da hier drei Kroaten von
den Bauern ermordet worden waren. 1682 brannten
die alten Klostergebäude und der westliche Teil der in
Kreuzesform erbauten Kirche soivie ein Teil des Dorfes
ab. Die Kirche wurde durch Landgraf Karl wieder in
Stand gesetzt und ist bis heute erhalten. (Hersfelder
Zeitung.)
Schutz von Natur - und Baudenkmälern.
Natur- und Baudenkmäler sollen auch bei der Ausführung
von Wasserbauten erhalten werden. Der Reichsvcr-
kehrsminister hat die Verwaltung der Reichswasserstraßen
darum ersucht. Soweit eine Beseitigung oder Verände-
rung der Denkmäler in Frage kommt, sollen die betei-
ligten Stellen schon vor Beginn der Arbeiten für den
Entwurf mit dem Provinzial-, Bezirks- oder Landes-
konservator in Verbindung treten. Als Naturdenkmäler
gelten besonders bezeichnende Gebilde der Natur, ins-
besondere die, die sich an ihrer ursprünglichen Stätte be-
finden, Teile der Landschaft, Gestaltungen des Erdbodens
oder Reste der Pflanzen- und Tierwelt. Als Baudenk-
mäler sind alle Reste vergangener Kunstperioden anzu-
sehen, die- rein geschichtlich," wie Inschriften, oder für
die Kultur und Kunstauffassung vergangener Zeiten
wichtig sind, wie vorgeschichtliche Gräber, Waffen und
dergl., auch Bauwerke von malerischer Bedeutung für
das Bild eines Ortes oder einer Landschaft, wie Türme,
Tore» Wälle usw. 0
A uswanderung: Aus der Provinz Hessen-Nassau
wanderten 1926 1128 männliche und 877 weibliche
Personen aus, zusammen 2005 oder 83,6 von 100 000
Einwohnern. 1925 wanderten nur 1672 Personen oder
69,6 von je 100 000 Einwohnern aus.
67
Bücherschau.
N euhaus, Wilhelm. G e s ch i ch t e vonHersfcld
von den Anfängen bis zum Weltkrieg mit 113 Bil-
dern und einem Stadtplan. Hersfeld (Hans Ott
Verlag) 1927. 348 Seiten. Preis in Ganzleinen
10 RM.
Dieses neue Werk von Wilhelm Neuhaus wird von
den zahlreichen Freunden der alten Lullusstadt mit
Freuden begrüßt werden. Unter Benutzung der bisher
erschienenen Literatur und gestützt aus eigene Urkunden-
studien gibt der Verfasser hier zum erstenmal einen um-
fassenden Überblick über die 1200 jährige Geschichte Hers-
felds. Nachdem er in klarer und nichts als bekannt
voraussetzender Darstellung die letzten Ergebnisse über
diesen denkwürdigen Boden und seine Bewohner in
vor- und frühgeschichtlicher Zeit zusammengefaßt, er-
fahren wir von der ersten Ansiedlung Sturms und der
Gründung des Klosters durch Bonisatius' Nachfolger-
auf dem Mainzer Bischofsstuhl, Lullus, dessen Erinne-
rungsfest noch heute von der nach ihm benannten ur-
alten Glocke im Stiftsturm eingeläutet wird. Das
Kloster, das schon beim Tode seines in ihm beigesetzten
Stifters 60 000 Morgen Land besitzt, wird besonders
durch seine Reliquien berühmt, hat aber dann in
schweren Kämpfen um seinen äußeren Besitz zu ringen,
während innere Gefahren den Verfall der Klosterzucht
bringen und unter Heinrich II. zu einer Reform und
damit zur alten benediktinischen Bedürfnislosigkeit führen.
Wir lesen dann von den Beziehungen der deutschen
Kaiser zum Kloster, seiner Blütezeit unter den Hohen-
staufen und seiner hohen kulturellen Bedeutung als
Mittelpunkt wirtschaftlicher, gewerblicher und geistiger
Arbeit, erleben die Entstehung der Stadt ans der kleinen
Siedlung unter den Mauern des Klosters und damit
die sinkende Macht des Stifts, sind Zeuge des erbitterten
Kampfes zwischen Stift und Stadt, der nach vorüber-
gehender Beilegung im 15. Jahrhundert von neuem
auflodert, bis Hersfeld immer mehr unter den Einfluß
und schließlich in den Besitz der hessischen Landgrafen
gerät. Tie Reformation in Hersfeld, das Übergreifen
des Bauernkriegs in das Stiftsgebiet, die Nöte des
30 jährigen und 7 jährigen Krieges, der die unvergleich-
liche Stiftskirche in Trümmer legt, das ereignisvolle
Jahr 1807, in dem Oberstleutnant Lingg die Stadt vor-
der von Napoleon geforderten Einäscherung rettet, die
westfälische Zeit und die Zeit nach den Freiheitskriegen,
die zunächst wirtschaftliche Bedrängnis brachte, um dann
nach dem deutsch-französischen Krieg wieder ernen Auf-
stieg zu bringen, der erst durch den Weltkrieg erschüttert
und nun von neuem erstrebt tvird — das alles wickelt
sich in warmblütiger und formvollendeter Darstellung,
immer auf dem breiten Hintergrund der allgemeinen
hessischen Geschichte, vor uns ab. Als gründlicher Beherr-
scher des Stoffs offenbart sich der Verfasser auch überall
da, wo er uns in eingestreuten Kapiteln ein Bild vom
jeweiligen Zustand der Stadt und ihrer Bewohner in
den einzelnen Perioden entwirft. Neben der Häuser-
geschichte und der Geschichte der einzelnen Stände und
Berufe sind auch die hohen kunstgeschichtlichen Werte
der Stadt nicht zu kurz gekommen. Überall verspürt
der Leser, daß ihm ein gründlicher Kenner der Stadt
zur Seite steht. Ter Verlag hat eine Fülle von guten
und zum großen Teil bisher unbekannten Abbildungen
über den stattlichen Band verstreut. Und so steht zu
hoffen, daß diese seine neue Gabe Gemeingut in Hessen
und vor allem auch dem heimatkundlichen Unterricht
dienstbar gemacht wird. Üb.
Kriegeslärm und W a l d e s st i l l e. Ein Zeit-
bild aus dem siebenzehnten Jahrhundert von W.
I ä g e r. Herausgegeben von Karl E s s e l b o r n.
Ekkehard-Verlag, Heppenheim a. d. B. 1926. 275 S.
Als geschichtlicher Hintergrund breitet sich neben der
Zerstörung der Reichsstadt Worms hinter der Geschichte
der Liebe des Kupferstechers Bruckenstein und der Tochter
des Tamastwebers Hornung die frevelhafte Vernichtung
des Heidelberger Schlosses im Jahre 1693. Ter Ver-
fasser hat tiefe geschichtliche Studien gemacht und gibt
eine Übersicht über die Ereignisse des pfälzischen Erb-
folgekriegs. Ter fleißige Darmstädter Oberbibliothekar
bietet uns belangreiche Erläuterungen, sotvie ein inhalt-
reiches Nachwort. Treffliche Bildbeigaben veranschau-
lichen den anziehenden Lesestoff. Dr. A. R.
Hombur g, Prof. Dr. Rudolf. Ausgrabungen
in Altdeutschland ohne Spaten — ohne
Zauber sprüche. Nebst Beiträgen zur Wort-
forschung. Berlin (Wölbing Verlag) 1926. 84 S.
RM 3.50.
Das Buch enthält ein Kapitel „Kalten, Cassel und
allerlei Hessisches", das an etymologischen Spielereien
so ziemlich das Äußerste leistet, was auf diesem Gebiete
möglich ist. Rhön: der rote Ziegen Wald; Taunus-
Kopf des Heer z a u n gebietes (liinos); Siegfried kommt
zu Gibich in Worms „also zum Kiebitz in der (Lint)
Wurmstadt"! Das ganze Buch wimmelt von solchen —
Absonderlichkeiten. Sapienti sät. Ph. L.
Kalender 19 2 7.
Wir setzen die im Januarheft begonnene Besprechung
der bei uns eingegangenen Kalender fort. Da bringt
zunächst der im 14. Jahrgang erscheinende, mit schönen
Federzeichnungen geschmückte „H eimat-Kalender
für den K r eis Herrsch aft Schmalkalden"
(F. Wilisch, Schmalkalden, 0.80 RM) wieder allerhand
Heimatliches. Prof. Dr. E l s ch n e r beschreibt eine Wan-
derung durch Schmalkalden um 1500 und Hans Lohse
schildert den Rennstieg in Sage und Geschichte; daneben
bringt der Kalender eine Reihe heimatlicher Erzählungen.
— Der „Hessische L a n d k a l e n d e r" (208. Jahr-
gang, C. F. Winter, Darmstadt, 0.70 RM) wird im
Auftrag der Zentralstelle zur Förderung der Volks-
bildung und Jugendpflege in Hessen von Prof. Dr. Karl
E s s e l b o r n herausgegeben, der selbst neben Gedich-
ten allerlei Wertvolles beisteuert, so über die Geschichte
dieses ehrwürdigen Kalenders, über den Darmstädter
Maler Kröh, der noch mit Ludwig Richter befreundet
war, den rheinhessischen Dichter Knies; in der Fülle
der Beiträge bestreiten den erzählenden Teil u. a.
Alfred Bock, PH. Buxbaum, W. Briegleb und Helma
Esselborn. — Eine Gabe für Bibliophilen ist wieder
der vom Verlag L. C. Wittich in Darmstadt herausge-
gebene „K äsender auf d a s I a h r 1 9 2 7" (5 RM),
dessen Monatskalendarien aus Drucken stammen, die
vor etwa 150 Jahren aus der Wittichschen Offizin
hervorgingen und hier, von Dr. H. Bräuning-Oktavio
ausgesucht, uns das Gefühl jener Tage vermitteln. Wie
die drer früheren Kalender, so ist auch dieser eine buch-
technisch erlesene Gabe. — Ter „Hessen-Nassau-
i | cf) e Kalender" (F. W. Kalbfleisch, Gelnhausen),
bringt an Heimatlichem nur einen Aufsatz über den
Erfinder des Telephons, den Gelnhäuser Philipp
Reis und eine Erzählung von Franz Woas aus den
Tagen der Fremdherrschaft; zu der zugehörigen Initiale
wäre zu sagen, daß es damals noch keinen Justizpalast
anstelle des alten Schlosses gab. Warum stellt sich
dieser Kalender nicht, wie etwa der Hornberger und
Melsunger, auf die reiche Geschichte seines Kreises ein? —
auf gutem Büttenpapier noch ztvölf Adelswappen, dar-
unter diejenigen der Geschlechter von und zu Gilsa,
von Hammerstein und von Holzhausen. — Der Ka-
lender „A l t f r ä n k i s ch e Bilde r" (Stürtz, Würz-
Das Hersfelder Schützenklernod aus 1571. (Stadt. Archiv.)
Wurde vom jeweitigen Schützenkönig getragen. Auf dem Schild die Figur des hl. Sebastian, des Schutzpatrons der Schühengklden, wie er von
zwei Armbrustschützen beschossen wird. (Nach der christlichen Legende wurde Sebastian, der Haupimann im römischen Heere war, seines Glaubens
wegen mauretanischen Bogenschützen preisgegeben.)
Aus: Wilh. Neuhaus, Geschichte von Hersfeld. (Hans Ott Verlag, Hersfeld.) '
Das neue Staatswappen des Volksstaates Hessen bringt
in vortrefflicher Farbenwiedergabe von der Hand Prof.
Otto Hupps der „M ü n ch e n e r Kalender 1 9 2 7"
(Manz, München-Regensburg, 2 RM), und außerdem
bürg, 33. Jahrgang). — Der gut illustrierte „Wester-
Wälder Heimatkalende r" (C. Ebner, Hachen-
burg, 0.90 RM), dessen Kalenderleisten H. Zunn zeich-
nete, ist wieder ivie der im gleichen Verlag erschienene
69
„H e i m a t k a l e n d e r für den Taunus" (0.90
RM) mit seiner Fülle von Aufsätzen nach Gehalt und
Ausstattung vortrefflich. — Das gilt nicht minder für
das Heimat-Jahrbuch „M ein Eichsfeld" des Ver-
lags Aloys Mecke, Duderstadt (0.80 RM), der auch
durch seine illustrierte Monatsschrift „Unser Eichsfeld"
das Gefühl der Heimatgebundenheit pflegt. — Auf den
„W albeckischen Landeskalender" (Weigel,
Mengeringhausen, 1.50 RM) fei deshalb noch besonders
hingewiesen, weil er im Anhang auf 166 Seiten das
Waldeckische Staatshandbuch enthält, wie auch der 251.
Jahrgang des Lippischen Kalenders (Meyer,
Detmold) mit dem Lippischen Staatshandbuch verbunden
ist. — Aus dem Heimatkalender für das mittlere Weser-
gebiet „Der K l ü t" (5. Jahrgang, Brecht, Hameln),
der sehr feine Zeichnungen (z. B. aus Rinteln und Hess.
Oldendorf) bringt, nennen wir den Aufsatz von Fr.
Kölling über die Entwicklung der Besitzverhältnisse im
Schaumburgischen Wesertal und von H. Flügel über den
deutschen Nord-Süd-Wasserweg Weser-Werra-Main-Do-
nau. — Ter „K a l e n d e r f ü r S a ch s e n undThü-
ringen" (23. Jahrgang, A. Strauch, Leipzig, 1.65
RM), den Professor Wold. Müller-Dresden mit feinen
ganzseitigen Bildern ausstattete, bringt u. a. einen Auf-
latz von Hermann Nebe über die wichtigsten Bauarbeiten
und Funde auf der Wartburg im Jahre 1925. — Schließ-
lich sei, noch erwähnt, daß der 26. Jahrgang von
„Sohnrey's T o r f k a l e n d e r" des Verlages Tro-
witzsch und Sohn, Berlin (0.90 RM), in seinem ge-
diegenen Inhalt Erzählungen von Heinrich Nuppel und
Alfred Bock bringt. 8.
Abreißkalender 192 7.
Ter jetzt im 2. Jahrgang von I. St. Schmitt bei
Gremm in Mannheim herausgegebene Odenwald-
Kalender, der neben gutem Text nur lebende Künst-
ler als graphische Mitarbeiter heranzog, beschränkt sich
geographisch nicht auf den Odenwald, sondern berück-
sichtigt auch die Randgebiete. In seinem vornehmen
Charakter als Kunstkalender ist er für alle Freunde
des Odenwalds eine wertvolle Gabe. — Der Verlag
I. Neumann-Neudamm vermittelt in seinem „Land-
Abreißkalender" (3 RM) neben reichhaltigem, die
Interessen des Landmanns und der Hausfrau umfas-
sendem Jllustrationsmaterial auch diesmal wieder eine
Menge Kenntnisse aus dem Gebiet der Landwirtschaft,
sei es in praktischen Hinweisen oder eingehenden Er-
örterungen. Es fällt auf, daß dem Geflügel erhöhte
Aufmerksamkeit gewidmet ist. Der Jagd-Abreiß-
kalender (3 RM) desselben Verlags, in Jägerkreisen
seit langem geschätzt, enthält eine Fülle prächtiger Natur-
aufnahmen mit zugehörigem Text, daneben Reproduk-
tionen guter Zeichnungen und alter Ridingerstiche.
Schließlich bringt derselbe Verlag wieder den von der
Deutscherl Kolonialgesellschaft herausgegebenen „Kolo-
nialkalender" (3 RM), der in Wort und Bild
der Erweckung und Vertiefung des kolonialen Gedankens
dienen und nicht nur ehemaligen Afrikanern ein selbst-
verständlicher Besitz sein will. — Als alter willkommener
Bekannter tritt uns als Veröffentlichung des Deutschen
Kulturarchivs der von Karl Maußner im Dürer-Verlag,
Berlin-Zehlendorf, herausgegebene „Dürer-Kalen-
d e r" (3 RM) entgegen. Mit seinem umfassenden, über
alle Zweige der Kultur und Kunst unterrichtenden Ma-
terial entläßt er jeden reich beschenkt. Die reprodu-
zierten Bilder (41 alter und ebensoviel neuer Meister)
sind fast alle unbekannt und geben mit dem Text einen
Übebblick über die Entwicklung der Kunst und Kultur
seit tausend Jahren. — Eine echt deutsche Gabe ist
70
auch der „Ludwig-Richter-Kalende r" (Georg
Wigand, Leipzig, 2 RM), der in seinen Jahrgängen
mit seinen köstlichen Bildern nach und nach das gesamte
Lebens- und Kunstwerk Ludwig Richters vermittelt. —
Mit „W erden und Wachse n" (3 RM) bringt der
Verlag Trowitzsch und Sohn, Frankfurt (Oder) einen
Jahresbegleiter für alle Freunde des Gartens und der
Blumen mit 109 Bildern, darunter 16 wundervollen
Vierfarbendrucken. Sein Ziel, Schönes und Praktisches
zu verbinden, indem er das Werden und Wachsen in
der Welt der Blumen und Pflanzen vorführt, ist etwas
ganz Neuartiges. — Eine Neuerscheinung ist auch der
vom Verband für deutsche Jugendherbergen im Limpert-
Verlag,Dresden A 1, erstmalig herausgegebene künstlerische
Wochenabreißkalender „Deutsches Wunder n (2.—
RM), der mit seinen, mit lustigen Textproben in Zu-
sammenhang gebrachten guten Aufnahmen jungen und
Hersfelder Lullusglocke
km alleinstehenden Glockenturm des Stifts.
Wohl älteste Glocke Deutschlands, die unter dem Abt Meginher(t0Z6-t0Z9)
gegossen wurde. Höhe mit Krone 144 cm.
Aus: W. NeuhauS, Geschichte von Hersfeld. (Hans Ott Verlag, HerSftld.)
alten Wanderfreunden zeigt, was für schöne Jugend-
herbergen wir schon haben. — Einen Begriff von den
Leistungen deutscher Technik gibt der von der Reichs-
zentrale für deutsche Verkehrswerbung in Berlin im
deutschen Werbeverlag Gerber, München, herausgegebene
„D eutsche Werkkalender mit seinen interessan-
ten Aufnahmen und Erläuterungen. Der von Garten-
direktor Ludwig Lesser im Rembrandt-Verlag, Berlin-
Zehlendorf, herausgegebene „D eutscheGartenbau-
Kalender" will mit seinem reichen Bildermaterial,
seinen Tabellen und Anweisungen für die Arbeit in
Garten und Zimmer ein praktischer Helfer und täglicher
Ratgeber für jeden sein, der Blumen und Pflanzen
pflegt. — Der im Verlag Bischof und Klein, Lengerich
i. W., erscheinende Kalender „D i e ch r i st l i ch e K u n st
in Wort und Bild" ist wohl der einzige Kalender,
der nur christliche Kunst bringt. Neben einigen anderen
Meistern ist es diesmal Eduard von Gebhardt, dessen
Kunst zu uns sprechen soll, der ja die Elemente des
Düsseldorfer religiösen Bildes und Kostümstückes in eine
neue Form goß. — In vornehmer Ausstattung bringt
der Samuel Lucas-Verlag, Elberfeld, seinen „D e u t -
scheu B u r g e n - K a l e n d e r" (2.50 RM) heraus,
der auf jedem Blatt, von Künstlerhand gezeichnet, das
Bild einer malerischen alten deutschen Burg bringt,
im ganzen 53 Zeichnungen, darunter auch einige hessische
Burgen. Tie auf der Rückseite der Blätter abgedruckten
kurzen geschichtlichen Angaben stammen von Prof. Bodo
Ebhardt. — Der von Dr. Lammet bearbeitete „11 r a n i a-
K alende r" (Urania-Verlagsgesellschaft, Jena) bringt
neben den üblichen Kalendermitteilungen mancherlei An-
regungen für naturwissenschaftliche Weiterbildung, wäh-
rend der „H a u s f r a u e n - T a s ch e n k a l e n d e r",
(Franckh, Stuttgart, 2 RM), den Dr. Erna Meyer
Vereinsnachrichten.
H e s s i s ch e r G e s ch i ch t s v e r e i n. Am Vortrags-
abend des Kasseler Vereins am 21. Februar sprach
Konrektor Schrötter über das Thema: „Wie ich
vor 4 6 Jahren die Schwalm sah" und gab
damit ein scharf beobachtetes außerordentlich farben-
reiches und kulturgeschichtlich wertvolles Bild von Land
und Leuten der Schwalm aus einer Zeit, wo die Schwäl-
mer noch nicht, wie es jetzt vorkommt, zu Dekorations-
zwecken benutzt wurden. Tracht, Lebensgewohnheiten,
Hausinschriften, Volkslieder und daneben einige beson-
ders charakteristische Typen, all das gewährte in seiner
Gesamtheit einen lebendigen Einblick in die Eigenart
des Schwälmervolkes. (Bericht: Kaff. Post 23. 2.) —
Im Marburger Verein hielt am 26. Februar
Studienassessor Dr. Meyer-Barkhausen einen
Lichtbildervortrag über „F a ch w e r k b a u t e n aus
vier Jahrhunderten in Alsfel d". An einer
Reihe von Lichtbildern erläuterte der Verfasser der
kürzlich erschienenen Monographie über Alsfeld (vergl.
unser Februarheft) die Entwicklung des Holzbaues in
Alsfeld vom 15.—19. Jahrhundert, betonte dabei be-
sonders das Verhältnis der uralten Kunst des zum
größten Teil dem städtischen und ländlichen Profanban
vorbehaltenen Holzbaues zum Import des Stcinbaues,
dem vorwiegend die monumentalen Bauausgaben zu-
Personalien.
Ernannt: Polizeipräsioent Dr. Friedensburg
zum Regierungspräsident in Kassel; zum Ersten Staats-
anwalt in Kassel Staatsanwaltschastsrat Ludwig in
Marburg; Regierungsrat Dr. Schuster zum Landrat
im Kreise Melsungen; Pfarrer Meyenschein in
Homberg zum Pfarrer in Calden, Pfarrer extr. Pfarr-
verweser laue in Hesse rode zum Pfarrer in Wolfer-
born, Pfarrer Knüll in Spielberg zum 1. Pfarrer
in Wächtersbach, Pfarrer E l b r e ch tz in Uttum zum
Pfarrer in Heinebach; Strafanstaltsobersekretär San-
der zum Strafanstaltsinspektor in Ziegenhain; Provin-
zialchemiker Dr. Otto Völker in Gießen zum Direktor
des chemischen Untersuchungsamtes in Worms a. Rh.;
Reichsbahn-Oberkassenvorsteher F. W i tz e l in Fulda
zum Reichsbahn-Inspektor; Lehrer Müller zum Kon-
rektor der Stadtschule Witzenhausen; Hilfsförst. Schnake
in Niederaula zum Forstsekretär.
Versetzt: Oberregierungs- und Baurat Trümpert
von der Regierung Königsberg i. Pr. zur Regierung
herausgibt, der Hausfrau ein den praktischen Bedürf-
nissen (Gesundheitspflege, Ernährung, Haussührung usw.)
entsprechendes Taschenbuch in die Hand gibt und schon
in diesem seinem ersten Jahrgang seine Aufgabe glän-
zend gelöst hat. — Trowitzsch und Sohns (Berlin) in-
haltreicher „Landwirtschaftlicher Taschen-
Kalender" in Brieftasschenformat mit Beiheft (3.10
RM), herausgegeben von Oberregierungsrat Dr. Ger-
riets, bietet dem Landwirt ein gutes Hilfsmittel für
die rationelle Wirtschaftsführung. — Zum Schluß fei
noch aus dem Verlag Neumann, Neudamm, genannt das
„Taschenbuch für I ä g e r", 2. Jahrgang (2.50
RM), das dem Weidmann nicht nur ein täglicher Be-
gleiter und Berater sein will, sondern in seinen Ab-
handlungen für ihn einen bleibenden Wert birgt. Auch
das fischereiliche Taschenbuch „Petri Hei l" (2.50
RM), das zum erstenmal vorliegt, wird in der .Hand
des Binnen- wie Küsten- und Sportfischers ein unent-
behrliches Taschen- und Notizbuch sein. , H.
fielen, und zeigte, wie sich neben dem Stilwandel des
Steinbaues der Holzbau entwickelte. (Bericht: Oberhess.
Ztg. 18. 3.) — Am 7. März sprach an dem von Zoll-
direktor Woringer geleiteten Unterhaltungsabend des
Kasseler Vereins Geh.-Rat Scheibe über „I o -
Hannes Feige, den Kanzler Philipps des
Großmütige n". Zu Lichtenau 1482 geboren, stu-
diert er in Erfurt, tritt in den Dienst des Bischofs
von Würzburg, wird dann Geheimschreiber der Land-
gräfin Anna von Hessen und 1519 Kanzler. Eingehend
charakterisierte Redner die Bedeutung seines Wirkens
für die Geschichte des deutschen Protestantismus und
der deutschen Territorien. Volkswirt Bruno Jacob,
der zur Zeit eine Geschichte Bettenhausens schreibt,
berichtete aus den, Anfängen dieses Dorfes, das in
diesem Jahr sein 800-jähriges Bestehen feiert, und über
die Entstehung des Eichwäldchens und der dort von
Wilhelm VIII. gegründeten Fasanerie. Zum Schluß
sprach Zolldirektor W o r i n g e r über die Verbreitung
der Femgerichte in Niederhesse n, die sich
keineswegs geheim abspielten. Freistühle waren in Ehrin-
gen und Volkmarsen. Alte Gaugerichte hatten Greben-
stein, Helmarshausen, Kalben und Hofgeismar. (Bericht:
Kass. Post 10. 3.)
Kassel; Kataster-Obersekretär Grünhage in Geln-
hausen nach Fulda; Förster Baumgardtin Weichers-
bach auf die Försterstelle Schönstein; Reichsbahnrat
Fabian von Kassel nach Fulda; der frühere Ober-
bürgermeister von Hanau C. 5) i l d in Schleswig als
Regierungsdirektor nach Düsseldorf; Amtsgerichtsrat
H ü ck m a n n in Fritzlar als Landgerichtsrat nach Frank-
furt a. M.
Übertragen: dem überzähligen Förster Brandt,
Oberförsterei Waldau, die Försterstelle Meckbach-Süd;
dem Rektor B e ch e r e r in Piesteritz unter Anweisung
seines Wohnsitzes in Hofgeismar die kommissarische Ver-
waltung des Schulaufsichtskreises Hofgeismar; dem Forst-
sekretär B e st e r in Oberndorf die Forstsekretärstelle
Schönstein.
Berufen: Oberstudiendirektor Dr. Weynand vom
Wilhelmsgymnasium Kassel als Oberschulrat an das
Provinzialschulkollegium in Magdeburg.
71
In den Ruhestand versetzt^ Katasterinspektor R.
Berte in Fulda; Hegemeister Spürer in Meckbach.
Bermählte: Dr. phil. Hubertus Lückerath und
Frau, Elisabeth, geb. Grimme (Kassel, 26. 2.); Lehrer
Karl Link und Frau, Rosa, geb. Schuchardt (Buttlar,
23. 2.); Syndikus Dr. Walther Luckhardt und Frau,
Hildegard, geb. Hausmann (Zella-Mehlis, 6. 3.);
Senatspräsident Dr. Konrad K o e n i g und Frau, Anna,
geb. Breda (Berlin-Schöneberg, 9. 3.); Kaufmann Hein-
rich K l i n g e b e i l und Frau, Lisbeth, geb. Pape
(Kassel, 12. 3.); Dr. Walter Becker und Frau, Hilde,
geb. Brand (Marburg, 17. 3.); Lehrer a. T. Ferdinand
G. O. Fe n n e r und Frau, Ada, verw. Möller, geb.
Henniges (Marburg, 18. 3.); Kaufmann Paul W e n tz c l l
und Frau, Erika, geb. Tenß (Kassel, 19. 3.); Dipl.-Ing.
Paul Oskar König und Frau, Käthe, geb. Gerth
(Atlanta II. S. A.); Professor Dr. Peter Iaeck und
Frau, Erika, geb. Hoffmann (München, 19. 3.); Edwin-
Roland Pfeiffer und Frau, Liesel, geb. Pfeiffer
(Ceduna, Australien).
Geboren: ein Sohn: Kaufmann Karl Schaum-
löffel und Frau, Frieda, geb. Becker (Kassel-W.,
27. 2.); Kaufmann Wilhelm K n e t s ch und Frau,
Elly, geb. Hasselsweiler (Kassel, 28. 2.); Professor
Walther Müller und Frau (Marburg); Dr. Busse
und Frau (Fulda, 6. 3.); Tipl.-Jng. Erich F i r m o n t
und Frau, Emmy (Hersfeld, 6. 3.); Pfarrer Werner
de B o o r und Frau, Toni, geb. Schröder (Marburg,
11. 3.); Privatdozent Dr. Karl Ziegler und Frau,
Marie, geb. Kurtz (Heidelberg, 12. 3.); Architekt Lenz
und Frau, Amelie, geb. Deisenroth (Kassel, 15. 3.);
Pastor W. Henke und Frau, Hilde, geb. Müller
(Altenhagen, 15. 3.); Postmeister Karl H euer und
Frau, Elly, geb. Luckhart (Jmmenhausen, 15. 3.);
Dr. med. Wiegandt und Frau, Hedwig, geb. Reuß
(Kassel, 16. 3.); Pfarrer Hans Rück und Frau, Else,
geb. Teckart (Waßmuthshausen, 17. 3.); Kirchbaurat
Tipl.-Jng. N i e m e y e r und Frau, Martha, geb. Siemon
(Kassel, 18. 3.); — eine Tochter: Augenarzt Dr.
mod. W. S ch l a e f k e und Frau, Irmgard, geb. Rie-
chert (Kassel, 22. 2.); Wilhelm Eschstruth und Frau,
Fridi, geb. Buchholz (Wilhelmshof, 23. 2.); Kaufmann
Ernst B l u m e n f e l d und Frau (Marburg).
Gestorben: Frau Marie von Koenen, geb. Hack-
länder (Südwest-Afrika, 28. 1.); Schuldirektor N e u -
s ch ä f e r (Laasphe, 15. 2.); Witwe des Rechnungsrats
Helene Müller, geb. Kleine (Kassel, 19. 2.); Lehrer
a. T. Gustav Brübach, 77 I. alt (Kassel, 19. 2.);
Seifcnfabrikant Friedrich R e u l, 76 I. alt (Kassel,
20. 2.); Eisenbahnsekretär Heinrich 5) o f m a n n, 52. I.
alt (Kassel, 21. 2.); Witwe Maria Al heit, geb.
Bürger, 75 I. alt (Felsberg, 21. 2.); Generalleutnant
Dr. h. c. Bernhard Rathgen (Marburg, 21. 2.);
Oberstudienrat Professor Rausenoerger, 68 I. alt
(Hanau); Generalleutnant z. T. Albert Freiherr von
Schleinitz, 89 I. alt (Kassel, 22. 2.); Seifensiederei-
besitzer Karl Vogel, 76 I. alt (Marburg, 22. 2.);
Rentner Johann Kind (Fulda, 23. 2.); Gärtnerei-
besitzer Wilhelm Scharf s e n. (Marburg, 23. 2.);
Sanitätsrat Dr. Hermann H i l l e b r e ch t, 63 I. alt
(Hersfeld, 24. 2.); Oberingenieur Richard Sieber,
65 I. alt (Reichenberg, 24. 2.); Lehrer Otto Hebele r,
29 I. alt (Burguffeln, 24. 2.); Bürgermeister a. T.
Wilhelm M ü l l e r (Borken, 25. 2.); Postsekretär Konrad
Henkel (Marburg, 25. 2.); Apotheker Arthur S ch o l tz,
69 I. alt (Kassel, 25. 2.); Reichsbahnrat Otto S e y f -
feit (Fulda, 26. 2.); Bankier Michaelis Katzen-
fi ein, 70 I. alt (EschWege); Witwe des Oberlandes-
gerichtssekretärs Marie Weitzel, 63 I. alt (Kassel,
28. 2.); Witwe Katharina von T i s s e n, geb. Hüter,
73 I. alt (Kassel, 28. 2.); Bilsteinwirtin Frau Minna
N e t h, 73 I. alt (Großalmerode, 1. 3.); Hauptlehrer
i. R. Georg Riem an n (Jesberg, 1. 3.); Rechnugs-
rat Friedrich T e l g m a n n, 75 I. alt (Kassel, 1. 3.);
Frau Lehrer Martha W i l h e l m, geb. Geißler (Mar-
burg, 1. 3.); Großkaufmann Moritz Mannheimer
(Fritzlar); Lehrer i. R. Heinrich Müller, 79 I. alt
(Bellnhausen, 3. 3.); Hegemeister i. R. Karl Wagner
(Holzhausen, 4. 3.); Frau Professor Lina C l^e r m o n t,
geb. Barth (Kassel, 6. 3.); Pfarrer Rudolf S ch l u n ck,
55 I. alt (Melsungen, 7. 3.); Gärtnereibesitzer Heinrich
R ö s e (Kassel, 8. 3.); Frau Therese Eisengarthe n,
geb. Glaw, 64 I. alt (Kassel, 9. 3.); Kanzleisekr. i. R.
Heinrich Elsässer, 70 I. alt (Zierenberg, 9. 3.);
Frau Jenny von L e n g e r k e, geb. Beinhauer, 82 I.
alt (Kassel, 10. 3.); Frau Engeline Vogt, geb. Brünjes,
77. I. alt (Helmarshausen, 10. 3.); Witwe Wilhelmine
Wenzel, geb. Hildebrandt, 84 I. alt (Kassel, 10. 3.);
Justizobersekretär Georg M endet, 48 I. alt (Meer-
holz) ; Frau Katharina S ch r ö d e r, geb. Weber, 89 I.
alt (Marburg, 11. 3.); Witwe des Geh. Regierungsrats
Frau Elfriede Z i e m a n n, geb. Redlich (Kassel, 11. 3.);
Kaufmann Karl R o s e n b l a t h (Sanatorium Fichten-
eck, 11. 3.); Prälat Dr. W e ck e r l e, 87 I. alt (Seligen-
stadt) ; Studienrat Karl K r ü d e n e r, 58 I. alt (Kassel,
12. 3.); Dr. Ernst Heinrich (Biedenkopf); Rent-
meister i. R. Rechnungsrat Wilhelm W e st e (Zieren-
berg, 13. 3.); Erbprinz Ferdinand Maximilian zu
P s e n b u r g - Büdingen-Wächtersbach, 46 I. alt (Ber-
lin); Oberlehrer i. R. Ludwig Klug, 67 I. alt Geisa,
13. 3.); Gruppenleiter am Staatstheater Theodor Vogt,
60 I. alt (Kassel, 14. 3.); Pfarrer i. R. Dekan Georg
K u t e n k a m p, 77 I. alt (Rotenburg, 15. 3.); Rek-
tor i. R. Georg Henkel, 80 I. alt (Witzenhausen,
19. 3.); Fabrikbesitzer Alex R e h n, 63 I. alt (Hers-
feld, 19. 3.); Pfarrer Johannes E i s e n b e r g, 58 I.
alt (Wolfsanger, 20. 3.); Pfarrer Reinhard D r e v e s
(Darmstadt).
9
9
9
„Knierims Kaffee •
rote Tüte,
ist von ganz besondrer Güte
Zu haben in den
einschlägigen Geschäften des Bezirkes Kassel
Bernhardistrahe 1/2 (am Wall)
Bezugsbedingungen für „Hessenland": Mitglieder der unter dem Jnnentitel aufgeführten Vereine bestellen
das „Hessenland" beim Verlag (Dr. K. Braun, Eschwege, Herrengasse 10) zum Vorzugspreis von R.-M. 1.75
vierteljährlich portofrei. Nichtmitglieder bestellen bei ihrer Buchhandlung oder direkt beim Verlag, bzw. beim nächsten
Postzeitungsamt zu R.-M. 2.— vierteljährlich. Preis für das Ausland 3 $
Verlag: Dr. Karl Braun, Eschwege, Herrengasse 10.
Postscheckkonto: Frankfurt a. M. 82145, Johs. Braun, Eschwege.
Schriftleiter: Paul Heidelbach, Kassel. Druck: Friedr. Scheel, Kassel. Alle Rechte vorbehalten.
Manuskripte sind zu senden an Paul Heidelbach, Kassel, Hohenzollernstraße 15.
Für unverlangte Einsendungen keine Verbindlichkeit. Rücksendung nur, wenn das Po st geld beiliegt'
72
HessenlanH
Illustrierte Mnatsblätter für Heimatsorschung, Kunst und Literatur
Schriftleiter Paul Heidelbach, Kassel. Unter Mitwirkung von Bezirkskonservator Baurat vr. H o l tm ey er, Kassel ,-
Direktor der Landesbibliothek vr. Hopf, Kassel,- Lyzeallehrer Ke ller, Kassel,- Staatsarchivrat vr. Kn et sch, Marburg ,-
Oberbibliothekar Professor Vr. Losch, Steglitz,- Schriftsteller Heinrich Ruppel, Homberg,- Professor vr. Schaefer,
Kommissar für Naturdenkmalpflege im Reg.-Bez. Kassel,- Geheimrat Universitätsprofessor vr. Schröder, Göttingen ,-
Universitätsprofeffor vr. Schwa nt ke, Marburg,- vr. Werner Sunkel, Marburg,- Professor vr. Vonderau, Fulda ,-
Universitätsprofessor vr. W e d e k i n d, Marburg.
..—... 3m Einverständnis mit den Vereinen: - > ~ —
Verein für hessische Geschichte und Landeskunde,- Hessischer Gebirgsverekn,- Knüllgebkrgsverekn,- Allgemeiner Deutscher
Sprachverein, Kassel,- Verein für Naturkunde, Kassel,- Geologischer Verein, Marburg,- Biologische Vereinigung, Marburg,-
Gesellschaft für Fainilienkunde in Kurhessen und Waldeck,- Hessischer Volksschullehrerverein.
> Bezugspreis vierteljährlich 2.— Mark ^
39, Jahrgang Heft 4 Kassel, April 1927
Falkenberg.
Ter Wanderer, der die Poststraße von Wabern
nach .Homberg an der Esze geht, erblickt etwa in
der Mitte des Weges im Osten zwischen dem wal-
digen Harlerberg und dem kahlen Rücken des Mosen-
berges einen kleinereit bewaldeten Bergkegel, der
neuerdings durchforstet, jetzt wieder einige Mauer-
trümmer zeigt. Es sind die Ruinen der asten
Ritterburg Falkenberg, unter der auf und am Berge
auch das Torf gleichen Namens sichtbar ist. „Die
Burg gehörte einstmals zu den geräumigsten in
Hessen und bestand aus einem Hochschloß mit großer
Unterburg. Vom Hochschloß stehen noch Umfassuugs-
mauern, sowie der alte viereckige Bergfried, mit
einem hergestellten Untergeschoß, das jetzt eilt Zim-
mer enthält. Ost- und Südseite sind mit einem
kolossalen Graben umgeben, aus letzterer Seite ist
ferner ein Zwinger vorgebaut, dessen ausfallende
Halbrundtürme auf eine Entstehung gegen Ende
des 15. Jahrh. Hinweisen, hier befindet sich auch
die Angriffsseite, während die übrigen Burgeiu-
fnssungen bis an den Steilhang vorgeschoben sind."4
Wie alt die Burg ist, ist schwer zu sagen. In
den Urkunden kommt sie zuerst 1250 als Walceuberc
vor und gehörte denen v. Hebel, von denen eine
Linie seit 1270 den Rainen v. Falkenberg annahm.
Tie Ritter v. Falkenberg1 2, seit 1309 Lehnsleute
des Landgrafen, ivaren ein rauflustiges Geschlecht.
1 Happel, Burgen in Niederhessen (1903) S. 150.
2 Nicht zu verwechseln mit den andern Falkenbergen,
die zu der Familie v. d. Malsbnrg gehörten und nach
der verfallenen Falkenburg bei Zierenberg ihren Namen
trugen. Zn ihnen gehörte Tilo v. F., der 1475 bei
der Verteidigung von Neuß fiel, und Dietrich v. F., der
berühmte Verteidiger vvn Magdeburg gegen Tilly. Dies
Geschlecht starb 1733 aus. Hessenland 9, 116.
Von Dr. Philipp Losch.
Ter bekannteste von ihnen war Eunzmann v. Fal-
kenberg, der zusammen mit dem Grafen Friedrich
von Waldeck und Friedrich v. Hertingshausen mit
5. Juni 1400 den: Herzog Friedrich v. Braun-
schweig bei Klein-Englis auflauerte und ihn an
der Stelle erschlug, wo noch heute ein altes Stein-
denkmal, das sog. Kaiserkreuz, an die blutige Tat
erinnert. 3 3 Das in mehreren Linien blühende Ge-
schlecht geriet im Laufe der Zeit in Verarmung
und starb 1613 mit Georg v. Falkenberg aus. Die
Burg auf dem Berge war schon lange vorher in
Verfall geraten, seitdem die Familie um 1510 sich
am Fuße des Berges einen neuen stattlichen Wohn-
sitz erbaut hatte, der dann nach dem Erlöschen des
Geschlechtes dem Lehnsherrn, dem Landgrafen von
Hessen, anheimfiel. Der alte Merian4 nennt es
ein „wolerbautes lustiges Schloß" und sagt von
ihm weiter: „die^s jetzige neue Hauß hat gegen
Süden und Westen ein überauß herrliches Auß-
sehen (—Aussicht!), in welchem man den mehrer-
theils dessen, so man auff dem Schloß .Homberg
sihet, auch wahrnehmen kan; insonderheit gegen
Fritzlar, Waldeck und dem Stifst Cölln, in selbiges
wie auch das Waldeckische Gebürge. Das Hauß
an sich selbst ist mit vielen feinen Gemächern, von
Sälen, Mahlerey und andern: gezieret, hat einen
langen räumlichen Hoff, so theils zur Wohnung,
theils zur Viehezucht, so an diesem Ortt sehr statt-
lich, getheilt ist; wiewol solche Gebäwe, wie auch
das Torfs vom Brande An. 1640 ziemlich Schaden
gelitten. Zunächst an dem Hausse wie auch hin und
wider am Holtze hat es sehr schöne und viel nutz-
3 Justis Hess. Denkwürdigkeiten 3, 394.
4 Topographia Hassiae (1655) 92.
73
bare Teiche; daher es ein lustiges Oertlein unnd
zum kleinen Waidwerck überaus; bequem; zumalen
hinder dem darzn gehörigen Gehöltze an dem hohen
Mosenberge hinauß ein sehr weites, gleiches, hohes
Feld (dessen außer dem Altenfelde beym H-auße
Boyneburg keines dergleichen im Lande aufs der
Höhe ligend seyn solle), aufs welchem eine sehr
lustige Hatze, als auch fast mitten im Lande, und
hat schier das gantze Außsehen (= Aussicht) über
die Fulda, Schwalm, Eder und theils Diemelstrom.
Diese Höhe oder Gefilde wird mit einem eigenem
Namen die Wolffsplatte genennet." Von dem alten
Schlosse heißt es bei Merian, daß „das Gemäwr
noch ziemblich im Stande", wie auch der Kupfer-
stich von Homberg im Hintergrund noch die hohen
Mauern mit dem gewaltigen Bergfried deutlich er-
kennen läßt. Auf dem Berge soll „ein sehr tieffer
durch den Stein gehawener Brunen gewesen sein,
so aber mit der Zeit, als die Edelleuth ihren Sitz
herab ins Dorff Falckenberg verrückt, verfallen".
Der Gewährsmann des Frankfurter Verlegers
Merian wußte, wie aus der zitierten Schilderung
hervorgeht, in und um Falkenberg recht gut Bescheid.
Und das war kein Zufall; war es doch ein hessischer
Prinz, Landgraf Hermann, ein Sohn Moritz' des
Gelehrten, der als Verwalter der rotenburgischen
Quartgüter öfters auf Falkenberg gewesen war und
vom Schloßturm die herrliche Aussicht in den Efze-
grund genossen hatte. Am 1. Januar 1616 hatte
Landgraf Moritz seiner zweiten Gemahlin Juliane
von Nassau und ihrem gleichnamigen Sohne Moritz
Falkenberg und Roxhausen verliehen, eine Schen-
kung, die am 30. März 1628 die kaiserliche Bestäti-
gung erhielt. Nach dem frühen Tod des jüngeren
Moritz (er starb 1633 als schwedischer Rittmeister)
war das Besitztum mit der sog. Rotenburgischen
Quart vereinigt worden, deren Verwaltung erst
der obengenannte Landgraf Hermann und nach
dessen Tode (1658) sein jüngster Bruder Landgraf
Ernst, der Gründer der Linie Hessen-RheinfelK-
Rotenburg übernahm. Seitdem gehörte Falkenberg
diesem Seitenzweig des hessischen Fürstenhauses,
und im neuen Schlosse nahm ein rotenburgischer
Amtmann seinen Sitz.
Im Dreißigjährigen Kriege hatte Falkenberg wie
das ganze Amt Homberg viel zu leiden, und oftmals
mußten die Bewohner in die Wälder flüchten, um
sich vor dem Wüten der marodierenden Söldner-
banden zu retten. 1631 waren es die Scharen Tillys,
1636 die Kaiserlichen unter dem Grafen Götz, im
nächsten Jahre der furchtbare Johann von Werth,
1640 die Kroaten Piccolominis und Mercys, die
Niederhessen und die Hornberger Gegend heimsuchten.
In Fälkenberg hausten besonders im letztgenannten
Jahre die Kroaten schlimm und steckten Schloß und
Dorf in Brand. Die Schrecken des Krieges dauerte;:,
bis kurz vorm Friedensschluß die alte Feste Hom-
berg als ein Trümmerhaufen von den Land-
igräflichen wieder erobert werden konnte. Tann
folgte ein Jahrhundert des Friedens und der Er-
holung, in dem das Land wieder Zum Atmen kommen
74
konnte. Der Siebenjährige Krieg brachte eine neue
Leidenszeit mit vielen Truppendurchmärschen und
Kämpfen in der Nähe. In den ersten Jahren wurde
Falkenberg davon nicht unmittelbar berührt, wenn
auch zeitweise in Fritzlar, Borken, Melsungen das
Hauptquartier der Alliierten war und Kriegskon-
tributionen und Heereslieferungen das ganze um-
liegende Land bedrückten. Am 16. Februar 1761
nahm der Erbprinz von Braunschweig mit seinem
Korps be: Falkenberg Stellung und besetzte von
hier aus Homberg. Seine leichten Truppen stießen
im Herbst d. I. mehrfach in diese Gegend vor und
erbeuteten dabei Mehltransporte der Franzosen von
Marburg nach Kassel. Noch unruhiger ging es im
folgenden Jahre zu. Nach der Erstürmung von
Felsberg durch hessische Jäger (29. Juni 1762)
besetzte der französische General Graf Rochambean
mit 4000 Mann die Höhen zwischen dem Harter
Berg und Homberg, um die gefährdete Verbindung
der französischen Armeen zwischen Kassel und dem
Main zu sichern, wurde aber am 1. und 2. Juli
durch die Engländer unter dem Gen.-Ltn. Lord
Granby bei .Homberg zurückgeworfen. Ter linke
Flügel der Franzosen blieb bei Falkenberg stehen,
bis er auch hier am 13. Juli vou dem hannöver-
schen General Luckner vertrieben wurde. Dieser
merkwürdige Abenteurer (der als oberpfälzer Bauern-
junge seine Laufbahn begann und als französischer
Marschall und Graf auf dem Schafott endete) ma-
növrierte in den nächsten Tagen mit seinen Husaren
von Falkenberg aus gegen die am Heiligenberg
stehenden Franzosen, während Lord Granby am
Mosenberg und auf der Wolfsplatte Stellung nahm
und sich der Höhe der Sauerburg bemächtigte. Als
dann am 25. Juli eine englische Division unter
dem bildschönen Lord Conway (dem Freunde Ho-
race Walpoles) von Falkenberg aus gegen Hesserode
vorrückte, zogen sich die Franzosen zurück? Das
waren aufregende Tage für die Falkenberger, die
erst allmählich wieder zur Ruhe kamen, als im
August der Kriegsschauplatz sich endgültig nach Sü-
den zog, und im November der Waffenstillstand an
der Ohm den Frieden einleitete.
Tie Erinnerung an die Zeiten des Siebenjährigen
Krieges ist in Falkenberg fast völlig erloschen. Aber
bis in die neueste Zeit zeigte man sich an der Straße
nach dem Grünen Hof einen Stein, der zum Ge-
dächtnis an einen gefallenen französischen Offizier
hier errichtet sein soll. Doch weiß man weder den
Namen des Gefallenen, noch die Zeit und die
näheren Umstände seines Todes.
Von direkten Kriegsgefahren blieb Falkenberg
seitdem verschont. Doch als während der franzö-
sischen Fremdherrschaft die hessischen Bauern 1809
sich erhoben, um das fremde Joch abzuschütteln,
da war die Homberger Gegend das Zentrum des
Aufstandes, und mancher Falkenberger wird auch
den nächtlichen Zug nach Kassel mitgemacht haben,
der an der Knallhütte so unglücklich endete. * *
b Vergl. Rcnouard, Gesch. d. Kriegs in Hannover,
Hessen usw. 3 (1864) 87. 413. 593 u. ff.
Über 200 Jahre war Falkenberg im Besitz der
Landgrafen von Hessen-Rotenburg, bis der letzte
von ihnen, Landgraf Victor Amadeus, durch Ver-
trag vom 20. Dezember 1828 Schloß und Gut
seinem Halbbruder, dem Obersorstmeister Ernst von
Blumen st ein überließ. Dieser war ein natür-
licher Sohn des Landgrafen Karl Emanuel und
der Korporalssrau Julie Strube geb. Sippell aus
Rotenburg und hatte seinen Namen nach dem roten-
burgischen Schloß Blumenstein bei Wildeck erhalten.
Im Jahre 1872 verkaufte er kurz vor seinem Tode
(er starb 1875 zu Baden-Baden) Falkenberg an
den Rentier Johann Ludwig Gebhard v. A l v e ns -
leben zu Dresden. Dieser starb am 26. April
1895 zu Kassel, und seitdem haben die Besitzer
(Justizrat Renner, Wilde, Dr. Hilberg, Prinzessin
Isenburg, Dr. Siboldis, Landbank, Droste-Hüls-
hofs) oft gewechselt. Seit 1917 ist das Gut, das
größte im Kreise Homberg, im Besitz eines rheini-
schen Großindustriellen, des Geh. Konunerzienrats
v. Oswald zu Burgwedel, dessen Schwiegersohn
Baron Hans Riedesel 6 die Verwaltung über-
nommen hat.
Unter dem Schutze der jetzt verfallenen alten
Ritterburg hatte sich im Lause der Zeit eine dörf-
liche Niederlassung gebildet, die anfangs den Namen
Tal-Falkenberg führte. Die Geschichte dieses Dor-
fes ist natürlich mit der des Schlosses eng verwachsen.
Ganz abseits von der großen Heerstraße gelegen,
führte das Dorf nach den obenerwähnten Stürmen
des Dreißigjährigen und Siebenjährigen Krieges
ein ruhiges, stilles Dasein und ist auch bis iu die
neueste Zeit dem großen Weltgetriebe ziemlich fern-
geblieben, von den: nur die zuweilen die steile Torf-
straße hinauffauchenden Autouwbile einen Dunst-
hauch mitbringen. In schwerer Kriegszeit durste
der Schreiber dieser Zeilen glückliche Tage idylli-
schen Friedens dort verleben. Im Hause seines
Gastfreundes fand er einen dicken handschriftlichen
Wälzer, der dort als Ortschronik pietätvoll ver-
wahrt wird und an regnerischen Tagen mit Interesse
durchblättert wurde. Es ist keine eigentliche Chronik,
vielmehr die Kopie eines Spezialkatasters für die
Exemtensteuer, der in den Jahren 1831/32 von dem
damaligen Steuerrektifikator Martin L o tz aus
Melsungen (si 4. Dezember 1883 als Steuerrat
zu Kassel im 86. Lebensjahre) mit großem Fleiße
angefertigt worden ist. Lotz' gewissenhafte Auf-
zeichnungen bieten aber genug, um uns ein ziem-
lich anschauliches Bild der Zustünde und Verhält-
nisse eines althessischen Dorfes vor 100 Jahren
zu geben, so daß einige Mitteilungen daraus sich
wohl lohnen dürften.
Das Dorf Falkenberg, das 1585 16 Haus-
haltungen, 1600 26 Haushaltungen zählte, hatte
1830 409 Einwohner, von denen 54 Hausbesitzer
waren (1834: 57 Häuser mit 441 Einw., 1895:
6 Er ist nicht der erste seiner Familie, der auf F.
haust. Genau vor 500 Jahren hat schon einmal ein
Henne Riedesel eine „Kemenate" auf der alten Burg
innegehabt. Bergt. Becker, Die Riedesel zu Eisenbach 1,86.
70 Häuser mit 445 Einw., wonach also zwar die
Häuserzahl gewachsen, die Bewohnerzahl aber ziem-
lich stetig geblieben ist). Von den Bewohnern waren
— und sind bis auf der: heutigen Tag — nur 2 richtige
Bauern mit größerem Grundbesitz. Daneben gab
es 10 Köttner (Kuhbauern). 5 Bergleute arbeiteten
in der benachbarten Mardörser Eisengrube, wo
auch noch 13 Tagelöhner aus Falkenberg als Eisen-
steinswäscher ihr Brot verdienten. Diese Grube,
bis 1872 Staatsbesitz, seitdem in Privathänden,
lieferte anerkannt vorzügliches Eisenerz, das in
Holzhausen verhüttet wurde. Wegen des schwierigen
Abbaues und der gesteigerten Transportkosten wurde
der Betrieb 1889 eingestellt. An Handwerkern hatte
das Tors je einen Weißbinder, Maurer, Zimmer-
mann, Schmied, 2 Schreiner und 2 Schneider,
dagegen keinen Schuster. Tie Hausindustrie war
vertreten durch 7 Leineweber, der Handel durch
10 Juden. Außerdem gab es noch 1 Müller,
1 Hirten, 1 Tagewächter und 1 Feldhüter. Dazu
kamen die Angehörigen von Schloß und Gut: der
Rentmeister, der Förster, der Schullehrer, 2 Schäfer
und ein Pförtner.
Folgende Familiennamen lassen sich damals (die
gesperrt gedruckten auch noch neuerdings) in Fal-
kenberg nachweisen: Asmus, Aub el, Auel, Braun,
Tanz, Deuscher, Döring, E r st m a n n, Gleim,
Gombert, Hansmann, 5) as s en p fl u g, Herwig,
Jungmann, Kayser, Kersch, K l e e m a n n, Laupert,
Leinweber, Lohrey, M e y f a r t h, Metz, Nickel,
Nörper, Orth, Ostheim, Otto, P f a n n k u ch e,
Q u a n tz, Reimold, R e i tz, Ritter, Rode,
Saul, Schaake, Schade, Schmelz, Schmidt, Schnei-
der, Schröder, Siebert, Sippel, Sittich,
Stock, Ulrich, Wald, Wiegand.
Der Viehbestand war wegen chronischen Futter-
mangels nicht groß. Im Dorfe gab es nur 8 Pferde,
8 Ochsen, 35 Kühe und 10 Schafe. Auf dem Gute
wurden 6 Pferde, 4 Geschirr Ochsen, 20 Kühe und
250—300 Schafe in 2 Herden gehalten. Besonders
auffallend ist die geringe Zahl der Schafe, obwohl
alle Besitzer Schäfereigerechtigkeit besaßen, wofür
sie jährlich ein Triftlamm an die Herrschaft hatten
abgeben müssen. Die Bauern hatten früher allein
je 50 Schafe gehalten.7
Tie ganze Gemarkung hatte 2079 Acker, das
Schtoßgut 1613 Acker, wovon 1131 Acker Wald.
Der Gemeindewald war 31 Acker groß. Aus dem
Felde wurde hauptsächlich Korn (Roggen) und Hafer
gebaut. Das Land war erheblich geringer als das
der Nachbargemeinden Hebel und Mardorf, galt
aber nicht als eigentlich schlecht. Nur das Futter
reichte nicht aus, so daß alljährlich Heu zugekauft
werden mußte. Außerdem klagte man viel über
7 Zum Vergleich sei erwähnt, daß im Jahre 1924
der Viehbestand des Dorfes etwa 70 Stück Rindvieh
uno 17 Pferde betrug. Schafe werden im Dorfe keine
mehr gehalten, wohl aber auf dem Gute ein Haufen
von etwa 200 Stück. Das Gut hatte 1924 14 Pferde
und 85 Stück Rindvieh inkl. Ochsen. (Mitt. des Herrn
Bürgermeisters Meyfarth.)
75
Wildschaden. Das Land war in 10 Sorten einge-
schätzt. Von der besten Sorte hatte der Acker
25 Taler Kaufwert, 1 Taler Pachtwert, die dritte
Sorte galt 2 Taler bzw. 28 Albus. Von der 10.
geringsten Sorte komrte man den Acker schon für
1 Taler kaufen bzw. für 2 Albus pachten.
Die Flurnamen der Gemarkung sind zum
großen Teil noch heute bekannt. Da man in neuerer
Zeit Wert darauf legt sie zu sammeln, gebe ich
sie in möglichster Vollständigkeit aus den Lotz'schen
Aufzeichnungen wieder, ohne mich jedoch auf das
gewagte Gebiet ihrer Deutung zu begeben: Bast-
stück, Beinwiese, Borngarten, Brauacker,'Brauwiese,
Breite Hecke, Delmesort, Eichelsberg, Hasselacker
und -wiese, .Heudenberger Weg, Das Herle, Her-
unteracker 8, Herunterbette 8, Himpelbusch oder .Hin-
kelbusch, Hirzloch, Hopfenwiese, Hühneracker, Hun-
gerborn 9, Judenküppel, Junkerborn, Kälberwiese,
Kaitschacker, Kalbsäckerchen, Keutsch, Kirschwiese, am
Koppenstein, Kötschweg, Kühristeich, Lämmerhude,
Lange Triesch, Leinwiese, das Linden, Lindenecke
und -wiese, im Loch, Männerholz, in der Milch-
suppe vorm Linde, vor dem Morchelbaum, Mosen-
berg, Nellefresse, in der Nolle, Obergraben, auf den
Rüden, am Rompel, Sälzershain, Saureburg, See-
pütsche, Seewiese, Steinbach, Streitacker, Streit-
hecke, Streitholz, Teichwiese, Teufelsgraben, ver-
fallener Teufelsteich im herrschaftl. Wald, im Thiele-
mannsort, Uhechel, unter der Kirche (an der Rox-
häuser Straße), an der Wahlenge, Weinberg, der
große Werner, Wolfsplatte.
Alle Güter der Gemarkung Falkenberg hatten
die Eigenschaft sog. Erbmeier güt er d. h. der
Schloßherr galt als eigentlicher Obereigentümer. Des-
halb mußte man bei jedem Verkauf den Konsens
des Erbmeierherren einholen und ihm den 10.
Pfennig des Kaufpreises als „trockenen Weinkaus"
abgeben. Die dem Schloßherrn zu zahlenden Grund-
zinsen waren nicht unbeträchtlich. Er hatte ins-
gesamt zu verlangen: 54 Rauchhühner, 2 Hahnen,
38 Taler 10 Albus 6 Heller Grundzins, 7 Taler
10 Albus 8 Heller Tienstgeld, 3 Viertel I1/2
Metzen Korn, ebensoviel Hafer sowie 80 Eier und
4 Taler Mühlenzins.
Alle Ländereien waren zehntpflichtig und zwar
der westliche Teil der Gemarkung mit 1/3 und der
10. Garbe, der östliche Teil mit 1/3 und der 11.
Garbe, d. h. im ersten Falle erhielt die Herrschaft
von 15 Garben sechs, im anderen Falle von 33
Garben dreizehn, eine erhebliche Abgabe, die aller-
dings durch verschiedene Ausnahmen erleichtert
wurde. Der Zehnte war bis 1803 in natura ein-
8 Wohl keine eigentlichen Flurnamen. Nach Pfisters
Idiotikon 308 trugen „Gemarkungsteile, wo geuntert
d. h. gevespert wurde, entsprechende Namen". Die Fal-
kenberger sog. „Herungerländer" hatten, je nachdem
sie im Winter, Sommer oder Brachfeld bestellt waren,
verschiedene Zehntabgaben zu tragen.
9 So hieß und heißt eine nur von Zeit zu Zeit
fließende Quelle auf dem Weg nach der Mardorfer
Grube.
gezogen worden; seit dieser Zeit aber war die
Abgabe „vermaltert". Tie Gemeinde mußte danach
alljährlich insgesamt
5 Viertel 139/g Metzen Weizen
19 „ 89/z „ Korn
15 „ 2 „ Gerste
18 „ 43/8 „ Hafer
44 Bund Roggenstroh usw.
abgeben. Diese Gesamtabgabe wurde unter alle
Besitzer verteilt in ziemlich verwickelter Weise, auf
die hier nicht näher eingegangen werden kann.
Von sonstigen Abgaben sei noch erwähnt, daß
jeder Gänsebesitzer von 3 Günsen eine an das Gut
abliefern mußte, wenn er es nicht vorzog, statt
der Gans einen ganzen Albus in bar zu zahlen.
Tie Gänse waren also damals etwas billiger als
heutzutage, es werden aber auch keine Mastfett-
gänse gewesen sein.
Außer den genannten Abgaben lasteten auf den
Dorfbewohnern noch verschiedene Dienste, die sie
der Gutsherrschaft schuldig waren. Das waren
Spanndienste (diese nur von den beiden Bauern ver-
langt), Pflugdienste, Fahrdienste und Handbienste in
Wald und Feld, wofür die Pflichtigen vom Schloß
durchschnittlich je % Pfund Brot und x/^ Maß
Branntwein (statt des früher üblichen „kräftigen,
nährenden Bieres") erhielten. Die Branntwein-
brennerei der Gutes war recht bedeutend, ermöglichte
das Halten von Mastochsen und galt überhaupt als
vornehmste Ursache der Blüte des Gutes. Der
Geldwert der genannten Dienste war recht hoch; er
wurde für Die Pflugdienste mit 10 Taler 6 Albus,
für die Fahrdienste mit 81 Taler, für die Hand-
dienste mit 195 Taler 29 Albus 7 Heller im Jahre
veranschlagt.
Als eine Art von Entschädigung für die Dienst-
pflichtigkeit war die Holzgerechtsame anzusehen. In-
folgedessen erhielt jeder Bauer 3 Klafter Holz und
1 Schock Stammreisig, jeder Köttner 2i/Z Klafter
und 1 Schock, jeder Hausbesitzer 2 Klaftern und
1/2 Schock, jeder Beisitzer 1 Klafter und 1/2 Schock.
Das Brennholz erhielt jeder Einwohner gegen ein
Forstgeld von 2 Taler für 1 Klafter Buchenholz
und von I1/3 Taler für 1 Klafter Eichenholz aus
dem Rotenburgischen Wald, der 1107 Acker in 25
Schlägen (Buchen, Eichen und Buschholz) umfaßte.
Das Gut besaß an Wald den Streitbusch 43/g Acker
und den Schloßbergswald 191/3 Acker. Ter der Ge-
meinde gehörige Wald (31 Acker) war schlecht.
Alles in allem genommen waren die Lasten
der Falkenberger recht hoch, und man wird begreifen,
welche Erleichterung ihre bald darauf beginnende
Ablösung für das Landvolk bedeutete. Dabei betont
Lotz ausdrücklich, daß von eigentlichen Leibeigen-
schaftsrechten keine Spur mehr vorhanden war.
Der Zuzug in das Dorf war frei, nur mußte jeder
Mann 10, jede Frau 5 Taler Einzugsgeld bezahlen.
Früher hatte das Einzugsgeld nur 1/2 Taler betragen
und war erhöht worden, weil die Juden sich das
zu Nutze gemacht hatten, die bis zum 12. Januar
1818 dem Landgrafen von Hessen-Rotenburg noch
76
Schutzgeld hatten zahlen müssen. Seitdem dieses
abgelöst war, hatten sich besonders viele Inden in
Falkenberg niedergelassen, dem einzigen Orte im
ganzen Amte Homberg, der Juden beherbergte.
Hier war auch eine kleine Synagoge, wo regelmäßig
Gottesdienst nach altem Brauche gehalten wurde.
Sie stand auf dem Platz, wo früher Judmann Cal-
mans (später Schmincken) Haus gestanden hatte,
und die Judenschaft mußte dafür einen Grunozins
von 1 Taler 20 Albus entrichten. Diese Synagoge
steht noch heute, ebenso wie der alte Judentotenhos
außerhalb des Dorfes in dem Grunde oberhalb der
Hopfenmühle noch benutzt wird. Um 1830 lebten
in Falkenberg 10 Handelsjuden (Mendel Dannen-
berg, Jacob Fränkel, Wallach, Wertheimer, Laib
Plaut, Meier, Meierfeld, Buxbaum, Koppel Heil-
brunn, Manus Levi)10 mit zahlreichen Familien-
gliedern, insgesamt 71 jüdische Seelen gegenüber
318 Christen. Von ihnen hatte Manus Levi sich
die Befreiung von allen Gemeindediensten erkauft,
und dafür mußten seine Erben jährlich 16 Albus
zahlen. Des Joseph Magnus Relicta (Witwe) war
ebenfalls vom Handdienst befreit und mußte dafür
1829 ein Rauchhuhn und 2 Taler jährlich steuern.
1829 wurden noch Jesaias Herz und Meyer Isaak
als Falkenberger Juden genannt.
(Schluß folgt.)
Lebmserinnerungen aus meiner Schülerzett.
Ein Beitrag zur Vierhundertjahrfeier des Gymnasium Phklippinum in Marburg.
Von Geheimrat Dr. Karl Heldmann in Rinteln.
Wie sucht ihr mich heim, ihr Bilder,
die lang' ich vergessen geglaubt!
Am Sonntag nach Ostern des Jahres 1854
verließ ich das elterliche Pfarrhaus zu Nieder-
asphe, um unter Führung meines älteren Bruders
Adolf nach dem vier Stunden entfernten Marburg
zu Fuß zu wandern. Dort sollte ich fortan das
Gymnasium besuchen. Unser Vater sagte uns beim
Austritt aus dem Hause Lebewohl; er hatte noch
Nachmittagsgottesdienst zu halten. Unsere gute
Mutter aber gab uns noch eine Strecke Weges das
Geleite und nahm dann herzlichen Abschied, be-
sonders von mir, dem noch nicht zwölfjährigen
jüngsten ihrer fünf Söhne. Wir beiden Brüder
setzten unsern Weg fort zum Städtchen Wetter
und von da, nach einer kurzen Rast bei der uns
doppelt verwandten „alten Tante", der Pfarrwitwe
Faust, über Goßfelden, den weißen Stein und das
Dorf Wehrda nach Marburg.
In Marburg teilte ich in dem Hause eines Schuh-
machers in der langen Gasse mit meinem Bruder
Adolf Wohn- und Schlafzimmer, stand aber unter
der Leitung und Aufsicht unseres älteren Bruders
August, der auf der Universität Theologie studierte
und in demselben Hause wohnte. Dieser nahm
sich meiner besonders liebevoll an, wurde jetzt mein
Erzieher und hat aus meine Bildung und geistige
Entwicklung einen bleibenden Einfluß ausgeübt.
Bei der Aufnahmeprüfung für die Quarta des
Gyrnnasiums hatte ich als der einzige von sechs
Prüflingen das Unglück, nach Quinta durchzufallen.
Dies vermeintliche Unglück aber war in der Tat
ein sehr großes Glück. Denn in Quinta legte ich
in der lateinischen Formenlehre und Syntax eine
feste Grundlage und wurde bei der ersten Ver-
setzung Primus der Klasse. Schon in der Tertia
holte ^ich die mit mir zu Ostern 1854 geprüften
und für Quarta reif befundenen Schüler ein und
überflügelte sie; ja es gelang mir, die Unter- und
Obertertia, sowie Unter- und Obersekunda zusam-
men in drei, statt in vier Jahren, zu durchlaufen.
Das Marburger Gymnasium zählte damals nach
meiner Schätzung etwa 160 Schüler, die in sechs
Klassen unterrichtet wurden.
Die Klassen Sexta, Quinta und Quarta hatten
einjährige, die Klassen Tertia, Sekunda und Prima,
in denen je zwei Schülerjahrgänge, eine obere und
eine untere Abteilung, zusammen unterrichtet wur-
den, hatten zweijährige Unterrichtskurse. Die mei-
sten Schüler waren Söhne von akademisch gebil-
deten Beamten und Geistlichen, von Elementar-
lehrern und besser situierten Landwirten; sie leb-
ten schon im Elternhause in einer gewissen geistigen
Lust. Sie wollten fast alle studieren und brachten
dazu, mit geringen Ausnahmen, auch die erforder-
liche geistige Befähigung und Willenskraft mit.
Die Schule war in einem Aufstieg begriffen.
Sie besaß eine unverhältnismäßig große Anzahl
tüchtiger, ja hervorragender Lehrer, aber auch einige
mittelmäßige, ja sogar schwache Lehrer. Die meisten
Lehrer waren etwa 50 Jahre alt, standen somit
auf der Höhe des Lebens.
Der Direktor Dr. Friedrich Münscher
lehrte Religion und Geschichte mit großer Herzens-
wärme. Stets fleißig vorbereitet sprach er frei
und unabhängig vom Lehrbuch. Wie waren wir
ihm dankbar, daß er uns Primaner in besondern,
außerhalb des gewöhnlichen Unterrichts liegenden
Stunden mit der Geschichte der Freiheitskriege und
mit den wichtigsten Ereignissen der hessischen Ge-
schichte bekannt machte! Es war uns eine Freude,
so viel über die Stadt Marburg und ihre hervor-
ragenden Gebäude zu hören, über die Elisabeth-
kirche, über das die Stadt krönende Landgrafen-
schloß, über die ehemaligen Klöster der Stadt n. a.
In: altsprachlichen Unterricht lehrte er Homers
Ilias, Sophokles oder griechische Lyriker und Horaz,
streng sachlich, ohne grammatische Tüfteleien. Wir
lasen jedes Halbjahr eine ganze Tragödie des Sopho-
kles. Im Winter lief der Direktor mit uns aus
der zugefrorenen Lahn Schlittschuh und lachte mit
77
uns über sich selbst, wenn er das Mißgeschick hatte,
zu fallen.
In einer Homerstunde lasen wir die schöne Cha-
rakteristik des alten Nestor, „der drei Menschenalter
sah". Vater Münscher — wie er bei uns hieß —
sagte im Anschluß daran, es gäbe Familien, die ein
hohes Atter erreichten. Aus einer solchen „alten
Rasse" stamme er selbst: „Ich werde auch einmal
sehr alt werden!" Dieses Ausspruchs erinnerte ich
mich, als ich anfangs der achtziger Jahre des
vorigen Jahrhunderts zur Feier seines 50 jährigen
Lehrer-Jubiläums von Kassel nach Marburg reiste.
Von dieser Feier ist mir eine Szene unvergeßlich
geblieben. Schon beim
Gange durch die Stadt war
mir das ausgestellte schöne
Bild eines ehrwürdigen
Greises aufgefallen. Seine
edlen, abgeklärtenGesichts-
züge ließen auf einen hö-
heren Geistlichen schließen,
die ordensgeschmückteBrust
aber, die Reithosen und
Reitstiefel auf einen alten
Oberst. Beim Eintritt in
die festlich geschmückte Aula
sah ich unter den Ehren-
gästen diesen alten Herrn
leibhaftig sitzen: es war der
Superintendent Schüler
aus Allendorf, um dessen
Haupt sich schon ein Sagen-
kranz gewoben hatte. Er
hatte als Feldprediger zu
Pferde die Freiheitskriege
mitgemacht. Ergreifend
war es, als der greise
Freund den greisen Ju-
bilar begrüßte, küßte und
umarmte und den Wunsch
aussprach, daß ihre und
ihrer Väter Freundschaft
sich auf Kinder und Kindes-
kinder vererben möge.
Der Unterricht im La-
teinischen lag in der Hand
des Dr. A u g. S o l d a n. Schwärmerisch für Cicero
und seine Reden begeistert, hatte er oie kleinen
Reden Ciceros herausgegeben. Wir Schüler be-
wunderten seine lateinischen Kenntnisse, legten ihm
aber gern verfängliche Fragen -vor, z. B„ wie würde
man „konservativ" lateinisch übersetzen. Schlag-.,
fertig und ohne langes Besinnen gab er die. Antwort:
Qui optimis rebus conservandis est addictus.
Wer wollte, konnte viel Latein bei ihm lernen.
Er war ein Original, stets sauber und vornehm ge-
kleidet. Auf der Straße trug er stets seinen „Brau-
nen" (Rohrstock) mit silbernem Knopf, im Winter
einen Pelzmantel, bei Eisglätte auch wohl Eis-
sporen. Durch seine originellen Aussprüche gab er
uns unausgesetzt Veranlassung zu Scherz und Witz.
78
Unser Jugendübermut aber hat die Hochachtung
vor seiner Person niemals außer acht gelassen.
Es belustigte uns, wenn er im Gespräch und im
Unterricht immer die Wendung: „Nachher eben,
kann mer sage" gebrauchte, oder wenn er einen
Schüler „einen innerlich rasierten Tropf" (hohl
und glatt) nannte, oder wenn er den nicht erwartet
glücklichen Ausfall einer Reifeprüfung bespöttelte:
„der ist durchgeschlüpft, wie der Hund durchs Mühl-
rad schlüpft" oder „beim Hinausgehen hawwe se
ihm noch die Frackschlippe mit der Türe festge-
klemmt". Die Worte, mit denen Cicero (in Cat. II)
die Flucht seines Feindes Catilina dem Senate ver-
kündigt ^„abiit excessit,
evasit erupit“ übersetzte
er: „Er kniff aus, ging
durch, gab Fersengeld, fort
war er", tadelte aber bei
der folgenden Schüler-
generation den Schüler,
der dieselbe Übersetzung
zum besten gab, mit der
Frage: „In welchem alten
Schunken hawwe Se denn
die Übersetzung gefun-
den ?"
In berechtigter Leiden-
schaft konnte er heftig
schelten und gebrauchte
dann derbe Ausdrücke.
Ihm wurde nichts übel
genommen; nur das gar
zu komische Scheltwort:
„Ihr Talgmöpse" wurde
festgehalten und ihm der
Beiname: „Der Talg-
mops" für immer beige-
legt. Wenn im späteren
Leben sich ehemalige Mar-
burger Schüler wieder zu-
sammenfanden, dann wur-
de er bald der Mittelpunkt
der fröhlichen Jugender-
innerungen. Und wäre sein
Schatten aus Elysium auch
drohend dazwischen ge-
treten: wir würden ihm zugerufen haben: Ver-
zeihe uns, du teurer Lehrer, wir haben dich immer
geliebt und verehrt; und ich persönlich bleibe dir
dankbar, solange ich lebe, für deinen Lateinunterf-
richt in der Schule und aus deinem Studierzimmer,
wo du .mir die Feinheiten des Ciceronianischen
Stils erschlossen hast. Av6, anima candida!
Dys hier beigefügte wohlgetrosfene Bild des be-
liebten Lehrers ist nach einer Bleistiftzeichnung
des verstorbenen Sanitätsrats Dr. Ludwig Justi in
Marburg (Oberprimaner 1859) angefertigt worden.
Zwei hochgeachtete, tüchtige Lehrer waren die
Professoren Dr. Eckhard Collmann und Dr. Karl
Ritter. Dr. C o l l m a n n, Ordinarius der Tertia,
war Altphilologe; er hatte sich bei einem längeren
Dr. August Soldan.
Nach einer Bleistiftzeichnung von Dr. Ludwig Justi.
Aufenthalt in Paris mit gutem Erfolge auch der
romanischen Philologie zugewandt. Er sprach gut
französisch und verfaßte eine große Anzahl fran-
zösischer Schulbücher. Auf allen kurhessischen Gym-
nasien war seine „Französische Vorschule" im Ge-
brauche, die den Tertianer rasch und geschickt in
die französische Formenlehre und Syntax einführte.
Dr. Collmann hielt gute Ordnung und stramme
Zucht.
Dr. Karl Ritter lehrte Naturwissenschaften
und besonders Geographie. Er hatte ein Lehrbuch
der Geographie verfaßt, von dem er zu sagen
pflegte: „mein Büchlein hat mich manchen Schoppen
Ol gekostet". Er war in den unteren und mittleren
Klassen wegen seiner Strenge gefürchtet, in Prima
war er umgänglich und freundlich. Mit einer ge-
wissen Pedanterie prägte er bestimmte Dinge immer
mit denselben Worten und Fragen so lange ein,
bis sie im Gedächtnis der Schüler festsaßen. So
ist wohl allen seinen Schülern Herkunft, Form
und Definition des Wortes „Horizont" imvergeß-
lich geblieben. So habe ich die Produkte der ver-
schiedenen Länder, die Einteilung der Alpen, oer
Gesteine, der Vögel usw. bis heute treu behalten.
Zeichenunterricht wurde damals im Gymnasium
nicht erteilt. Dr. Ritter aber hat uns durch die
Anfertigung geographischer Skizzen, namentlich der
deutschen Flüsse, etwas Zeichnen gelehrt. Bei der
Geographie Frankreichs wußte er anschaulich von
französischer Ländergier, Raub- und Plünderungs-
sucht zu erzählen, auch von den französischen At-
lanten, in denen Frankreichs Grenzen mit blauer
Farbe richtig und klar angegeben, aber in dem-
selben Blau, ein wenig matter, bis zum Rhein
vorgeschoben seien, um den Knaben zu zeigen:
soweit müßt ihr Frankreichs Grenzen ausdehnen;
dann ereiferte er sich: Die dummen Kerle! Sie
sollten doch wissen, daß Volks- und Landesgrenzen
mit der Sprachgrenze über den Kamm der Gebirge
laufen. Dr. Ritter war bei seinen Schülern eine
unbedingt anerkannte Autorität. Die Versicherung:
„das ist wahr, der alte Ritter hat's gesagt" ent-
sprach dem avrög e(pa der Pythagoräer.
(Schluß folgt.)
Aus der Geschichte einer Kasseler Aubrücke.
(Schluß.)
Letzterem Ersuchen entsprach dann die Polizei-
Kommission, nachdem sie die Hauptstaatskasse benach-
richtigt hatte, daß der Freispruch lediglich aus den
oben angegebenen formalen Gründen erfolgt sei,
durch folgende Bekanntmachung im „Wochenblatt":
„Mit Beziehung auf das unterm 6. August 1828
erlassene Verbot und in Übereinstimmung mit Kur-
fürstlicher Residenz-Polizei-Kommission, wird hier-
mit anderen Personen, als dem Pachter der herr-
schaftlichen Fähre aus der Fulda, das Überfahren
über diesen Fluß, soweit derselbe die Karlsaue be-
grenzt, gegen eine Vergütung, mag solche gefordert
oder ungefordert gegeben werden, bei einer Strafe
von 5 Talern untersagt. Cassel, am 2. December
1843. Kurfürstliche Residenz-Polizei-Direktion. Ro-
bert"?6 Hartdegen erklärte sich nun bereit, 60Tlr.
Pacht, wie bisher, auch für die folgende Pacht-
periode zu zahlen.
Unterdessen hatte bereits am 17. Juni 1843
die Hauptstaatskasse, wie ihr aufgegeben war, dem
Finanzministerium angezeigt, daß am 1. Januar
1844 eine Neuverpachtung der Fähre eintreten müsse,
und um Genehmigung des Pachtvertrags in der
bisherigen Fassung gebeten. Sie erhielt keine Ant-
wort. Sie erinnerte am 30. August und am 20. Ok-
tober 1843. Endlich am 7. November 1843' erhielt
sie die Ermächtigung, mit Hartdegen zu verhandeln
und, falls er die Fähre zum bisherigen Preise nicht
übernehmen wolle, sie öffentlich auszuschreiben. Auf
die Anzeige, daß Hartdegen zur Übernahme bereit
sei, erfolgte dann am 28. Dezember 1843 die Ge-
26 Der Regierungsrat und vortragende Rat im Mini-
sterium des Innern Karl Wilhelm Robert verwaltete
auftragsweise die unbesetzte Stelle des Polizeidirektors.
Von Zolldirekwr i. R. A. Woringer.
nehmigung zum Vertragsabschluß, auf Grund eines
höchsten Reskriptes des Kurprinzen vom 19. dess.
Mts. In Befolgung dieses Reskripts wurde die
Hauptstaatskasse ferner angewiesen, „der Kurprinz-
lichen Hofkasse als Entschädigung für die Benutzung
des einen Bestandteil der Karlsaue und der Oran-
gerie nicht ausmachenden Hof-Eigentums, um zu
der Fähre zu gelangen, während der Tauer des
Pachtvertrags jährlich den Betrag von 30 Talern
zahlen und an dem Pachtgelde absetzen zu lassen".
Auf sein Gesuch vom 14. Juni 1843 um Erlaß des
Pachtgeldes für das 1. Halbjahr 1843 erhielt Hart-
degen dann am 29. Mai 1844, also nach 111/2
Monat, eine abschlägige Antwort!
Tie Verlängerung des Vertrags für die Pacht-
periode 1847 bis Ende 1849 erfolgte ohne Schwierig-
keit, es wurde aber frühere Kündigung vorbehalten
für den Fall, daß wieder eine Schiffbrücke an der
Überfahrtsstelle ausgestellt werden sollte; diese Auf-
stellung unterblieb aber. So verblieb es auch in den
folgenden Jahren bis 1856. Da trat ein Ereignis
ein, das zum völligen Ruin des Hartdegen führen
sollte.
Auf Befehl des Kurfürstenwar am 2. uni)
3. September 1856 die mittlere, über die kleine
Fulda führende sog. Naturbrücke abgebrochen wor-
den, angeblich wegen Baufälligkeit, die aber ent-
weder gar nicht oder doch nur in so geringem Maße
vorhanden war, daß eine Ausbesserung leicht mög-
lich gewesen wäre. Damit war der Zugang zur
Fähre gesperrt. Das machte sich sofort im Fährbe-
27 Ter Kurprinz und Mitregent Friedrich Wilhelm
war 1847 seinem verstorbenen Vater, Kurfürst Wil-
helm II., in der Regierung gefolgt.
79
triebe bemerklich. Das Publikunr versuchte zwar
zunächst, sich selbst zu helfen, indem große Steine
in den Bach geworfen wurden, über die man hinüber
sprang; aber das wurde von der Polizei verhindert
und schließlich wurden sogar die zur Brücke hinunter
führenden Fußwege mit Rasen belegt und ihr Be-
treten streng verboten. Hartdegeu war dadurch
schwer geschädigt. Er war nicht imstande, das Pacht-
geld aufzubringen, und wandte sich deshalb am
8. September 1856 mit folgendem Gesuche an das
Finanzministerium: „Durch die Wegnahme des
Brückchens, das in Verbindung mit der Fähre den
Verkehr mit dein rechten Fuldaufer, der Leipziger,
Hannöverschen und Nürnberger Straße und den
daran gelegenen Dörfern vermittelt habe, sei seine
Fähre als aufgehoben zu betrachten. Während des
traurigen Sommers int Gefolge der drückenden
Zeit hätte der geringe Ertrag der Fähre deshalb
kaum die täglichen Verwaltungskosten gedeckt; an
ein Aufbringen des Pachtzinses sei nicht zu denken
gewesen. Seine letzte Hoffnung seien die Herbsttage
gewesen, in denen bisher erfahrungsmäßig die Land-
partien der Kasselaner und die Besuche der Herbst-
manöver eine bessere Einnahme gebracht hätten.
Diese Hoffnung sei mm durch die Beseitigung des
Brückchens vernichtet. Er bitte deshalb: 1.) ihm
den Pachtzins für 1856 zu erlassen, 2.) für die
späteren Pachtjahre den Pachtzins herabzusetzen,
wenn wirklich, wie verlaute, der Wiederaufbail des
Brückchens nicht herbeigeführt werden könnte." Das
Finanzministerium wies darauf die Oberzolldirek-
tion an, dem Hartdegen zu eröffnen, daß ein recht-
licher Anspruch aus gänzlichen Erlaß des Pacht-
geldes oder auf Entschädigung in seillem Gesuch
überall nicht begründet sei, indem das Bestehen der
über die kleine Fulda führenden Brücke weder in
dem mit ihm über die Fuldasähre abgeschlossenen
Pachtverträge garantiert worden sei, noch als eine
wesentliche Bedingung für die Ausübung des Fähr-
rechts betrachtet werden könne, vielmehr ohne
nähere, von dem Nachsuchenden aber in keiner
Weise gelieferte Darlegung, in welchem Grade der
Pachtnutzen durch die Beseitigung jener Brücke ver-
künrmert worden, angenommen werden müsse, daß
gegenwärtig, wo der Zugang zum diesseitigen Fulda-
nfer nicht etwa versperrt, sondern nur mittelst
eines unbedeutenden Umweges, der nach Abbruch
der Brücke zu machen sei, in einigem, aber keines-
wegs erheblichen Maße erschwert erscheine^, noch
ebenso häufig wie früher die Gelegenheit zur Aus-
übung der Pachtgerechtsame, folglich zur Erlangung
des Pachtnutzens, sich darbiete, am lvenigsten aber
28 Der Umweg war doch recht erheblich. Man muß
zu seiner Beurteilung berücksichtigen, daß die Karlsau
von der Schönen Aussicht wegen des an dieser entlang
laufenden Eisengitters nicht zu erreichen war und der
vom Autor zur Orangerie hinab führende Fahrweg,
die Maillebahn, zeitraubende Schlangenwindungen
machte, die daneben hinab führenden sog. Katzentreppen
aber bet schlechtem Wetter und für ältere Leute schwer
zu benutzen waren.
80
der letztere so geschmälert sei, daß dadurch eilt
Anspruch aus gänzlichen Pachterlaß irgend gerecht-
fertigt werde."
Hartdegen ließ sich aber in seiner Not nicht ab-
schrecken. Am 22. Mai 1857 erneute er sein Gesuch,
zu dem Landbaumeister Sallmann29 * endlich am
31. August 1857 (wieder eine bei der Not des
Gesuchstellers doch unverantwortliche Verschlep-
pung!) berichtete, daß nach Angabe der Anwohner
der Fulda die Frequenz der Fähre seit Wegnahme
des Brückchens über die kleine Fulda erheblich ab-
genommen habe. Über die Vermögensverhältnisse
Hartdegens könne er nichts berichten. Das war
doch auch der Oberzolldirektion zu arg. Schon am
5. September hatte Sallmann feinen Bericht mit der
Weisung zurück, sich nach den Verhältnissen des
Hartdegen zu erkundigen, wenn er selbst nichts
darüber wisse. Darauf erfolgte dann ain 12. Sep-
tember die Anzeige, „nach Angabe des Bezirksvor-
stehers Döll50 sei Hartdegen 63, seine Frau 44 Jahre
alt, sie seien kinderlos, hätten aber eure 14 jährige
Nichte bei sich. Er sei ein recht arbeitsamer, flei-
ßiger lind sparsamer Mann, der von früh morgens
bis spät abends tätig sei. Er müsse eine Schuld
von 8000 Talern an die Prinz Georgsche Stiftung 31
mit 41/2 o/o verzinsen". Die Oberzolldirektion bean-
tragte nun am 19. September 1857 unter Dar-
stellung der Verhältnisse die Ermäßigung des Pacht-
geldes für die Jahre 1857 und 1858 aus die Hälfte,
also auf 30 Taler. Das Finanzministerium ging
aber nicht so weit. Es bewilligte für 1856 einen
Nachlaß von 10 Taler, für 1857 und 1858 einen
solchen von je 15 Taler. Die Oberzolldirektion
hatte in ihrem Berichte die Ansicht ausgesprochen,
daß von dem Schaden die die halbe Einnahme be-
ziehende .Hofkasse die Hälfte zu tragen habe. Es
kam aber anders. Die Hofkasse bestand auf der
weiteren Ablieferung von 30 Talern. Man ver-
gegenwärtige sich die Sachlage: die Fähre gehört
dem Staate, der daraus 60 Taler Einnahme be-
zieht. Da kommt die'Hofverwaltung und verlangt
dafür, daß sie den Weg zur Fähre durch ihr Gelände
gehen läßt, die Hälfte dieser 60 Taler. Dann sperrt
sie den Weg, entzieht sich also ihrer Leistung, drückt
dadurch die Einnahme auf 45 Taler herab, verlangt
aber für die nicht mehr gebotene Leistung trotzdeut
die Hälfte der früheren Einnahme mit 30 Taler!
Es versteht sich von selbst, daß alle diese Vor-
gänge in der durch die Entfernung des Brückchens
geschädigten Kasseler Bürgerschaft lebhaft besprochen
wurden. Auch die „Hessische Morgenzeitung", die
29 Friedrich Karl Siegmund Sallmann war Land-,
Straßen- und Wasserbaumcister für den Kreis Kassel
rechts der Fulda.
so Bäckermeister Eckhardt Döll war Bezirksvorsteher
für die Unterneustadt und wohnte alte Leipziger Str. 165
(jetzt Bettenhäuserstraße).
Stiftung des Prinzen Georg zu Hessen vom
3. Juli 1747 zur Unterhaltung von Hausarmen, vor-
nehmlich Offiziers- und Soldaten-Wittven, und zur
Erziehung von Soldatenkindern und anderen Waisen.
einzige Kasseler Zeitung, die ein offenes Wort zn
reden wagte, nahm sich der Sache an. Aber alles
war vergebens. Nun fragte man sich natürlich,
was denn der Grund für alle die getroffenen Maß-
nahmen sei. Da sickerte denn allmählich durch, der
Kurfürst habe seiner Gattin, der Fürstin Gertrude
von Hanau, die Nutznießung der an der Spitze
zwischen Fulda und kleiner Fulda gelegenen Wiese
überlassen: in ihre Tasche flössen auch die 30 Taler
aus der Pacht. Nun werde vielfach von den den
Fußweg von dem Brückchen zur Fähre, der durch
die Wiese lief, benutzenden Leuten durch Abbiegen
voui Wege die Grasnutzung und damit die Einnahme
der Fürstin geschädigt. Deshalb habe die. Fürstin
aus Beseitigung des Brückchens gedrungen, da ein
Benutzen des Weges dann nicht mehr vorkam. Das
wurde damals allgemein geglaubt. Ob es wirklich
so gewesen ist, vermag ich mit Bestimmtheit nicht
zu sagen. Von einem durchaus glaubwürdigen, in
Hofkreisen verkehrenden Herrn ist es mir aber vor
Jahren als zutreffend bestätigt worden.
Nun lief mit dem 31. Dezember 1858 wieder
eine Pachtperiode ab. Auf Befragen erklärte Hart-
degen am 2. Juli 1858, er werde die Fähre nur
dann wieder übernehmen, wenn man ihn gegen die
fortwährenden Eingriffe in seine Führrechte schütze;
auch könne er nicht mehr als 10 Taler Pacht zahlen.
Übrigens wolle er darauf aufmerksam machen, daß
der schmale Gartenweg, an dem Hartdegen wohnte
und der von den nach Waldail, Crumbach usw.
passierenden Fährgüsten sehr stark benutzt werde,
über ein ihm eigentümliches Grundstück lause. Diesen
Weg werde er sofort sperren, falls er die Fähre
abgeben müsse. Zur Vorlage dieser Erklärung
braucht der Landbaumeister Sallmann wieder über
6 Wochen! Unterdessen hatte sich Hartdegen am
29. Juli bereit erklärt, 20 Taler Pacht zu zahlen,
wenn er in seinen Rechten erfolgreich geschützt werde.
Die ausgesprochene Drohung, das „Gartengaß-
chen" zn schließen, machte Eindruck. Nachdein Sall-
mann festgestellt hatte, daß Hartdegen rechtlich und
tatsächlich in der Lage sei, seine Drohung ausführen
zu können, beantragte die Oberzolldirektion beim
Finanzministerium, da ein öffentliches Ausgebot
der Fähre bei deren geringem Betriebe keinen Er-
folg verspreche, Hartdegen ein Angebot von 25 Tlr.
Pacht zu machen. Ein völliges Verbieten des Über-
setzens durch andere Personen sei nicht möglich,
weil dadurch die anderen Badehalter geschäoigt wür-
den. Aus die Drohung Hartdcgens wurde besonders
aufmerksam gemacht. Trotzdem ivagte es das Finanz-
ministerium, die Fähre zur Verpachtung öffentlich
ausbieten zn lassen, natürlich aber erfolglos. Nun
bot man Hartdegen die Fähre „vorläufig" gegen
Zahlung einer Pacht von 1 Taler monatlich an.
Hartdegen bestand aber nun darauf, nicht mehr
als 10 Taler jährlich zu zahlen. So kam der
1. Januar 1859 heran und die Fähre wurde pachtlos.
Die Oberzolldirektion geriet in Verlegenheit. Auf
eine Anfrage, was geschehen solle, erhielt sie endlich
am 1. Februar die Mitteilung, der Kurfürst habe
bestimmt, daß die Fähre nicht wieder verpachtet
werden solle. Dem Vertrage mit Hartdegen ent-
sprechend, sollte dieser nun die Fährgerätschasten,
bestehend in einen: „dem Verfalle ziemlich nahe-
stehenden alten Schiff und einer nicht mehr im
besten Zustand befindlichen Leine", in gutem Zu-
stand, für den er zu sorgen habe, zurückgeben oder
46 Taler zahlen. Hartdegen, dazu nicht imstande,
richtete nun Ende Februar 1859 ein Gesuch um
Weiterverpachtung der Fähre für 30 Taler unmittel-
bar an den Kurfürsten, verstand sich sogar dazu,
40 Taler Pacht zu zahlen. Am 12. August 1859,
also nach mehr als 5 Monaten, erging darauf der
Bescheid des Finanzministeriums, daß der Kurfürst
nach wie vor die Genehmigung zur Verpachtung
der Fähre verweigere. Mittlerweile war nach langem
Hin- und Herschreiben einer Badehalterin Witwe
Koch die Einrichtung einer Fähre voin Renthvss-
tore nach ihrem Grundeigentum am rechten Ufer
gestattet worden. Um nun seinen Badebetrieb nicht
ganz zu verlieren, bat jetzt Hartdegen am 12. März
1860, während der Badezeit des Jahres 1860 eine
Fähre vom Aupförtnerhäuschen nach dem Dielen-
haus anlegen zu dürfen; er wollte für die 5 Monate
' Mai bis September im ganzen 8 Taler Pacht
zahlen. Einer Anregung des Finanzministeriums,
diese Fähre auch für den Verkehr im allgemeinen
zu betreiben, lehnte er wegen voraussichtlich zu ge-
ringer Benutzung ab. Als man ihm anbot, die
Fähre der Witwe Koch, die übrigens dazu auch
nicht bereit war, für seine Badegäste mit zn benutzen,
ging er daraus, weil unpraktisch, nicht ein, wav
aber nun bereit, am Dielenhaus einen allgemeinen
Betrieb einzurichten. Nun erhielt er die Genehmi-
gung, die aber ausfallenderweise doch nur für Bade-
gäste erteilt war; Pachtbetrag für die 5 Monate
8 Taler.
Hartdegen war nun bereits so verarmt, daß er
seinen Grundbesitz verkaufen mußte; damit mußte
er auch seine Badeanstalt verlegen. Er wollte sie
am User neben dem Dielenhause verankern und bat
am 12. Februar 1.861 um gleiche Fährgenehmigung,
wie im Vorjahre. Da kam ihm der Kurfürst wieder
in den Weg und verfügte, daß wegen der im Tielen-
hanse lagernden Militäreffekten „bei diesem Hanse
eine Fähre nicht anders als zn militärischen Zwecken
gestattet werden könne". Dagegen wurde Hart-
degen, der nun seine Badeanstalt an das rechte Ufer
gegenüber dem Renthofe verlegte, ein Fährbetrieb
vorn Renthofstore dorthin für die Badesaison und
gegen 8 Taler Pacht gestattet. Spier traf nun Hart-
degen ein neuer Schlag. Nachdem seine Einnahme
infolge des kalten und nassen Wetters im Sommer
1862 sehr gering gewesen war, riß das Hochwasser
der Fulda am 31. Juli dess. Jahres fast die ganze
Badeanstalt mit. Nachdem Landbanmeister Sall-
inann berichtet hatte, daß Hartdegen, der jetzt 68
Jahre alt war, in sehr drückenden Verhältnissen
lebe, seit längerer Zeit krank sei und von mehreren
Kasseler Bürgern ein Aufruf zu seiner Unter-
stützung durch milde Gaben in den Zeitungen ver-
81
öffentlicht worden sei, wurde ihm vom Finanzmi-
nisterium die Zahlung des Pachtzinses für 1862
erlassen. Tie Badesaison 1863 hat Hartdegen nicht
mehr erlebt; er ist anfangs 1863 „in größter Ar-
mut", wie Sallmann berichtet, gestorben.
Am 19. Juni 1866 rückten die preußischen Trup-
pen in Kassel ein; der Regierungspräsident v. Möller
wurde zum Zivilgouverneur für Kurhessen bestellt.
Schon Ende dess. Monats wies dieser das Finanz-
ministerium, das bereits am 2. Juli darauf ver-
fügte, an, die Fähre hinter dem Orangeriegebäude,
also an der ursprünglichen Stelle, sofort wieder
zu verpachten. Die Wiederherstellung des Natur-
brückchens über die kleine Fulda wurde in Aussicht
gestellt. Man sieht auch hier, wie bei der schnellen
Entfernung des Holländischen Tores und anderen
Anordnungen, daß die preußische Regierung über
die Wünsche und Beschwerden der Kasseler Bevöl-
kerung entweder schon vor der Besetzung Kassels
sehr gut unterrichtet war oder nach der Besetzung
alsbald unterrichtet worden ist und durch Erfüllung
der Wünsche und Abstellung der Beschwerden Stim-
mung für sich zu machen suchte. Nun ging auch,
alles in flotterem Tempo. Obwohl wiederum viel-
fach hin und her geschrieben wurde, war doch bereits-
am 13. Juli ein Pachtvertrag mit dem Badehalter
Sinning abgeschlossen, der den Fährbetrieb an der
alten Stelle und unter den alten Bedingungen
gegen 40 Taler jährliche Pacht übernahm. Die von
diesem bisher vom Renthofstore aus betriebene
Fähre ging ein.
Etwas weniger glatt vollzog sich die Wieder-
herstellung der Brücke über die kleine Fulda. Trotz-
dem erst mit dem Hofmarschallamt und der Kasseler
Stadtverwaltung über die Sache verhandelt worden
war, konnte das General-Gouvernement doch schon
anfangs Juli das Finanzministerium und am
7. Juli dieses die Oberzolldirektion mit entspre-
chender Anweisung versehen. Die Wiederherstel-
lung sollte aus Kosten der Hofverwaltung an der
alten Stelle und in ähnlicher Holzkonstruktion und
Größe geschehen. Nach Ansicht der Stadtverwal-
tung genügte „eine auf etwa 30 Fuß langen Trag-
balken ruhende, mit zweizölliger Bohlenanlage und
einer Einfriedigung von rohem Astholz versehene"
Fußgängerbrücke, die aber gegen Hochwasser geschlitzt
werden sollte. Mit der Ausführung wurde von
der Oberzolldirektion der Landbaumeister Sallmann
beauftragt. Dieser, der bisher die Angelegenheiten
der Fähre, deren Anlegestelle sich doch auch auf
dem linken Fuldaufer befand, anstandslos besorgt
hatte, erinnerte sich plötzlich, daß er Landbaumeistev
für den Kreis Kassel rechts der Fulda sei. Er
lehnte also die Ausführung des Auftrags mit der
Begründung ab, daß für die Sache der Landbaw-
meister für das linke Ufer zuständig sei. Er mochte
wohl der preußischen Besatzung keine Dauer zu-
trauen und für den Fall der Rückkehr des Kurfürsten
Unannehmlichkeiten befürchten. Jetzt wehte aber
ein anderer Wind; auf solche Ausflüchte ließ man
sich nicht mehr ein. Auf seine Vorstellung vom
9. Juli erhielt er schon am 10. die Belehrung, daß
die Sache weder zum Geschäftsbereich des Land-
baumeisters rechts noch links der Fulda, sondern
zu dem der Hofverwaltung gehöre, daß aber auf
Befehl des Gouvernements der Staatsbehörde die
Ausführung übertragen sei und er es sich selbst
zuzuschreiben habe, wenn durch die Verzögerung
Unannehmlichkeiten für ihn entständen. Darauf
ging schon am 13. Juli ein Kostenanschlag über
380 Taler für den Brückenbau und über 110 Taler
für die Herstellung der Zngangswege32 mit dem Zu-
fügen ein, daß bereits ein Kasseler Zimmermeister
mit dem Brückenbau beauftragt sei. Am 28. Juli
begann die Aufstellung der Brücke. Nmr hatte man
aber bei der Herstellung der Brücke nicht mit den
Kasseler Jungen gerechnet. Schon am 14. Sep-
tember zeigte Sallmann der Oberzolldirektion an,
die Sicherheitsgeländer der Naturbrücke seien frevel-
hafter Weise durch Abschälen der aufgenagelten
Eichenrinde nicht unbedeutend beschädigt, ohne daß
die Täter ermittelt waren. Jetzt hatte aber die
Oberzolldirektion die Sache satt. Am folgenden
Tage schon antwortete sie, „daß man diesseits keinen
höheren Auftrag habe, die Reparatur der fraglichen
Brücke, sowie deren Beaufsichtigung besorgen zu
lassen, weshalb man sich nicht veranlaßt sehen
könne, ex oklieio in diese Angelegenheit weiter ein-
zugreifen".
Nachdem später durch den 1870 erfolgten Bau
der sog. Drahtbrücke sich der Verkehr über die
Naturbrücke erheblich gesteigert hatte, wurde anstelle
der schadhaft gewordenen Holzbrücke eine breitere
Steinbrücke aufgeführt.
Es möchte scheinen, als ob in vorstehenden Zeilen
dieser „einfachen, aber traurigen Geschichte"33 zu
viel Wichtigkeit beigelegt sei. Wer aber die den
alten Kasselanern noch erinnerliche Aufregung kennt,
die s. Z. die Angelegenheit in Kassel erregte, und
das tiefe Mitleid, das man dem Fährpüchter Heinrich
Hartdegen widmete, der wird die ausführliche Schil-
derung begreiflich finden. Diesem Mitleide gab
auch die Hessische Morgenzeitung in einem Berichte
über die Wiederherstellung des Brückchens Aus-
druckes, den sie mit den Worten schloß: „Der Mann
verlor durch diese Maßregel alles, was er in vielen
Jahren durch Fleiß und Sparsamkeit erworben
hatte, er kam geradezu an den Bettelstab. Jetzt
schlummert er im kühlen Schoß der Erde".
Über den auf Seite 50 erwähnten Geheimen Kriegs-
rat Karl Wilhelm Lennep sandte uns Herr
Bibliotheksrat Prof. Dr. Ph. Losch in Berlin-Steglitz fol-
gende Mitteilung, für die wir ihm unseren besten Dank aus-
jprechen: Der als Badeanstaltsbesitzer in Kassel er-
wähnte Geh. Kriegsrat Karl Wilh. Lennep ist nicht
32 Die tatsächlichen Kosten des Brückenbaues be-
trugen nur 347 Taler 24 Silbergroschen 6 Heller
(= 1043 RM 45 Pf). Die von der Hofverwaltung
bestrittenen Kosten der Wegeherstellung waren nicht
zu ermitteln.
33 Hessische Morgenzeitung Nr. 2399 vom 29. Juli
1866.
82
1805 ober 1806, sondern erst 1819 zu Kassel gestorben.
Er war an der Rettung des kurfürstlichen Schatzes
stark beteiligt. Am 12. März 1807 kam er in Beglei-
tung des bekannten Kapitäns Mensing nach Rendsburg
und überbrachte dem Kurfürsten verschiedene vor den
Franzosen in Sicherheit gebrachte Pretiosen. Er blieb
auch weiterhin in enger Verbindung mit dem geflohenen
Fürsten, wurde infolgedessen von der westfälischen Re-
gierung überwacht und im Herbst 1808 auch eine Zeit-
lang in Haft genommen. Nach dem Dörnbergischen
Aufstand brachten ihn die Franzosen mit anderen Ver-
dächtigen nach Mainz. Trotzdem war ihm der Kurfürst
nicht wohlgesinnt, Werl er (mit Recht oder mit Unrecht?)
glaubte, das; L. bei der Rettung der Wertsachen nicht
uneigennützig gehandelt habe. Besonders mißtrauisch
machte den Fürsten der Umstand, daß L. im Sommer
Adolf Lins f.
Aus der Reihe der älteren hessischen Küttstler ist
nun auch am 26. März Adolf Lins abberufen
worden. Ihm war es wenigstens ebenso wie Wilh.
Ritter, der im vorigen Jahre starb, vergönnt,
das biblische Alter zu erreichen, während die Freunde
Otto Ubbelohde, Heinrich Otto, Wilhelm Thielmann
und Friedrich Fennel im besten Mannesalter aus
frohem Schaffen durch den Tod herausgerissen
wurden.
Adolf Lins war am 21. Oktober 1856 in
Kassel als Sproß einer alten hessischen Familie
geboren, und schon frühzeitig (etwa 1873) Schü-
ler der Kasseler Kunstakademie geworden, die sich
damals, sehr notdürftig untergebracht, im ehema-
ligen landgräflichen Marstallgebäude in der Fried-
richstraße (späteren Hölkeschen Haus) befand. Als
Lehrer für Malerei und Zeichnung wirkten an der
Akademie der stellvertretende Direktor, Professor
Müller, und die Professoren Bromeis, Stiegel und
Jhlee, von denen Lins, sowie seine späteren Kas-
seler Studienfreunde, der 1917 verstorbene Theodor
Matthei, der noch bei allen Kasselanern in frischer
Erinnerung lebt, und der etwas jüngere Ernst
Zimmermann, der schon 1898 in Kassel starb, gar
viel zu erzählen wußten. Nachdem Lins bei der
Ausschmückung der neuen Gemäldegalerie mit figür-
lichen Wandmalereien mit tätig gewesen war, sie-
delte er gegen Ende der 70 er Jahre mit Freund
Zimmermann ttach Düsseldorf über, wo er bis zu
seinem Lebensende seinen Wohnsitz behielt.
Wie alle Hessen hing er aber treu an der
Heimat, die er mit Ausnahme der letzten Lebens-
jahre alljährlich zu Studienzwecken auffuchte. Wil-
lingshausen, das durch Meister Knaus einen großen
Ruf erhalten hatte, sah ihn schon als Schüler der
Kasseler Akademie 1875 zum ersten Male und dann
Jahrzehnte lang fast alljährlich, so daß es wohl
kaum einen Maler gibt, der in diesem Malerdorf
volkstümlicher gewesen wäre als Adolf Lins, der
es zudem auch aufs beste verstand, in stets humor-
voller Weise mit Alt und Jung zu verkehren.
Kam der Lins mit dem Sommer ins Land, so
liefen die Kinder die Gassen entlang und riefen
1811 einer Einladung nach Franzensbad (um Rechen-
schaft abzulegen d6 ses iniquites et des sommes per^ues)
nicht Folge leistete uno statt dessen nach Berlin zum
Fürsten Witgenstein ging, mit dem der Kurfürst da-
mals schlecht stand. Nach der Restauration wurde L.
noch einmal zu einer diplomatischen Sendung betraut,
als es sich im August 1814 darum handelte, die
sächsische Exekution von Hessen abzuwenden; er fiel
aber oann völlig in Ungnade und starb verarmt ohne
Anstellung und Pension am 8. Oktober 1819 zu Kassel.
Daß er kurz vorher an einem Komplott gegen den
Kurfürsten teilgenommen und nach dessen Entdeckung
Selbstmord begangen habe, wie der geschwätzige preu-
ßische Gesandte von Hänlein (angeblich nach einer Mit-
teilung Kurf. Wilhelms II.) später nach Berlin be-
richtete, klingt nicht sehr glaubwürdig. Ph. Losch.
Von Karl Vanher, Marburg.
es in alle Häuser hinein, „der Lins ist da, der Lins
ist da!" Er kannte und nannte auch alle Kinder,
ältere Mädchen und junge Frauen mit dem Vor-
namen und ließ keine vorbeigehen, ohne ihr ein
paar muntere Worte zuzurufen. Die Kinder waren
ja neben den Gänsen hauptsächlich die Gegenstände
seiner Willingshäuser Bilder, unter denen wohl
das Bild „Lieder ohne Worte" — hinter einer
Reihe schnatternder Gänse zieht singend eine Schar
Kinder her — durch vielfache Nachbildungen am
bekanntesten geworden ist. Die Kinderbilder ent-
standen meist auf Gastwirt Haase's Hof inmitten
der Schar fröhlich lärmender Kinder, gackernder
Hühner, schnatternder Gänse, quakender Enten und
grunzender Schweine, was alles dem Maler, der
mit der langen Pfeife auf seinem Feldstuhl vor
der Feldstaffelei mit dem Bilde saß, gerade die
rechte Umgebung für sein Schaffen war. Der nächste
Hauptwerkplatz war am prachtvoll malerischen alten
„Gänsesteg" im Antrefftal, wo am Wasser täglich
die große Gänfezusammenkunft des Torfes war.
Dort war lebensfrohes und ohrenbetäubendes Ge-
schrei der mit geräuschvollem Flügelschlag in der
im Sonnenglanz glitzernden Antreff badenden Gänse,
dort auch das schönste Stück Landschaft mit dem
Blick an dem baumumsäumten in vielfachen Win-
dungen nach dem Schwalmtal hineilenden Bach
entlang nach den fernen Bergen des Knüll und
mit dem stolzen Buchenwald, der die jenseits des
Baches steil aufsteigenden Wiesen krönt. In dieser
Umgebung schuf Lins das morgentaufrische leuch-
tende große Gänsebild, das auf der Pariser
Weltausstellung 1900 mit einer goldenen Medaille
ausgezeichnet wurde.
Es entstanden in Willingshausen aber auch eine
große Anzahl von Landschaften und anderen Tier-
bildern und nicht zu vergessen die schmückenden
Malereien für alle möglichen festlichen Veran-
staltungen der Maler oder der Grünröcke, mit denen
die Maler und Lins insbesondere durch den Wil-
lingshäuser Oberförster Hücker in Freundschaft ver-
bunden waren. Mit fabelhafter Fixigkeit und Sicher-
heit malte er aus dem Handgelenk solche lustigen
83
Bilder zusammen. Das entsprach seinem Froh-
sinn und seiner Liebe zur Geselligkeit, die nach des
Tages Arbeit die Freunde allabendlich im Maler-
stübchen oder bei besonderen Anlässen auch im Forst-
hof oder im Walde zu frohen festlichen Gelagen
zusammenführte. Diese Geselligkeit hatte ihren
Höhepunkt in den achziger bis in die neun-
ziger Jahre hinein, in denen alljährlich ein großer
Kreis meist Düsseldorfer Freunde sich in Willings-
hausen zusammenfand. Wie einst Gerhard v. Reu-
tern aus Frankfurt, Kassel und Düsseldorf seine
Maler-Freunde mit nach
Willingshausen brachte
und dadurch der Gründer
des Studienplatzes wurde,
und wie später durch Lud-
wig Knaus viele deutsche
und auch ausländische
Künstler nach den: Maler-
dorf gezogen wurden, so
brachten jetzt Adolf Lins
und Emil Zimmermann
ihre Düsseldorfer Freunde
mit. Zu den regelmäßig-
sten Gästen aus Düsseldorf
gehörten Hans v. Volk-
mann, der aber schon Mitte
der achtziger Jahre nach
Karlsruhe übersiedelte,
Hugo Mühlig und der
Hesse Heinrich Otto, in
der ersten Hälfte der acht-
ziger Jahre kam auch Otto
Strützel, der dann nach
München ging und Wil-
lingshausen von da ab
fern blieb. Von damals
bekannten Düsseldorfer
Genremalern erschienen
öfter Hugo Oehmichen,
Fritz Sonderland, Rich.
Sohn und Sondermann
Vater und Sohn. Auch
Eduard Kämpffer, der
später Professor an der
Kunstakademie zu Breslau
wurde, wo er im vorigen
Jahre starb, besuchte ei-
nige Male Willingshau-
sen und hinterließ pracht-
volle Karikaturen im Album des Malerstübchens
und ausgezeichnete Pastellbildnisse von Lins und
Thielmann. Von Kassel war Theod. Matthei ein
häufiger Gast gewesen, und von 1888 ab kamen
als regelmäßige Sommervögel bis auf den heutigen
Tag Herrn. Metz und Heinrich Giebel, die zwar
nicht bei Haase, sondern mit noch einigen Kasse-
lanern, Fritz Rhein, Hans Kolitz, Heinr. Pierson
und dem früh verstorbenen Beruh. Kapp beim
„Leutnant" (Wirt Völker) wohnten, aber die abend-
liche Tafelrunde, zu der auch der treue Freund
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der Maler, der Oberförster Hücker, und der Lehrer
Steinmeyer gehörten, vervollständigten. Ich selbst
trat 1887 hinzu und zehn Jahre später Will).
Thielmann.
Es war also eine große Schar fröhlicher Menschen,
die sich im kleinen, bis in alle Ecken dicht besetzten
Malerstübchen im alten Haase-Haus nach fleißiger
Tagesarbeit abends versammelte „zu fröhlichem
Tun", bei dem ernste Gespräche oder gar „Fach-
simpelei" ausgeschlossen waren. Ab und zu wurden
Bildnisse der Freunde im obligaten Zylinderhut
für das Album gezeichnet,
Lins und Zimmermann
wußten viel köstliche
Schnurren zu erzählen
und sehr viel wurde ge-
sungen, Volkslieder und
mit Vorliebe das Robert
Reinick'sche Malerlied
„Was giblls wohl Lust-
gers auf der Welt als wie
ein Maler sein", wobei
dann der kleine Lins sich
vom Sofa erhob und mit
seiner langen Pfeife di-
rigierte, wenn er nicht
etwa allein mit seiner tie-
fen Baßstimme „Im tiefen
Keller" oder „O Isis und
Osiris" sang. Dabei ver-
gingen die Stunden schnell
und es kam nach der Ernte-
zeit häufig vor, daß die
nimmermüdenSchwälmer
schon mit dem Dreschen
in den Scheuern begannen,
wenn die Maler hüben
und drüben ihre Schlaf-
stellen aufsuchten. Das
hinderte aber die meisten,
besonders Lins und Müh-
lig nicht, schon sehr früh-
zeitig wieder auf den Bei-
nen zu sein. Lins spazierte
schon vor dem Frühkafsee
mit der unzertrennlichen
langen Pfeife auf dem
Hofe herum und machte
seine Späße mit den vor-
übergehenden Dorfleuten,
Mühlig hatte sogar häufig schon draußen im Wald
eine Studie mit dem herbstlichen Morgennebel gemalt.
Zu einer Zeit, als alle Freunde außer Lins
schon eine Lebensgefährtin gesunden hatten, kam
ein Wagen mit irdenem Geschirr durch Willings-
hausen, bei dem mir wie gewöhnlich Krüge, Töpfe
und Teller einhandelten. Da fanden wir auch
einen Teller, dessen Rand die Inschrift trug:
Alles liebt und paaret sich,
ich allein bleib' überig,
und auf dem Boden des Tellers stand in großen
Adolf Lins.
Buchstaben „Adolf". Diesen Teller schenkten wir
unserem Adolf, auf den der Spruch auch noch lange
Jahre Paßte, bis er sich vor etwa sechs Jahren
noch eines Besseren besann und eine alte Freundin
heiratete, die ihn dann, als er vor einem halben
Jahr erkrankte, gar treulich bis zu seinem schweren
Ende gepflegt hat.
Adolf Lins war so sehr in Willingshausen zu
Hause, daß man hätte denken können, er lebte aus-
schließlich dort, wenn er, der gewöhnlich den echten
Kasseläner Tonfall beibehalten hatte, nicht bei der
Unterhaltung mit den Bauern aus den vergeblichen
Versuchen, schwälmerisch zu sprechen, immer sehr bald
in die rheinische Mundart verfallen wäre und da-
durch verraten hätte, daß er auch am Niederrhein,
bejonders im Dorfe Nierst, ebenso heimisch war
wie in Willingshausen. Während er die Wintermo-
nate in Düsseldorf verbrachte, wo er außer den Sit-
tenbildern und Landschaften auch Bildnisse, lebens-
große Akte und Tiere malte und im Malkasten eine
führende Persönlichkeit war, verbrachte er die Früh-
jahrsmonate mit Düsseldorfer Freunden am Nieder-
rhein, von wo er außer Bildern auch eine Menge
drolliger Erlebnisse mitbrachte, die er in lebhaftester
Schilderung dann in Gesellschaft zum Besten gab.
Erwähnt muß noch werden, daß Lins etwa von
1909 an einige Jahre mit seinem Freund Mühlig
anstatt nach Willingshausen nach Röllshausen im
Schwalmgrund ging, wohin ihm auch eine Anzahl
jüngerer Berliner Maler folgten, die rpir ein Jahr
in Willingshausen gewesen waren, und von denen
Eichhorst, Lünstroth, Högg und die iin Kriege ge-
fallenen Courtois und Wiegand (Schüler von Lins)
zu nennen sind. In dieser Zweigniederlassung von
Willingshausen entwickelte sich ebenfalls ein sehr
schassensfrohes Leben, und ein reger freundschaft-
licher Verkehr rüber und nüber entstand, uno
zwar nicht nur im Sommer, sondern auch im Win-
ter, denn inzwischen hatten Thielmann sich in Wil-
lingshausen, Eichhorst und Lünstroth in Röllshausen
dauernd niedergelassen. Jetzt wohnt in Röllshausen
nur noch dauernd der Kasseler Karl Mons.
So verlor Düsseldorf und Hessen in Adolf Lins
nicht nur einen vortrefflichen Künstler, sondern
auch einen der liebenswürdigsten Menschen.
Tie Kasseler städtische Gemäldesammlung besitzt
nichts von Lins, es tväre nötig, wenn sie eine
heimische Galerie sein soll, und nur dadurch kann sie
Charakter bekonnuen, daß der Verbleib des in Paris
ausgezeichneten Gänsebildes ermittelt und es für
Kassel erworben würde. Es gäbe da überhaupt
noch manches nachzuholen. Im September dieses
Jahres wird in der Düsseldorfer Kunsthalle eine
Lins-Gedächtnisausstellung stattfinden. Es wäre
sehr wünschenswert, daß diese Ausstellung dann auch
im Kunsthaus seiner Vaterstadt Kassel gezeigt wird.
z/JHcitfcifct stieg «.. Von Dr. Anneliese Bretschneider.
Aus dem Material des Hessen-Nassauischen Wörterbuchs.
Welcher Frühlingsbote wird wohl so stürmisch
von der Kinderschar begrüßt wie der braungeflü-
gelte Maienbringer Melolontha vulgaris? Sinnend
denkt der einsame Spaziergänger bei dem Summen
über sich der entschwundenen Jugendsreuden, und
selbst das Alter belächelt wohlwollend diesen Künder
des licht- und wärmespendenden Sommers. Nur
Landmann und Förster ziehen bedenkliche Gesichter,
wenn die Käserzahl allzu sehr anschwillt und Schaden
in Wald und Feld anrichtet. Jedenfalls erregt
der Maikäfer überall ungewöhnliches Aufsehen.
Dieses ihm dargebrachte Interesse ist in den merk-
würdigen Eigenschaften begründet, die ihn vor
andern Arten der Käsergattung auszeichnen und
die ihm beim mundartsprechenden Volke die ver-
schiedensten Namen eingetragen haben, ja, denen
er es verdankt, daß ec überhaupt überall im Hessen-
Nassauischen Lande einen Namen hat. Denn der
Bauer neigt sonst dazu, das Getier, das nicht zu
Haus, Hof und Stallung gehört, zu übersehen und
nicht der Ehre eines besonderen Namens für würdig
zu erachten.
Wie ist es nun mit den Qualitäten unseres.
Braunrockes bestellt? Seine unangenehmste Eigen-
schaft, die unersättliche Freßlust, hat ihm den Namen
„Laubsresser" eingetragen, und zwar in der Um-
gebung von Schlüchtern. Andrerseits dient er selbst
dem immer hungrigen Hühnervolk zum schmack-
haften Mahle! „Hühnerklette, Hühnerkleber" wird
er in einem großen oberhessischeu Gebiet genannt,
das ungefähr von Gießen-Wetzlar bis Butzbach und
den nordwestlichen Teil des Kreises Büdingen sich
erstreckt.
Von einer anderen, besonderen ..Eigenart des
Tierchens rührt der Name „Klette, Maiklette" her,
den es vielfach im Kreise Marburg führt und der
auch vorherrscht im nördlichen Kreise Gießen und
im südlichen Kreise Alsfeld, Gebiete, die geographisch
benachbart sind.
Tie Klette ist bekanntlich die Frucht des Kleb-
krautes (Galium aparine); jeder weiß, daß sie sich
festkrallt, gleichsam klebt. Man braucht nur einmal
einen Maikäfer auf die Hand zu nehmen — und die
Erklärung dafür, daß auch er „Klette" heißt, ist
gegeben: er hält sich mit den Widerhäkchen seiner
Beine fest, er „klebt". Zu bemerken ist hier nur,
daß „Klette" der sprachlichen Herkunft nach zn
„kleben" gehört — und unser Braunrock steht mit
einemmale als ein „Kleber" da. Und siehe da!
Blicken wir uns weiter in der Provinz um, so
finden wir die „Klette" tatsächlich als „Kleber"
wieder. „Kläwer, Kleawer" und ähnlich ist die
ganz geläufige Bezeichnung z. B. bei Melsungen,
im südlichen Kreise Wetzlar, in der Umgegend von
Nauheim usw. „Hühnerkleber, Baumkleber, Wei-
denkleber" heißt er um Butzbach, im ganzen mitt-
leren und südlichen Kreise Gießen und im Nord-
zipfel des Kreises Büdingen.
Das Hauptfeld seiner Tätigkeit, die im Fressen
der maienzarten Blätter besteht, verlegt der Mai-
käfer naturgemäß in die Bäume. Nach diesem
Lieblings aufenthalt wird er vielfach genannt: Zu
dem schon angeführten „Baumkleber" und „Weiden-
kleber" gesellt sich im südlichen Wörterbuchgebieb
verstreut der „Lindenkleber", der „Kirschenkleber"
neben dem „Kirschentier" und schließlich der „Laub-
vogel" (südlich von Lauterbach).
Noch weiter südlich hat weder die „Klebrigkeit"
noch die Freßgier unseres Braunrockes den größten
Eindruck gemacht, sondern fein vernehmliches und
vergnügtes Summen, das wohl der Ausdruck von
Zufriedenheit der Maienkäferseele mit dem Maien-
dasein ist: „Schnurrenkäser" heißt er im südlichsten
Kreis Gelnhausen, nahe der Grenze unseres Wörter-
buchgebiets.
Höchst auffällig ist sein Erscheinen im Mai, denl
er nicht nur seinen schriftsprachlichen Namen ver-
dankt. „Maikäfer, Maigaul, Maihammel, Maiklette,
Maikalb, Maikleber, Maitier, Maivogel, Maiwiebel"
u. a. sind Beweise dafür, daß auch dem Mundart-
sprecher die phänomenale Pünktlichkeit des Früh-
lingsboten aufgefallen ist, — und der Name „Mai-
aas", das uns aus dem Dillkreis belegt ist, charak-
terisiert noch dazu zur Genüge die Sympathien, die
man dort dem schädlichen Fresser entgegenbringt.
Natürlich ist seine Zugehörigkeit zur Gattung
der Käfer für die Prägung seiner mundartlichen
Namen häufig ausschlaggebend. „Maikäfer (mund-
artlich meist zu -käwwer gewandelt) steht neben
den anderen Ableitungen Maikäfert, -käset
oder - käbel (-kabel) und - k ä f e r z. Die letzt-
genannte Form „Käferz(e)" (mundartlich K ä w -
werz, Kiwerz u. ähnl.) ist der meistgebräuchliche
Name des Maikäfers im Westerwald. Die Herkunft
der merkwürdigen Endung - z (e), die hier an das
Wort Käfer antritt, ist noch nicht ganz geklärt.
Mag nun aber die eine oder die andere Erklärung
— sie hier zu erörtern würde zu weit führen —
zutreffen, Tatsache ist, daß der ursprüngliche Sinn
dieses Suffixes, wie er dem Mundartbetrachter
schwer zu fassen, auch dem Mundartsprecher ent-
glitten ist. Das Bedürfnis der Mundart, solche
erstarrte Sprachformen zu beleben, indem man sie
an bekannte Worte der Mundart anlehnt, setzt hier
ein: Eine klangliche Ähnlichkeit der zweiten, unver-
ständlich gewordenen Silbe mit dem „Watz" (d. i.
der Eber) führte zu der Bildung „Kehwatz". An
der Dialektgrenze nun, wo Kehwatz an das Ge-
biet grenzt, das „Maikäfer" spricht (sie ist am
Johannes.
Er soll nicht vergessen werden. Schon um seines
Namens willen ist er einer jeden ihm gewidmeten
Erinnerung wert. Denn das Mißverhältnis zwischen
diesem Namen und dem Wesen, das er bezeichnete,
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Unterlauf der Lahn), gehen beide Namen eine
Mischung ein: „Maikäfer" ft- „Kehwatz" ergibt
die Grenzform „Maiwatz" (Bad Ems; Fachbach
bei Ems). So erklärt es sich, wie der braunge-
flügelte Maienbote plötzlich als ein „Watz" erscheint!
In anderen Gegenden aber ist er gar zu einem
Kalb geworden. „Maienkalb" heißt er in Ober-
neurode (Kreis Hersfeld), „Wisenkalb" in Bosserode
(Kreis Rotenburg). Wie ist diese Metamorphose
möglich? Der Mundartkenner sagt sofort, daß das
nichts Außergewöhnliches sei, der Marienkäfer habe
ein ähnliches Schicksal. Tatsächlich wird der kleine,
siebenpunktierte Käfer unter vielen anderen mit den
Namen „Muhkälbchen, Sommerkälbchen, Sonnen-
kälbchen, Gotteskälbchen, Herrgottskälbchen" geziert.
Daneben aber hört man Formen wie M u h k ä b -
chen und für unseren Maikäfer vielfach Mai-
käbel (-käwel, - gewel, - kabel usw.). Dieses
-käbel ist nichts anderes als -käfer, nur mit
der Ableitungssilbe -el statt - er, eine Erscheinung,
die die Mundart häufig kennt. Käbel nun wird
durch Käfer, das ja durch die Schriftsprache ge-
stützt wird, fast überall verdrängt und hält sich oft
nur noch in Zusammensetzungen, wie eben unsere
Beispiele zeigen. Bald wird vergessen, daß Käbel
eigentlich dasselbe ist wie Käfer, es wird nicht
mehr verstanden und nun umgedeutet. Die klang-
liche Ähnlichkeit mit einem anderen Wort gibt den
Ausschlag bei der Anlehnung: -kabel läßt sich
an -kalb, -käbel an - k ä l b ch e n anlehnen, und
da, wo b zwischen Vokalen ausfällt, also wo man
t r i e e n für trieben, d. i. streike n', - k a l
für -kabel sagt, wird dieses -kal, oder hessisch
-gal, an „Gaul" angelehnt, so daß auch oas
mehrfach belegte ,,Maigaul" seine Erklärung findet.
Wo nun aber ein Tierchen wie der Maikäfer sprach-
lich mir Watz, Gaul und Kälbchen zusammenge-
worfen wird, öa ist es kein Rätsel mehr, wenn er
nun auch als „Hammel" auftritt (MaiHammel
in Hersfeld, und ebendort auch Hammel für
„Maikäfer" allein). Hier ist derselbe Spieltried
der Mundartsprecher — vielfach in diesem Falle
der Kinder — am Werke, der auch aus dem Herr-
gottskälbchen ein Herrgottslämmchen und ein Herr-
gottsschäfchen macht.
Die Konkurrenz, die auf diese Weise der Mai-
käfer dem Gaul, dem Kalb und dem Watz macht,
wird natürlich nur ermöglicht durch die Unmöglich-
keit einer praktischen Konkurrenz. Aber auch dies
lindernde Moment eingeschaltet, sind doch unsere
Maikäfernamen neue Beweise dafür, daß die Ent-
wicklung der Sprache nicht nach bestimmten Gesetzen
vor sich geht, sondern oft in grotesken Sprüngen
vorwärts oder seitwärts eilt.
Erzählung von Will Scheller.
gehörte zu den auffälligsten Eigenschaften eines so
kurzen, aber abenteuerlichen Daseins, wie es dem
Johannes beschieden gewesen ist. Und mit um so
zureichenderem Grunde, als er diesen Namen gerade
wegen des Eindrucks bekam, den er bei seinem ersten
Auftritt in der zivilisierten Welt hervorrief.
Johannes! Der sanfteste unter den sanften
Namen! Etwas durchaus Zartes, Weiches, Liebens-
würdiges liegt in diesen Silben. Sie scheinen einen
Charakter zu bezeichnen, der etwas Lyrisches an
sich hat, etwas Einschmeichelndes, Anschmiegendes,
und wer sie hört, wird von einer angenehmen,
friedlichen, ja beinahe streichelnden Empfindung be-
rührt.
Als Johannes eines Abends in Erscheinung
trat und mit seinen kleinen, schwarzen, glänzenden
Augen mißtrauisch und lauernd sich umsah, reagierte
er zunächst ungemein sauer auf die lockenden Worte,
mit henen er empfangen wurde, vielleicht verstand
er, der Franzos', die deutschen Ausdrücke nicht.
Vielleicht war er aber auch bloß wütend und ver-
biestert über den ihm angetanen Zwang, über die
ihm zweifellos unerwünschte Entfernung aus fetten
und wohlvertrauten Jagdgründen und über die
nicht minder unvollkommene Verpflanzung in ein
seiner Erfahrung noch unbekanntes Gebiet. Kurz-
um: er rollte sich zusammen, kehrte seine stachlige
Haut, einen wahren Urwald von Waffen, nach
außen und war nichts weiter als ein Igel im voll-
kommenen Triumph der Unnahbarkeit.
Es fehlte ihm offenbar alles zu einer sanft ge-
muteten, lyrisch eingestellten Charakterbildung. Weit
von allem Zauber seelischen Ausgleichs, weit von
jeglicher Kultur innerer Geselligkeit entfernt, fand
er sich gewachsen auf einer Stufe urtümlichen krie-
gerischen Verhältnisses zur Welt ringsum. Mitleid
ergriff diese Welt. Dem Mann mußte geholfen
werden! Und um den ersten Schritt zu tun, um
dem Armen sogleich einen lebendigen Anteil an
den Errungenschaften des Fortschritts, einen Er-
satz für so viele unverschuldete Mängel zu verschaf-
fen, nannte sie ihn, diese Welt, mit dem weichsten
Namen, der ihr einfiel, nannte den rauhen Ge-
sellen, von dessen kugelförmiger Wehrhaftigkeit die
große Dogge des Feldwebels ein blutiges Maul
bekam, daß sie winselnd entfloh, nannte ihn ein
für allemal: Johannes.
Er bekam ein hölzernes Vogelbauer zur Wohnung
angewiesen. Und die störrische Verbohrtheit seines
Gemüts zeigte sich alsbald in der Angewohnheit,
nicht den bequemeren Eingang zu benutzen, son-
dern grundsätzlich den anderen, der ihn nötigte,
über ein Brett zu turnen. Aber er schien nicht
ungern in dem engen Käfig zu hausen; die Stäbe,
die ihn umgitterten, gaben ihm wohl ein gewisses
Gefühl der Sicherheit und unantastbaren Häuslich-
keit zurück. Immerhin mußte zu Anfang beständig
aufgepaßt werden, daß er, frei umherlaufend, nicht
aus der Stubentür entwischte.
Diese Gefahr wurde geringer, nachdem er endlich
gemerkt hatte, daß er die Leckerbissen, die ihm hier
seine Jagdbeute ersetzen mußten, regelmäßig und
mühelos zugesteckt erhielt. Sie dienten auch dazu,
ihn an die Menschen zu gewöhnen als an Wesen,
die es wohl nicht gerade aus sein Leben abgesehen
hatten.
Das ging aber so zu. Ein Stückchen Zwieback
oder ein Stückchen Speck wurde an einen Zwirns-
faden gebunden, und wenn sich Johannes heran-
geschnuppert hatte mit seiner spitzen schwarzen Nase,
wurde der Faden langsam angezogen, und Jo-
hannes folgte langsam nach, bis zum Stuhl des
Menschen, wo endlich gespeist werden durfte. Dieses
Spiel wurde so lange getrieben, bis Johannes auf
Anruf gelaufen kam. Später brauchte er gar nicht
mehr gerufen zu werden. Wenn er Durst oder
Hunger hatte, machte er sich schon von selbst mit
witternd erhobenem Kopf und ungeduldig piep-
sender Stimme bemerkbar. Hatte er bekommen,
wonach ihn gelüstete, so trollte er sich davon. An
einen», über das Notwendigste hinausgehenden Ver-
trauensverhältnis zu den Menschen war ihm an-
scheinend nichts gelegen. Er hatte nun einmal
keinen Sinn für höhere Geselligkeit.
Der Bewunderung, die ihm ob seiner natürlichen
Munterkeit und wenn auch nicht ganz unerzwun-
genen Häuslichkeit allgemein zuteil wurde, dem
Ansehen, dessen er über oas Bereich der Kompagnie
hinweg sich erfreuen konnte, sofern er nur wollte,
vermochte er keinen besonderen Geschmack abzuge-
winnen. Er bewies in solchen Fällen sogar den
Offizieren gegenüber in geradezu plebejischen Formen
eine Menschenverachtung, die bei dem Betroffenen
allemal ein verlegenes Lächeln hervorrief. Was
hätten sie auch sonst tun können? Selbst strenger
Arrest oder gar Versetzung in die zweite Klasse
des Soldatenstandes hätte ihn kalt gelassen. Re-
gungen, die etwas Menschenähnliches an sich gehabt
hätten, waren an ihm nicht zu beobachten. Er war
ein Igel und nichts außerdem. Er fand, daß dies
vollauf genüge für seine Daseinsberechtigung, und
die ihm erwiesenen Ehren nahm er als übrigens
belanglose Selbstverständlichkeiten hin.
Ob er sein Schicksal ahnte? Ob er um die kurze
Dauer feines Erdenwallens wußte und infolge-
dessen es nicht für nötig hielt, viel Umstände zu
machen? Wer vermag eines Tieres Innenleben
zu enträtseln! Die Schöpfung ist voller Geheim-
nisse . . .
Von der Wanderschaft, die der Krieg seinen Teil-
nehmern aufnötigte, blieb auch Johannes nicht ver-
schont. Ärgerliche Unbequemlichkeiten hatte sie im
Gefolge. Das Gittergehäuse mußte zurückgelassen
und mit einer engen, durchlöcherten und verschnür-
ten Pappschachtel vertauscht werden. In einer
Nacht hatte Johannes eins der Löcher weit genug
genagt, um seinen Kopf hindurchstecken zu können.
Natürlich vermochte er ihn, der Stacheln wegen,
nicht zurückzuziehen, und schimpfte beträchtlich. Nur
mit Mühe konnte ein neues Behältnis aufgetrieben
werden.
Die erste Übersiedlung schien Johannes gut über-
standen zu haben. Er lebte sich am neuen Ort
rasch ein, obwohl nicht zu verkennen war, daß ihm
die ganze Geschichte nicht recht in den Kram passen
87
wollte. Er war oft unruhig, redete viel mit sich
selbst, Pfiff die Menschen böse an und spielte gern
Verstecken. Aber er lies nicht fort und fraß mit
Appetit. Die zunehmende Unfreundlichkeit seines
Verhaltens siel bei dem von ihm gewohnten Be-
nehmen nicht besonders aus. Erst viel später wurde
daran herumgedeutelt, als nur mehr das Rätsel
seines Endes zur Diskussion staub. Einstweilen
dachte niemand an die Möglichkeit seines Todes.
Denn Johannes hatte sich ein unbestrittenes Le-
bensrecht im Effektivbestand der deutschen Armee
erworben.
Dieses Recht schloß allerdings die Pflicht zur
Wanderschaft in sich, und wie verdrießlich es auch
war, Johannes mußte sich aufs neue einem Orts-
wechsel unterwerfen. Und da war nicht alles gleich
so in Ordnung, wie er es wohl gewünscht hatte.
Bis die Quartierverhältnisse geregelt waren, ver-
gingen einige Tage. Das gefiel aber Johannes
gar nicht. Er trieb Opposition; ärgerte die Men-
schen, indem er in einen Wüschesack sich verkroch
und brummig und verstockt an einem Hemd herum-
kaure, bis es in Fetzen zerfiel. Durch solche Machen-
schaften zwang er zu Gegenmaßregelu. Um ihm
aber nicht allzunahe zu treten, wurde er in einem
leeren Papierkorb einquartiert, der ihm zwar die
Gelegenheit zu bösartigen Ausflügen unterband,
zugleich aber doch Lust und Licht genug ließ, nur
sein Leben nicht aller Reize zu entblößen. Diese
Haft sollte ja auch nur so lange dauern, bis ihm
eine würdigere Behausung geschaffen werden konnte.
Johannes aber bewährte sich nun als ein Fana-
tiker von heroischer Konsequenz. Er ging in seiner
Empörung über die Welt, er ging in seiner Oppo-
sition gegen die Menschheit bis zur Selbstvernich-
Aus der Dichtung „Jesus"
Im Schatten Zions lag ein tiefes Tal,
Mit Felsen angefüllt und Finsternissen,
Gleich einer Ackerfurche lang und schmal
Im dürren Leib der Erde aufgerissen;
Tie Schlucht des Greuels war das Tal genannt,
Seit Judas Sippe dort in schlimmen Tagen
Ihr eigen Fleisch und Blut dem Baal verbrannt
Und Jahves Opfer aus dem Sinn geschlagen:
Tort war es auch, wo des Chaldäers Macht
Tie Söhne Zions traf mit grimmen Streichen,
Wo er im Sturme einer Schreckensnacht
Tie Tiefen ausgefüllt mit ihren Leichen . . .
Im kalten Grau des Morgens lag das Tal,
Als aus dem Tore zwei Gesellen schritten, -
Wo sich ein Häuflein Pappeln, struppig kahl,
Um ihren Platz am Felsenhange stritten;
Ta stieß der eine sacht den andern an:
„Im Greueltale muß das Blut gerinnen!
Schau, dort um Aste hängt ein toter Mann!" —
Und kräftig schreitend eckten sie von hinnen!
Schon hatte sich umblitzt vom Morgentau
Der Tempel Zions aus der Nacht gerettet,
Indes der Römerfestung Quaderbau
Noch immer lag im Dunkel eingebettet;
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tuug. Er legte sich hin und starb. Er war auf
einmal tot. Lag eines Morgens auf dem Boden
des Papierkorbs ttnd regte sich nicht mehr.
Natürlich wurden Versuche zur Wiederbelebung
gemacht. Sie blieben ohne Erfolg. Sogar das un-
fehlbare Mittel des Fuchses, den zusammengerolltett
Igel buchstäblich aus der Fasson zu bringen, ver-
sagte. Johannes wollte nicht mehr leben. Es paßte
ihnr einfach nicht mehr, imnier wieder wo attders
hin gebracht zu werden ohite Rücksicht daraus, ob
ihm das behagen würde oder nicht. Er war es
leid. Er hatte genug. Und so machte er Schluß.
Die Aussicht auf eine weitere Fortsetzung diesev
Lebensweise schien ihm scheußlicher als der Tod.
Und so lag er da im Garten der Ferme, zwischen
Obstbüschen, glanzlosen Auges, die dünnen Beine
kraftlos hingestreckt, die Stacheln friedlich angelegt
wie nie im Leben, und hatte es hinter sich. Er
wurde begraben. Ein paar Spatenstiche genügten
zwar, den kärglichen Rest seines Vorhandenseins
auszulöschen. Aber so ganz umsonst hatte er doch
nicht gelebt, der Unsanfte mit dem sanften Namen.
Oft noch wurde seiner gedacht im Kreise derer, die
mit ihm gelebt und ihn überlebt hatten. War er
nicht ein seltsamer Kauz gewesen, der Johannes,
ein Kerl mit eigenem, undurchschaubarem Wollen?
Nur wer ein Geheimnis in sich trägt, ist wesenhaft.
In den Augen eines Menschen schimmert es auf,
wenn er Mensch im tiefsten Sinne ist, wie in den
Augen eines Tieres, wenn es Tier im tiefsten
Sinne ist. Nicht alle Menschen sind Menschen,
nicht alle Tiere sind Tiere. Johannes war ein Tier
ohne Furcht und Tadel. Er soll nicht vergessen
werden.
Von Fritz Gölner.
Bor seiner Pforte stand ein Legionär,
Schier unbeweglich, wie ans Erz gegossen —
Ta hob den Kopf er plötzlich — eine Schar
Im Grau der Gasse kam dahergcflossen;
Ein Haufe Pharisäer zog voran;
Dahinter ein Gemisch aus allem Volke;
Inmitten aber schritt ein bleicher Mann —
Das Ganze schwer wie eine Wetterwolke!
Am Römerhause staute sich die Flut:
Unreines witterte die Judennase!
Doch drang auch so zum Landvogt ihre Wut;
Schon trat er aus den Söller au der Straße;
„Was soll's, ihr Juden?", rief er messerscharf
Und ohne seinen Unmut zu verhehlen;
Noch sprach er, als ihm schon entgegenwarf
Die Menge ihren Wunsch aus hundert Kehlen.
Tann aber trat ein Priester aus der Schar
Und huldigte dem Vogt mit tiefem Neigen:
„Verzeih, Pilatus, wenn zu heftig war
Ter Eifer, den wir strebten, dir zu zeigen:
Ten Menschen dort — die ringgeschmückte Hand
Nach Jesus ließ er rasch hinüberschnellen —
Des Nachts am Ölberg unsre Wache band,
Ihn stracks vor deinen Richterstuhl zu stellen;
Seit Jahren schon mit seiner Jüngerbrut
Durchwandert unstet er die Judenlande,
Entflammt die Herzen rings zum Übermut
Und bläst den Funken auf zum Feuerbrande;
Was gut und böse, wird von ihm vertauscht
In Worten, wie sie keiner noch vernommen,
Die alte Zeit, so sagt er, sei verrauscht
Und nah das Gottesreich herbeigekommen;
Ter Juden König rühmt er sich zu sein,
Ein Heldensprößling wie in Davids Tagen,
Tie Menge hetzt er in den Wahn hinein,
Dem Kaiser Schoß und Steuer zu versagen;
Was wir gebieten, wird von ihm verlacht,
Ja — unerhört! — und das ist sein Verderben!
Zu Gottes Sohne hat er sich gemacht! —
Nach unsres Tempels Satzung muß er sterben!"
Wie zur Bekräftigung, daß dieser Tor
Für seine Tollheit mit dem Tode büße,
Ein Dutzend Fäuste stießen Jesus vor
Und stellten ihn dem Laudvogt vor die Füße;
Der aber wandte gähnend sein Gesicht —
Ein Priesterzank, so schien's, aus Haß geboren! —
„So bringt ihn doch vor eures Rats Gericht!
Mich aber laßt gefälligst ungeschoren!"
Doch rasch des Bessren wurde er belehrt:
„Die Siebzig dürfen nicht sein Blut vergießen;
Das Urteil steht bei dir und deinem Schwert!
Dir ward er drum vom Rate überwiesen!"
Da nahm der Bogt ihn mit sich in den Saal,
Um ihn entrückt der Menge zu verhören:
„Bist du ihr König?", fragend er befahl,
„Du siehst, wie hart die Juden sich empören!"
Hell, wie die Sonne durch die Wolken bricht,
Dem Landvogt blickte Jesus in die Augen:
„Von dieser Welt ist meine Herrschaft nicht;
Des Königs Purpur wird mir niemals taugen!
Wär ich ein König nach der Menschen Art,
Tie Helden Judas würden für mich streiten,
Um meine Siegesfahne dicht geschart
Aus diesen Ketten mir den Weg bereiten:
Doch sagst du recht, daß ich ein König sei —,
Denn dazu bin ich in die Welt geboren,
Daß ich als König, stark und stolz und frei,
Tie Wahrheit künde allen Menschenohren;
Wer irgend aus dem Geist der Wahrheit stammt,
Wer für die Wahrheit kämpft in heilgem Grimme,
Gehört zu mir und meinem Königsamt
Und lauscht voll Freudigkeit auf meine Stimme!" .
Gelangweilt halb und halb in seinem Bann,
Als ob ein Zauber auf ihn eingedrungen,
Sah sich Pilatus diesen König an,
Ter seinen Herrscherstab so kühn geschwungen:
Ein Leib verzehrt von seines Geistes Glut,
Ein Geist vom Erdengrunde losgerissen;
Ein bis zur Tollheit angespannter Mut;
Ein Wille trotzend Tod und Bitternissen!
Wie viele Menschensöhne hofften schon
An diesem Wahrheitstranke zu gesunden,
Bis schließlich sie als ihres Höffens Lohn
Ten schalen Bodensatz im Kelch gefunden!
Was hatten nicht auch ihm, dem Römerkind,
Tie Wahrheitsfreunde alles angeboten!
Ein kaltes Schaugericht, ein Netz voll Wind,
Ein Weizenkörnlein aus der Gruft der Toten!
Laut prahlend boten sie ihr Gut zum Kauf
Unv gossen ihren Wein aus vollen Kannen —
Wie reiche Fürsten zogen sie herauf,
Wie arme Bettler schlichen sie von dannen!
Ein albernes Geschwätz nur blieb im Ohr,
Ein Ammenmärchen, Kinder zu beglücken;
Ingrimmig lachte der geprellte Tor
Und kehrte all der „Wahrheit" seinen Rücken!
„Ach, >vas ist Wahrheit?" — Seine Zunge sprach
Nur offen aus, wohin sein Geist gegangen;
Doch ging er auch zugleich der Frage nach,
Was wohl mit diesem Schwärmer anzufangen?
Noch war er ungewiß in seiner Wahl,
Ta nahte ihm sein Weib mit leisen Schritten:
„Laß ab von diesem Manne, mein Gemahl,
Im Traume hab ich viel um ihn gelitten;
Ter Erde spendend seinen Segensgruß
Schritt er, so träumte mir, durchs Talgebrcite;
Tie Blumen sproßten unter seinem Fuß;
Des Waldes Tiere waren sein Geleite;
Selbst Romas grimme Wölfin, grau von Haar,
Tie, wie der Urzeit Sagen uns erzählen,
Gesäugt der Königsknaben Zwillingspaar,
Zum Männerstreite ihre Kraft zu stählen,
Tie durch die Welt gefolgt dem Römerheer,
Sich auf die Beute warf mit wildem Sprunge
Und lauernd strich um blutbespritzte Wehr —
Tie Hände leckte ihm mit schmaler Zunge!
Was dieser Traum bedeutet, weiß ich nicht,
Doch Großes will er sicher uns verkünden;
Trum hüte dich, des Kaisers Blutgericht
Dem Hasse dieses Volkes zu verbünden!"
Noch lag in Falten des Pilatus Stirn,
Dann aber, wie aus unbekannten Pforten,
Ein Trostgcdanke fuhr ihm durch das Hirn
Und auf den Söller trat er mit den Worten:
„Ich habe diesen Menschen da verhört,
Doch kann ich keine Schuld an ihm entdecken;
Es ist nicht wahr, daß er das Volk betört,
Um nach der Krone seine Hand zu strecken;
Ein Schwärmer ist er, wie so viele sind.
Die jetzt im Lande rings ihr Wesen treiben;
Von ihren großen Worten — Spreu im Wind! —
Nichts wird in wenig Monden übrig bleiben;
Ihr Juden seid ein wunderlich Geschlecht,
Doch füge ich mich gern in eure Sitten —
Zum Passahseste fordert ihr das Recht,
Euch einen der Gefang'nen loszubitten;
Nun meine ich, wie groß auch euer Haß,
Ihr wollt doch lieber euren „König" retten,
Als diesen Straßenräuber Barrabas,
Ter noch vom letzten Aufruhr liegt in Ketten;
Mit Barrabas und seiner Räuberei
In Kürze soll der Henker sich befassen,
Ten Galiläer aber geb ich frei;
Doch will ich ihn zuvor erst stäupen lassen!" . . .
Stumm starrte erst das Volk den Landvogt an,
Ob seiner Botschaft noch im Ungewissen;
Tann aber stürmte auf den einen Mann
Ein ganzes Heer von wütenden Hornissen!
Was schwatzt der Römer da vom Passahrecht?
Was >vir verlangen, hat er doch vernommen!
Fürwahr, er dreht und windet sich nicht schlecht,
Auf irgend eine Weise loszukommen!-
Mit Hohn bezahlt er uns noch obendrein!
Ten Galiläer will er laufen lassen?
Da, wie er iveiß, wir alle insgemein
Ten Menschen dort bis in die Hölle hassen!
Ter Judenkönig hat er sich genannt;
Noch jüngst au diesem Namen schrie sich heiser,
Tie Rotte, die er in sein Joch gespannt, —
Und wer sich König nennt, der schmäht den Kaiser!
Trum, Landvogt, kaiserlich ist unser Haß,
Mit unsrem Hasse wir dem Kaiser zollen —
„Ans Kreuz mit ihm und los den Barrabas! —
89
Das ist das Urteil, das wir haben wollen!"
„Ans Kreuz mit ihm!" scholl's aus des Platzes Rund;
„Ans Kreuz mit ihm!" scholl's aus der Gassen Enge;
„Ans Kreuz mit ihm!" so schrie mit einem Mund
Tie ganze dichtgeballte Menschenmenge;
Was nur an Wut, an Neid, an Unverstand
In diesen Köpfen drängte sich zusammen,
Zu einem Feuerstrudel sich verband
Und schlug zum Himmel auf in wilden Flammen! . . .
Ihr Haß war kaiserlich! Das schlimme Wort
Mißtönend klang's dem Landvogt in die Ohren;
Verdrossen wandte er das Antlitz fort,
Und rettungslos gab er das Spiel verloren!
Als Weltmann aber wahrte er den Schein:
Tie Hände wusch er vor des Volkes Gaffen;
„Tut, was euch recht dünkt!" ries er; „ich bin rein,
Mit seinem Blute hab ich nichts zu schaffen!"
Schon aber schrie verdoppelt ihm die Wut:
„Was du bedenktst, bedenken wir nicht minder!
Was immer kommen mag aus seinem Blut,
Es komme über uns und uns're Kinder!"
Dem Trauerspiele folgt der Mummenschanz!
Am Geißelpsahl, zerfetzt von ihren Hieben,
Stand Jesus in der Henkersknechte Kranz,
Die grinsend ihren Spott mit ihm getrieben;
Mit einem Purpurmantel, alt, verschmutzt,
Mit einem Stab uno einer Dornenkrone
Als Judenkönig ihn herausgeputzt
Uno knieend ihn gegrüßt mit frechem Hohne;
Zum Schlüsse spieen sie ihm ins Gesicht
Uno ließen ihn des Zepters Schläge spüren —
Ta griff der Landvogt jäh in ihr Gericht
Und ließ ihr Opfer auf den Söller führen;
Wild wogte draußen noch das Volk umher
Und schrie und blähte sich vor Wut und Grimme —
„Schaut, welch ein Mensch!" Pilatus sprach es schwer.
Und fast wie Mitleid klang's aus seiner Stimme.
Rasch war gerüstet, was der Vogt befahl,
Tie Marterstatt vom Henker schon erkoren:
Gleich einem Totenschädel rund und kahl
Ein Hügel hob sich draußen vor den Toren;
Zu seiner Höhe kroch der Zug empor,
Schier endlos gleich dem Schweife eines Drachen,
Als in der Mauer dort das schwarze Tor
Tie Henkersippschaft spie aus seinem Rachen;
Tie halbe Stadt fast ging zum Schauspiel mit
Und drängte auf den Pfaden zum Erdrücken;
In ihrer Mitte Jesus keuchend schritt.
Des Kreuzes schweres Joch auf seinem Rücken;
Aus Heimat und Fremde.
Hessen-Nassauisches Wörterbuch. In
den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der
Wissenschaften berichtet Herr Pros. Wrede in Marburg
über die Arbeiten an diesem großen Heimatwerke im
Jahre 1926:
Rocthes Tod ist auch für uns ein schwer zu ver-
windender Schlag gewesen. Denn der Gedanke eines
Hessen-Nassauischen Wörterbuchs ist von ihm ausge-
gangen, nicht hier von Marburg aus. Ja ich habe
anfangs gezögert, ob ich seiner Anregung folgen sollte.
Das war im Jahre 1911. Seitdem hat der vielbeschäf-
tigte Mann dem neuen Unternehmen seinen Rat und
sein Hilfe stets ungemindert bewiesen. Er hat die
Verhandlungen mit den Provinzialverwaltungen in die
Wege geleitet, hat in der schweren Kriegs- und Nach-
kriegszeit immer wieder finanzielle Mittel zu beschaffen
90
Nur einen Augenblick sah er sich um:
Da weinten rings die Weiber auf den Knien
Uird rangen über ihn die Hände stumm —
Sie, die noch jüngst ihr „Kreuzige!" geschrieen!
Tann schleppte er sich fort der Straße nach,
Tie Stirne blutbesudelt und die Locken,
Bis unterm Kreuze er zusammenbrach
Und ärgerlich der Zug geriet ins Stocken;
Da nahte grad ein fremder Passahgast —
Ter kam den Henkersknechten sehr gelegen!
Ihm auf den Nacken zwangen sie die Last,
Und vorwärts wieder ging's dem Ziel entgegen.
Gekreuzigt hing am Holze Josefs Sohn —
Noch fester in die Schmach ihn zu verflechten,
Ans Kreuz genagelt fanden ihren Lohn
Zwer Schächer, ihm zur Linken und zur Rechten! . . .
Als nun der Henkersknechte Werk vollbracht,
Die Kreuze krachend in den Grund gestoßen,
Habgierig waren sie darauf bedacht,
Tes Galiläers Kleider auszulosen:
Ten einen trog, dem andern half das Glück:
Ein alter Kriegsknecht von der Römerwache
Ten Mantel sich gewann, das beste Stück,
Und schwang ihn durch die Luft mit geller Lache;
Nur einer hob den Blick zum Kreuz empor;
Barmherzig schlug das Herz ihm an die Rippen,
Ten Schwamm mit Essig stieß er auf ein Rohr
Und netzte mit dem Schwamme Jesu Lippen;
Rings aber, strömend ohne Unterlaß, .
Tie Menge hatte ihren Ring geschlungen;
Die Priester sonnten sich in ihrem Haß
Uno geiferten mit ihren Schlangenzungen:
„Tu, der sich einst gerühmt in frechem Ton,
Ten Tempel würdest du in Stücke schlagen,
Befreien auch als Gottes eigner Sohn
Tie Welt von ihrem Leid und ihren Plagen,
Jetzt, wo du selber stöhnst in Todesqual,
Jetzt gilt es, dich als Helden zu bekunden —
Trum löse deinen Leib vom Marterpfahl
Uno steige zu uns nieder ohne Wunden!" . . .
Nur eins dem Priestervolke schuf Verdruß,
Ein Etwas nur, was sonst nicht Brauch gewesen:
Die Tafel oben hoch am Kreuzesschluß;
„Ter Judenkönig" war darauf zu lesen!
Ja etliche, zu tilgen solchen Graus,
Zum Landvogt selber wurden hingetrieben;
Ter aber jagte sie zur Tür hinaus:
„Was ich geschrieben, habe ich geschrieben!"
gewußt, hat auch, ohne selbst zur engeren Kommission
unseres Wörterbuchs zu gehören, wiederholt hier in
Marburg Material und Arbeitsweise geprüft und uns
immer wieder mit seinem glänzenden Organisationstalent
zu helfen verstanden. Mit der Geschichte unseres Unter-
nehmens wird Roethes Name unauslöschlich verbunden
bleiben. Die Werbearbeit wurde im Berichtsjahr fort-
gesetzt durch Vorträge und durch populäre Artikel in
der Provinzpresse und den verschiedenen Heimatblättern.
Das jetzt erschienene Niederhessische Wörterbuch von
Fritz Hofmann (Deutsche Dialektgeographie 19, Mar-
burg 1926) regt überall zum Vergleichen und Ergänzen
an. Private freie Eingänge von größerem Umfang ver-
danken wir diesmal besonders Frau Hauptlehrer Arndt
in Eitelborn. Landwirt Jäger in Ober-Ohmen, Mittel-
schullehrer Kappus in Wiesbaden, Geistlichem Rat Kra-
mec in Fulda, Lehrer Schäfer in Zimmersrode, Studien-
referendar Schudt in Gießen, Schulrat Schwalm in
Ziegenhain, Studienrat Dr. Witzel in Frankfurt. Herr
Kappus förderte uns anch durch eigene Werbetätigkeit
und Gewinnung neuer Helfer. Die Beantwortung des
29. Fragebogens und zahlreicher Fragekarten verpflichtet
wieder zu Dank gegenüber vielen alten und neuen Hel-
fern, die hier nicht alle aufgezählt werden können.
Besonders in Anspruch genommen wurden dabei meine
unermüdlichen Schüler, die Studienassessoren Dr. Hof-
mann in Hofgeismar (jetzt in Marburg), Dr. Kroh in
Tillenburg (jetzt Studienrat in Burgsteinfurt), Dr. Münch
in Wiesbaden, Dr. Schwing in Weilbnrg, Dr. Siemon
in Melsungen, Dr. Sooft
in Ihringshausen, Dr.
Wagner in Wiesbaden,
cand. Weiershausen in
Laasphe, stud. Wenzel
in Marburg, Studien-
rat Dr. Witzel in Frank-
furt. In Waldeck wußte
Bibliotheksrat Dr. Mar-
tin viele Helfer zu wecken,
so daß das kleine Land,
namentlich dank dem
Interesse seiner Lehrer,
den Vorsprung der
übrigen Wörterbuchbe-
zirke etwas wettgemacht
hat. Die Einordnung
nnd Verarbeitnng dieser
reichen Eingänge dau-
erte das ganze Jahr hin-
durch. Ebenso wurde mit
der Exzerpierung der
wissenschaftlichen Lite-
ratur und der mundart-
lichen Dichtung fort-
gefahren. Die Gesamt-
zahl der revidierten und
eingeordneten Zettel hat
jetzt das zweite Hundert-
tausend überschritten.
Die Ausarbeitung des
zunächst geplanten Idio-
tikons machte gute Fort-
schritte, so daß der Druck
der ersten Lieferung,
durch Krankheit des Be-
richterstatters verzögert,
jetzt beginnen kann; sie
soll den zweiten Band
eröffnen und mit dem
Buchstaben L einsetzen. Diese Ausarbeitung liegt ganz in
den Händen von Frl. Privatdozentin Dr. Berthold,
über deren Arbeit die Kritik im kommenden Jahr nack)
Erscheinen der ersten Liefernng zu urteilen haben wird. !
Außer Frl. Dr. Berthold gehörten zum Büro des;
Wörterbuchs während des ganzen Jahres Frl. Dr. Bret-
schneider, die besonders durch feine wortgeographische
Skizzen sich verdient gemacht hat, außerdem vorüber-
gehend Frl. Dr. Gauhe und stud. Kröhl, Bibliotheksrat
Dr. Martin, cand. Schirmer, Dr, Schreyer, stud. War-
necke. Ihnen allen gebührt anerkennender Dank für
ihr dem großen Werke gleichmäßig bewiesenes Interesse.
H o ch schulna ch r i ch t e n. Marburg: Am
22. März beging Geheimrat Prof. Dr. Theodor B i r t
seinen 75. Geburtstag. Wenn auch kein Hesse von Ge-
burt, so ist Birt, der sich 1878, vor fast 50 Jahren, in
Marburg habilitierte, mit unserer Landesuniversität und
dem Hessenland aufs innigste verbunden. Im Laufe
dieser Jahre hat er eine unermeßliche Schar tüchtiger
Philologen herangebildet. Groß ist auch die Zahl seiner
wissenschaftlichen Werke, in denen er es wie kaum ein
zweiter verstand, das Leben der Antike nahe zu bringen.
Auch als Dichter hat er, ursprünglich unter dem Namen
„Beatus Rhenanus", gehaltvolle, sprachlich meisterhafte
Novellen und Dramen geschrieben. Auf seine znr
Jubelfeier der Universität soeben bei Elwert erschienenen
„Marburger Licht- und Schattenbilder" kommen wir
noch zurück. — Seinen 70. Geburtstag beging am
4. April Professor Martin R a d e. In Herrenhut in
Sachsen geboren, wirkte
er zunächst als Pfarrer
in Löbau und an der
Frankfurter Paulskirche
und habilitierte sich 1899
in Marburg, wo er seit
1904 als außerordent-
licher, seit 1921 als or-
dentlicher Professor der
systematischen Theologie
wirkt. 1892 wurde er
Ehrendoktor der Uni-
versität Gießen. Seit
1887 gibt Rade die be-
kannte Zeitschrift „Die
christliche Welt" heraus
und ist seit 1919 Ab-
geordneter der demokra-
tischen Partei im Land-
tag. In seinen zahl-
reichen Schriften hat er
vor allem die Berück-
sichtigung moderner
Zeitströmungen durch
die Geistlichkeit betont.—
Am 19. März verschied
der ord. Professor der
Rechte Geh. Justizrat
Dr. Ludwig Traeger
im Alter von 71 Jahren.
Traeger, der Verfasser-
zahlreicher fachwissen-
schastlicher Arbeiten,
stammte aus Werden und
kam 1896 als Nachfolger
Karl von Lilienthals als
Vertreter der Rechts-
philosophie, des Straf-
rechts, des Straf-und des
Zivilprozeßrechts nach
Marburg. Sein großes Werk über den Kausalbegriff
hat einen beherrschenden Einfluß auf die Wissenschaft
und Rechtsprechung gewannen. — Im Alter von 52 Jah-
ren starb am 12. April der Direktor der Universitäts-
augenklinik Prof. Dr. Karl Stargardt. Ein ge-
borener Berliner, war er als Oberarzt au den Augen-
kliniken in Kiel, Straßburg und Bonn tätig und kam
1923 als Nachfolger Bilschowskis nach Marbnrg. — Der
Privatdozent für systematische Theologie Die. tbeol. Georg
W ü n s ch wnrde zum nichtbeamteten außerord. Prof, in
der theologischen Fakultät ernannt. — Die philosophische
Fakultät ernannte den Verlagsbuchhändler Georg E l s -
n e r, die theologische Fakultät den Landesbischof der
Nassauischen Landeskirche in Wiesbaden, Korthener,
wegen seiner Verdienste besonders auf dem Gebiete der
Einigungsbestrebungen des Protestantismus, zum Ehren-
boFtof. — Gießen: An: 18. März verschied der emerit.
ord. Professor für systematische Theologie D. Dr. Emil
Walter Nt a y e r im Alter von 72 Jahren. Er war
Marburger Ehrendoktor und Mitgründer der „Zeitschrift
für Theologie und Kirche" und der „Theologischen Rund-
schau". — Der Privatdozent und Prosektor am anato-
mischen Institut der Universität Münster Dr. phil. et
med. Hellmut B e ch e r hat einen Ruf als Nachfolger
des nach Bonn gehenden planmäßigen Extraordinarius
und Prosektors an unsere Universität, Dr. Ph. Stöhr,
angenommen. — Die philosophische Fakultät erneuerte
dem Prof. a. D. Dr. Friedrich S c r i b a in Darmstadt
anläßlich seines 50 jährigen Doktorjubiläums das Di-
plom. — Darmstadt: Der ord. Prof, des Maschinen-
baufachs an der technischen Hochschule Geh. Baurat
Tr,-Jng. h. c. Otto Berndt wurde auf sein An-
suchen am 1. April in den Ruhestand versetzt
Personalchronik. Der frühere Direktor unserer
Landesbibliothek Dr. Edward Lohmeyer beging am
2. April seinen 80. Geburtstag. Zu Rinteln 1847 ge-
boren, widmete er sich nach beendetem Universttä'ts-
studium zunächst dem Lehrerberuf und trat 1876 als
Praktikant bei der Kasseler Landesbibliothek ein, wo er
1882 zum zweiten, 1886 zum ersten Bibliothekar ernannt
wurde. Lohmeyer, der 1912 in den Ruhestand trat,
widmete sich hauptsächlich orthographischen und sprach-
wissenschaftlichen Arbeiten. — Am 23. April beging eines
der ältesten Mitglieder des Hessischen Geschichtsvereins,
Exz. Generalleutnant z. D. Friedrich Fritsch, sein
60. Militärdienstjubiläum. Achtzehnjährig war er 1867
beim Kasseler Feldartillerie-Regiment Nr. 11 einge-
treten, in dessen Reihen er sich als Leutnant 1870/71
das Eiserne Kreuz erwarb. Seine weitere Laufbahn
führte ihn an die Spitze der 11. Feldartillerie-Brigade,
zuletzt war er Traininspekteur. Lange Jahre war er
rühriger Vorsitzender des Kasseler Sprachvereins. —
Am 16. März waren 40 Jahre verflossen, seit Biblio-
theksdirektor Dr. Christian Berghoeffer die Lei-
tung der damals neu gegründeten Rothschildschen Biblio-
thek übernahnr. In Rauschenberg 1859 geboren, war
er in jungen Jahren an der Murhardschen Bibliothek
in Kassel tätig. Berghoeffer, der einer der ersten war,
die den Frauen den Weg zum bibliothekarischen Beruf
bahnten, hat den Leihverkehr mit auswärtigen Biblio-
theken besonders durch den von ihm geschaffenen, schon
heute 27 Millionen Titel umfassenden Sammelkatalog
erheblich gefördert. Sein vor einigen Jahren erschienenes
Werk über Rothschild hat auch für die hessische Geschichte
Bedeutung. — Am 1. April trat einer der Führer der
hessischen Lehrerschaft, Schulrat Heinr. K i m p e l, in den
Ruhestand. 1862 in Hattenbach in der Schwalm geboren,
wirkte er seit 1885 als Lehrer in Kassel. 1919 wurde
er Schulrat des Kreises Witzenhausen und kurz darauf
des Kreises Hofgeismar. Daneben versah er das Amt
eines Hilfsarbeiters bei der Kasseler Regierung. 1919
bis 1924 war er Abgeordneter der Demokratischen Partei
im Landtag. Der Hessische Volksschullehrerverein ver-
dankt seinem Wirken zum guten Teil seinen Aufstieg.
Kimpel schrieb u. a. die dreibändige „Geschichte des
hessischen Volksschulwesens". — Zu Densberg geboren,
feierte am 21. April Organist Heinrich Möller in
Kassel seinen 50. Geburtstag. Seine Orgelvorträge in
den Kasseler Kirchen und vor allem in der Kasseler
Stadthalle bekunden eine ganz ungewöhnliche Begabung
und lassen von diesem trefflichen Techniker und fein-
sinnigen Künstler noch Bedeutendes erwarten.
Todesfälle. Am 13. April entschlief in Marburg
61 jährig der Marburger Oberbürgermeister Dr. jur. h. c.
Georg Voigt. In Danzig 1866 geboren, wurde er
92
1906 Oberbürgermeister von Barmen, 1912 Oberbür-
germeister von Frankfurt a. M. und siedelte im Sep-
tember 1924 als Oberbürgermeister nach Marburg über.
Während seiner kurzen Marburger Amtsführung hat
er weitausschauend mit großer Schaffensfreude das wirt-
schaftliche Leben Marburgs gefördert. Mitten in seinem
Mühen um die Vorbereitung des Universitätsjubiläums
erlag er den Folgen einer schweren Operation. — Nach
schwerem Leiden verstarb in Berlin der frühere Kasseler
Regierungspräsident Gustav S p r i n g o r u m, der sich
um die Verwaltung der Provinz Hessen-Nassau blei-
bende Verdienste erworben hat. Nachdem er seit 1903
neun Jahre lang als Landrat an der Spitze des Kreises
Fulda gestanden, kam er nach Wiesbaden, wo er als
Regierungspräsident während öer Besetzungszeit in un-
erschrockener tatkräftiger Weise den Separatistenputsch
vereitelte. Nach dem Ruhreinbruch wurde er von den
Franzosen zu mehrmonatlicher Gefängnisstrafe verur-
teilt und aus dem besetzten Gebiet ausgewiesen. Zum
Regierungspräsidenten in Kassel ernannt, hat er trotz
schweren Leidens vom Oktober 1919 bis Februar 1926
aufrecht und gerecht seinen Posten verwaltet und sich
das Vertrauen aller Volkskreise erworben. Auch die
hessische Jugend, die ihn zum Schirmherrn der Jugend-
burg Ludwigstein erwählte, hat in ihm einen verständnis-
vollen Förderer verloren. Springorum wurde in seiner
rheinischen Heimat auf dem Bonner Friedhof beigesetzt.
Die Marburger Reformations-Fest-
spiele. In einer im Philippshaus einberufenen Ver-
sammlung gab Lektor Dr. Budde einen kurzen Überblick
über die Marburger Reformations-Festspiele, die vom
27. Mai ab etwa 14 Tage täglich vor der Marienkirche
stattfinden sollen. Der Zuschauerraum wird rund 1200
Personen fassen, so daß Marburg in diesen Tagen mit
einem außerordentlich starken Fremdenverkehr zu rechnen
haben wird. Der Spielplatz vor der Marienkirche wird
mit Toren im mittelalterlichen Stil abgeschlossen, die
Handlung selbst baut sich vorwiegend in Massenszenen
auf, bei denen Bürgerschaft und Studentenschaft mit-
wirken sollen. Der erste Akt dieses Festspiels zeigt eine
heraufziehende Prozession, die von schwärmerischen Ele-
menten beunruhigt und schließlich angegriffen wird. Im
zweiten Akt wieder die unruhige, revolutionäre Stim-
mung im Reichstag zu Speyer, Bilder wie aus dem
30 jährigen Krieg, und im dritten Akt öffnet Philipp
der Großmütige die Tore der Marienkirche für den
evangelischen Kultus. Im geschlossenen Zug ziehen die
Massen unter Jubelgesang in die Kirche ein. Die Haupt-
rollen des Festspiels sollen an Berufsschauspieler ver-
geben werden. Aus allen Teilen unserer Provinz und
darüber hinaus laufen Anmeldungen zu den Spielen
ein, zu denen sich z. B. Mainz bereits mit 1000 Per-
sonen und Darmstadt mit rund 2000 Personen angesagt
haben.
Marburg. Die Universitätsbuchhandlung von Adolf
Ebel blickte am 8. April auf ihr 150 jähriges Be-
stehen zurück.
Jüdische Kultgegenstände. Im Beisein
der staatlichen und städtischen Behörden wurde im Kas-
seler Landesmuseum eine Ausstellung jüdischer Alter-
tümer eröffnet. Geheimrat Dr. Boehlau, der darauf
hinwies, daß die Vorbereitungen der Gründung eines
jüdischen Museums schon vor dem Kriege einsetzten,
sicherte diesem die Unterstützung der Museumsverwal-
tung zu. Die namentlich von den Rechtsanwälten
Lewinsohn und Dalberg geförderte und von Dr. Hallo
inventarisierte Ausstellung bietet eine außerordentlich
reichhaltige Zusammenstellung zum Teil sehr seltener
jüdischer 'Kulturaltertümer.
A n alle ehemaligen Mar bürg er Gym -
na frästen! Ilm die 400-Jahrfeier des Marburger
Gymnasiums Philippinum am 30. Mai 1927 mit mög-
lichst vielen alten Pennälern in Marburgs alten Mauern
würdig zu feiern und vorzubereiten, ist die Vereinigung
ehemaliger Philippspennäler von neuem ins Leben ge-
rufen. Über Erwarten sind viele unserem ersten Aufruf
gefolgt und haben ihr Scherflein beigesteuert zu einem
Fonds, aus dem nicht nur die Feier bestritten, sondern
der auch einen Grundstock bilden soll für Stipendien
aller Art zum Besten des Gymnasiums. Um Irrtümern
vorzubeugen, sei es noch einmal betont: Alle Ehema-
ligen — nicht nur die "Abiturienten — sondern alle,
die einmal „zum ernsten Steinbau in der Untergasse"
oder noch vor 1868 in das alte Pennal gewandelt sind:
alle sollen kommen, alle sollen ihr Scherflein schicken,
alle sollen ihre und ihrer Klassenkameraden Anschriften
einsenden und ihren Beitritt erklären zur „Vereinigung
ehemaliger Marburger Philippspennäler". Geldsen-
dungen erbeten an die Kommerz- und Privatbank, Mar-
burg. Anschriften an den Jubiläumsausschuß Gymna-
sium Philippinum. I. A.: Sangmeister, Marburg a. L.,
Universitätsstr. 58.
Aufruf! Am 24. Mai 1927 wird der hessische
Dichter Heinrich G n t b e r l e t seinen 50. Geburtstag
feiern. Eingeengt in seinen Beruf, der ihn tagsüber
voll in Anspruch nimmt und ihm nicht so viel Schaffens-
kraft läßt, daß er bisher mit größeren Werken hätte an
die Öffentlichkeit treten können, hat er sich bis jetzt auf
die Veröffentlichung von Gedichten, die in 8 Bünden
bei Frankenstein und Wagner in Leipzig erschienen sind,
beschränkt. Diese seine Dichtungen tragen in der Mehr-
zahl rein lyrischen Charakter, doch hat Gutberlet seine
dichterische Laufbahn schon etwa 1895 in Deutsch-Böhmen
mit Mahnrufen an das deutsche Gesamtvolk, sich der
völkischen Not seiner sndetendeutschen Volksgenossen an-
zunehmen, begonnen. So ist er damals einer der aller-
ersten gewesen, die überhaupt auf die Grenzlandnöte
unseres Volkes hinwiesen. Dieses Interesse an Schick-
salsfragen des Deutschtums hat er stets bewahrt und
ihm in seinen Gedichten wie in praktischer Tätigkeit
immer wieder starken Ausdruck gegeben. Ein Kreis
von Freunden des Dichters plant anläßlich seines 50.
Geburtstages in verstärktem Maße für ihn und seine
Werke einzutreten. Im Einzelnen wird zunächst ein
neuer Gedichtband von Gutberlet „Trommel und Harfe",
in dem sein ganzes Wesen sich widerspiegeln soll, heraus-
gegeben werden. Für diesen Band ist ein Subskriptions-
preis von RM 2.— festgesetzt worden. Vorausbestel-
lungen werden an Heinz Hendriock, Charlottenburg, Kur-
fürstenallee 14 erbeten.
E s ch w e g e. Für die Beschaffung der Dietemann-
Kunstuhr, des geschichtlichen Wahrzeichens unserer Stadt,
sind schon reiche Spenden eingegangen. Es ist damit
zu rechnen, daß der Dietemann in diesem Jahre zum
Johannisfest zum erstenmal vom Schloßturm blasen
und die Stunden anzeigen wird.
Alsfeld. Bei den Kanalisationsarbeiten ans dem
hiesigen Marktplatz fand man in 2,5 Meter Tiefe die
Reste eines alten Bauwerks, bestehend aus starken Fun-
damentmauern, Platzen Eichenholz usw. Man vermutet,
daß der Fund die Reste des alten Rathauses darstellt,
das etwa 1510 samt allem Inhalt, darunter auch den
Akten, vollständig niederbrannte. Nach urkundlichen Be-
legen soll das alte Rathaus an dieser Stelle gestanden
haben. Man beabsichtigt, das Mauerwerk noch weiter
freizulegen.
N e u st a d t. Bei Ausschachtungen wurden die Mauer-
reste und Fundamente von den Ringmauern und den
Tortürmen freigelegt. Bekanntlich war Neustadt ur-
sprünglich als Wasserfestung — ähnlich wie die Festung
Ziegenhain — gebaut um das Jahr 1270 durch die
Grafen von Ziegenhain. Von dieser einstigen mauer-
bewehrten und turmgekrönten Stadtbefestigung ist, ab-
gesehen vom Junker-Hansen-Turm, nicht viel erhalten
geblieben.
Büdingen. In vielen Orten des Vogelsberges,
und überhaupt in Oberhessen, Ivird über einen empfind-
lichen Niedergang der einheimischen Schafzucht geklagt,
die sich wegen der Wollpreise und der hohen Einfuhr-
ziffern fremdländischer Wolle nicht mehr lohnt. Wo bis-
her 3 bis 4 Herden waren, findet man heute höchsten-
falls noch eine; die Landwirte bringen heute diesem
Ziveige der Viehzucht der geringen Rentabilität halber
kein allzugroßes Interesse mehr entgegen. Auch der
tierzuchtliche Wert der Schafe ist ein sehr geringer ge-
worden.
Aus dem Niddatal. In den letzten Tagen
zogen täglich größere Schafherden durch unsere Gegend,
die von den Winterweiden aus der Mainebene auf die
Sommerweiden im nordwestlichen Vogelsberg und
Schwalmtal getrieben wurden. Merkwürdigerweise geht
auch in unserem Tale die Schafzucht immer mehr zurück.
Gemeinden, die sonst eigene sehr große Herden Schafe
hatten, können nun hundert und mehr Schafe fremder
Züchter zu ihrer Herde aufnehmen, damit die Kosten
der Gemeindeschäferei gedeckt werden.
Viermünden, Kr. Frankenberg. Der Kreis Fran-
kenberg hat das hiesige landgräsliche Gut käuflich er-
worben. Man spricht von einem Kaufpreis von
1800 000 RM. Dieses Gut gehörte in den ältesten
Zeiten den Herren von Viermünden a. Hohenfels. Die
eine Hälfte erwarb Hessen 1588 durch Kauf, die andere
Hälfte 1719 durch Heimfall. Landgraf Wilhelm VIII.
von Hessen vermachte das ganze Gericht seinem dritten
Enkel, dem Landgrafen Friedrich von Hessen, von dem
es auf dessen Sohn, den Landgrafen Wilhelm von
Hessen-Rumpenheim, überging. Am 1. Juli 1886 kaufte
Landgraf Friedrich Wilhelm Nikolaus Karl zu Rum-
penheim für 120 000 Mark den Hof Treisbach und ver-
einigte die Güter Treisbach und Viermünden zu dem
Gute, zu dem große, schöne Waldungen gehören, die
der Kreis bestehen lassen will. Dagegen sollen die
Ländereien vereinzelt und an die interessierten Gemeinden
Viermündcn und Schreufa abgegeben werden.
Niedern ul a. Das hier bestehende Hospital geht
auf eine Gründung des Abtes Michael 1571 zurück. Im
Jahve 1881 besaß es außer seinen Gebäulichkeiten
27 Acker Land uno 99 599 RM Vermögen. Eine wei-
tere ebenfalls von Abt Joachim 1599 in Gestalt eines
Sondersiechenhauses in Asbach gegründete Stiftung
wurde 1853 auf Beschluß des Kurfürsten mit dem Ho-
spital von Asbach vereinigt. Tie den Armen zustehenden
Pfründen in Naturalleistungen wurden 1870 in eine
jährliche Rente umgewandelt. Dazu kamen noch andere
Renten, so daß insgesamt alljährlich vom Bezirksverband
etwas über 700 RM an das Hospital von Niederaula
gezahlt wurden. Durch die Inflation hat das Hospital
sein Kapitalvermögen verloren. Gleichzeitig ist die Zah-
lung der jährlichen Rente eingestellt worden. Die an
und für sich schwierige Lage des Hospitals ist dadurch
noch schwieriger gestaltet worden. Es ist jetzt ein Streit
entstanden, ob und wer zur Zahlung verpflichtet sei.
Der Landrat des Kreises Hersfeld sucht im Verein mit
dem Vorstand des Hospitals eine Klärung der Sache
herbeizuführen.
Willingshausen. Schwälmer Bauern-
stickerei. Es ist das Verdienst von Frau Professor
93
Thielmann, die mit der aussterbenden Schwälmertracht
verschwindende Sticktechnik der ausgenähten Arbeiten
durch Gründung der Werkstätte am hiesigen Orte hoffent-
lich gerettet zu haben. Nach dem Entwurf und der An-
leitung der Frau Thielmann sind Decken, Läufer, Kissen,
Taschen, Kragen, Mieder und Kleider für Frauen und
Kinder mit den meist Jahrhunderte alten Mustern in
der alten Technik bestickt. Weißstickereien von hohem
künstlerischen Werte werden angefertigt. Die auser-
lesene Feinarbeit der Muster, die geschickte Verteilung
des Ornamentes und die solide Technik wird jeden
Freund guten Kunstgewerbes erfreuen, und der Lieb-
haber alter Heimatkunst wird an den naiven Mustern
seine besondere Freude haben.
Naturschutz und Schule. Mit dem zweiten
Deutschen Naturschutztage, der vom 1. bis 3. August
in Kassel stattfindet, soll eine Ausstellung verbunden
werden, die das Thema „Naturschutz und Schule" be-
handelt. Auf dieser Ausstellung werden zunächst käuf-
liche Anschauungsmittel und künstlerischer Wandschmuck,
soweit sich diese Gegenstände auf den Naturschutz beziehen,
sowie die einschlägige Literatur vorgeführt werden. Be-
sonders aber soll durch sie gezeigt werden, wie die
neuzeitliche Arbeits- und Erlebnisschule im Sinne des
Naturschutzgedankens wirken kann. Hierzu wäre es, wie
wir einem Erlaß des preußischen Kultusministers an
die Provinzialschulkollegren entnehmen, erwünscht, wenn
aus möglichst vielen deutschen Schulen Schülerarbeiten
uno dergl., die für eine solche Ausstellung geeignet
sind, zusammengebracht werden. Aus den verschiedenen
Unterrichtsfächern kämen für die Ausstellung u. a. in
Betracht: Photographische Aufnahmen aus Naturschutz-
gebieten, von Naturdenkmalen sowie von geschützten
Tieren und Pflanzen, Bilder und Präparate aus den
typischen natürlichen Pflanzenvereinen der Heimat, Werk-
arbeiten zum praktischen Vogelschutz (Futterhäuschen,
Brutkästen usw.), Grundrisse von Vogelschutzgehölzen,
Beispiele von Schulaquarien-, Terrarien- und Jnsekten-
zuchten. Reliefs von Naturschutzgebieten, kartographische
Aufzeichnungen der Veränderungen im Landschaftsbilde
durch Naturkräfte, durch Land- und Forstwirtschaft,
durch Siedlung und Industrie, Naturschutzplakate. Auf-
sätze über Naturschutzgebiete, Naturdenkmale sowie über
Naturschutz im allgemeinen. Neben derartigen Schüler-
arbeiten sollen auf der Ausstellung auch Lehrerarbeiten
vorgeführt werden, z. B. etwa lehrplanmäßige Auf-
stellungen über Naturschutz, Arbeiten aus der Erfor-
schung heimatlicher Naturschutzgebiete, selbstgesertigte An-
schauungsmittel und ähnliches. Die Anmeldungen für
die Beschickung der Ausstellung müssen bis spätestens
1. Mai an die Staatliche Stelle für Naturdenkmal-
pflege in Preußen, Berlin-Schöneberg, Grunewald-
straße 6/7, gerichtet werden.
Vorbildlicher Vogelschutz. Die Stadt Als-
feld hat einen Teil ihrer Feldmark und Weiden, die
an eine Schäfereigenossenschaft verpachtet sind, mit um-
fangreichen Baum- uno Strauchanpflanzungen zur Schas-
Vereinsnachrichten.
Hessischer G e s ch i ch t s v e r ei n. Den letzten
Wintervortrag des Kasseler Vereins hielt am
21. März Privatdozent Dr. Eckhardt- Göttingen über
die „Abgrenzung der Gaugrafschaft Hes-
sen gegen Thüringen und Enger n". Der
fesselnde und wertvolle Vortrag wird im „Hessenland"
zum Abdruck gelangen. — In der Jahreshauptversamm-
lung des F u l d a e r Geschichtsvereins erstatteten zunächst
der Vorsitzende, Oberbürgermeister Dr. Antoni, den
94
fung eines Vogelschugehöltzes versehen, damit den durch
zahlreiche Feldbereinigungen und damit verbundene
Heckenbeseitigungen heimatlos gewordenen Vögeln hier
eine Schutz- und Niststätte geboten wird. Um ihren
Zweck vollkommen zu erreichen, hat die Stadt der
Schäfereigenossenschaft Beschränkungen in ihrem Nutzungs-
recht auferlegt und der Vogelschutzmaßnahme zuliebe
aus einen Teil der Schäfereipacht Verzicht geleistet.
Vogelschutz. Der Bund für Vogelschutz e. V. ist
bestrebt, die Abnahme der Raubvögel zu verhindern.
Jeder Jagdinhaber, Jagdaufseher, Forstbeamte usw.,
durch deren Förderung eine .Brut folgender Raubvögel
bis zum völligen Ausstiegen kommt, erhält nach der
Bestätigung durch seine vorgesetzte Behörde eine Be-
lohnung, die je nach den Umstünden und der Seltenheit
der Vögel bestimmt wiro. Die zu schützenden Vögel
sind: Alle Adler, Uhu, Kolkrabe, Wanderfalke, Baum-
falke, Wespenbussard, Korn- und Wiesenweihe, Wald-
ohreule, Sumpfohreule und Milane. Die Anmeldung
muß spätestens am 15. August in den .Händen des Vor-
sitzenden der Ortsgruppe Groß-Berlin des Bundes für
Vogelschutz e. V., Major a. D. Wegner, Berlin S. 42,
Oranicnstr. 68, sein.
Der Streit um das Eigentumsrecht am
Mainzer Festungsgelände. Gelegentlich der
Mainzer Tagung für Denkmalspflege und Heimatschutz,
die dem Mainzer Dom gewidmet war, veröffentlichte
der Mainzer Historiker Dr. Die hl eine rechtsgeschicht-
liche Untersuchung, die über Mainz hinaus Aufsehen
erregt. Der Verfasser glaubt den historischen Nachweis
geliefert zu haben, daß die vom Reichsmilitärfiskus
in Anspruch genommenen Vermögenswerte der Festung
Mainz nicht alle Reichs-, sondern hessisches bzw. Main-
zisches Eigentum sind. Ec bestreitet die Sukzession des
Reichs dem Deutschen Bund gegenüber und verlangt, daß
alles vor dem Reichsgesetz vom 25. Mai 1873 als
Festungsgelände in Anspruch genommene Gebiet auf
dem Wege des Heimfalls den ursprünglichen Eigen-
tümern zurückgegeben werde. Sollte die historisch gut
unterbaute These juristisch unanfechtbar sein, dann wür-
den sich nicht nur für Hessen bedeutungsvolle Folgen
ergeben.
Die Wiederherstellung des Mainzer
Doms. Tie Wiederherstellungsarbeiten am Mainzer
Dom machen gute Fortschritte. Der Westturm konnte
bis zur zweiten Krönung bereits wieder seiner Gerüste
entkleidet werden. Die Spitze des Turmes zeigt sich
in neuem schönen Kleide. Der funkelnde Hahn auf dem
Knauf grüßt wieder seine Mainzer. Die beiden Flan-
kentürme des Westturmes stehen allerdings noch in
starken Gerüsten. Auch die Osttürme sind von solchen
noch umgeben. Wenn die Erneuerungsarbeiten in dem
gleichen Zeitmaß und unter den gleichen glücklichen
Verhältnissen wie seither fortschreiten, dann darf für
den September d. I. mit der endgültigen Wiederher-
stellung gerechnet werden. Für die Weihe des Domes
sind besondere Festlichkeiten vorgesehen.
Jahresbericht und Herr Ed. Schmitt den Kassenbericht.
Der Vorstand wurde einstimmig wiedergewählt, Vor-
sitzender ist Oberbürgermeister Dr. Antoni, Stellvertreter
Domkapitular Prof. Dr. Richter, Kassenführer Weingroß-
händler Ed. Schmitt, Beisitzer sind Prof. Dr. Haas,
Prof. Dr. b. c. Vonderau, Prof. Dr. Scherer und
Schriftleiter Dr. Kramer. Im Anschluß an die Jahres-
versammlung sprach Prof. Dr. Vonderau über die
vorzeitlichen Funde ans dem Haimberg, besonders die in
der Zeit 1000 bis 800 v. Chr. entstandenen Bronze-
funde, die auf dem Handelsweg in die vorzeitlichen
Siedlungen gelangt waren. Hierauf sprach Prof. Dr.
5) a a s über einige Besonderheiten der Fuldaer Mund-
art, und zum Schluß lud Rektor Hack die Mitglieder
zu der an den Ostertagen auf dem Petersberg zu ver-
anstaltenden Aufführung des „Fürstabtes" von Georg
Leonhard Fischer nachdrücklich ein. (Bericht: Fuldaer
Zeitung 14. 4.)
In der Monatsversammlung des G e l n h ä u s e r
Vereins am 4. April sprach Lehrer Schäfer- Gons-
roth über „Raubritter- und Fehdewesen im
Kinzigtal" und gab unter besonderer Betonung der
geistigen, wirtschaftlichen und politischen Gründe ein
Personalien.
Ernannt: zu Rektoren: in Barchfeld der Lehrer Karl
Volkmar in Bermbach; in Sontra der Lehrer Dr.
Lerch in Schenklengsfeld; zu Konrektoren: die Lehrer-
Müller in Witzenhausen, Steinbach in Allendorf
a. W., in Großalmerode der Lehrer Kr ohne aus
Marzhausen; zu Hauptlehrern: der Lehrer Heerdt
in Oberschönau, in Dalherda der Lehrer B a i e r in
Schachen; zum Mittelschullehrer: der Lehrer Busch
in Kassel; zur Kreisjugendpflegerin des Kreises Fritzlar
für das Rechnungsjahr 1927: die Schulamtsbewerberin
H i n tz e in Gudensberg; Pfarrer Stolzenbach in
Homberg zum Pfarrer in Velmeden; Pfarrer L a n g -
Heinrich in Tann zum Pfarrer in Gersfeld; Pfarrer
M ü n ch in Remsfeld zum Pfarrer in Herckeshausen;
Pfarrer oxtr. Sautet in Kassel zum Pfarrer in
Kirchberg; Hilfspfarrer B a e tz in Kassel-Bettenhausen
zum Pfarrer in Sterbfritz; Pfarrer Seim in Grüsen
zum Pfarrer in Hersfeld; Pfarrer Ramge in Rendel
zum Pfarrer in Bieber; Hilfspfarrer Die. F r i ck e
in Bockenheim zum Inhaber der V. Pfarrstelle in
Bockenheim; Forstrentmeister K a y s e r l i n g in Hanau
zum Forstoberrentmeister; Justizobersekretär Degen-
hardt beim Oberlandesgericht in Kassel zum Justiz-
inspektor; Aktuar Allemann von Düsseldorf-Gerres-
heim zum Justizobersekretär in Gladenbach; Oberregie-
rungsrat Schütze zum Finanzgerichtsdirektor in Kassel;
Professor Dr. W i ck aus Düsseldorf zum Leiter der
Augenabteilung des Landkrankenhauses Kassel.
Versetzt: die Lehrer Schäfer von Raboldshausen
nach Gensungen; Otto von Großhegesdorf nach Hess.
Oldendorf; Schreiber von Dörmbach nach Klein-
sassen; Lamm von Großalmerode nach Marzhausen;
Kry karrt von Züntersbach an die Sammelschule
Jckern-Castrop-Rauxel; S ch l o t t e r o s e von Kassel
nach Marburg; Kaplan Richard Feußner von Mar-
gretenhaun nach Hosenfeld; Studienassessor D i e t r i ch
in Hersfeld als Studienrat an das städtische Realgym-
nasium in Neheim; Studienrat Wilhelm Stück von
Rinteln nach Hersfeld; Reichsbahnrat Haeßner in
Hersfeld wird vom 1. lai ab an die Reichsbahndirektion
Kassel; Forstassessor Eichbaum von der Forstein-
richtungsanstalt Kassel zur Regierung daselbst; Regie-
rungsrat E i d i n g e r von der Regierung Arnsberg
zur Regierung Kassel.
Berufen: Kapellmeister Dr. Ernst Zulauf als
erster Kapellmeister an das Staatstheater Wiesbaden.
Bestätigt: der zum Bürgermeister der Stadt Rosen-
thal gewählte seitherige Beigeordnete Rucke r t.
Übertragen: dem Finanzobersekretär von der Kreis-
kasse Schlüchtern Großmann unter Ernennung zum
Rentmeister die Verwaltung der Kreiskasse Franken-
berg ; den Hilssförstern F e u e r st a ck, Oberförsterei
Bild dieser merkwürdigen Erscheinung. Die interessante
Arbeit erntete verdienten Beisall. — Im Mai soll
anstatt der üblichen Monatsversammlung ein Ausflug
nach Steinau zur Besichtigung des Schlosses der Grasen
von Hanau unternommen werden.
K n ü l l g e b i r g s v e r e i n. Bei der Tagung des
Vereins in der Jugendherberge auf dem Knüll wies
der Vorsitzende, Amtsgerichtsrat Heußner -Hersfeld
besonders auf den Ausbau der Jugendherberge Nieder-
aula hin, deren Einweihung am 24. April stattfindet,
und bat zur Ausgestaltung der Jnnenräume um Stif-
tung von Wandschmuck, Einrichtungsgegenständen und
Wüsche.
Fricdcwalb, die Forstsekretärstelle dieser Oberförsterei;
Fink, Oberförsterei Bieber, die Forstsekretärstelle der
Oberförstern Burgjoß; Sauer, Oberförsterei Vecker-
hagen, die Forstsekretärstelle der Oberförsterei Fritzlar.
Anweisung erhielten: Kaplan Theodor B o t t e r -
mann in Ulmbach als Kooperator des Pfarrers Malk-
mus in Gersfeld; Neupriester Hermann R ü b s a m aus
Kirchhasel als Kaplan in Ulmbach; Kaplan Franz Ebel
in Poppenhausen als Kooperator des Pfarres Nau in
Steinhaus; Neupriester Aloys Vogt aus Körnbach als
Kaplan in Poppenhausen; Kaplan Leonhardt Heidt in
Kassel als Kaplan in Marbach; Kaplan Joseph Sauer
in Somborn als Kaplan in Kassel; Kaplan Rudolf
Lenz in Blankenau als Kaplan in Kassel; Neupriester
Joseph Wahl aus Kassel als Kaplan in Blankenau;
Neupriester Ludwig A tz e r t aus Petersberg als Kaplan
in Rasdorf; Kaplan Ludivig Büttner in Rasdorf
als Kaplan in Kassel-Rothenditmold; Kaplan Karl
A o e l in Kassel (St. Familia) als Kaplan in Som-
born ; Kaplan Joseph Heller in Kassel-Rothenditmold
als Kaplan in Großentaft.
Verliehen: der 16 jährigen Aufbauschülerin Minna
Pohl in Hersfeld die Erinnerungsmedaille für Ret-
tung aus Gefahr; dem Bankbeamten Wilh. Manns
in Langenselbold die Rettungsmedaille am Bande.
Endgültig angestellt: die Lehrer Falke in Mühl-
hausen ; W o l p e r s in Gelnhausen; K r o h n e in Wer-
mertshausen; Seelmann in Poppenhausen (Stein-
wand) ; die Lehrerin W i t t m u n d in Kassel.
Einstweilig angestellt: die Schulamtsbewerber Reith
in Wolfhagen; D i e d e r i ch in Wernswig; Engler
in Rothenkirchen; die technische Schulamtsbewerberin
Ludwig in Fechenheim.
Entlassen auf Antrag: die Mittelschullehrerin Anna
K o e n i g, geb. Breda, in Kassel; die Lehrerin Brand
in Marburg.
In den Ruhestand versetzt: Rektor Gerhardt in
Sontra; die Konrektoren: Pi stör in Treysa; Rit-
ter in Hersfeld; Otto in Bebra; W i e s e n t h a l
in Hanau; die Konrektorinnen: Schenkheld und
§ a g e n in Kassel; die Hauptlehrer: Rohrbach in
Bischhausen; Schröder in Poppenhausen; die Lehrer:
M ü n ch in Trendelburg; A d a m in Lamerden; S t e i n -
Hauer in Wippershain; D i e h l in Oberzwchren;
B e t t e n h a u s e n tu Melgershausen; Rüppel in
Waldau; die Lehrerin Dr. H a d l i ch in Kassel; Geh.
Regierungsrat T u e r ck e und Ober-Reg.- und Forstrat,
Geh. Regierungsrat K u r l b a u m in Kassel; die Hege-
meister Kohl in Niederaula; Nickel in Forsthaus
Ziebach, Oberförsterei Friedewald; Thomas in Wan-
fried; Tischer in Helsa; Landesoberrentmeister Krück
in Hanau; Amtsgerichtsrat R h i e l in Fulda; Amts-
gerichtsrat Kotzenberg in Marburg; die Kataster-
inspektoren bei der Regierung, Goebel und Ra mp.
Vermählte: Kunstmaler Gerhard Schnell und
Frau, Ilse, geb. Kleim (Koblenz); Senatspräsident Dr.
K o e n i g und Frau, Anna, geb. Breda (Kassel, 9. 3.);
Edwin-Roland Pfeiffer und Frau, Liesel, geb. Pfeif-
fer (Adelaide, 5. 3.); Stadtsyndikus Dr. Rudolf M a l -
mus und Frau, Else, geb. Mangold (Güntberg, 24. 3.);
Otto Sichel und Frau, Irma, geb. Grünewald (Am-
sterdam) ; Dr. Hermann B l e n k und Frau, Marie,
geb. Falkenthal (Hersfeld, 7. 4.); Wilh. Grau und Frau,
Emmy, geb. Recht (Altona, 9.4.); Felix F r o e l i ch
und Frau, Ottilie, geb. Streit (Kassel, 9. 4.); Georg
H. Schirmer und Frau, Milli Elisabeth, verw. Koch,
geb. Schäfer (Kassel); Dr. msck. Ludwig Henkel und
Frau, Emma, geb. Dittmar (Frielendorf-Kassel, 9. 4.);
Bernhard Beling und Frau, Friedet, geb. Lappe
(Frankfurt a. M., 9. 4.); Dr.-Jng. Erich Kl ah re
und Fran, Elisabeth, geb. Werner (Oberlangenbielau-
Marburg, 15. 4.); Dr. phil. Heinrich M eiste r und
Frau, Thea, geb. Schmidt (New Pork, Helsen-Arolsen,
15. 4.).
Geboren: ein Sohn: Regierungslandmesser Malk-
m n s uno Frau, Hedwig, geb. Stecke! (Frankenberg,
23. 3.); Professor Dr. Kretschmer und Frau, Luise,
geb. Pregizer (Marburg, 24. 3.); Fritz Alexander
Wolfs und Frau, Gretel, geb. Potente (Potsdam,
2. 4.); Kaufmann Lorenz Baupel und Frau, Amalie,
geb. Wiegel (Kassel, 8. 4.); Dr. G. Lomen und
Frau, Berna, geb. Schmitz (Zwillinge), (Kassel, 12. 4.);
— eine Tochter: Regierungsassessor Dr. Beck-
mann und Frau, Else, geb. Siebert, aus Marburg
(Düsseldorf, 12. 1.); Dr. L ü h r s und Frau, Ottilie,
geb. Siebert, aus Marburg (Oldenburg, 14. 1.); Eduaro
Schäfer und Frau, Marianne, geb. Müller (Buenos
Aires); Dr. Wilhelm Stein und Frau, Lotti, geb.
Boesenberg (Hamburg, 30.3.); Regierungsassessor Wilko
Rieß pon Scheurnschloß und Frau, Elonore,
geb. v. Thümmel (Angermünde, 29. 3.); Generalagent
F. G. Wenzel und Frau, Anna, geb. Schmidt
(Kassel, 4. 4.); Gottfried Pfannschmidt und Frau,
Emmi, geo. Jäger (Kassel-W., 11. 4.); Julius Men-
dels und Frau, Emmy, geb. Levy (Elberfeld).
Gestorben: Kaufmann Karl Rosenöl ath, 66 I.
alt (Berlin, 11. 3.); Tuchfabrikant Alex R e h n, 63 I.
alt (Hersfeld, 18. 3.); Privatmann Heinrich Becker,
80 I. alt (Kassel, 21. 3.); Rechnungsrat Georg K a u f -
man n, 70 I. alt (Kassel, 21. 3.); Musiker Bernhard
H o h m a n n, 84 I. alt (Wohlmuthausen); Bauunter-
nehmer Wilhelm Schanze (Rotenburg); Geh. Justiz-
rat Prof. Dr. Ludwig T r a e g e r, 71 I. alt (Mar-
burg); Schneidermeister Georg Bo len der (Fulda);
Direktor Max H e i n z e (Bahia Blanca, 23. 3.); Ehe-
frau des Oberlehrers a. D. Auguste W o l s ch t, verw.
Müller, ge-.. Müller, 82 I. alt (Kassel, 24. 3.);
Direktor'Matthias Rehbein (Kassel, 25. 3.); Pfarrer
Johannes E i s e n b e r g, 59 I. alt (Wolfsanger);
Witive des Forstnreisters Marie F u ch s, 84 I. alt
(Kassel, 26. 3.); Pr. Generalmajor a. D. Otto B e r l e t
(Kassel, 27. 3.); Ehefrau Margarete Weber, geb.
Krämer, 72 I. alt (Kassel, 27. 3.); Kaufmann Friedrich
M. A. M e i ß n e r, 48 I. alt (Kassel, 28. 3.); Ober-
steuersekretär i. R. Karl Balz er (Marburg, 31.3.);
Kunstmaler Adolf Lins, 70 I. alt (Düsseldorf); Ehe-
frau Hedwig Seitz, geb. Kröber, 49 I. alt (Kassel,
1. 4.); Ehefrau Christiane B a ch m a n n, geb. Meurer,
61 I. alt (Spangenberg, 1. 4.); Gr. Hess. Kammerherr
Regierungsrat Hans Freiherr Schenk zu Schweins-
ber g (Fronhausen, 2. 4.); Hegemeister a. D. Karl
Kohl, 65 I. alt (Niederaula, 3. 4.); Bankvorstano
a. T. Wilhelm Mollenhauer, 73 I. alt (Fulda,
3. 4.); Frau Professor Julie Aereboe, geb. Katz,
38 I. alt (Kassel); Frau Rechnungsrat Lisa S ch r o e -
d e r, geb. Walper (Kassel, 3. 4.); Kanzleiinspektor
Georg Schniidt, 61 I. alt (Kassel, 4. 4.); Maler
und Lithograph Eduard T i m a e u s, 85 I. alt (Kassel,
4. 4.); Fabrikant Z ö l l e r, 70 I. alt (Schlitz); Kauf-
mann Heinz S p ö r h a s e (Marburg, 6. 4.); Studienrat
Heinrich S a n d r o ck, 65 I. alt (Kassel, 9. 4.); Frau
Sofie Reuse geb. Kaysan, 67 I. alt (Kassel, 9. 4.);
Fräulein Paula W e h n e r (Poppenhausen, 9. 4.);
Lehrer i. R. Johannes F r e i l i n g, 79 I. alt (Celle,
10. 4.); Frau Marie Sabine T r o m m, geb. Arm-
brecht (Wenigenhasungen, 12. 4.); General-Veterinär
a. T. Dr. I. M. Bächstädch 67 I. alt (Hofgeismar,
12. 4.); Oberbürgermeister Dr. Voigt, 60 I. alt
(Marburg); Direktor der Universitäts-Augenklinik Prof.
Dr. moä. Karl S t a r g a r d t, 52 I. alt (Marburg,
12. 4.); Staatl. Hegemeister i. R. August W i l l, 73 I.
alt (Wellerode, 13. 4.); Staatl. Hegemeister i. R. Fried-
rich Gönne r, 65 I. alt (Vollmarshausen, 13. 4.);
Hauptlehrer i. R. Aloys D o r st, 82 I. alt (Fulda,
14. 4.); Lehrer H e b e l e r (Burguffeln).
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Verlag: Dr. Karl Braun, Eschwege, Herrengasse 10.
Postscheckkonto: Frankfurt a. M. 82145, Johs. Braun, Eschwege.
Schriftleiter: Paul Heidelbach, Kassel. Druck: Fri edr. S ch e el, Kassel. Alle Rechte vorbehalten.
Manuskripte sind zu senden an Paul Heidelbach, Kassel, Hohenzollernstraße 16.
Für.un verlangte Einsendungen keine Verbindlichkeit. Rücksendung nur, wenn das Po st geld beiliegt.
96
HenenlanH
Illustrierte Monatsblätter für Heimatforschung, Kunst und Literatur
Schriftleiter Paul Heidelbach, Kassel. Unter Mitwirkung von Bezirkskonservator Baurat Dr.Holtmeyer, Kassel,-
Direktor der Landesbibliothek Dr. Hopf, Kassel,- Lyzeallehrer Keller, KasselStaatsarchkvrat Dr. Knetsch, Marburg,-
Oberbibliothekar Professor Ur. Losch, Steglitz,- Schriftsteller Heinrich Ruppel, Homberg,- Professor Dr. Schaefer,
Kommissar für Naturdenkmalpflege km Reg.-Bez. Kassel,- Geheimrat Universitätsprosessor Dr. Schröder, Göttingen,-
Universitatsprofeffor vr. Schwantke, Marburg,- Dr. Werner Sunkel, Marburg,- Professor Dr. Bonderau, Fulda,-
Universitätsprofessor Dr. W e d e k i n d, Marburg.
- — ■ 3m Einverständnis mit den Vereinen: > —.— ——
Verein für hessische Geschichte und Landeskunde,- Hessischer Gebirgsverein,- Knüllgebirgsverein,- Deutscher Sprachverein,
Zweig Kassel,- Verein für Naturkunde, Kassel,- Geologischer Verein, Marburg,- Biologische Vereinigung, Marburg,-
Gesellschaft für Familienkunde in Kurhessen und Waldeck,- Hessischer Volksschullehrerveretn.
——................. Bezugspreis vierteljährlich 2.— Mark .-- -
39. Jahrgang
Das Tal von Oueyras und
von Karlsdorf in Hessen.
Quellen: Psaff, Karlsdorf. Chr. v. Rommel, Zur
Geschichte der franz. Kolonien in Hessen-Kassel. (Zeit-
schrift d. Hess. Geschichtsvereins von 1857.) Die Karls-
dorfer ersten Kirchenbücher. Geschichte der Waldenser
(Bender, Gilles). Blätter des Hugenottenvereins. Tivol-
lier, Monographie de la vallee du Queyras. Henri
Ferrand, A travers du Brian^onnais, und zahlreiche
französische Alpenführer.
Tie Regierung Ludwigs XIV. ist ganz besottders
durch unerhörte Verfolgung der französischen Pro-
testanten gebrandmarkt. Jahrzehntelanger Unter-
drückung folgten Bluturteile und Tragonaden und
als Endergebnis die Aufhebung des Edikts von
Nantes, am 22. Oktober 1685. Dadurch wurden
die Hugenotten Frankreichs rechtlos und vogelsrei.
Trotzdem Auswanderung verboten, die Grenze
bewacht war, hatten sich schon vor 1685 viele
Glaubensflüchtlinge in die Nachbarländer und weiter
retten können. Auch in Kassel besaltden sich schon
französische Refugies. Sobald die Aushebung des
berühmten Glaubensedikts hier bekannt wurde,
hielten diese Franzosen im Hause ihres schon länger
in Kassel ansässigen Landsmannes Grandidier ihre
erste allgemeine Versammlung ab. Am 29 Okto-
ber feierten sie in der Brüderkirche ihren ersten
öffentlichen Gottesdienst. Damit erklärten sie sich
als Gemeinde. Zugleich zeigten die Hugenotten
Kassels so an, daß sie Hessen nunmehr als neue
Heimat betrachteten.
Landgraf Karl hatte schon früher durch einen
Erlaß „allen fremden nützlichen.Handwerkern und
Manufakturisten" die Einwanderung in sein Land
erlaubt. In der Schweiz, wohin sich die meisten
5 Kassel, Mai 1927
Abriss, die Heimatgemeinde
Von Ella Gonnermann.
Flüchtlinge wandten, unterhielt er bereits Agenten,
die seinen unglücklichen französischen Glaubensge-
nossen .Hessen-Kassel zum Asyl anboten. Nun
konnte er öffentlich handeln. Die Aufhebung des
Edikts von Nantes veranlaßte den Landgrafen also
zu sofortigem Eintreten für die verfolgten Bekenner
seines eignen reformierten Glaubens. Er öffnete
ihnen nicht bloß sein Land, er gewährleistete ihnen
auch zahlreiche Rechte und Vorrechte, verhieß ihnen
tatkräftige Hilfe, landesväterliche Fürsorge und
kräftigen Schutz.
Unter den Franzosen, die schon im Jahre 1685
seinem Rufe Folge leisteten, waren 400 flüchtige
Waldenser aus den Hochalpentälern der Dauphins.
Ihr Führer war David Clement, der ehemalige
Pfarrer der Gemeinde Villaret im Tale Pragelas
(= pres geless = gefrorene Wiesen). Dieser uner-
müdliche, gewandte und kluge Mann hatte nicht
nur die Reformierten seines eigenen Tales, son-
dern Glaubensbrüder aus allen möglichen Gemein-
den diesseits und jenseits der Gipfel der cottischen
Alpen um sich gesammelt. Über Gens und Zürich
brachte er die Schar, noch durch flüchtige Elsässer
verstärkt, an ein glückliches Ziel. Das Hessenland,
wo Fürst und Volk reformierten Bekenntnisses
waren, erschien dem klar blickenden Clement als
passendste neue Heimat.
Seine Voraussicht bewährte sich. Das viele
Fremde und Andersartige, worein Deutsche und
Franzosen sich gegenseitig zu schicken hatten, wurde
in Hessen nicht noch durch Glaubenstüfteleien (wie
z. B. in Württemberg) verschärft. Landgraf Karl
97
gründete diesen ersten Einwandern mehrere Dörfer,
erlebte deren Aufblühen und erfreute sich au der
Dankbarkeit und der Tüchtigkeit seiner neuen Lan-
deskinder.
Das Kirchdorf verschiedener vereinigter Gemein-
den wurde Karlsdorf. Lange Jahre hindurch be-
treute Clement die von ihm Herbeigeführte!: als
Seelsorger. Ihm folgte sein Sohn, der zwischen
ihnen aufgewachsen war. Beide Pfarrer kannten
die Verwandtschafts- und Heimatbeziehnngen der
Gemeindeglieder ganz genau. Daher geben die
Karlsdorfer ersten Kirchenbücher durch kleine Zu-
sätze dem Familienforscher manchen wertvollen Fin-
gerzeig.
Weisen Beifügungen wie ,,1'eu l8aac“, „petite
fille du sieur N. N.“ aus die Voreltern hin und
schaffen zugleich Klarheit unter beit vielen Familien
gleichen Namens, so ist auch die stete genaue An-
gabe des Heimatortes sehr wichtig. Ein Heimat-
tal kehrt da immer wieder: la vallee du Queyras!
Ter Ort aber, ans dem die meisten Karlsdorfer
Kolonisten stammen, ist Abriss — en Queyras
dans le haut Dauphine. Tie vergilbten, brüchigen
Blätter der ältesten Karlsdorfer Kirchenregister
stellen dem würdigen Clement noch heute das
Zeugnis der Treue und Gewissenhaftigkeit aus.
In einem Eintrag des französischen Taufbuchs der
Kasseler Obernenstadt, wo der zum Greis gewor-
dene als Pate auftritt, wird er durch den Zusatz
„ein besonders ehrwürdiger, treuer Pfarrer" geehrt.
Aber nicht nur persönliche Eigenschaften dienen
zur Erklärung für diese in jener Zeit besonders
bei den eingewandertcn Franzosen wenig übliche
Ordnung der Kirchenbuchführung. Sie erklärt sich
vor allem durch die eigne Herkunft des Mannes
aus dem seit ältesten Zeiten durch genaue Katastrie-
rung berühmten Brianyonnais. Es gibt Gelehrte,
die sogar den Namen „Queyras", dessen alte Form
1360 z. B. Cadratium, Cadrassium, lautet, von dem
Wort eadastre herleiten. Denn schon vor 1360
war der Kataster, die genaue Grundbuchführung,
im ganzen Fürstentum Brianyon und also auch
dem Tal von Queyras üblich. Doch dürste der
Name eher von dem keltischen Wort: cair = (Stein
abzuleiten sein; im Dialekt des Tals bedeutet
„Queyron" noch heute einen mit Steinen über-
säten Platz, und das Queyras ist ein rechtes Fel-
sental.
Erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts
!vird das Interesse weiterer Kreise für dies ent-
legene Hochalpental geweckt. 1011 ward die Straße
vollendet, die es erst wirklich erschloß. Seine Schön-
heit wird durch den Beinamen angedeutet, den
man ihm gegeben hat „val d' azur". Tie wun-
dervolle Färbung des Himmels, das klare Blau
seiner Bäche haben Anlaß dazu gegeben. „Da
vallee du Queyras dans le haut Dauphine", wie
der alte Clement schreibt, liegt im heutigen Depar-
tement Hautes-Alpes zwischen Biso und Cenis.
Hoch oben am Monte Biso, dem Greuzwächter
der cottischen Alpen, entspringt der Hanptfluß des
98
Tals, der schäumende, ivilde Guil. Seine Quell-
büche, im Steingeröll des Bergs gereinigt, sammeln
sich, nahe dem Col de Valante, tut durchsichtig
klaret: See von Lestio. Ihm entfließt dann der
blaue, brausende Bergstrom. Zahlreiche Seiten-
täler schicken ihm ihre Wasser zu. Nach dem fel-
sigen Ödland begleiten ihn bald Weideflächen und
bis zu den Gipfeln aufsteigende Lärchenwälder,
bald bewässert er blühende Wiesen, bald tost er in
der Tiefe schauriger Schluchten. Zu den Weiden
des Queyras ziehen noch >vie in Urväterzeiten in
jedem Frühjahr zahlreiche Hirten der Provence mit
Riesenherden von Schafen, jungen Kühen und
Ziegen. Von Ende Mai ab zeigen die Wiesen sich
in voller Blütenpracht. Seltene Blumenarten ent-
zücken den Blumenfreund und Botaniker. Die
Lärche, der Baum des Tales, wächst zu besonders
stolzer Höhe und Kraft empor. Die Häuser wer-
den meist ans Lärchenholz gebaut. Selbst die
Dächer hat man oft damit gedeckt und die vorhan-
denen Dachrinnen daraus angefertigt. In manchen
Ortschaften sind die Balustraden der Balkons mit
reichen Schnitzereien versehen. Gewöhnlich liegen
die Weiler da, wo sich das Tal zu einem kleinci:
fruchtbaren Wiesengrund erweitert, an der Ein-
mündung meist mehrerer Nebenbäche. Tie ange-
bauten Felder steigen daitn bis zu halber Höhe
des Uferberges empor. Man bezieht in: Queyras
gemeinsam die gesellig sich ans den Almen lagern-
den Sennhütten, rneyries genannt, die Milchwirt-
schaft und die Käsefabrikation sind berühmt. Viele
kleine Weiler und Gehöfte vereinigen sich zu einer
Ortsgemeinschast (communaute). Im stattlichen
Hnnptdors liegen Kirche und Mairie. Sieben solcher
Hauptdörfer zählt man seit alters im Tal. Das
älteste ivar Chateau-Ville-Vieille, nahe Chateau
Queyras gelegen, ivo sich noch heute der alte
Schrank aus Eisen im Gewölbe des Rathauses be-
findet, der einst die Archive enthielt. Acht Schlösser
verwahrten ihn. Nur im Beisein aller eonsuhs
der sieben Gemeinden durfte er geöffnet werden.
Den achten Schlüssel hatte der Abgeordnete für das
ganze Queyras, der Vorsteher des Tales, der ge-
wöhnlich auch Konsul seines Heintatbezirks war.
Aus Ville-Vieille stammen von Karlsdorfer Re-
fngies die Familien Macher und Morel.
Das zweite ant Guil, nahe den berühmten gorges
du Guil gelegene Hauptdorf ist Abriss, die .Heimat-
gemeinde von Karlsdorf in Hessen. Der Fluß gibt
hier seine bisherige Richtung aus, bildet ein Knie
und wendet sich nach Südwesten. Er empfängt
mehrere Seitenbäche vor und hinter dem Dorfe,
dessen westlichen Abfluß er bildet. Der Ort selbst
wird vont Bouchier durchflossen. Malerisch lagert
sich Abriss mit der Kirche links des eingedämmten
wilden Bergflüßchens, während l'Adroit zur Rechten
liegt. Die Leidensstatiouen eines Kreuzweges stei-
gen von da aus zum Kapellchen des Kalvarien-
berges empor. Die Gegenbekehrung muß hier scharf
am Werke gewesen sein, oder Abriss mag die Haupt-
menge seiner Protestanten an Karlsdorf abgegeben
haben. Es hat nur eine kleine reformierte Ge-
meinde und ist Filial von Arvieux. Sonst sind
die evangelischen Gotteshäuser vielfach wieder er-
standen, die ans Befehl König Ludwig XIV. vom
11. Dezember 1684 dem Erdboden gleich gemacht
wurden. Ties war der Anstoß zur Auswanderung.
Auch in Abriss wurde im Januar 1685 der tsmple
zerstört, die Glocken und das Pfarrhaus verkauft,
der Erlös, überhaupt alles Vermögen der refor-
mierten Kirchen, die Bauplätze, selbst die Kirchhöfe
wurden Eigentum des katholischen Hospitals in
Brianyon. Davon aber, daß hier einst eine evan-
gelische Dorfgemeinde bestand, geben noch die Bibel-
worte Zeugnis, die die Fassade der Markthalle
schmücken. Das sonst nüchterne Bauwerk zeigt vorn
das vereinigte Wappen der Dauphins und Frank-
reichs, darunter liest man rechts und links: I. M.
L. M. Conss. (Konsuln). Was Ihr wollt, daß
Euch die Leute tun, das tut Ihr ihnen. — MDCIX.
— Tn sollst einen einigen Gott anbeten und von
ganzem Herzen lieben und Deinen Nächsten wie
Dich selbst. — Hiervon ausgehend, machet Gewicht
und Maß, — denn mit welchem Maß Ihr messet,
soll Euch wieder gemessen werden. 1609. — S.
Luc. 6. Kap. —
Diese Inschriften zeugen aber auch für den
strengen Gerechtigkeitssinn der Bewohner von Abriss
in vergangenen Zeiten. Bekanntlich gab eine Ver-
sammlung von Abgeordneten der 3 Stände der
Dauphins in Vizille 1788 den Anstoß zur fran-
zösischen Revolution. Tie Worte: Freiheit, Gleich-
heit, Brüderlichkeit, waren in diesen Gegenden nie
leerer Schall. In den alten Urkunden des Mittel-
alters zählen die Dauphins viele adlige Vasallen
im Queyras ans. Doch es tritt das Eigenartige
ein: die Familien alle lassen ihre Adelsprädikate
und -Vorrechte fallen. Der Mann gilt nur, was
er selbst wert ist. In diesen Tälern mit ihren
langen Wintern, ihren Bergstürzen, Lawinen, Über-
schwemmungen, orkanartigen Gewittern, Feuers-
brünsten zeigt sich dem Menschen die Hand des
Ewigen, vor dem alle gleich sind, zu deutlich, und
hier empfindet er zu klar, wie er abhängt von der
Treue und Liebe seiner Nachbarn. In Arvieux,
wo die meisten Evangelischen heute wohnen, hat
sich folgende schöne alte Sitte erhalten, die einst
überall im Queyras galt: ehe man zur Ernte aus
die eignen Felder zieht, bringen alle Dorfgenossen
in vereinter Arbeit erst die Früchte der Waisen
und der Witwen unter Dach,
Tie Markthalle von Abriss, gebaut im Jahre
1609, beweist auch, daß dies Dorf ein alter Han-
delsplatz ist. Im siebzehnten und achtzehnten Jahr-
Frühling.
Voller Jauchzen, voller Klingen
Ist die junge Frühlingsluft,
Alle Lieder möchten dringen
Weit in jede dunkle Gruft.
Kassel.
hundert war es der wichtigste Ort von Queyras,
es hatte die meisten Bewohner. Die Märkte und
Messen von Abriss sind uralt. Schon 1259 be-
stätigt ihm ein Dauphin sein altes Marktrecht,
1282 wird ihm eine eüarts mit zahlreichen Privi-
legien verliehen, wobei auch besonders aller, die
mit Waren ein- und ausziehen, gedacht wird. Es
wohnten drum viel Kaufleute in Abriss. Auch
von den Karlsdorfer Kolonisten ist nach der Ein-
wanderung mancher Kauf- und Handelsmann und
zieht mit seinen War eit umher.
Vor Einbruch des lange währenden harten Win-
ters verließen viele juirge Leute des Queyras ihr
Tal und suchten sich Arbeit im Bon Pays, tut guten
Land am Fuß der Alpen: der Dauphins und
Provence. Da wanderte mattcher, seine Waren auf
dem Rücken, bis nach Spanien und Portugal.
Große Handelshäuser z. B. in Lissabon, wurden von
solchen wandernden Händlern aus dem Queyras
gegründet. Tie heimische Handfertigkeit und In-
dustrie waren zur Zeit der Vertreibung der Huge-
notten schon sehr entwickelt. Die Vasserot und
Fazy ans St. Vsran im Queyras führten iu
Genf die Fabrikation voit feinem Kattun ein. Von
den Jünglittgen, die der Winter aus dem Tal
trieb, suchten viele ihr Brot auch als Schulmeister.
Tenn der kluge Sinn der Talbewohner gab An-
trieb zum Lernen. Noch heute sagt die Mutter
im Queyras den Kinderir ein Sprüchlein: Kittd,
wenn du klug bist, so lernst du brav. Wissenschaft
ist besser als Erbteil. Wenn du keilt Gut hast,
ernährt dich die Wissenschaft. Schott in den alten
Katasterbuchnngett nttterzeichnen sich die anwesenden
Tallente alle mit Namen. 1721 weist ein Schrift-
steller darauf hin, wie es int Tale seit alters
Sitte ist, die Kinder zu regelmäßigem Schulunter-
richt anzuhalten. Tie ärmsten Weiler und Dörf-
lein taten sich zusainmen und bezahlen einen ge-
meinsamen Schulmeister, lvobei die Reichen für
die Armen eintreten, und das ärmste Kind dasselbe
lernen konnte. In beit Hanptdörsern aber unter-
richteten gebildetere Lehrer, und die größeren Kin-
der aus den Unterdörfern pflegten dort in die
Schule zu gehen. In den „Mssrablss" läßt Vik-
tor Hugo den Bischof Myriel schildern, wie zur
Zeit der Messen sich die Schulmeister den Bewohnern
des Queyras vorstellen. Wer nur Lesen lehren
samt, trägt eine Feder am Hute; für Lesen und
Schreiben steckt sich der Lehrer zwei Federn in
die Hutkordel, für Rechnen dazu noch eine mehr;
je mehr er lveiß, je mehr ist der Mann wert;
das reichste Dorf kann sich den besten Schulmeister
wählen.
(Schluß folgt.)
Möchten wehren Schlaf und Sterben,
Leben spenden glutenvoll,
Überall ist jetzt ein Werben,
Das zu Höhen reißen soll.
Gertrud Hoepfner.
99
Heinrich Gutberlet.
Von einer treuen Gemeinde lebhaft gefeiert,
begeht am 24. Mai der ans H e r s f e l d gebürtige
Lyriker Heinrich Gutberlet in Berlin seinen fünf-
zigsten Geburtstag. Wie ihn das Schicksal früh der
Heimat entführte, so scheint es auf den ersten Blick,
als ob er auch in seinem Schaffen sich vom Ur-
sprungsland entfernt und allgemein deutschen und
allgemein menschlichen Empfindungen sich hinge-
geben habe. Gutberlets Wirkung ging in der Tat
zunächst von der national-politischen Prägung, von
der ausgesprochen vaterländischen Ten-
denz seiner Dichtungen aus: mit „Kampf-
liedern aus der Ostmark" hat er lange vor dem
Krieg begonnen — das Nationalitätenproblem des
deutschen Ostens war ihm starke Anregung geworden,
und es ist charakteristisch für ihn, daß eben jetzt
wieder ein Band Grenzlandgedichte unter dem
Titel „Volk will zu Volk" erscheint und der Alltor
mit ihm zu jenem Punkt zurückkehrt, von dem er
allsgegangen ist. Im übrigen hat sich seine na-
tionale Einstellung nicht auf das Grenzdeutschtum
beschränkt; ins Allgemeine strebend, kommt sie in
den Bänden „Trutzfansaren", „Feuer von den Ber-
gen" und in dem Kriegsbuch „Das große Erleben"
als Wesensgrundlage, als Daseinselement breite-
sten Ausmaßes, höchsten Ideenflugs deutlich zum
Ausdruck.
Nach und nach setzte sich aber in Gutberlets
lyrischem Schaffen auch das rein Menschliche durch
und nahm einen iinmer umsangreichereil Raum
ein. Dieses rein Menschliche spiegelt sich vor allem
in einer versonneneir Naturliebe, die sich am
Gefühl allen organischen Wachstums gern entzündet,
also nicht nur au vergehenden Stimmungen einer
Landschaft, sondern auch am Zauber des Dorfs
und der kleinen Stadt, am Leben darin, an den
Beziehungen, die da zwischen dem Heute und dem
Gestern bestehen. Gleichwohl ist es nicht Zustands-
widerhall im tönenden Wort, was so entsteht. Gut-
berlets Geistigkeit, in den vaterländischen Versen
als Gesinnugspoesie verlautbart, schweigt auch beim
konkreten Sinnenerlebnis nicht, begleitet es viel-
mehr unablässig, so daß die hier entstehenden Ge-
dichte als Beispiele echter Reflexionspoesie
zu bezeichnen sind, wie sie etwa in dem „Ver-
sinkenden Tag" deutlich erkennbar wird:
Hügel und Halde windverweht,
Hoch überm Walde ein Leuchten steht.
O Herze, sei nicht bang!
Kuppeln und Dome der Stadt übersonnt,
Purpurne Streifen am Horizont —
Und hallender Glockenklang.
Leises Verdämmern der ruhenden Welt,
Flimmernde Sterne am Himmelszelt
Und seliger Mädchengesang.
Buchtitel wie „Ströme der Stille", „Heilige
Stund", „Licht übers Land" sind kennzeichnend
für die Art der Aussage, die der Verfasser in ihnen
betätigt. Im Übrigen kommt die Nachdenklich-
Von Will Scheller.
k e i t Gutberlets, die seine Lyrik begleitet, auch
selbständig zur Geltung, in „Sprachen", die bald
in Versen, bald in Prosa Einzelgedanken, Einzel-
bilder festhalten, wie in dieser Winterstrophe:
In schimmernden Hecken von Kristallen
Das deutsche Märchen singt und klingt.
Kein Lied klang süßer je von Nachtigallen.
Oder im „Heimatsegen":
Heimat schlingt ein unsichtbares Band
Uni die Menschen, die sich still begegnen,
Fühlend, daß sie immer sich gekannt. —
Weiche Mutterhände segnen
Sie im fremden Land.
Heimat — das ist nun das Stichwort dessen,
was im Rahmen dieser Betrachtung vornehnilich
noch zu sagen ist. Denn wenn eingangs vermerkt
wurde, daß, wie der Autor selbst fern von der
Heimat lebt, leben muß, auch in seinem Schassen
mehr das ganze Deutschland als der Teil, der
Gutberlets Heimat ist, zum Ausdruck zu kommen
scheine, so führt eine nähere Betrachtung doch zu
anderen Erkenntnissen. Gutberlet hat dem Hessen-
lande die dem Hessen ja besoltders eigentümliche
Liebe und Treue ztim Bereich seines Ursprungs
durchaus bewahrt, ja, nicht nur das, er denkt auch
mit einer beständigen Sehnsucht dahin zurück, wo
er ins Licht der Welt getreten ist. Heimweh durch-
zieht sein lyrisches Schaffen wie ein unablässiger,
leiser Unterton in Moll. Immer wieder preist
er die Schönheit des Landes zwischen Main und
Weser und den Charakter seiner Bevölkerung, ruft
sich Bilder aus der hohen Rhön ins Gedächtnis
oder Erinnerungen an eine Lahnreise und läßt
bei solchen Gelegenheiten eine Wärme des Ge-
fühls erkennen, die starke und fruchtbare heimat-
liche Bindungen verrät; in einem „Spruch" sagt
er sogar:
Lenk nicht den Blick nach fremden Sternen,
Tie Heimat birgt des Glückes Keim.
Frau Unrast lockt dich in die Fernen
Und Schwester Sehnsucht führt dich heim.
Geschichtliche Erinnerungen an den „stolzen
Wall in Deutschlands Mitte" erfüllen ihn mit nicht
geringerer Begeisterung als Eindrücke aus der
„grünen Schwalm", vom Meißner, vom heimat-
lichen Rhöngebirge; der nicht auszuschöpfende Tief-
sinn des Begriffes „Heimaterde" läßt hellfarbene
Bilder, lichte Töne aufsteigen im Innern des Dich-
ters, der ihnen mit Hingabe zusieht, lauscht:
Tu liebes stilles Tal,
Von grünen Wäldern reich umsäumt,
Von Weihern, wo das Schilfrohr träumt,
Wo mich der Sonne Morgenstrahl
So froh geküßt vieltausendmal.
Sei mir gegrüßt!
Aus alledem ist ersichtlich, daß Heinrich Gut-
berlet, aller Echtheit des Empfindens unerachtet,
zuvörderst als Gesinnungsdichter zu schätzen ist;
hierzu fügt sich's auch recht natürlich, daß er
100
formal auf herkömmlichen Pfaden wandelt, was
keineswegs ausschließt, daß er der Sprache manchen
eigenen, schönen Klang abgewinnt. Im übrigen
aber waltet der Eindruck vor, daß alles, was
Gutberlet zu sagen hat, aus einer organischen
Einheit des Fühlens und Denkens her-
vorkommt. Wie der Aufnahmefähigkeit für die Ab-
schattungen des Naturerlebens die Besinnlichkeit des
Denkens entspricht, das durch solches Erleben ge-
weckt wird, so entspricht dem flammenden Patrio-
tismus Gutberlets jene stille, fest verankerte Hei-
(Schluß.)
Ter starke Zuzug der Juden, „die in allen
Sachen Händel machen", war ein zweifelhafter Ge-
winn für die Gemeinde, wenn man auch damals von
dem modernen Antisemitismus noch nichts wußte.
Man empfand es besonders als ein großes Unrecht,
daß die Juden „mit ihrem verderblichen Handel"
damals nicht zur Gewerbesteuer zugezogen wurden.
Im Laufe der Jahre haben dann viele jüdische
Fanlilien Falkenberg verlassen, um in die Städte
zu ziehen (nach Homberg, Kassel, Hamburg, Fürth,
Wildungen, Wabern usw.), aber bis auf beit heutigen
Tag hat das Torf immer noch eine verhältnismäßig
große jüdische Gemeinde.
Abgesehen von den Geschäften der Juden >var
der Handelsverkehr in dem abseits der großen
Straße gelegenen Torfe unbedeutend und beschränkte
sich nur darauf, daß ab und zu Melsunger Garn-
händler im Ort erschienen und hier wie in der
Umgegend Garn aufkauften. Dem Verkehr genügte
auch die einzige im Torfe befindliche Schenke mit
Herberge, die zum Gute gehörte und von ihm aus
verpachtet wurde.
Auch die kleine Hopsenmühle beim Dorfe war
Besitztum des Gutsherrn, der von dem Müller
einen jährlichen Zins von 4 Talern und 80 Eiern
erhob. Es war eine oberschlächtige sog. Sammel-
mühle, für die das Wasser zum Antrieb des Mühl-
rads erst gesammelt werden mußte. Auch dann
konnte der Müller noch nicht viel mahlen, höchstens
I1/2—2 Viertel täglich. In neuerer Zeit ist der
Betrieb als unrentabel ganz eingestellt worden.
Als eine besondere Merkwürdigkeit des Dorfes
bezeichnet Lotz das Fehlen eines Lindenplatzes für
die Versammlung der Gemeindeglieder. Öffentliche
Verkündigungen pflegte der Grebe in seiner Woh-
nung vorzunehmen. Die Greben wurden natürlich
verhältnismäßig oft aus den beiden Bauernhöfen
gewählt. Um 1829 war Joh. Heinr. Schneider
Grebe, der eine Besoldung von 8 Talern" für
sein Amt erhielt. Seinem Nachfolger, dem Greben
H a n s m a n n, der um 1831 amtierte, folgte der
Bürgermeister Georg Wiegand, diesem ein ge-
wisser Sittig und um 1858 Wilhelm Döring.
In den 60 er Jahren war der Hopfenmüller, spä-
11 Um 1848 wurde das Bürgermeistergehalt auf
12 Taler st- 3 Taler für Schreibmaterialien erhöht.
matliebe, die ja doch die natürliche Wurzel und
Triebkraft des Nationalgefühls, des echten und
beständigen Einstehens für das Vaterland, zu sein
pflegt, jene Heimatliebe, die Gutberlet selbst mehr
als einmal treffend apostrophiert hat:
Zu deiner Heimat sollst du stehn!
Ob Glück dir leuchte. Schmerz dich quäle.
In Rast und Unrast, Freud' und Fehle
Fühlst du im Urgrund deiner Seele
Ter Heimat linden Odem wehn.
Zu deiner Heimat' sollst du stehn!
Von Dr. Philipp Losch.
tere Gastwirt Nörper Bürgermeister. Seit 1872
ist die Würde des Ortsoberhauptes in den Händen
der aus Unshausen stammenden Familie Mey-
f a r t h.
Vor dem Aussterben der Rotenburger Land-
grafen und dem Anfall der sog. Quart an die
hessische Hauptlinie (1834) wurde die Rechts-
pflege) soweit sie Falkenberg betraf, von land-
gräfl. rotenburgischen Beamten ausgeübt. Einmal
int Jahr fand auch noch ein Gerichtstag bei der
Fraumünsterkirche zwischen Fritzlar und Obermöll-
rich statt. Das war der letzte Rest eines uralten
Vogtgerichtes, das 1347 an die Herren von Fal-
kenberg gekommen >var. Tie beisitzenden Vogt-
männer waren .Hufenbesitzer der Umgegend, die
Falkenbergische Lehngüter in Besitz hatten und den
Kreis der Schöffen bildeten. Alles was diese Fal-
kenbergischen Hufen betraf, gehörte vor dieses Ge-
richt, bei dem der Vogt, der es hegte, auf einen
Stein außerhalb des Kirchhofs trat und, das Ge-
sicht gegen Hessen, den Rücken gegen Mainz (Fritz-
lar) gewendet, Recht sprach. Die Vogtmänner
hatten altertümliche Gerichtsformeln zu beschwören
und waren dem Gerichte durch Zins, Fruchtgefälle,
Hühner und andere Abgaben verpflichtet.
Eine eigene Kirche besaß Falkenberg nicht und
besitzt es auch heute noch nicht. Schloß und Gut
gehörten zum Kirchspiel Berge, während das Dorf
nach Hebel eingepfarrt war und ist. Der Schloß-
turm hatte Uhr und Glocke, die bei feierlichen
Gelegenheiten ertönte. Bei Leichen in Falkenberg
hatte der Schloßpförtner für eine Gebühr von
2 Albus so lange zu läuten, bis der Leichenzng
die Gemarkungsgrenze erreichte, dann setzte die
Hebelsche Kirchenglocke ein. Bei Armenleichen zahlte
die Gemeinde den 8 Mann, die den Sarg nach Hebel
tragen mußten (1851) 28 Silbergr. und 4 Heller.
Tie Totenfrau erhielt für das Waschen der Leiche
allein 25 Silbergroschen. Außer den Ostereiern,
die er am Gründonnerstag von jedem Falken-
berger Christen erheben konnte, hatte der Pfarrer
von Hebel (um 1830 war es Heinrich Stephan
aus Treysa, den Vilmar wenig günstig als einen
„albernen Witzemacher und verdorbenen Belle-
tristen" charakterisierte, ihm folgte 1844 Ernst
Gutberlet) für seine Amtshandlungen folgende
Akzidenzien zu beanspruchen: für eine Taufe 10 Alb.
10t
8 Heller, für eine Kopulation 2 Taler 8 Albus,
1 Huhn und 1 Schnupftuch, für eine Leiche 2 Taler.
Eine sog. stille Leiche kostete nur 10 Albus 8 Heller,
ebensoviel wie die Konfirmation, doch mußten die
Konfirinanden außerdem noch einen Neujahrsalbus
nachzahlen. Eine Kirchenbuße brachte dem Pfarrer
1 Taler ein. Ter „Kalkant" erhielt für das Orgel-
ziehen in der Kirche von den Falkenbergern jähr-
lich 13 Albus 3 Heller.
Tie Schulkinder waren früher auch in Hebel
zur Schule gegangen, bis das Dorf int Jahre 1826
ein eigenes Schulhaus erhielt, dessen Ban 252 Tlr.,
4 Albus, 3 Heller kostete. Die Gemeinde mußte
zu diesem Zweck ein Kapital von 200 Taler auf-
nehmen. Der kümmerlich besoldete Lehrer bekam
50 Taler aus Gemeindemitteln, dazu allerdings
noch eine Zulage aus der Landesschulkasse. Als
Opfermann durfte er gleichzeitig mit dem Pfarrer
von Hebel am Gründonnerstag seine Ostereier ein-
sammeln und bei jeder Taufe 5 Albus 4 Heller,
bei einer Kopulation 8 Albus, bei einer Leiche
10 Albus 8 Heller erheben.
Schließlich sei noch erwähnt, daß Falkenberg auch
eine Stiftung besaß, die von einer Landgräfin
Victorie (?)12 von Rotenburg stammen soll, eine
recht bescheidene Stiftung von 150 Talern, deren
Zinsen nebst 2 Vierteln Korn alljährlich an die
Armen von Falkenberg und Roxhausen verteilt
wurden. Die Stiftung existiert noch, nur ist das
Kapital zu Wasser geworden, und es. wird jetzt
allein das Opfergeld der Kirche zu Hebel als
Armengeld verteilt.
Schließlich noch ein paar Mitteilungen aus der
neueren Ortsgeschichte, soweit die Gemeindeakten
darüber Ausschluß geben. Es sind natürlich keine
welterschütternden Ereignisse, die wir da erfahren;
man lebte ziemlich isoliert, und bis die Nachricht
von den Welthändeln in den entlegenen Hessen-
winkel kam, hatte sich die Aufregung meist abge-
kühlt. Doch feierten auch die Falkenberger den
Erlaß der berühmten Verfassung von 1830, die
ihnen Befreiung von schweren Dienstpflichten in
Aussicht stellte, was freilich nur allmählich geschah.
Als 1832 das Bürgergardengesetz erlassen wurde,
erhielt Falkenberg natürlich auch seine Bürger-
garde, die eine Zeit lang an der Wolssplatte auf
Tod und Leben exerzierte, bis der militärische
Eifer der Dorfbewohner wie anderswo abflaute.
Ter Tod des letzten der Rotenburger Landgrafen
(4834), die seit 1616 Grundherren von Falkenberg
gewesen waren, ging ziemlich eindruckslos vorüber,
da das Gut, wie oben erwähnt, schon seit 1828
dem Sohne des letzten Landgrafen, Ernst v o n
B l n m e n st e i n, vermacht war. Blumenstein, der
12 So heißt die Stisterin in der Lötzschen „Chronik".
Leider ist weder Zeit noch Anlaß der Stiftung angegeben,
so daß man den wirklichen Namen nicht feststellen kann;
denn eine Landgräfin Victorie hat es nie gegeben.
Vielleicht war es die Witwe des Landgrafen Victor-
Amadeus ?
vorher landgräflich rotenburgischer Oberforstmeister
gewesen, war schon von Bernfswegen ein großer
Waldfreund, und es ergab sich von selbst, daß die
Gemeinde mit ihren vielen oben erwähnten Holz-
nnd Laubgerechtsamen oft Gelegenheit zu Reibe-
reien mit ihm hatte. Auch der Bürgermeister W ie-
g a n d, der in den 30 er und 40 er Jahren amtierte,
stand mit der neuen Gutsherrschaft auf gespanntem
Fuße. Er besaß ein kleines „Heckcheit" in der
Nolle, das an den Blumensteinschen Wald grenzte.
Im Herbst 1836 ließ nun der Baron hier durch
den Förster L a u P e r t Holz schlagen. Als dieses int
nächsten Frühjahr abgefahren werden sollte, da
kamen die Leute des Bürgermeisters und holten
einige Eichenstämme, die an der Grenze lagen, dem
Förster vor der Nase weg. Jetzt verklagte der
Baron den Bürgermeister wegen Besitzstörung und
Spoliums. Es kam zu einem langwierigen Prozeß
mit vielen Terminen und einem Massenaufgebot
von Zeugen, wobei ein Hauptzenge, der alte Feld-
hüter S t e i n b a ch, völlig versagte; denn „während
der Befragung schöpfte man gegründeten Verdacht,
daß derselbe zuviel Branntwein getrunken habe".
Schließlich einigten sich beide Parteien in einem
Vergleich, der einem Siege des Bürgermeisters
gleichkam; denn er behielt sein Holz, und die
Prozeßkosten wurden geteilt.
Auch als Vertreter der Gemeinde flihrte Wie-
gand mit dem Oberforstmeister v. Blumenstein
mehrere Prozesse, die sich hauptsächlich um die
Holzgerechtsame drehten; denn über die Lieferung
des sog. Jahrholzes aus den Blumensteinschen Wäl-
dern an die Gemeinden Falkenberg und Roxhausen
kam es zu fortwährenden Differenzen. Von 1838
bis 44 lieferte der Oberforstmeister überhaupt kein
Jahrholz, dagegen sollen die Gemeinden es von
1844—47 zu billig bezahlt haben. Die Leute er-
hielten nur sog. „Putzholz", d. h. der Obersorst-
meister ließ die Bäume nur ausputzen, um keine
Stämme schlagen zu müssen. Als dann das den
Wäldern (namentlich den herrschaftlichen) wenig
ersprießliche Jahr 1848 kam, da erlebte auch Fal-
kenbcrg seine kleine Revolution oder besser, wie
man damals sagte, seinen Krawall. Die Falken-
berger machten es den Hanauern nach, rückteit lär-
mend unter Führung des Juden H e i l b r n n n vors
Schloß und stellten im Tone der Zeit ihre Forde-
rung. . ie Rädelsführer wurden zwar bestraft, aber
der Gutsherr zog es doch vor, die schwebenden
Prozesse durch einen Vergleich zu beenden, in dem
er den beiden Genreinden Falkenberg uird Rox-
hausen außer anderen Zugeständnissen jährlich
100 Acker Wald zum Laubmachen einräumte. Um
diese Zeit wurde auch die Jagd abgelöst, wozu
der Bürgermeister der Gemeinde 30 Taler vorschoß.
In den Gemeindeakten finden sich auch einige
die Kulturgeschichte der Zeit beleuchtende Mittei-
lungen. So eine Verordnung aus dem Jahre 1841,
die sich gegen die „große Neigung zum Brannt-
weintrinken" wendet und gebietet, daß Schnaps
im Dorfe nur von 8—9, 12—1 und von 6 Uhr
102
bis Feierabend ausgeschenkt werde. Von einer
eigentlichen Temperenz oder gar von einein ameri-
kanischen Prohibitivsystem war man also noch ziem-
lich weit entfernt. Im selben Jahre 1841 er-
gingen mehrere Verordnungen, die ans das „Um-
hertreiben verdächtiger Individuen" auf dem Lande
aufmerksam machten. Am 16. September wurde
gemeldet, das; zwei „die öffentliche Sicherheit be-
drohende Frauenspersonen", Gertrud Hecht von
Spangenberg und Sibillie Müller von Sontra, aber-
mals aus dem Arrest entwichen seien und sich in
der dortigen Gegend herumtreiben sollten. Man
scheint sie aber nicht erwischt zu haben, ebenso-^
wenig wie zwei Jahre später 5—6 „sehr gefährliche
Verbrecher", die aus dem Gefangenhaus in Wetzlar
entsprungen waren und zu deren Fahndung in den
Kreisen Ziegenhain und Homberg allgemeine Streif-
züge angeordnet wurden.
1844 wurde daran erinnert, daß angesichts des
Überhandnehmens der Spatzen jeder Hausbesitzer-
jährlich 12 Sperlingsköpse abliefern mußte, bei
Strafe vou 1 Silbergr. für jeden fehlenden Kops.
Der Bürgermeister sollte aber darauf acht geben,
daß es auch wirklich Spatzenköpfe und nicht Köpfe
anderer Bögel seien.
Anfang 1845 wurde mit dem Bau der Main-
Weser-Bahn begonnen, die zwar Falkenberg nicht
direkt berührte, aber ivegen der Nähe von Wabern
für die Verbindung mit der Außenwelt von großer
Bedeutung war. Merkwürdig ist, daß dieses wichtige
Ereignis in den Gemeindeakten nur in einer Ver-
ordnung berührt wurde, die — sich gegen den
Diebstahl der Signalstangen richtete und ihn mit
hoher Strafe bedrohte! Ter Bau der Bahn wurde
um die Mitte der 50 er Jahre vollendet. 1850
konnte man von Kassel bis Marburg, 1852 bis
Frankfurt fahren. Seit nun gar 4n neuester Zeit
ein Postautomobil die Eisenbahnstationen Homberg
und Wabern verbindet und in Hebel Passagiere
aufnimmt, hat die frühere Abgeschlossenheit der
Gegend aufgehört und ein neuer Abschnitt in der
Geschichte Falkenbergs damit begonnen.
Lebenserinnerungen aus meiner Schülerzeit.
Ein Beitrag zur Bierhundertjahrfeier des Gymnasium Philippinum in Marburg.
(Schluß.) Von Geheimrai Di-. Karl Heldmann in Rinteln.
Dr. Karl Ritters Bilde würde ein schöner weseut-
licher Zug fehlen, wenn ich folgendes Erlebnis ver-
schweigen würde. ENva sechs Jahre nach meinem
Abgang vom Gymnasium begegnete ich ihm in der
Wettergasse. Er kam freundlich auf mich zu und
sagte, nach der üblichen Begrüßung: „Mein lieber
5)., ich habe Ihnen in der Prima einmal Unrecht
getan. Verzeihen Sie mir!" Tief bewegt reichte ich
dem trefflichen Manne die Hand.
Neben diesen älteren Lehrern hatte das Gym-
nasium noch zwei jüngere, kaum 30 Jahre alte
Lehrer ersten Ranges: Dr. Eduard F ü r st e n a u
und Dr. G u st a v Schimmelpfe n g.
Dr. Fürstenau beherrschte neben seinen Haupt-
fächcrn, Mathematik und Naturwissenschaften, auch
die modernen Sprachen. Er hat es niemals nötig
gehabt, eine Arreststrase zu verhängen. Mir hat
er das Vorurteil, Mathematik nicht lernen zu kön-
nen, gründlich benommen und es bewirkt, daß mir
die Mathematik bald ebensoviel Freude machte, wie
Lateinisch und Griechisch. Dr. Fürstenau wurde
Direktor des Realgymnasiums zu Wiesbaden und
starb als Stadtschulrat in Berlin.
Auch der liebenswürdige, allzeit fröh-
liche Dr. G u st a v Schimmelpfeng kam
ohne Strafen aus. Bei ihm hatten wir nicht das
Gefühl, in der Schule zu sitzen. In seinen Lehr-
stunden wurden häufig Witze gemacht, auch wohl
geplaudert. Dabei hielt er aber die Zügel der Dis-
ziplin in fester Hand. In der Quarta hat er bei
der Erklärung der Fabeln des Phädrus uns so
manche gute Lehre mit auf den Lebensweg gegeben.
Im schwierigen griechischen Unterricht der Tertia
haben wir die gefürchteten vielen unregelmäßigen
Verba ohne Anstrengung auswendig gelernt lind
aufgesagt. Dr. Sch. wurde später als Direktor an
die Klosterschule zu Ilfeld berufen.
Mit diesen Ausführungen habe ich meine alten
Lehrer für die Liebe und Treue, die sie mir und
vielen andern Söhnen des Hessenlandes bewiesen
haben, in dankbarer Gesinnung noch einmal der
Vergessenheit entrücken nwllen.
Dabei stiegen naturgemäß noch mancherlei Bilder
der damaligen Zeit und des alten Marburgs vor
mir auf, von denen ich noch einige hier festhalten
möchte.
Als ich Ostern 1854 nach Marburg kam, war
das Landgrasenschloß zu einem Strafgefüngnis ent-
würdigt. In seinen Sälen klirrten die Ketten von
Verbrechern; in dem großen Rittersaale, einst die
Stätte glänzender Feste und eines berühmten Reli-
gionsgespräches, war eine Schmiede eingerichtet wor-
den. Tie Arbeitskraft der Sträflinge war einer-
kaufmännischen Gesellschaft, der Firma Scheller,
Weber und Wittich, verkauft, die sie für ihre Spiel-
warenfabrik beschäftigte. Minderschwere Strafge-
fangene wurden in der Stadt in kleinen Abteilungen
zu Besorgungen und Arbeiten, namentlich zur regel-
mäßigen Straßenreinigung verwandt. Wir Jungen
betrachteten mit Furcht und Neugier diese bleichen
Männer in ihrer grauen Sträflingskleidung mit
den klirrenden Ketten an den Beinen. Die einzelnen
Abteilungen wurden nur von wenigen, ausgedienten
Soldaten beaufsichtigt. Schauer des Grauens über-
liefen uns, wenn abends oder nachts die Kanone von
der Terrasse des Schlosses dröhnend den Ausbruch
und die Flucht vou Sträflingen verkündete als War-
103
ming für die Bewohner der Stadt und der um-
lieg enden Dörfer.
Als nach Jahren unser schönes Schloß wieder
von der unwürdigen Einquartierung befreit war,
klangen friedlichere Klänge auf Stadt und Tal her-
nieder. Der Turmwächter Abel waltete dort oben
seines Amtes. Er war ein Meister aus der Trom-
pete, und wenn er das Abendsignal geblasen hatte,
pflegte er die liebliche Weise eines Volksliedes
folgen zu lassen, die, je nach dessen Inhalt, bald
in milden, sanften langgezogenen, bald in Hellen,
jubelnden Tönen die laue, mondbeglünzte Sommer-
nacht durchdrang. Dann öffneten die Bewohner
der Stadt die Fenster, die Studenten traten vor
ihre Kneipen, klatschten Beifall und riefen: Bravo,
Abel, dacapo! Und der Trompeter, erfreut über
den Beifall, ließ sich erbitten, er wiederholte die
Weise und fügte noch eine willkommene Zugabe
hinzu.
Auch manche Schulfeier steht mir in schöner
Erinnerung. Gleich in meinem ersten Schuljahr,
am 5. Juni 1854, wurde der 1100 jährige Todestag
des Apostels der Deutschen, Winfried Bonifatius,
festlich begangen. Bei der öffentlichen Schulfeier am
Vormittag hatte mein Bruder Adolf als primus
omnium die Ehre, die Festrede zu halten. Nach-
mittags fand ein gemeinsamer Ausflug nach dem
Schröcker Elisabethbrunnen statt, ivo ein fröhliches
Schulfest gefeiert wurde. Der Direktor wies hier
in einer kurze:: Ansprache hin auf das gegenüber-
liegende Amöneburg, wo Bonifatius die ersten chat-
tischen Häuptlinge, Dettik und Dierolf, getauft
und in die christliche Kirche aufgenommen hatte.
Die Feier des Geburtstags unseres Kurfürsten,
am 20. August, machte mir besonders das erste
Mal, als ich daran teilnahm, den tiefsten Eindruck.
Tie mir bis dahin unbekannten Feierlichkeiten im-
ponierten mir gewaltig, vor allem die Feier in
der Universität, deren Aula mit der unsrigen in
demselben alten Kloster lag. Mit Staunen sah
ich die UniversitätsProfessoren im Festgewande in
die Aula einziehen, an der Spitze des Zugs zwei
Männer in scharlachroten Mänteln, jeder ein gol-
denes Scepter tragend, der eine im rechten, der
andere in: linken Arme. Beim Einzug ivurden die
Herrn von einem großen Orchester mit einem feier-
lichen Tusch begrüßt. Dies trug dann Beethovens
erste Symphonie in E-Dur vor. Die wundervollen
Klänge und Gänge der Eelli und des Basses im
1. Allegrosatze, das einschmeichelnde Andante des
2. Satzes, aufgebaut auf einem einfachen Thema,
berauschten förmlich mein Ohr. Von der Festrede
verstand ich wenig, Beethovens 6-Dur-Symphonie
aber kaufte ich mir, in leichter Bearbeitung, für
Klavier zu vier Händen. Das vergilbte und abge-
griffene Notenheft ist nur bei jedem Gebrauch jetzt
noch eine liebe Erinnerung an meine glückliche
Knabenzeit.
Zu Michaelis 1854 verließ unser Ordinarius,
Pfarrer Dr. Hupfeld, unser Gymnasium, um eine
Pfarrstelle in Friedewald zu übernehmen. Wir
104
Quintaner bedauerten aufrichtig seinen Weggang
und schenkten ihm, als Andenken, ein Bild von
Marburg mit der Elisabethkirche im Vordergründe.
Meine Schuljahre in der Quarta und Tertia
verliefen ohne bemerkenswerte Erlebnisse. Als Se-
kundaner beteiligte ich mich im Winter 1857/8 an
einen: Tanzstundenkursus. Er schloß ab mit der
sog. „großen Repetition", einer Art Prüfung in
unserer gelernten Tanzkunst. Eltern und Ver-
wandteU der Tanzschüler(innen) erschienen dazu.
Heutigen Tages nennt man diese Festlichkeit, groß-
artiger einen „Ball". Damals aber war alles
einfacher und bescheidener. Auch wir saßen tvohl
in bunter Reihe zu Tisch, aßen aber kein warmes,
in der Küche des Gastwirts zubereitetes Essen,
sondern kalte Speisen, die „die jungen Damen" in
Körbchen mitgebracht hatten, und zu denen „die
jungen Herrn" den Wein spendeten. An unserer
Freude nahmen auch unsre Lehrer Dr. Soldan und
Dr. Eollmann teil, ebenso der alte Universitäts-
Professor Dr. Platner, dessen Enkelin mit uns das
Tanzen erlernt hatte. Die alten Herrn tanzten
mit uns den deutschen Walzer.
Der alte Dr. Platner war eine stadtbekannte Per-
sönlichkeit. Er machte täglich, wenn das Wetter es
erlaubte, seinen Spaziergang nach dem Forstgarten,
wo er in rührender Freundschaft am Grabe seines
Freundes, des Oberforstmeisters von Wildungen,
in sinnendem Gedenken eine Zeitlang verweilte.
Wenn er auf dem gewohnten Gang den Lahnberg
herunter zur Lahnbrücke durch Weidenhausen ging,
eilten die kleinen Kinder der Straße auf ihn zu
und reichten „dem lieben Onkel" vergnügt ihr
Händchen, denn er hatte für sie stets Zuckerwerk
in den Taschen.
Ostern 1850 wurde ich nach Prima versetzt. Als
Primaner wurden wir gewaltig hochgenommen. Wir
hatten voll genügende häusliche Schulausgaben, fühl-
ten uns aber trotzdem nicht überbürdet. Wir hatten
noch Zeit genug in jugendlichem Übermute unsere
Kräfte zu üben. So unternahmen wir am Himmel-
fahrtstage einen anstrengenden Ausflug nach der
Burgruine Staufenberg, nördlich von Gießen. Wir
gingen zu Fuß über den Frauenberg und erreichten
spätabends unser Ziel und saßen nach dem Abend-
brot noch bis Mitternacht in fröhlicher Unterhaltung
zusammen. Dann schliefen wir, so gut wir konn-
ten, einige auf Bänken, andere auf dem Fußboden,
andere krochen ins Heu. Mit Tagesanbruch traten
wir den Rückweg über die Burg Nordeck an, in
deren offenen Burghof wir bei herrlichem Sonnen-
schein einzogen. Durch unsere laute Unterhaltung
im Schlafe gestört, sahen einzelne Bewohner der
Burg hinter den Fenstervorhängen hervor aus die
friedlichen Ruhestörer.
In dem jugendlichen Drang nach Vereinigung
gründeten wir auch einen Gesangverein. Wir pfleg-
ten hauptsächlich das Volks- und Vaterlandslied;
als der Winter kam, konnten wir schon eine Anzahl
vierstimmiger Lieder auswendig singen. Selbst auf
der zugefrorenen Lahn traten wir zusammen und
fangen unser Lieblingslied znm Preise des Vaters
Rhein und seines Weins, besonders weihevoll die
Strophe:
Am Rhein, am Rhein,
da wachsen unsere Reben;
gesegnet sei der Rhein!
Da wachsen sie am Ufer hin und geben
nns diesen Labewein.
Im Winter veranstalteten wir auch, ans der großen
Bude eines Mitschülers, musikalische Abendunter-
haltungen, bei denen neben dem Gesang hauptsäch-
lich Haydnsche Symphonien, bearbeitet sür Klavier
zn vier §änt>en mit Geigen- und Flötenbegleitung,
vorgetragen wurden.
An einem solchen Abend hielt aitcs) unser Mit-
schüler B. Sch. eine begeisterte Rede über die
deutschen Freiheitskriege. Unsere Liebe zu Heimat
und Vaterland wurde durch die Zeitverhältuisse
mächtig gefördert.
Ende Juni 1859 feierte die Schule ihr Früh-
lingssest im Walde am Glaskops. Mitten in unsrer
fröhlichsten Stimmung gebot ein Trompetensignal
Sammlung und Stille. Der Direktor verkündigte
uns die traurige Nachricht von der Niederlage der
Österreicher in der Schlacht von Solserino. Wir
hatten bis dahin mit größter Teilnahme den Ver-
laus des französisch-österreichischen Krieges verfolgt
und waren seinetwegen sogar eifrige Zeitnngsleser
geworden. Ja die Teilnahme deutscher Jugend am
Kriege und der Haß gegen die Franzosen war so
groß, daß ans dem Fnldaer Gymnasium bereits einige
Schüler entwichen waren, um in das österreichische
Heer einzutreten. Bei uns waren auch einige Pri-
maner im Begriff, diesem Beispiel zu folgen. Da
machten die Friedenspräliminarien von Villa Franko,
dem Krieg ein Ende.
Von da ab wandte sich unser erregtes vater-
ländisches Interesse dem bevorstehenden Schiller-
seste zu, der Hundertjahrfeier des Geburtstages
des Dichters. Schiller war damals der deutsche
Dichter. Seine Beliebtheit beruhte zunächst auf feinem
Drama Wilhelm Tell, das durch die Vorführung
eines lebendigen Gemäldes der Selbstbesreiung eines
kleinen, aber durch seine Einigkeit starken Volkes
unsere deutsche Jugend in den Freiheitskriegen
mächtig begeistert hatte. Am bekanntesten aber war
damals, wo der Gebildete „schillersest" sein mußte,
das Lied von der Glocke. Man kannte es im Palast
und in der Hütte; die Jugend konnte vielfach das
ganze Lied, oder wenigstens seine schönsten Stellen
auswendig. Es war daher selbstverständlich, daß
das Lied von der Glocke in den Mittelpunkt der
Schillerseier gestellt und in säst allen deutschen
Städten in der klassischen Vertonung durch Andreas
Romberg ausgeführt und vielfach noch burcf> lebende
Bilder versinnlicht wurde. In unserer Schule
wurden bei dem Festakte nur einzelne Chöre vom
Schülerchore gesungen. Dagegen wurde abends im
großen Rathaussaale von einem ans Damen und
Studenten gebildeten Chor das Werk vollständig
ausgeführt. Erfreulich war die Tatsache, daß nur
Einheimische bei der Ausführung mitwirkten. Ein-
zelne Schwächen nahm man liebevoll hin. — Viel-
fach zeitigte das Schillerfest auch philiströse Aus-
wüchse; man verkaufte „Schillerwürste und Schiller-
schinken". Ein biederer Württemberger aber schwang
sich im Vollgefühl des Stolzes ans seinen gefeierten
großen Landsmann gelegentlich einer Denkmals-
weihe zu dem poetischen Erguß ans:
O großer Friedrich Schicker,
Für mich auch Poesieersüller,
Kommst nun gegossen in das Land,
Herrn Vater hab ich auch gekannt.
Zum Ostertermin 1861 bestand ich die Reife-
prüfung mit Auszeichnung. Bei der feierlichen Ent-
lassung der Abiturienten hielt ich die lateinische
Abschiedsrede. Owiewarst dirschön, dngol-
dige, sonnige Jugendzeit!
Jetzt bin ich ein hochbetagter Greis, von den
ehemaligen Schülern des Marburger Gymnasiums
einer der ältesten, wenn nicht der älteste. In dank-
barem Gedenken entbiete ich dem Gymnasium Philip-
pinum zn seiner Vierhundertjahrseier meine herz-
lichsten Grüße und Glückwünsche mit denselben Wor-
ten, mit denen ich vor 66 Jahren von ihm Abschied
nahm: Val6, tu schola, vale, vige, cresce!
Vom Marburger Gymnasium und seinem Schüler Otto
ITbbelohde
Als ich im Oktober 1875 als Lehrer am Gym-
nasium zu Marburg eintrat, nachdem ich schon
8 Jahre am Gymnasium zu Fulda gewirkt hatte,
war ich nicht wenig enttäuscht darüber, daß mir
in Marburg mein Hauptunterricht in der Sexta
zugewiesen wurde, während ich in Fulda zuletzt
eine der mittleren Klassen geführt hatte. Doch
ließen mich die frischen Kinder, die mir anvertraut
wurden, bald meinen Schmerz vergessen. Die Klasse
hatte vor mir der pensionierte Oberlehrer Professor
Pfarrer Dithmar gehabt, der 1837 als Lehrer an
das Marburger Gymnasium gekommen war, nach-
dem er seit 1836 Lehrer am Gymnasium zu Fulda
Von Philipp Braun.
gewesen ivar. Dort ist er sicher auch mit Dingel-
stedt, der gleichfalls Gymnasiallehrer in Fulda war,
in engere Beziehung gekommen, was vielleicht aus
Dithmars dichterische Richtung nicht ohne Einfluß
geblieben ist. Über Dithmars Lehrweise wurde da-
mals, besonders von den jüngeren Lehrern, viel
gespöttelt, und ich war feige genug, wohl auch in
das Lachen über diesen Wegebahner der Pädagogik
mit einzustimmen. Er hatte nämlich die Gewohn-
heit, wenn er seine kleinen Sextaner schriftlich
etwas erzählen ließ, sie jedesmal ein Bildchen zn
ihrer Erzählung in ihrem Heft anfertigen zu lassen,
was der kleinen Gesellschaft viel Freude machte.
105
Manchmal auch kam es vor, daß ein kleines Ge-
dicht behandelt wurde, das die Schüler auch schon
singen konnten. Ta baten sie ihren Lehrer, ob sie
das nicht auch einmal singen bürsten, und dann
ließen sie mit frohem Sinn den „Jung Siegfried"
begeistert von des Vaters Burg herabsteigen und
die „Riesen und Drachen in Wald und Feld" er-
schlagen. Mit diesem Verfahren eilte Pfarrer Dith-
mar der modernen Pädagogik weit voraus. Hätte
er heute diesen Weg eingeschlagen, so würde man
vor ihm als bahnbrechenden Pädagogen den Hut
ziehen. Damals hatten die meisten nur ein Kops-
schütteln für ihn. In diesen Unterricht war nun
auch Otto Ubbelohde hineingeraten, und dieser An-
regung des Psarres Dithmar verdanken wir es
also vielleicht m i t, daß Otto Ubbelohde einer der
größten Illustratoren unseres Hessenlandes, des
ganzen Vaterlandes geworden ist. Was ein Häkchen
werden will, krümmt sich eben bei Zeiten. Ich
ahnte damals nicht, welcher Schatz mir in diesem
Kinde anvertraut war.
Otto Ubbelohdcs Vater war juristischer Professor
an der Marburger Universität, an die er von
Göttingen her berufen war. Seine Mutter stammt,
so viel ich weiß, aus der Künstlersamilie Unger
in Berlin. Beide Eltern waren nicht ganz gesund,
die Mutter mußte wohl gelähmt sein und mußte
immer den Fahrstuhl gebrauchen. Sie hatte ein wahres
Madonnengesicht. Der Vater, sonst körperlich gesund
und ein kräftiger Mann, hatte ein Fußleiden, das
ihm das Gehen erschwerte. Tie Eltern waren hoch
angesehene Leute, der Vater jedenfalls auch Pin
religiös sehr ernster Mann, der sehr selten in der
reformierten Universitätskirche beim sonntäglichen
Gottesdienst fehlte. Tie Eltern hatten keine wei-
teren Kinder, so floß denn dem kleinen Otto alle
Liebe und Sorgfalt zu. Er war zwar sehr begabt,
aber vielleicht doch nicht ganz so, wie die Eltern
es gern gesehen hätten. Es wurde ihm wohl manch-
mal mehr zugemutet, als gut war. Ich entsinne
mich von der Mutter gehört zu haben, daß Kame-
raden des kleinen Otto, Quartaner oder auch Ter-
tianer, Kopsschütteln des Ubbelohdeschen Ehepaares
erregt haben, als sie über die klassischen Dramen
Schillers und Goethes so wenig Bescheid wußten.
Während so die Eltern auf der einen Seite an
ihrem kleinen Otto trieben, waren sie auf der
anderen Seite betrübt und mißmutig, wenn die
Lehrer, was wohl öfters vorkam, einmal Anforde-
rungen stellten, die zu hoch waren, als daß sie
von den Schülern voll hätten erfüllt werden können.
Ta gab es dann mündliche und schriftliche Ausein-
andersetzungen mit der Schule. Ich habe sehr oft
Briefe des Vaters Ubbelohde bekommen, in denen
er mir sein Leid über die unerhörten Anforde-
rungen klagte, die an unsere Schüler gestellt wür-
den. Ich war in einer schweren Lage. Ich mußte
sehr häufig die Berechtigung der Klagen anerkennen.
Ich erfreute mich dadurch eines besonderen Ver-
trauens der beiden Eltern. Aber dies wurde mir
auch von manchen Kollegen übelgenommen. Es
106
herrschte damals ein ungesunder Zug, die Leistungen
der Schüler höher zu schrauben, sie noch preußischer
als preußisch zu machen. Das kostete manchen
Seufzer und manche Träne. Ich begnüge mich
damit, nur eines anzuführen, den lateinischen
Aufsatz. Otto Ubbelohde war noch nicht soweit,
daß er dieser Anforderung hätte entsprechen müssen,
aber er wuchs in die Anforderungen hinein.
Ich bin weit entfernt, den lateinischen Aufsatz
allgemein zu verdammen. Wenn man sich mit einer
einfachen Darstellung des Gedankens in lateinischer
Sprache begnügte, so war das eine vorzügliche
Übung. „Sprachen wollen gesprochen sein", und
die natürliche Folge des Erlernens einer Fremd-
sprache ist die, daß man die eigenen Gedanken
in ihr auszudrücken sucht. Wenn ein Schüler ge-
lernt hat, einfache Verhältnisse in der fremden
Sprache auszudrücken, so hat er damit genug ge-
lernt, er braucht nicht in ihr zu philosophieren.
Vielen unserer Landsleute, die vielleicht etion
'Untertertianer- oder noch geringere Kenntnisse im
Latein besaßen, haben während des Weltkrieges mit
der slawischen Bevölkerung im Südosten und Osten
Europas, die gleichfalls nur geringe Kenntnisse des
Lateinischen besaß, besonders auch mit katholischen
Geistlichen, durch das Lateinisch einen genügenden
Gedankenaustausch vollziehen können (aus einem sehr
lehrreichen Aussatz von Reichardt „lateinische Kriegs-
erinnerungen" im „Humanistischen Gymnasium"
1927 Heft II und III kann man sich genauer in-
formieren). Aber ebensowenig, wie jene Lands-
leute von uns bei ihrem Verkehr mit den Slaven
ciceronianisches Latein gesprochen haben, ebenso-
wenig brauchte man von unseren Schülern die
„Glanzleistung" des lateinischen Unterrichts, den
lateinischen Aussatz, zu verlangen. Sehr schön, wenn
einer sich diese Fähigkeit durch viele Übung ange-
eignet hat. Aber notwendiges Erfordernis der Gym-
nasialbildung war sie sicher nicht. Auf unserem
Marburger Gymnasium stand u. a. der lateinische
Aufsatz in hohem Flor. Da gab es ein besonderes
Büchlein — wenn auch nicht amtlich vorgeschrieben
— für den lateinischen Aufsatz, da mußten ferner-
hervorragend schöne Stellen aus der lateinischen
Literatur „die sog. loci memoriales“ auswendig
gelernt werden, aus denen dann manchmal mit
einzelnen Brocken ein lateinischer Aufsatz „ver-
schönt" wurde. Da wurden Phrasen in Hülle und
Fülle eingepaukt. Einzelne wunderbare lateinische
Gedanken traten dann in dem Aussatze vor wie
saftige Rosinen in einem sonst mageren Kuchen.
Und auf diese Übungen wurde ein übermäßiges
Gewicht gelegt, und dadurch wurden an die Arbeits-
irast der Schüler große Anforderungen gestellt.
Dies ist nur ein einzelner Punkt aus dem Kapitel der
Überbürdung. Manche Schüler, denen der lateinische
Aufjatz lag, fanden sich gern hinein. Andere wurden
abgeschreckt. Wenn man die Zeit, die dem latei-
nischen Aufsatz gewidmet wurde, der griechischen
Literatur gewidmet hätte, so hätte man den Schülern
ein besseres Rüstzeug mitgegeben. Die schönste
Frucht des lateinischen Unterrichts bleiben
immer die -Horazischen Dichtungen, in denen unsere
Schüler vertraut und heimisch werden sollten. —
Indessen marschierte Otto Ubbelohde mit seinen
Klassenkameraden rüstig weiter, ja meist an der
Spitze. Seine Liebhaberei, das Zeichnen, hat er
jedenfalls neben seinem Gymnasialunterricht eifrig
geübt, entweder für sich oder bei tüchtigen Künst-
lern.
Besonders nahe trat mir einmal Otto Ubbelohde
bei einem großen Schulausflug (Turnfahrt nannte
man es, obwohl nie dabei geturnt wurde). Sie
ging nach dem Meißner, von da nach Witzenhausen,
Münden und Kassel. Einem glücklichen Umstande
verdanke ich, daß ich die Zeit, wo wir jenen Aus-
flug machten, noch genau bestimmen kann. Selbst
das Jahr wäre mir sonst nicht erinnerlich. Wo
und wie wir in Witzenhausen übernachtet haben,
ist meinem Gedächtnis völlig entschwunden. Wir
machten aber nach dem Frühstück alle zerstreut einen
Rundgang durch die Stadt. Bei dieser Gelegenheit
stießen Otto Ubbelohde und ich aus die in einem
Garten einsam gelegene gotische, noch recht wohl
erhaltene Kapelle des St. Michaelshospitales, die
wir beide skizzierten. Als wir unsere Zeichnungen
verglichen, waren wir beide über das Ergebnis recht
befriedigt. Ich habe als Datum unter meiner Skizze
stehen „Kapelle im St. Michaelshospitale Witzen-
hausen 8. 9. 83". Otto Ubbelohde war damals
Oberprimaner.
Als ich das Datum zuschrieb, hätte ich nicht
gedacht, daß die kleine Skizze mir später einmal
so viel Freude machen und eine so liebe Er-
innerung an Otto Ubbelohde werden würde. Ich
habe in meinem langen Leben unzählig viel Skizzen
und auch vollkommenere Abbildungen nach der Na-
tur gemacht. Nur dadurch, daß ich überall oder
fast überall das Datum hinzugefügt habe, sind sie
mir feste Anhaltspunkte für die Erinnerung auf
meinem Lebenswege geworden. Ich möchte jedem,
der dazu in der Lage ist, raten, seine Reiseer-
innerungen in einem Skizzenbuche mitzuführen.
Aber auch einen Rat möchte ich zufügen, diese
Skizzenbücher nicht jedermannes Einsicht anzuver-
trauen. Viele wissen nicht, wie sorgfältig man mit
solchen Schätzen umzugehen hat. Und oft muß man
von Sachunkundigen nörgelnde und ungerechte Ur-
teile hören, die uns verletzen, dem entgeht man
am besten, wenn man seine Sache für sich behält.
Von Witzenhausen marschierten wir (Eisenbahn
gab es an jener Strecke damals noch nicht) aus
der schönen Straße der Werra entlang unb kamen
kurz vor Mittag in Münden an. Mit unserer
Rudolf Schlunck f.
Es wird im Jahre 1885 gewesen sein, da sind
wir uns m. W. zuerst begegnet. Es war am
20. August, ich kam vom Grabe des Kurfürsten und
an der Ecke des Spohrwegs traf ich aus eine schwarz
gekleidete Dame mit einem Jungen an der Hand,
Musik an der Spitze und in militärischer Ordnung
zogen wir stolz ein, von der Straßenjugend freund-
lich bewillkommnet. Man wies uns in einen großen
schattigen Garten mit guter Wirtschaft, wo wir
uns bald von den Mühen des Marsches erholten
und erfrischten. Da erschien aus einmal ein höherer
Beamter, der sich nach den Leitern des Zuges
erkundigte. Er kam aber nicht, um uu3 freund-
schaftlich zu begrüßen, sondern um uns zu be-
deuten, daß tvir uns schwer gegen das Gesetz ver-
gangen hätten, indem wir ohne obrigkeitliche Er-
laubnis in geschlossenem Zuge und noch dazu mit
Musik in Münden eingezogen wären. Wir seien
alle miteinander straffällig und müßten für jede
Person einen Taler Strafe bezahlen. Wir waren
wie vom Himmel gefallen. Jedermann müsse doch
einsehen, daß es sich bei unserem Unternehmen
nicht uni Gesetzwidrigkeit handelte, sondern um eine
durchaus harmlose und loyale Schulfahrt. Kein
Mensch habe aus unserer mehrtägigen Fahrt etwas
Gesetzwidriges darin erblickt. Nie und nirgends
hätten sich unsere Jungen eine Rohheit oder einen
Schabernack oder einen Übermut erlaubt. Fromm
wie die Lämmer seien sie mitgezogen. Nirgends
habe man in ihrem Auftreten eine Gesetzwidrigkeit
erblickt, ebensotvenig wie wenn etiva Kinder einmal
auf der Straße Soldaten spielten. Der Vertreter
der Obrigkeit aber belehrte uns, das gehe in Münden
unmöglich an. Wenn man solche Dinge gestatte,
dann würden die Mündener bald von den benach-
barten Göttinger Studenten zu Tod geärgert wer-
den. Außerdem aber müsse er unsere „Reiselegi-
timation" einsehen. Das war ein neuer Schlag.
Einer von uns erklärte dem Herren, er sei erst
kürzlich von einer weiten Reise nach Italien, Grie-
chenland, selbst nach Konstantinopel zurückgekehrt,
aber nirgends habe man ihn nach einer „Reise-
legitimation" gefragt. Einige voll den Lehrern
gingeil darauf mit dem Abgesandten zum Bürger-
meister. Der ließ schließlich mit sich reden, ver-
fügte aber, er wolle davon absehen, daß jeder
Teilnehmer mit 3 Mark bestraft lverde, aber damit
wenigstens dem Gesetze Geilüge geleistet lverde, wolle
er die Strafe für alle zusammen auf drei Mark
ermäßigen. Das geschah dann, und wir konnten
unbehelligt abziehen, aber das Blasen und Musi-
zieren war uns verleidet. Still und betrübt zogen
wir von Münden ab. Den 8. November 1883
strichen wir als äiss neknstus an, kehrten aber doch
von unserem schönen Ausflug hochbesriedigt nach
Marburg zurück. Die Schüler hatten wenigstens alle
zu Hause etwas Interessantes zu erzähleil. —
(Schluß folgt)
Ein Erinnerungsblatt von Dr. Philipp Losch.
der einen großen Kranz mit rotweißer Schleife
trug. Das war Rudolf Schlunck mit seiner Mutter,
und die hessischen Farbeir haben uns dann zusam-
mengeführt zu einer herzlichen Freundschaft von
mehr denn vierzig Jahren.
107
Merkwürdig ist, das; Rudolf Schlunck, dieser starke,
treue Hesse, eigentlich doch nur eilt halber .Hesse
war. Sein gleichnamiger Vater war ja ein Alt-
preuße aus der Mark und Stadt Brandenburg 1 und
erst 1867 nach Kassel gekommen, wo er ein Delika-
tessengeschäft in der Königstraße errichtete. Aus
einer frommen, patriotischen Familie stammend,
hat er sein ererbtes Christentum und Preußentum
auch nie verleugnet, aber er war nicht der einzige
Preuße, der damals zwischen Christentum und Pa-
triotismus eine höhere Einheit fand.
Nur die ältere Generation wird sich noch des
Sedanskandals von 1873 erinnern, der mit dem
Namen Schlunk verknüpft ist. Als damals der
Vater Schlunk erklärte, er könne an einem Reiche
keine Freude vor Gott haben, das seine Wurzeln
in dem Rechtsbruch von 66 trage, und als er darum
am 2. September seinen Laden nicht schließen
wollte, da wurde sein Haus von einer radaulustigen
Menge umlagert, und es wurden ihm die Fenster
eingeworfen. Sein Geschäft blieb lange Zeit boy-
kottiert.
Wie kam der Altpreuße Schlunk zu dieser Stel-
lung? Er hatte sich in Kassel den streng kirchlichen,
althessischcn Kreisen angeschlossen und in ihnen
seine zweite Gemahlin Lina Witzel kennen gelernt.
Die Witzels sind eine alte hessische Lehrer- und
Pfarrerfamilie. Ein Bruder der Frau Schlunk
war der streitbare Pfarrer von Schemmern, der
schon im hessischen Treubund eine Rolle gespielt
hatte und in den nun beginnenden Kämpfen der
Renitenz mit in der ersten Reihe stand. 2 Diese
Verwandtschaft mußte unwillkürlich etwas abfärben.
Ter junge Rudolf S. (* 7. Juni 1871), der später
der Nachfolger seines Onkels in Schemmern wer-
den sollte, neigte mehr nach der Seite der Mutter
als nach der des Vaters, der überdies vorzeitig
starb und seine Witwe mit neun Kindern (darunter
4 Stiefkinder) zurückließ. 3 Kaufmännische Talente
waren ihm versagt, dafür regte sich das Pfarrer-
und Schulmeisterblut der Witzels in ihm. Er stu-
dierte in Leipzig, Tübingen, Marburg und Göt-
tingen, war eine Zeitlang in England und wirkte
daun zwei Jahre lang als Lehrer ani Kasseler
1 Schon 1421 wird ein Schlunck als Mitglied der
frommen Gilde des Hl. Blutes zu Brandenburg er-
wähnt. Ein Bruder von Rnd. Schlunk sen. war
Kaufmann zu Berlin und D. theol. hon. causa, ein
Neffe von ihm ist der bekannte Missionsinspektor und
theol. Schriftsteller Martin Schlunk. Der Stamm-
baum der Familie ist im 1. Bd. des „Genealog. .Hand-
buchs der bürgert. Familien" abgedruckt. Die Familie
schrieb sich früher Schlunck, eine Schreibweise, die Rnd. S.
erst in späteren Jahren annahm.
2 Julius Witzel (1828—97), seit 1864 in Schemmern,
war das erste Opfer des Kanzelparagraphen in Hessen
und wurde 1873 zu zwei Monaten Festung verurteilt.
3 Rud. Schlunk sen. starb am 4. September 1882,
nur 47 Jahre alt. Seine Witwe folgte ihm am
1. April 1898. Eine schöne Charakterskizze beider hat
der Sohn unter dem Titel „Unsere Eltern" 1912 ver-
öffentlicht.
108
Wilhelms-Gymnasium. Im Jahre 1902 beschloß
er diese bei seinem erzieherischen Talent aussichts-
reiche Laufbahn aufzugeben, um das seit dem Tod
seines Onkels Witzel verwaiste renitente Pfarramt
in Schemmern zu übernehmen, wohl bewußt, wel-
ches Maß von Entsagung dieser Entschluß für
ihn bedeutete. Seitdem war er ren. Pfarrer von
Schemmern und zugleich eines Teils der ren. Ge-
meinde Melsungen, die vor ihm von dem Pfarrer
Hermann Z ü l ch verwaltet worden >var. Dieser alte
Charakterkopf war hochbetagt, 88 Jahre alt, 1900
gestorben. Sein Eintreten für die Renitenz hatte
damit begonnen, daß er als Pfarrer von .Hom-
bressen mit Berufung auf des Landgrafen Moritz
Verbesserungspunkte den preußischen Adler nicht
in seiner Kirche dulden wollte. Zülchs letzte Jahre
waren durch kirchenrechtliche Kämpfe mit den eignen
Konventsgliedern ausgefüllt gewesen, infolge deren
der alte Kämpfer schließlich sich von seinem Kon-
vent getrennt hatte und vereinsamt gestorben war.
Ter einzige von den jüngeren Renitenten, der ihm
nahe stand, war Rudolf Schlunck gewesen, der nun
sein Erbe antrat und in jeder Weise sein Schüler'
und Nachfolger wurde.
Ich kann hier nicht auf die ungemein verwickelten
Verhältnisse der hessischen Renitenz mit ihren
inneren Kämpfen und Spaltungen eingehn, die
einem Außenstehenden ja doch immer unverständlich
bleiben werden.4 Ter alte Pfarrer Zülch hatte
zuletzt resigniert geschrieben: „Diese Kirche zu er-
halten, nachdem man ihre Ordnungen zerstört hat,
hält wohl Christus nicht der Mühe wert". Trotz-
dem ist Rud. Schlunck nie der Gedanke gekommen,
ihr den Rücken zu kehren, obwohl die kleinen und
kleinlichen Verhältnisse der Renitenz ihn oft be-
engten. Um sich aus dieser Enge zu befreien,
gründete er 1905 die Zeitschrift „Kirche und Welt.
Blätter aus der hessischen Renitenz", ein kirchen-
politisches Kampfblatt, das wie ein Sauerteig
wirken sollte, zunächst aber einen scharfen Tren-
nungsstrich zwischen politischer Rechtspartei und
kirchlicher Renitenz zog und dadurch manchen aus
dem Freundeslager vor den Kopf stieß. Über
zwanzig Jahre lang hat er, zuletzt mit seinem Amts-
bruder und Schwager Witzel zusammen, diese Blätter
redigiert und schließlich mit seinen Anschauungen
Freunde und Anhänger weit über den Kreis der
ursprünglichen Leser gewonnen.
In den Weltkrieg zog Schlunck als einfacher
Landsturmmann des Landsturmbataillons Arolsen.
Ms Marburger Jäger hatte er wohl die Schießschnüre
und die uneingeschränkte Anerkennung seines Haupt-
4 Beweis dafür ist der 1926 im Jnselverlag er-
schienene Roman des baltischen (!) Barons O. v. Taube
„Das Opferfest", wo die karikierte Gestalt eines Kasse-
ler Schreiblehrers, der als Führer eines Splitters
der Renitenz einmal eine gewisse Rolle spielte, als
Typus dieser Kirchenbewegung und „Häuptling der hes-
sischen Rechtspartei" erscheint. Mit Vergnügen liest
man darin auch, daß „tausend Bürger in der Stadt
Kassel" ihre Sprößlinge „Scheromme" taufen lassen.
Mannes, aber nicht die — Gefreitenknöpfe erhalten,
weil er als treuer Kurhesse politisch anrüchig war.
In Antwerpen durfte der renitente Pfarrer pre-
digen, durfte und konnte 1915 sogar eine Kaisers-
geburtstagspredigt halten über den Text „Gerech-
tigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der
Leute Verderben", aber sein Auftreten gegen die
Unmoral der Etappensoldateska veranlaßte seine
Versetzung an die Düna, wo er das HI. K. I erhielt
(zu einer Zeit, als das noch nicht so häufig war)
und schließlich auch noch zum Leutnant avancierte.
Außerdem holte er sich dort aber auch den Keim
zu der schweren Herzkrankheit, die seitdenl air dem
mächtigen Körper des ungewöhnlich starken Mannes
nagte und ihn vorzeitig dahinraffte.
Nach der Heimkehr nahm er mit erneuter geistiger
Frische seinen Pfarrerberuf wieder auf, kehrte zu
seiner schriftstellerischen Tätigkeit 5 zurück und be-
schrieb in einem schönen Buch „Die 43 renitenten
Pfarrer" (Marburg, Elwert 1923) das Leben und
Wirken der 1873/74 um ihrer Treue abgesetzten
hessischen Geistlichen, womit er den Gründern seiner
Kirchengemeinschaft ein unvergängliches Denkmal
setzte. In der Vorrede zeigte er, wie sehr er von
jeder enherzigen partikularistischen Dogmatik ent-
fernt war, nur statt dessen eine Theologie zu ver-
treten, von der er sagte: „Nicht Lehre, sondern
Leben gibt diese Theologie. Sie ist, kurz gesagt,
die Theologie der freien lutherischen Kirche der Zw-
kunft, mit der ausgerüstet sie auf den weiten Plan
der Einen heiligen Kirche tritt, die sich unter Gottes
5 Von selbständig erschienenen Schriften Schluncks
erwähne ich noch die oben angeführte „Feldpredigt zu
Kaisers Geburtstag" Eschwege 1915, „Wilhelm Hopf.
Zur Würdigung" Melsungen 1921 und „Der Tod des
Christentums. Ein Blick aus der Zeit auf Christus"
Melsungen 1922. Auch an dem „Gesangbuch für die
ren. Kirche in Hessen" Kassel 1904 hat er eifrig mit-
gearbeitet.
Hans v. Volkmann f.
In seiner Vaterstadt Halle a. S. verschied nach
kurzer Krankheit am 29. April im 67. Lebensjahre
der Karlsruher Maler Professor Hans Rich. von
Volkmann. Hans von Volkmann, ein Sohn des
berühmten Hallenser Chirurgen und feinsinnigen
Erzählers Rich. von Volkmann (Leander), war
als Künstler in Hessen so sehr zu Hause, daß man
mit Recht ihn den hessischen Künstlern zuzählen
darf und daß sein Tod auch hier große Trauer
erwecken wird.
Nach Absolvierung des Gymnasiums in Halle
besuchte er zunächst die Düsseldorfer Kunstakademie
unter Ed. von Gebhard und wurde dann Schüler
Schönlebers in Karlsruhe, wo er bis zu seinem
Lebensende seinen dauernden Wohnsitz behielt. Die
Sommermonate verbrachte Volkmann zum größten
Teil in Hessen und zwar seit 1884 zumeist in
Willingshausen, wohin er auch jetzt wieder zu
gnädiger Führung aus den Wettkämpfen mit der
kommunistischen Revolution ergeben wird".
Schluncks Gedankengänge waren nicht immer
leicht verständlich, und gerade in dem engeren Kreise
der Renitenz fanden seine theologischen und kirchen-
politischen Artikel nicht selten Widerspruch. Um
so mehr freute es ihn, daß allmählich eine ganze
Reihe von Männern, die am neuen Aufbau Deutsch-
lands und der gesamteil Kirche arbeiten, ans den
verschiedendsten Lagern mit ihm in Verbindung
traten und um seine Mitarbeit warben. Daß so
das geistige Gut der hessischen Renitenz, wie
er sie vertrat, Eingang und Berücksichtigung in
Kreisen fand, die ihr bisher verschlossen waren,
ivar ihm eine große Genugtuung.
Er sollte sie nicht lange genießen. Vom „Warte-
saal Gottes", von den Schneegefilden über dem
Genfer See, tvo er vergeblich Heilung von seinem
schweren Leiden suchte, sandte er sein geistiges
Testament in die Heimat, das (in der vorletzten
Nr. von „Kirche und Welt") die bisherigen cngeir
Schranken der freikirchlichen Notorganisationen öff-
nen sollte nach dem Motto:
Das Haus ist zerfallen —
Was hat's denn für Not?
Ter Geist lebt in uns allen,
Und unsre Burg ist Gott.
Dalln kehrte er heim, um in der geliebten Heimat
zu sterben, geleitet von der treuen Pflegerin und
Mutter seiner Kinder, die bcn Geführten fast dreißig-
jähriger glücklicher Ehe nur noch wenige Tage in
Melsungen bei sich behalten konnte. Anr 7. März
schloß er die Augen zum letzten Schlummer. Auf
dem hochgelegenen Totenhof von Schemmern wurde
er begraben.
Es war mir versagt, in der zahlreichen Schar
der Leidtragenden an seinem Sarge zu stehn, ich
kann nur aus weiter Ferne dies Blatt auf sein
Grab legen als ein kleines Zeichen herzlicher Liebe
und unvergänglichen, treuen Gedächtnisses.
gehen im Begriff war, als ihn der Tod ereilte.
Auch in andere Gegenden Hessens führten ihn seine
Studien, so nach Sababurg im Reinhardswald und
nach Fürstenstein a. d. Werra. In jüngeren Jahren
reizte ihn vielfach die herbe Landschaft der Eifel,
im letzten Jahrzehnt aber war er häufig in der dem
Hessenland verwandten Schwäbischen Alp. Auch
Dachau bei München, Goppeln bei Dresden und
Mecklenburg gaben ihm Stoff zu seinen Werken.
Mit Recht war Hans von Volkmann als der
deutsche Maler gefeiert worden, denn Wahrheit
und Schlichtheit verbunden mit starker Männlich-
keit zeichneten seine Werke aus, die durch sein
poetisches, nie sentimentales Empfinden dem deut-
schen Volke besonders nahe gebracht wurden. Wäl-
der und Felder, blumige Wiesen und kleine Wasser-
läufe schilderte er in Gemälden, Steinzeichnungen
und Radierungen immer mit neuem Reiz und in stets
109
Persönlicher Weise. Weit verbreitet ist seine große ein feiner Bildniszeichner war, zeigen seine Zeich-
farbige Steinzeichnung des weiten, wogenden reifen nungen im Willingshäuser Album.
Kornfeldes, das durch seine große Einfachheit eineu Der alte Willingshäuser Freundeskreis hat durch
überwältigenden Eindruck macht, und viele Herzen Volkmanns Tod eine schmerzliche Lücke erfahren,
hat er erfreut durch seine Illustrationen zu deut- die umso empfindlicher ist als Volkmann auch ein
sehen Volksliedern und Erzählungen. Daß er auch Mensch von größter Gediegenheit und Treue war.
B.
Monologischer Jahresbericht über das Beobachtungsjahr 1926.
Im Auftrag der Biologischen Vereinigung für Hessen erstattet von O. Wiepken.
Anm. d. Schriftl. Der Bericht war für das Februar-
heft bestimmt, mußte aber aus technische» Gründen
zurückgestellt werden.
Im verflossenen Jahre haben wieder Natur-
freunde an mehreren Orten unseres Hessenlandes
das Fortschreiten des Pflanzenlebens im Ablauf
der Jahreszeiten beobachtend verfolgt. Vielfach hat
sich die Schuljugend eifrig beteiligt. (Das natur-
kundliche Unterrichtswerk von Schmeil-Norrenberg
enthält in seiner neuen Auflage eine große Zahl
derartiger Beobachtungsaufgaben.) Bei richtiger
Anleitung können auch dadurch verwertbare Ergeb-
nisse gewonnen werden.
Vor allem ist darauf zu achten, daß freistehende
Pflanzen an Turchschnittsstandorten beobachtet wer-
den; besonders begünstigte (z. B. Spalierobst) oder
benachteiligte (z. B. stark beschattete) Pflanzen kom-
men nicht in Betracht. In der folgenden Zu-
sammenstellung sind Angaben, die vermutlich durch
irgendwelche störende Umstände bedingt sind, in
eckige Klammern [ ] eingeschlossen. Aus der Tat-
sache, daß verschiedene Beobachter desselben Ortes
voneinander abweichend berichten, kann man nicht
ohne iveiteres auf fehlerhafte Beobachtung schließen.
Es wurden eben verschiedene Vertreter derselben
Art beobachtet.
Als Anfang der Aufblühzeit gilt der Tag, an
dem die ersten Blüten an etwa 3 bis 6 Stellen
offen sind. Außer dem Aufblühen werden auch
Laubentfaltung und Eintritt der Fruchtreife be-
obachtet. In diesen Punkten wird man eine völlige
Einstimmigkeit der Beobachter nicht erwarten dürfen,
weil der Beurteilung, ob z. B. eine Beerenfrucht
schon gestern oder erst heute vollkommen verfärbt
ist, immerhin einige Unsicherheit anhaftet. Ob der
Hochwald ziemlich gleichmäßig grün ist, wird man
ans einiger Enfernung besser beurteilen können,
als wenn man unter den Bäumen steht. Nickst
einzelne Pflanzen sind hier maßgebend, sondern
die große Masse. Dasselbe gilt für die allgemeine
Laubverfärbung, die als eingetreten gilt, wenn die
Hälfte sämtlicher Blätter — einschließlich der bereits
abgefallenen — am Beobachtungsort verfärbt ist.
Es ist begreiflich, daß die Meinungen hierüber
um mehrere Tage auseinandergehen können.
Der Sammelbericht bringt auch diesmal nur
eine Auswahl der eingegangenen Mitteilungen. Es
wurden dabei hauptsächlich Arten berücksichtigt, über
die auch von der Biologischen Reichsanstalt und
von der Landwirtschaftskammer für Hessen (Pros.
Ihne, Darmstadt) Angaben gesammelt werden. Auch
konnten dank dem Entgegenkommen der Beobachter
und der Reichsanstalt die für 1925 aus Kassel
und Wolfsanger vorliegenden Beobachtungen noch
nachgetragen werden. Ferner wurden unter Kassel
und Marburg ein paar Lücken durch Beobachtungen
des Berichterstatters (W.) ausgefüllt. Wo nichts
anderes bemerkt ist, handelt es sich um beit Beginn
der Aufblühzeit. Tie Beobachtungsorte sind hinter
den Pflanzennamen in fortlaufender Reihe abge-
kürzt angegeben; es bedeutet
Tr.: Dreisbach, Kreis Wetzlar, Beobachter Lehrer
E. Wörner.
Fl.: Flörsbach, Kreis Gelnhausen, Beobachter
Staatl. Hilfsförster O. Bauer.
Fr.: Friedberg i. Hessen, Beobachter Vermes-
sungsrat i. R. Schopbach.
Gr.: Grebenhain, Kreis Lauterbach, Beobachter
A. Mönnig.
Jh.: Jmmenhausen, Beobachter Rektor 5). Höh-
mann.
K. I: Kassel, Beobachter Lehrer G. Kraßke.
K. II: Kassel, Beobachter Oberprimaner H. Sauer.
Mbg.: Marburg (Lahn), Beobachter Oberpri-
maner A. Hildebrecht.
Sa.: Bad Salzhausen i. Oberhessen, Beobachter
Obergärtner Becker.
Str.: Streitberg, Kr. Gelnhausen, Beobachter
Lehrer Schmerbach.
U.: Ulrichstein, Kreis Schotten, Beobachter Post-
meister O. Meiski.
Wgh.: Wangershausen, Kreis Frankenberg, Be-
obachter Landwirt H. Garthe jun.
Wo.: Wolfsanger b. Kassel, Beobachter Dir. d.
Landw.-Schule Scheer.
Haselnuß, Kätzchen stäubend. Tr.: 10. 2.; Fl.:
13. 2.; Fr.: 11. 2.; Gr.: 25. 2.; K. II: 10. 1.
(W.); Mbg.: 3. 2.; Sa.: 5. 2.; Wgh.: 16. 2.
Schneeglöckchen. Dr.: 5. 2.; Fl.: 11. 2.; Fr.:
30. 2.; Gr. (Lene.): 1. 3.; Ich.: 15. 2.; K. I:
1. 2. (desgl. 1925: 27. 1.); K. II: 12. 2.; Sa:
6. 2.; U.: 21. 2.; Wgh.: 19. 2; Wo.: 10. 3.
(1925: 15. 2.).
Huflattich. Dr.: 2. 3.; Fr.: 23. 2.; Gr.: 11. 3.;
' Jh.: 2. 3.; K. I: 25. 2. (1925: 11. 2.); K. II:
15. 3.; Sa.: 16. 3.; II.: 8. 1.; Wo.: 15. 3.
(1925° 25 2 )
Windröschen (Anemone). K. II: 11. 3.; Mbg.
(Cyriaxweimar bei Mbg.): 11. 3.; Sa.: 16. 3.;
LL: 20. 3.; Wo.: 20. 3. (1925: 15. 1.).
110
Kornelkirsche. Fr.: 21. 2.; Gr.: [28. 4.]; K. I:
25. 2. (1925: 21. 2.); K. II: 18. 2. (28.); Mbg.:
28. 2.; Sa.: 7. 3.; U.: 18. 4; Wo.: 17. 3.
(1925: 1. 3.).
Salweide, Kätzchen stäubend. Dr.: 4. 3.; Fl.:
10. 2.; Gr.: 21. 3.; Jh.: 14. 3.; K. I: 8. 3.;
K.II: 21. 2.; Mbg.: 16. 3.; Sa.: 10. 3.; U.:
24. 3.; Wgh.: 16. 3.; Wo.: 25. 3. (1925: 4. 4.).
Scharbockskraut. Dr.: 18. 3.; Fr.: 17. 3.; Gr.:
21. 3.; Mbg.: 16. 3.; Str.: 16. 3.; Wgh.: 2. 4.
Sauerklee. Dr.: 1. 4.; Fr.: 4. 4.; Gr.: 1. 4.;
Mbg.: 2. 4.; Str.: 24. 3.
Dotterblume. Dr.: 30. 3.; Fl.: 1. 4.; Fr.: 5. 4.;
Gr.: 5. 4.; Jh.: 4. 4.; K. I: 4. 4. (1925:10. 4.);
K.II: 29. 3.; Mbg.: 2. 4.; Sa.: 2. 4.; U.:
16. 4.; Wgh.: 10. 4.; Wo.: 9. 4. (1925: 5. 5.).
Johannisbeere. Dr.: 6. 4.; Fr.: 5. 4.; Gr.: 10. 4.;
Jh.: 5. 4.; K.I: 6. 4. (1925: 15. 4.); K. II:
I. 4.; Mbg.: [1. 3.); Sa.: 5. 4 ; Str.: 2. 4.;
U.: 14. 4.; Wgh.: 5. 4.; Wo.: 6. 4. (1925:
20. 4.).
Süßkirsche. Dr.: 4. 4.; Fl.: 13. 4.; Fr.: 3. 4.;
Gr.: 15. 4.; Jh.: 9. 4.; K.I: 6. 4. (1925:
18. 4.); K.II: 2. 4.; Mbg.: 1. 4; Sa.: 1. 4.;
Str.: 7.—10. 4.; U.: 25. 4.; Wgh.: 18. 4.;
Wo.: 20. 4. (1925: 10. 5.).
Schlehe. Dr.: 16. 4.; Fl.: 15. 4.; Fr.: 1. 4.;
Gr.: 27. 4.; Jh.: 6. 4.; K.I: 8. 4.; K.II:
3. 4.; Mbg.: 5. 4.; Sa.: 2. 4; Str.: 4. 4.;
Schlehe. Dr.: 6. 4.; Fl.: 15. 4.; Fr.: 1. 4.;
(1925: 10. 5 )
Birne. Dr. (Steinb.): 12. 4.; Fr. (Pastorenb.):
4. 4.; Gr.: 23. 4.; Jh.: 9. 4.; K.I: 8. 4.
(1925: graue Butterb.: 23. 4.); K.II: 7. 4.;
Mbg.: 5. 4.; Sa. (Pastorenb.): 11. 4.; Str.:
10. 4.; U.: 26. 4.; Wgh. (Gute Graue): 2. 5.;
Wo.: 20. 4. (1925: 12. 5.).
Apfel. Dr.: 26. 4.; Fl.: 2. 5.; Gr.: 30. 4.;
Jh.: 23. 4.; K.I: 15. 4. (1925 Bismarck: 1. 5.);
K.II: 7. 4.; Sa. (Goldparm.): 20. 4.; Str.:
18. 4.; U.: 26. 4.; Wgh. (Schöner v. Boskop):
3. 5.; Wo.: 25. 4. (1925: 15. 5.).
Stachelbeere, Ans. d. Laubentfaltung. Tr.: 10. 3.;
Fl.: 31. 3.; Fr.: 15. 3.; Gr.: 28. 3.; Jh.:
II. 3.; K.I: 14. 3. (1925: 3. 4.); Mbg.:
25. 2.; U.: 15. 4.; Wgh.: 4. 4; Wo.: 5. 4.
(1925: 20. 4.).
Roßkastanie, Ans. d. Laubentfaltung. Dr.: 1. 4.;
Fl.: 8. 4.; Fr.: 4. 4.; Gr.: 8. 4.; Jh.: 6. 4.;
K.I: 10. 4. (1925: 10. 4.); K. II: 3. 4.; Str.:
9. 4.; U.: 24. 4.; Wo.: 5. 4. (1925: 1. 5.).
Buche, Ans. d. Läubentfaltung. Tr.: 8. 4.; Fl.:
9. 4.; Fr.: 8. 4.; Gr.: 10. 4.; Jh.: 3. 5.;
K.I: 17. 4. (1925: 22. 4.); K. II: 11. 4.;
Sa.: 20. 4.; Str.: 6. 4.; U.: 21. 4.; Wgh.:
18. 4.; Wo.: 25. 4. (1925: 10. 5.).
Sommerlinde, Ans. d. Laubentfaltung. Dr.: 4. 4.;
Fr.: 8. 4.; Gr.: 23. 4.; Jh.: 22. 4.; K.I:
10. 4. (1925: 19. 4.); K.II: 7. 4.; Mbg.:
6. 4.; 11.: 18. 4.; Wgh.: 24. 4.; Wo.: 5. *4.
(1925: 25. 4.).
Roßkastanie. Dr.: 6. 5.; Fr.: 22. 4.; Gr.: [18. 5.];
Jh.: 5. 5.; K.I: 26. 4. (1925: 5. 5.); K. II:
28. 4.; Mbg.: 2. 5.; Sa.: 28. 4 ; Str.: 27. 4.;
11.: 11. 5.; Wo.: 3. 5. (1925: 10. 5.).
Flieder (Syringa v.). Dr.: 3. 5.; Fl.: 27. 4.;
Fr.: 16. 4.; Gr.: 20. 5.; Jh.: 1. 5.; K.I:
26. 4. (1925: 10. 5.); K. II: 26. 4.; Mbg.:
17. 4.; Sa.: 28. 4.; Str.: [10. 6.]; 11.: 12. 5.;
Wgh.: 17. 5.; Wo.: 1. 5. (1925: 5. 5.).
Goldregen. Dr.: 6. 5.; Gr.: 1. 6.; Jh.: 15. 5.;
K.I: 3. 5. (1925: 13. 5.); K.II: 17. 4.; Mbg.:
4. 5.; Sa.: 10. 5.; 11.: 19. 5.; Wo.: 14. 5.
(1925: 20. 5)
Eberesche. Dr.:'8. 5.; Fr.: 27. 4.; Gr.: [20. 5.];
Jh.: [21. 5.]; K. II: 10. 4.; Sa.: 11. 5.;
Str.: 26. 4* 11.: [21. 6.]; Wgh.: 18. 5.; Wo.:
14. 5. (1925: 1. 6.).
Wiesenschaumkraut. Dr.: 10. 4.; Fl.: 21. 4.;
Fr.: 8.(?) 4.; Gr.: 20. 4.; K.II: 13. 4. (W.);
Mbg.: 15. 4.; Str.: 2. 5.; Wgh.: 23. 4.
Besenginster. Dr.: 20. 5.; Fl.: 1'2. 5.; Fr.: 19. 4.;
Mbg.: 27. 4.; Str.: 6. 5.
Buche, allgem. Belaubung (Hochwald grün). Dr.:
2. 5.; Fl.: 27. 4.; Fr.: 13. 4; Gr.: 23. 4.;
Jh.: 9. 5.; K.I: 25. 4. (1925: 2. 5.); K.II:
18. 4.; Sa.: 15. 4.; Wgh.: 2. 5.; Wo.: 1. 5.
(1925: 15. 5.).
Eiche, allgem. Belaubung. Dr.: 10. 5.; Fl.: 2. 5.;
Fr.: 18. 4.; Gr.: 5. 5.; Jh.: 16. 5.; (K.I
1925: 15. 5.); Wgh.: 29. 5.; Wo.: 18. 5.
(1925: 15. 5.).
Holunder. Dr.: 6. 6.; Fr.: 28. 5.; Gr.: 25. 6.;
Jh.: 25. 5.; K.I: 5. 6. (1925: 6. 6.); K.II:
19. 5. (W.); Mbg.: 19. 5.; Sa.: 25. 5.; Str.:
26. 5.; U.: 14.6.; Wo.: 30. 5. (1925: 5. 6.).
Schneebeere. Dr.: 21. 6.; Fr.: 13. 6.; Gr.: 15. 6.;
Jh.: 24. 5.; K.I: 5. 6. (1925: 25. 5.); K.II:
8. 5.; Mbg.: 29. 5. (W.); Str.: 6. 6.; Wo.:
29. 5. (1925: 10. 6.).
Winterroggen. Dr.: 10. 6.; Fl.: 14. 6.; Fr.:
2. 6.; Gr.: 15. 6.; Jh. (Asterroggen, Sommer-
seite): 9. 6.; (K.I 1925: 1. 6.); K. II: (6. 6. W.);
Mbg.: 15. 6.; Str.: 7. 6.; 11.: 20. 6.; Wgh.:
14. 6.; Wo.: 3. 6. (1925: 30. 5.).
Winterweizen. Dr.: 25. 6.; Fr.: 20. 6.; Gr.:
16. 7.; Jh. (Sommerseite): 18. 6.; Str.: 21. 6.;
U.: 12. 7.; Wo.: 20. 6. (1925: 15. 6.).
Robinie (Falsche Akazie). Dr.: [30. 6.]; Fr.: 13. 6.;
Mbg.: 5. 6. (W.); Sa.: 31. 5.
Kornblume. Tr.: 10. 6.; Fr.: 4. 6.; Str.: 8. 6.;
Wgh.: 2. 6.
Sommerlinde. Fr.: 25. 6.; Jh.: 10. 7.; (K. I
1925: 10. 6.-1. 7.); K.II: 1. 7.; Mbg.: 23.6.
bis 1. 7.; U.: 30. 6.; Wo.: 20. 7. (1925: 15.6.).
Liguster. Tr.: 30. 6.; Fr.: 21. 6.; K. II: 17. 6.
(W.); Sa.: 19. 6.; Str.: 26. 6.
Heidekraut. Tr.: 12. 8.; Fl.: 1. 8.; Fr.: 23. 7.;
Gr.: 12. 8.; Jh.: 15. 7.; K.II: [19. 8.]; Mbg.:
26. 7.; Sa.: 16. 8.; Str.: 30. 7.; U.: 10. 8.;
Wo.: 9. 8. (1925: 1. 8.).
111
Weiße Lilie. Gr.: 1. 8.; Jh.: 30.7.; K. II: 4. 7.;
Str.: 20. 6.; Wo.: 1. 7. (1925: 12. 7.).
Johannisbeere, Ans. b. Fruchtreife. Dr.: 6. 7.;
Fl.: 8. 7.; Fr.: 21. 6.; Gr.: 10. 7.; Jh.: 23. 7.;
K. I: 25. 6. (1925: 20. 6.); K. II: 28. 6.;
Str.: 2. 7.; U.: 20. 7.; Wo.: 2. 7. (1925:
[4- 8.]).
Eberesche, Ans. b. Frnchtreife. Dr.: (30. 9.]; Gr.:
I. -3. 9.; (K. I 1925: 1. 8.); Str.: 30. 7.;
II: 12. 8.; Wo.: 10. 9.
Schneebeere, Auf. b. Fruchtreife. Gr.: 1. 9.; Jh.:
8. 8.; K. I: 26. 7. (1925: 28. 7.); Str.: 11. 8.;
Wo.: 17. 8. (1925: 1. 8.).
Holunder, Ans. b. Frnchtreife. Dr.: 21. 9.; Fr.:
“ 14. 8.; Gr.: 4. 10.; Jh.: 15. 8.; K. I: 20. 8.
(1925: 26. 8.); Str.: 10. 8.; U.: 4. 9.; Wo.:
15. 9. (1925: 15. 8.).
Winterroggen, Erntebeginn. Dr.: 12. 8.; Fl.: 9. 8.;
Fr.: 23. 7.; Gr.: 1.—4. 8.; Jh. (Sommerseite):
5. 8.; K. I: 26. 7. (1925: 20. 7.); K. II: 25. 7.;
Mbg.: 26. 7.; Sa.: 26. 7.; Str.: 2. 8.; U.: 18.
bis 21. 8.; Wgh.: 7. 8.; Wo.: 27. 7.-15. 8.
(1925: 29. 7.).
Winterweizen, Erntebeginn. Dr.: 22. 8.; Fr.: 9. 8.;
Gr.: 10. 9.; Jh. (Sommerfeite): 12. 8.; K. I:
10. 8. (1925: 7. 8.); Sa.: 4. 8.; Str.: 17. 8.;
II. : 10.—14. 8.; Wgh.: 19. 8.; Wo.: 15.-22. 8.
(1925: 2. 8.).
Grummet, Erntebeginn. Dr.: 30. 8.; Fl.: 22. 8. ;
Fr.: 30. 8.; Gr.: 1. 9.; Jh.: 15. 8.; K. 1:25. 8.
(1925: 25. 8.); K. II: 12. 8.; Sa.: 26. 8.; Str.:
Das Karussell.
Einmal im Jahre rumpelte ber schwere, bunte
Karussellwagen ins Torf. Das ivar ein Ereignis —
von den Kinbern freudig begrüßt. Im Nu hatten
biese bas fahrende Volk umlagert. Was gab es
aber auch da alles zu sehen. Tie dicken, scheckigen
Pferdchen, die beim Laufen so flink und drollig
mit dem Kopse nickten, Hündchen und Hunde in
allen Größen und Farben. Und wie das krabbelte
im Wagen drin ganz wie im Kaninchennest. Ei,
die vielen Kinderchen, sie waren nicht zu zählen.
Die schwarzhaarigen Frauen hatten lange, rote
Mutzen an, wuschen Windeln und liefen mit dem
Milchtopf ins Dorf. Breit wie Kartoffelsäcke waren
die Hosenbeine der Männer; sie hatten beide Hände
in den Taschen und konnten so lustig spucken;
dann sah man Zähne, so schön wie Elfenbein.
Stundenlang lungerten wir beim Spielervolk
herum. Wenn die Mutter zu Hause das Ambettchen
suchte, da war es fort, und wenn der Vater den
Hannes zum Futterschneiden ries, da ivar er auch
fort. Kinder, die nicht fort waren, gab es gar
nicht; sie hätten denn an Ketten liegen müssen.
Als ich an einem Samstagmorgen mit dem
Frühstückskörbchen ins Feld trippeln mußte, kam
eiligen Schrittes Fisselers Hanjerche daher. „Kerle",
rief er im Vorbeihasten, „wo willste denn hin, man
24. 8.; 11.: 15. 8.; Wgh.: 21. 8.; Wo.: 30. 8.—
4. 9. (1925: 1. 9.).
Herbstzeitlose. Dr.: 4. 9.; Fl.: 2. 9.; Fr.: 24. 8.;
Gr.: 20. 9.; Jh.: 13. 9.; K. I: 1. 9. (1925:
1:5. 8.); K. II: 3. 9.; Sa.: 3. 9.; Str.: 22. 8.;
11. (vereinzelt): 21. 8.; Wgh.: 23. 8.; Wo.: 28. 9.
(1925: 12. 9.).
Efeil. Dr.: 25. 9.; Fr.: 2. 9.; Jh.: 24. 9.; Str.:
13. 9.
Roßkastanie, allgem. Laubversärbung. Dr.: 10.10.;
Fr.: 2. 10.; Gr.: 1.-7. 10.; Jh.: 11. 10.; K. I:
12. 10. (1925: 25. 9.); Str.: 17. 10.; 11 :19. 10.;
Wo.: 10. 10. (1925: 5. 10.).
Buche, allgem. Laubversärbung. Dr.: 20. 10.; Fl.:
18. 10.; Fr.: 3. 10.; Gr.: 3.—10. 10.; Jh.:
10. 10.; K. I: 12. 10. (1925: 30. 9.); Sa.: 25. 9.;
Str.: 5. 10.; 11.: 14. 10.; Wgh.: 16. 10.; Wo.:
15. 10. (1925: 7. 10.).
Eiche, allgem. Laubversärbung. Dr.: 22. 10.; Fl.:
15. 10.; Fr.: 13. 10.; Gr.: 15.-20. 10.; Jh.:
11. 10.; (K. I 1925: 28. 10.); Str.: 22. IO ; 11.:
19. 10.; Wo.: 20. 10. (1925: 7. 10.).
Naturfreunde, die den Fragebogen für 1927 noch
nicht erhalten haben, können ihn bei der Biolo-
gischen Vereinigung (Vors. Dr. Sunkel, Marburg,
Frankfurter Str. 55II) anfordern und werden ge-
beten, ihre Aufzeichnungen im Herbst dorthin zurück-
znsenden.
Anmerkung: Im vorigen Berichte ist als Quellen-
angabe statt „Ritters, Herm. Blitz" zu lesen: „Rettert,
Post Holzhausen a. d. Haide, Herm. Pletz, Lehrer".
Von Ernst Eimer.
meint, du wärst narrig, heut wird doch das Karus-
sell aufgeschlagen." Er war ganz erstaintt und
zugleich entrüstet, daß ich an diesem Tage etwas
anderes vorhatte. Eine Stunde später stand ich
aber schon neben ihm.
Das war eine Arbeit zum Jauchzen. Man
sah's an den vielen fleißigen Händen und Beinchen.
Es ging zu wie im Bienenkorb. Wir schleppten
Bretter und Eisenstangen und trugen stolz wie ein
König schwere schillernde Perlentücher. Tann kamen
die schönen stattlichen Gäule ans dem Wagen. Die
Rosa, die Fanny, der Hektor, die Leda, der Viktor,
der Fuchs; und von den dicken Schimmeln ein
halbes Dutzend. -Als ein prächtiger Appelschimmel
gar feurig auf der Reitbahn stand, rief ich dem
Bornkarlche zu: „Guck häi, da steht meiner; die
Karnsseller haben von uns Heu gekriegt und ich hab'
eine Freikarte".
„Nein, nein, glaub's nur nicht", gab der zurück,
„von uns haben die Haferstroh, und es ist meiner."
Da wurden wir Feinde und schlugen uns die Nasen
blutig. Am anderen Tage bei der ersten Runde
saßen wir zusammen auf dem Pferdchen.
Als der Spielerivagen ivieder zum Dorf hinaus
runrpelte, gab es Schulferien; dies ist so die Zeit,
wo böse Jungen Gelegenheit zu dummen und über-
112
mutigen Streichen haben. Mit Böchers Jakob saß
ich in unserem Holzschuppen. Wir kauten bedächtig
an grasgrünen Kornäpfeln. Notwendigerweise muß-
ten wir bei dieser Beschäftigung kleine, bittere
Augen machen und den Mund krampfhaft in die
Breite ziehen.
„Ei," rief Jakob plötzlich, „so ein Karussell
könnten tvir auch machen."
„Ja, wenn wir Werk und Zeug dazu hätten",
meinte ich ganz sehnsüchtig.
„Dummkopf," sagte Jakob, „ihr habt alte Wa-
genräder, eure Leut' sind im Feld, und das andere
ist Nebensache." „Wir machen ein zweistöckiges",
fuhr er fort, „oben kostet's Knöpf' und unten Geld
Und die Gäulercher für den Betrieb haben wir frei.
Wer eine Tour gezogen hat, darf die nächste um-
sonst aufsitzen." — Der versteht's, dachte ich, und
wir gingen gleich an die Arbeit.
Zwischen die Pflastersteine im Hof schlugen wir
einen dicken Pfahl in den Boden. Da konnten dann
die beiden Wagenräder schön um die Achse laufen.
Feste Bretterböden waren bald genagelt, und aus
Spinn- und Pslugrädern, alle vom Rumpelhaufen,
machten wir niedliche Wägelchen.
„Nun fehlt aber noch ein großes, weißes Tuch",
meinte ich dann, am Gelingen immer noch zweifelnd.
„Mensch, etz sag' ich aber kein Wort mehr. Ihr
habt doch Bettücher im Haus. Und wenn wir
verdienen wollen, dann müssen wir den Leuten
auch' etwas bieten", warf Jaköbchen eifrig ein.
Das Kerlchen hatte recht, es traf immer den Nagel
aus den Kops, deshalb holte ich noch das Bettuch.
Das gab nun eine lustige, weiße Spitze und wir
waren richtige Karussellbesitzer.
Unser Publikum war auch schon gekommen; es
machte lange Hälse und große Augen.
„Ihr Kinder, wir fangen gleich an, oben kostet's
Knöpf und unten Geld", wiesen wir die Kleinen
zurecht. Alles war erstaunt, als sich ein Knirps-
chen sofort aufs obere Stockwerk schwang und dafür
einen Knopf ablieferte. Musik hatten tvir natürlich
auch. Jaköbchen klopfte an die Gießkanne, und
ich hatte mit meiner rasseligen Maulorgel für die
Melodie zu sorgen.
Dann erst die Gäulercher! Die boten sich scharen-
tveiS an, denn jeder wollte sich eine Freifahrt
verdienen. Es ging wie am Schnürchen.
Jetzt kam Moritz, das Krämerssöhnchen, zun:
Hofe herein. Er war vornehm und hatte einen
Stunde.
Diese Stunde kommt nicht wieder, —
Mahnend tickt die alte Uhr, —
Und die alten Bilder alle
Schau'n auf diese Stunde nieder.
Alte Bilder mit Perücken,
Zugend aus der Väterzeit, —
Künstlerhand hat sie geschaffen,
Daß sie lebend nkederblicken.
Kassel.
Kragen an, denn sein Vater verkaufte die besten
Heringe.
„Oben kostet's Knöpf' und unten Geld", riefen
wir Besitzer in einem Atem.
Der Vornehme zahlte zwei Pfennig und kroch
in den unteren Stock; er war der einzige, der
Geld hatte. Aber alle wollten jetzt fahren. Die
Stimurung war glänzend. Der obere Stock wurde
geradezu überfüllt.
Nach einer langsauieir Anfahrt setzten die Pferd-
chen zum Galopp über, ganz wie es seilt muß. Da
lvackelte der Pfahl, es quiekten die alten Wagen-
räder und neigten sich mit der schweren Ladung
ans eine Seite, dahin wo Moritzchen saß. Das
hing nun wie in eineni Schraubstock und brüllte
erbärmlich. Es kippten die Wagen im oberen Stock
und das Publikunt schlug Purzelbäume. — —■
Ter Krämerssohn war noch am Leben. Er hatte
nicht einmal einen Rippenbrnch, aber sein Geld
wollte er wieder.
„Flappch, der du bist", maulte Jaköbchen, „erst
haste Vergnügen gehabt, dann willste nant zahlen.
Aber Geld kriegste keins, und für Unglücker könne
lnir nix."
„Ja, und wenn der sein Geld wieder will, dann
rückt auch nur meineir Knopf heraus", sagte ein
stämmiger Weißkopf lind machte funkelnde Augen.
In diesem sah Moritz seinen Freund. „Alle Weiß-
kopp ns se", feuerte er ihn an und schwang einen
Prügel.
Ta wurden auch wir fuchsteufelswild. Die sollten
llns kommen int eignen Betrieb. „Ich hatt's euch
gleich gesagt", brüllte Jakob hinaus, „oben kostet's
Knöpf' und unten Geld!"
Das war nun ein Batschen und Stampfen und
Puffen und Schreien, daß die Ohren sausten.
Und in diesen Kampf um Knöpfe und Recht
siel plötzlich das Klatschen eines Geiselriemens.
Das kam von der Mutter. Noch rechtzeitig war
sie zunl Hof herein gekommen, um dem Spiel ein
gutes Ende zu geben. Und je länger sie das ver-
nagelte Betttuch beschaute, desto lieber machte sie
mit.
„No Annekathrine, was ist denn da los", rief
Gasselötvers Fritz, der grade mit einem Fuder
Strohlensel vorüber ging.
„Ei, wir spielen Karussell", sagte meine Mutter
und schlug dem Gassenstrenzer die Peitsche um die
Beine.
Bilder sind wir, die dir künden
Vollen Lebens Überschwang,
Oder müder Füße Schreiten
3u dem Ziel, wo Alle münden.
Und wir Stillgeword'nen wissen,
Daß auch jene Zeiger dort
An der großen Weltenuhr —
Immer weiter, weiter müssen.
Gertrud Hoepfner-
113
Aus Heimat und Fremde.
H o ch s ch u l n a ch r i ch t e n. Marburg: Mit der
Stelle des stellvertretenden Direktors der Augenklinik
wurde Prof. Dr. Krüger aus Bonn betraut. — Als
Nachfolger von Prof. Dr. Friedrich Walter wurde der
außerord. Prof, für Psychiatrie und Neurologie und
Oberarzt der psychiatrischen und Nervenklinik Dr. mock.
August S ch arnke zum Oberarzt der Heil- undPflege-
anstalt iu Rostock-Gehlsheim ernannt. — Der Privat-
dozent für innere Medizin Dr. Otto M o o g wurde
zum a. o. Prof, ernannt. — Der Bibliothekar an der
Universitätsbibliothek Dr. phil. Max Zobel von Za-
beltitz wurde zum Bibliotheksrat ernannt. — Am
7. Mai hielt Dr. ror. pol. Erwin Wiskemann seine
Antrittsvorlesung über „Tie Stellung der Reichsbauk
im Organismus der deutschen Volkswirtschaft" und am
21. Mai hielt Dr. rer. pol. Rolf Fricke seine Antritts-
vorlesung über „Öffentliche oder private Wohnungs-
wirtschaft". — Die medizinische Fakultät erneuerte dem
Sanitätsrat Dr. .Hermann E b e r t aus Ziegenhaiu,
seit 1894 in Kassel, anläßlich seines 50 jährigen Doktor-
jubiläums das Diplom. '— Beim offiziellen Jmmatri-
kulationsschluß am 10. Mai stellte sich die Gesamt-
ziffer der Studierenden auf 2879 einschließlich 486
Frauen. Auf die einzelnen Fakultäten entfallen: Theo-
logie 205 Männer und 15 Frauen, Juristen 876 M.
und 20 Fr., Mediziner 487 M. und 49 Fr., Philosophen
825 M. und 402 Fr. — Am 12. Mai wurde der
Neubau der „Teutschen Burse", des Instituts für Grenz-
und Auslandsdeutschtum, feierlich eingeweiht. Aus
reichsdeutschen Mitteln erbaut, soll es grenz- und
auslandsdeutschen Studenten ermöglichen, für die Le-
bensentwicklung wichtige Jahre im großen deutschen
Heimatvolk zu verleben. — Die in Aussicht genommene
Hessenkunstausstellung kann nicht durchgeführt werden,
weil die Räume im Jubiläumskunstinstitut zur Auf-
nahme der Ausstellung bis dahin noch nicht fertigge-
stellt werden können. Die Ausstellung ist deshalb auf
1928 verschoben. — Die Marburger Stadtverordneten
bewilligten als Beihilfe zum Universitätsjubiläum
40 000 RM. Bürgermeister Müller teilte mit, daß
während der Jubiläumstage Theaterausführungen, Haus
Sachs-Spiele, Tänze usw. und auf dem Schloßberg ein
Volksfest stattfinden sollen. Auch ist eine großzügige
Illumination von Stadt und Landgrafenschloß geplant.
Tie F e st f o l g e der 400-Jahrfeier gestaltet sich nun
Uuc folgt: Freitag, den 29 Juli: 4 Uhr turnerische
Veranstaltungen auf dem Stadion und Enthüllung eines
Denkmals für die gefallenen Marburger Dozenten und
Studenten. Begrüßungsabend in der Festhalle auf dem
Kämpfrafen, Fackelzug, Schloßbeleuchtung. Sonnabend,
den 30. Juli: 10 Uhr Festgottesdienst iu der lutherischen
Pfarrkirche, 11 Vs Uhr erster Festakt iu der Universitäts-
kirche (Überweisung der Stiftungen, Begrüßung durch
die Behörden, die Stifter, die Vertreter der Hochschulen
usw.): anschließend Imbiß für die geladenen Gäste in
der Aula. Nachmittags Übergabe der drei neuen Institute
der Kunsthalle, der Kleinkinderkliuik und der Ohrenklinik.
Gleichzeitig wird anderen Teilnehmern Gelegenheit zu
einem Ausflug oder zum Anhören eines künstlerischen
Vortrages von Ludwig Wüllner geboten. Abends Fest-
essen, voraussichtlich iu den Stadtsäleu. Im Laufe
des Tages sind ferner künstlerische Veranstaltungen
größeren Stils, wie Theater und Symphoniekonzerte,
geplant. Sonntag, den 31. Juli 11 Uhr zweiter Festakt
in der Festhalle (Festrede von einem der Professoren
und Ehrenpromotionen). Nachmittags großer historischer
114
Festzug und ein von der Stadt dargebotenes Volksfest,
das sich über das ganze Gelände des Schloßberges aus-
dehnen wird. Mit einem großen Kommers abends um
9 Uhr endet die Feier. — Gieß.en: Das deutsche
Kulturamt in Estland hat den ord. Prof, für Volks-
wirtschaftslehre Dr. Friedrich Lenz eingeladen, eine
Reihe von Vorträgen in Dorpat und Reval zu halten.
— Darmstadt: Der ord. Prof, der Chemie an der
technischen Hochschule Dr. Karl G. Jonas hält im
Sommersemcster an der Universität Frankfurt Vor-
lesungen aus dem Gebiete der Chemie der Kohlenhydrate.
150 Jahre Kasseler Kunstakademie.
Nunmehr steht das Programm der Feier anläßlich des
150 jährigen Jubiläums der Staatlichen Akademie der
bildenden Künste in Kassel und der Eröffnung der
von dieser gemeinsam mit dem Kunstverein zu Kassel
veranstalteten Jubiläumsausstellung am 1. Juni end-
gültig fest. Vormittags um 11,30 Uhr wird in der
Änla der Kunstakademie ein Festakt stattfinden, bei
dem nach einer musikalischen Darbietung (Jntrade für
Bläser von Ernst Krenek, ausgeführt von Mitgliedern
der Staatlichen Kapelle)'Oberpräsident Dr. Schwän-
de r, der Kurator der Akademie, die Begrüßungsan-
sprache an die Festteilnehmer halten wird, worauf der
geschäftsführende Direktor der Akademie, Prof. Witte,
die Festrede hält. Hiernach wird der Minister für
Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Dr. Becker,
sprechen, dem sich Oberbürgermeister Dr. Stadler
namens der Stadt Kassel anschließen wird. Eine Reihe
weiterer Ansprachen, so des Direktors der staatlichen
Sammlungen, Geh. Regierungsrats Dr. B o e h l a u,
und der Delegierten der Schwesteranstalten werden sich
anschließen. Alsdann wird eine Besichtigung der Aus-
stellung von Arbeiten der Studierenden an der Akademie
vorgenommen werden. Um 1 Uhr mittags erfolgt
dann die feierliche Eröffnung der Jubilüumsausstcl-
lung im Orangerieschloß. Auch hier bildet eine musika-
lische Darbietung (kleine Kantate für gemischten Chor
a capella von Krenek, ausgeführt vom Zulaufschen
Madrigalchor), den Auftakt, worauf Professor Witte
die Ausstellung dem Minister übergeben wird, der dann
die Eröffnung vornimmt, worauf ein Rundgang durch
die Ausstellung die Eröffnungsfeier abschließt. Abends
findet im Staatstheater eine Festvorstellung statt. Ge-
geben wird „Orpheus und Eurydike" von Ernst Krenek.
Tie diesjährigen Marburger Ferien-
kurse stehen im Zeichen des 400 jährigen Jubiläunis
der Philipps-Universität. Sie dauern vom 2.—29. Au-
gust 1927, sind aber so aufgebaut, daß jede Woche eiu
abgeschlossenes Ganzes bildet, für das Anmeldungen auch
einzeln erfolgen können. Ter zu behandelnde Gegen-
stand ist die deutsche Gegenwart (Vorlesungen z. T.
mit Lichtbildern, Aussprachen, gemeinsame Veranstal-
tungen, Unterricht für Ausländer, große Studieufahrt).
Tie Themen für die einzelnen Wochen lauten: I. Kursus:
„Tie Arbeit der Wissenschaft für den Allgemeinbesitz
des deutschen Volkes." (Ausgewählte Kapitel, behan-
delt von Lehrern der Marburger Hochschule.) II. Kursus:
„Tie Wurzeln der Kultur des deutschen Volkes in
ihrer Wirkung für die Gegenwart." III. Kursus: „Wege
zur Volksbildung." Das Thema des IV. Kursus lautet:
„Rheinisches Volksleben in den Denkmälern der Ver-
gangenheit und im Treiben der Gegenwart" und wird
mit einer siebentägigen Studienfahrt an den Rhein
unter sachkundiger Führung behandelt. Während der
ersteil drei Wochen findet außerdem ein Sonderkursus
für Ausländer statt. Prospekte kostenlos durch die Ge-
schäftsstelle der Marburger Ferienkurs, Marburg/Lahn,
Teutsche Burse, Rotenberg 21, wohin auch Anfragen
und Anmeldungen zu richten sind.
Personalchronik. Dem in Darmstadt wohnen-
den Professor Dr. August Eigen brodt, dem lang-
jährigen Lehrer am Kasseler Wilhelmsgymnasium, er-
neuerte die philosophische Fakultät der Universität Leipzig
kürzlich das vor mehr als 50 Jahren ausgestellte Doktor-
diplom in besonderer Anerkennung seiner wissenschaft-
lichen Arbeiten, durch die er sich eine angesehene Stellung
in der Wissenschaft errungen habe. In Dornheim im
Kreise Groß-Gerau geboren, bestand Eigenbrodt im
Herbst 1869 am Darmstädter Gymnasium die Reife-
prüfung und promovierte zu Leipzig mit einer, in
Lehrbüchern der römischen Rechtsgeschichte heute noch
verwerteten, gekrönten Preisarbeit über die staatsrecht-
lichen Verhältnisse innerhalb der römischen Magistratur.
Spätere Schriften behandeln den Geschichtsschreiber Hein-
richs IV., Lampert von Hersfeld, ferner untersuchte er
das um den Sohn Ludwigs XVI. von Frankreich be-
stehende Rätsel. Nach Bismarcks Tode untersuchte er die
geschichtlichen Angaben der „Gedanken und Erinnerun-
gen" und die dagegen laut gewordenen Einwände;
eine Reihe von Textverbesserungen und erläuternden An-
merkungen in dem von Horst Kohl herausgegebenen
Bismarckschen Nachlaßwerke rühren von Eigenbrodt her.
Bon seinen Einzelschriften seien noch genannt „Nie-
derlagen und Siege (1909)", „Bismarck und seine
Zeit" (1912), „Fürst Bismarck und die Nachwelt"
(1914), „Berliner Tageblatt und Frankfurter Zeitung
in ihrem Verhalten zu den nationalen Fragen" (1917).
Noch nicht gedruckt sind zwei größere Werke „Fürst
Bismarck und Kaiser Wilhelm II." und „Kaiser Wil-
helm II. und seine Zeit". — Am 28. April vollendete
der frühere Kasseler Stadtoberbaurat Geheimrat Dr.-Jng.
h. c. Paul Höpfner sein 70. Lebensjahr. Im Jahre
1896 zum Leiter des städtischen Bauwesens in Kassel
berufen, hat er diesem über 25 Jahre laug vorgestanden.
Unter seiner Oberleitung wurden eine ganze Anzahl
von Schulen, ferner die Murhardsche Bibliothek, das
Rathaus und die Stadthalle errichtet. Die Durchführung
des Kanalnetzes in den Vororten, die Schaffung der
Kläranlage, die Fuldaregulierung und die Anlage einer
Schiffahrtsschleuse sind seinem Eintreten zu verdanken.
— Der Darmstädter Generalintendant Ernst Legal
wurde als Nachfolger Paul Bekkers zum Intendanten
des Kasseler Staatstheaters ernannt. Einer Hugenotten-
samilie entstammend und 1885 zu Schlieben in der
Niederlausitz als Sohn eines Apothekers geboren, be-
stand er in Schulpforta das Abiturientenexamen, war
in Leipzig Buchhändler, besuchte in Weimar die Theater-
schule, war u. a. in Bonn, Berlin, Weimar und
Wiesbaden Schauspieler, wurde 1913 Regisseur und
fünf Jahre später Intendant des Nassauischen Landes-
theaters, kam 1920 au das Berliner Schauspielhaus
und wurde 1924 Generalintendant in Darmstadt.
Todesfälle. Am 25. März starb zu Kassel
erst 39 jährig Frau Julie Aereboe-Katz, Professor
an der Staatlichen Kunstgcwerbeschule zu Kassel, deren
Fachklasse für Textilarbeiten sie seit 1919 vorstand. Als
Tochter eines Großkaufmanns in Bremen geboren, stu-
dierte sie in Weimar, Berlin, wo sie Schülerin von
Lovis Corinth war, Charlottenburg und München und
hat dann in ihrer Kasseler Lehrtätigkeit außerordentlich
fruchtbringend gewirkt. Von ihrem vielseitigen Können
und ihrer hohen Begabung legte die im Kunstvereiu
veranstaltete Gedächtnisausstellung Zeugnis ab. — Am
22. April verschied in Hofgeismar Pfarrer Andreas
M ö h l, der über 30 Jahre hindurch dem dortigen
Hessischen Siechenhaus vorstand. Er war in Untergeis
im Kreise Hersseld als Sohn eines Lehrers geboren. —
Am 13. Mai verschied zu Frankfurt a. M. im 55. Le-
bensjahr der Bankier Karl Strauß, der Seniorchef
des bekannten Marburger Bankhauses. Er gehörte län-
gere Zeit der Marburger Stadtverordnetenversammlung
an und hat sich besonders auf sozialem Gebiete be-
tätigt. Daneben war er ein reger Förderer künstlerischer
und wissenschaftlicher Bestrebungen. Seine Anhänglich-
keit au seine Vaterstadt Marburg wird in einem Wand-
gemälde im Marburger Rathaus zum Ausdruck kommen,
das von Professor Karl Bantzers Hand erstehen soll.
Hessische Autographen. Von geschätzter Seite
werde ich auf den Autographenkatalog der Firma David
Salomon, Berlin-Halensee Nr. 27 aufmerksam gemacht,
der auf Seite 11 f. zahlreiche Autographen hes-
sischer F ü r st l i ch k e i t e n anbietet und von einem
Herrn mit merkwürdigen historischen Kenntnissen ver-
saßt zu sein scheint. Daß die verschiedenen Linien des
hessischen Fürstenhauses dabei wie Kraut und Rüben
durcheinanderstehn, daß Ludwig VI. bei „Hessen-Barch-
feld", Wilhelm IV. und Moritz der Gelehrte bei Hessen-
Homburg, Ernst Ludwig bei Hessen-Kassel eingereiht
sind, mag dahingehn. Es ist ja nicht leicht, die ver-
schiedenen Zweige auseinanderzuhalten. Daß aber Kur-
fürst Wilhelm I. wieder als Soldatenhändler eine recht
schlechte Note bekommen hat, ist nicht hübsch und sollte
gerügt werden. Ich möchte aber Herrn David Salomon
doch entschuldigen; denn es ist klar, daß ein Autograph
„eines der berüchtigsten deutschen Fürsten, der seine
Untertanen verkaufte" mehr Kurswert besitzt als der
Brief eines simplen deutschen Durchschnitts-Potentaten.
Ph. Losch.
7 5 Jahre Main-Weser-Bah n. Am 15.
Mai sind 75 Jahre verflossen, seit die Main-Weser-
Bahn in ihrem letzten Bauabschnitt von Gießen bis
Lang-Göns am 15. Mai 1852 vollendet und damit
der ganze Bahnbau zwischen Frankfurt und Kassel
endgültig abgeschlossen und in Betrieb genommen werden
konnte. Im einzelnen wurde der Bau dieser Eisen-
bahnstrecke nüe folgt beendet: am 19. Dezember 1849
von Kassel bis Wabern, am 2. Januar 1850 von
Wabern bis Treysa, am 4. März 1850 von Treysa
bis Kirchhain, am 10. März 1850 von Frankfurt
bis Friedberg, am 3. April 1850 von Kirchhain bis
Marburg, am 25. Juli 1850 von Marburg bis Lollar,
am 25. August 1850 von Lollar bis Gießen, am 1. De-
zember 1850 von Friedberg bis Butzbach, am 1. Mai
1851 von Butzbach bis Lang-Göns, am 15. Mai 1852
von Gießen bis Lang-Göns. Schwierige Bodenverhält-
nisse verzögerten die Fertigstellung des Baues in den
letzten Abschnitten. Das Baukapital betrug bis zum
Jahre 1857 insgesamt 13,7 Millionen Taler. Ende
1857 waren 39 Lokomotiven, 80 Personenwagen mit
7756 Plätzen und 429 Gepäck- und Güterwagen vor-
handen; heute ist nahezu das Doppelte allein beim
Bahnbetriebsamt Gießen an Fuhrmaterial im Betrieb.
Tie Bahn wurde etwa 15 Jahre eingleisig betrieben
und in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
zweigleisig gebaut.
S p a n g e n b e r g e r Fe st spiele. Am 17., 18.,
19. Juni, sowie am 3. Juli, 7. August und 4. Sep-
tember soll Karl Engelhards deutsches Sagenspiel „Kuno
und Else" durch Bürger und Bürgerinnen der Stadt
zur Ausführung gelangen.
H e r s f e l d. In der Hauptversammlung des Kur--
und Verkehrsvereins teilte Lyzealdirektor Dr. Schoos
mit, daß im nächsten Jahr das 550 jährige Jubiläum
115
der Bitalisnacht sei und zu diesem Zwecke ein Festspiel
non einem Eschweger Pfarrer geschrieben wird. Es wurde
angeregt, mit diesem Festspiel eine Beleuchtung der
Stiftsruine zu verbinden.
Für den L u d w i g st e i n. Der preußische Staat
schenkte im Jahre 1922 den deutschen Jugendverbänden
die unweit Witzenhausen an der Werra liegende Ruine
L u d w i g st e i n mit der Bestimmung, sie zu einer
Jugendburg als Stätte deutscher Volkserneuerung aus-
zubauen. Zum Träger des Werkes wurde die „Ver-
einigung zur Erhaltung der Burg Ludwigstein e. V."
gegründet, in der die Jugendbünde sämtlicher Rich-
tungen vertreten sind. Unter Überwindung erheblicher
Schwierigkeiten gelang es der Bereinigung, die Burg
größtenteils auszubauen. Um die Fertigstellung zu
ermöglichen, hat der Minister für Volkswohlfahrt eine
große Warenlotterie genehmigt, in der
354 205 Gewinne mit einem Gesamtwert von RM
340 640.— zur Auslosung gelangen. Preis des Loses
50 Pf. Hauptgewinn ein Landhaus, 6 Zimmer, Win-
tergarten usw., möbliert. Namhafte Spenden der In-
dustrie haben die reiche Ausgestaltung des Gewinnplanes
ermöglicht. Lose sind zu haben in allen Jugend-
Künden, in allen Geschäften der Jugendbewegung
und bei der Lotteriegeschäftsstelle, Berlin SW. 61,
Belle-Alliance-Straße 6.
M a r b u r g. Bei den Wiederherstellungsarbeiten in
der lutherischen Pfarrkirche, deren ältester Teil aus
1267 stammt, wurden interessante Funde gemacht, vor
allem Plastiken der Gewölbe, Darstellungen Christi, das
Bildnis des Baumeisters, Familien- und Innungs-
Wappen. — Am 16. April waren 700 Jahre verflossen,
seit der Erzbischof Siegfried von Mainz, zu dessen
Erzbistum Marburg gehörte, seine Zustimmung zur
Loslösung Marburgs von der Pfarrkirche zu Ober-
weimar gab. Bis dahin war die Kirche in Marburg
nur eine Filialkirche von Oberweimar gewesen. — Am
31. März jährte sich zum zehnten Male der Todestag
Professor Or. Emil von Behrings, der 1890 den
Tetanus- und die Diphterieanthitoxine entdeckte. Bon
der heilsamen Wirkung des Tetanusserums gegen den
Wundstarrkrampf konnte Behring sich noch in den
ersten Kriegsjahren selbst überzeugen, bekannter sind
die Schutzimpfungen gegen die Diphterie. Wertvolle
Anregungen verdankt die Wissenschaft seinen Arbeiten
zur Tuberkulosebekämpfung. 1901 wurde er mit dem
Nobelpreis ausgezeichnet. Schon unter seiner Leitung
erwuchs in Marburg ein großes Forschungsinstitut,
das sich einen Namen in der Welt geschaffen hat. Sein
einstiges Institut soll jetzt zu einem Kaffeehaus umgebaut
werden. — Zur 400-Jahrfeier des Gymnasium Philip-
Pinum wiro die Stadt ein Stipendium für in Marburg
beheimatete bedürftige Schüler der Anstalt stiften. —
Das 1744 als „Gasthaus zum weißen Roß" erbaute
Fürstenhaus, das der Kreis 1905 für 60 000 RM vom
Staat gekauft hatte, wurde einem Umbau unterzogen
uno wird eine Reihe von Ämtern aufnehmen. Das
Haus hat manche Wandlungen durchgemacht. 1770
wurde es vom Landgraf Friedrich II. angekauft, 1764
bis 1807 diente es als Posthaus, dann als kurfürst-
liches Palais, in dem Kurfürst Friedrich Wilhelm 1822
bis 1823 als Marburger Student wohnte. Später
diente es als Kaserne. — Zur Neuherrichtung des
Rittersaales im Landgrafenschloß stellte der Kultusmi-
nister 23 000 RM zur Berfügung. — Die Rauch-
und Kautabakfabrik Stephan Niderehe und Sohn beging
am 21. Mai ihr 150 jähriges Bestehen.
Hanau. Das Projekt der Errichtung einer Stadt-
halle durch Umbau des Marstallgebüüdes im Altstädter
116
Schloß wird demnächst den städtischen Körperschaften
zugehen. Über den Neubau der staatlichen Zeichenakademie
(Fachschule für Edelmetallindustrie) schweben Verhand-
lungen mit den Ministerien. In die alte Zeichenaka-
demie soll die gewerbliche Berufsschule, in das an die
Stadt übergegangene ehemalige Schulgebäude des Gym-
nasiums soll das zu einer Studienanstalt auszubauende
Lyzeum verlegt werden. — Bei Ausschachtungsarbeiten
in der Gemarkung Rückingen wurde in der Nähe der
Landstraße in nicht allzu großer Tiefe Umfassungs-
mauern des alten Römerkastells Rückingen gefunden.
In unmittelbarer Nähe der Fundstelle befinden sich
Überreste des vor längerer Zeit entdeckten Römerbades,
das im Volksmund „die alte Burg" genannt wird.
Frankenberg. Unser altehrwürdiges Rathaus
wird seines häßlichen Verputzes entkleidet und der ur-
sprüngliche Fachwerkbau freigelegt. Soweit das aus
schmalen Ziegelsteinen gemauerte Fachwerk nicht mehr-
vorhanden ist, wird es unter Anlehnung an die alte
Bauart ergänzt. Das zutage getretene eichene Balken-
werk ist trotz seinem hohen Alter noch sehr gut erhalten
und erregt in seiner Massigkeit das Erstaunen der
Baukundigen. Das Rathaus ist im Jahre 1500 erbaut.
N e u k i r ch e n. Ein Altertumsfund von heimatkund-
lichem Wert wurde hier gemacht. Es handelt sich um
mehrere Gegenstände der ehemaligen Schmiedezunft, eine
kleine eiserne Truhe mit sehr kompliziertem Schloß,
einen auf Schwcinsleder geschriebenen Zunftbrief mit
mächtigen! Siegel, der die eigenhändige Unterschrift
eines hessischen Landgrafen trägt, und eine große schwarze
Decke, die bei der Beisetzung von Zunftmitgliedern über
den Sarg gelegt wurde. Tie Truhe enthielt eine Reihe
von Akten, die manchen Aufschluß über das früher
hier blühend gewesene Zunftwesen geben. Um zu ver-
hindern, daß solche wertvollen heimatkundlichen Gegen-
stände an Händler verkauft werden, soll eine Anregung
auf Errichtung eines Heimatmuseums geprüft werden.
Vom Allgemeinen Deutschen Jagd-
schutz v e r e i n wird aus Kassel geschrieben: Wie wenig
wirklich weidgerechte Jagd in der Öffentlichkeit ver-
breitet ist, geht aus immer wiederkehrenden Notizen
in der Presse hervor, in denen zweifellos unweid-
männisches Verhalten einiger „Jäger" kritiklos mit-
geteilt wird. So wurde in letzter Zeit wieder berichtet,
daß ein Jäger im südlichen .Kurhessen das seltene Glück
gehabt habe, in einer Nacht zwei geweihte Hirsche im
Walde zur Strecke zu bringen! Es kann sich hier nur
um ganz geringe, noch nicht schußreife .Hirsche oder
um sogenannte Kolben- oder Basthirsche handeln, um
solche, die nach Abwurf des Geweihes sich in der Zeit
der Entwicklung des neuen Geweihes befinden. Man
sieht aus diesem immer wiederkehrenden Vorkommnissen,
wie notwendig die aufklärende Tätigkeit des Allgemeinen
Teutschen Jagdschutzvereins und ähnlicher Vereine ist.
Gelnhausen. Bei der Anlegung einer Wasser-
leitung in Lanzingen fand man in et>va 50 cm Tiefe
eine eiserne Urne, die etwa 20 Münzen aus früheren
Jahrhunderten enthielt. Man vermutet, daß es sich
um einen Fund aus der Schwedenzeit handelt. Tie
Stücke wurden von einem Gelnhäuser Lehrer erworben.
Großburs ch l a. An der hiesigen Kirche sind
durch Konrektor Scllmann aus Mühlhausen Überreste
aus der romanischen Zeit festgestellt >vorden. Sie haben
die Aufmerksamkeit des Konservators und aller Kunst-
historiker erregt. Die Überreste stehen in naher Be-
ziehung zu der berühmten Hirsauer Bauschule, die in
der Baugeschichte des Mittelalters eine große Rolle
gespielt hat. Ihr Einfluß auf Großburschla war bisher
völlig unbekannt.
Freiwerdende Domänen in Kurhessen.
Im Regierungsbezirk Kassel gelangen die folgenden
Domänen zur neuen Ausschreibung: im Kreise Hers-
feld E i ch h o f mit 191 Hektar, im Kreise Ziegenhai»
Bellnhausen mit 150 Hektar, im Kreise Fritzlar
Jesberg mit 210 Hektar, im Kreise Hofgeismar
Gesundbrunnen mit 96 Hektar, im Kreise Mel-
sungen Elfershausen mit 102 Hektar, im Kreise
Rotenburg Cronberg mit 243 Hektar und im Kreise
Grafschaft Schaumburg C o w e r d e n mit 263 Hektar.
Im Regierungsbezirk Kassel kommen also insgesamt
1255 Hektar zur Neuverpachtung; denen stehen im
Regierungsbezirk Wiesbaden nur 511 Hektar gegenüber.
Für den Regierungsbezirk Kassel gibt Hehler als dem
Staate gehörig 0,88 Prozent der gesamten Grundfläche
an; den höchsten Besitz haben die Privaten mit 92,71
Prozent, den zweitgrößten die Gemeinden, Kirchen und
Schulen mit 5,49 Prozent.
Rentabilität der k u r h e s s i s ch e n For-
st e u. Der Regierungsbezirk Kassel gehört mit 39,2
Prozent Waldbestand bei 41 Prozent Äcker und Gärten
sowie 15,5 Prozent Wiesen und Weiden auf insgesamt
10,077 Quadratkilometer Gesamtfläche mit zu den holz-
reichsten Bezirken ganz Deutschlands. Über die Ren-
tabilität der kurhessischen Forsten bestehen indessen zu-
meist durchaus übertriebene Vorstellungen. Es dürfte
daher doch weitere Kreise interessieren, aus einer Bilanz
der S t a a t s o b e r f ö r st e r e i O b e r a u l a (Kreis
Ziegenhain) die Rentabilität des Buchen- und des
Nadelholzwaldcs kennen zu lernen. Die Staatsober-
försterei Oberaula hat eine Flächengröße von 1707
Hektar. Davon sind 917 Hektar Buchen- und 790
Hektar Nadelholzbestand. Im Rechnungsjahr 1924/25
betrug das Holzvorratskapital des Buchen-
waldes 2115 816 RM und des Nadelwaldes 2 519 432
RM, zusammen 4 635 248 NM, das Bodenkapital
des Buchenwaldes ist mit 237 044 RM und das des
Nadelwaldes mit 52 291 RM in Rechnung gestellt,
zieht man diese Summe, die den Bodenwert des Buchen-
waldes ausmacht, von dem Betrage des Holzvorrats-
kapitals ab, so verbleibt ein reines W a l d k a v i t a l
für die 917 Hektar Buchenwald von 1878 772 RM
und für die 790 Hektar Nadelwald von 2 519 432 RM.
Das Vorratsdurchschnittsalter des Baumbestandes des
B u ch enwaldes beträgt 76,1 Jahr und des Nadel-
waldes, Kiefern und Fichten gemischt, 46,9 Jahre,
was einem Totalumtriebe des Buchenhochwaldes von
152 Jahren und des Nadelhochwaldes von 94 Jahren
entspricht. Diesem Totalumtriebsalter entsprechend muß
auch die Verzinsung des Waldkapitals berechnet werden,
um nun aber überhaupt mit einer Rentabilität eine
Holznutzuug durchführen zu können, ist das Flächen-
durchschnittsalter im Buchenwalde auf 66,4 Jahre und
im Nadelholzwalde auf 46,6 Jahre herabgesetzt worden.
Unter diesen Holznutzungsmaßnahmen hat man in der
Staatsoberförsterei Oberaula im Rechnungsjahre 1924-
25, in dem man noch allgemein hohe Rundholzpreise
zu verzeichnen hatte, die durchweg 20 Prozent und»
Bücherschau.
A p e l, Theodor, Dr. jur. et phil., Ter zer-
brochene Galgen und andere Kultur-
k u r i o s a aus dem Hessenland. Melsungen
(A. Bernecker, Heimatschollenverlag) 1927. 244 S.
3.— RM.
Feld-, Wald- und Wiesenblumen, am Wege ge-
sammelt, nennt der Verfasser selbst den bunten Strauß
von allerlei kleinen, meist mehr oder weniger humo-
darüber gegen die jetzigen liegen, 122 988 RM an
laufenden Einnahmen zu verzeichnen, davon 65 271
RM aus den Nadelwaldungen und 57 717 RM aus
dem Buchenholzbestande, während trotz der höheren Ein-
nahmen im Nadelholzbestande 30 768 RM für laufende
Ausgaben aufgewendet werden mußten, erforderten diese
Aufwendungen im Buchenholzbestande 32 579 RM, ins-
gesamt 63 347 RM, so daß im Buchenwalde nur
25 138 RM Betriebsüberschuß gegen 34 503 RM im
Nadelholzbestande verblieb. Somit errechnet sich der
B e t r i e b s ü b e r s ch u ß auf insgesamt 59 641 NM
oder auf eineu Hektar Waldfläche berechnet auf 28 RM.
Die Einnahmen der Staatsoberförsterei Oberaula aus
den Rundholzverküufen der Hauptnutzungen stellen sich
ohne Werbekosten auf 60 173 RM und zwar entfallen
davon 34 462 RM aus Nadelhölzer und 25 711 RM
auf Buchenholz, hierbei errechnet sich eine Verzinsung
des Waldkapitals beim Buchemvald mit 1,41 Prozent
und beim Nadelholz mit 1,70 Prozent jährlich. Dabei
ist die Staatsoberförsterei Oberaula noch in der Lage,
mit einer Verzinsung des im Nadelholzwalde steckenden
Waldkapitals in Höhe von 1,70 Prozent eine überaus
hohe Rentabilität im allgemeinen Durchschnitt heraus-
zuwirtschaften ; die große Staatsoberförsterei Schmiede-
feld (Kreis Schleusingen) im Thüringer Wald, die
4136 Hektar Fichtenbestand umfaßt und ein Waldkapital
von insgesamt 24 624 013 RM besitzt, konnte nur eine
Jahresverzinsung von 1,47 Prozent erreichen, obwohl
der Bestand an gutem Fichtenaltholz in der Oberför-
sterei Schmiedefeld nicht nur in ganz Thüringen, son-
dern auch in Kurhcssen allgemein bekannt ist.
Die Wartburgfresken. Die zunehmende Be-
schädigung der Schwindschen Wartburgfresken, die durch
Frost- und Schmutzwasserbildung an den Wänden ver-
ursacht wurden, kann auf die Dauer nicht gebannt
werden. Kunstsachverständige haben deshalb vorgeschla-
gen, vor der Fortsetzung der Wiederherstellungsarbeiten
durch dcu Bilderkonservator Prof. Ehrhardt-Düsseldorf
in die drei in Frage kommenden Räume eine Heizungs-
anlage zur Trockenlegung der Wände einzubauen, aus
alle Fälle aber von Künstlerhand gemalte Kopien der
gefährdeten Bilder zu schaffen, damit die Kunstwerke
wenigstens auf b:e/e Weise der Nachwelt erhalten bleiben,
wenn die in Aussicht genommenen Schutzmaßnahmen
versagen oder nicht von Dauer sein sollten. Der
Verein der Freunde der Wartburg stellte für die Heiz-
anlagen 35 000 RM und für die Anfertigung der
Kopien 20 000 RM in den Voranschlag. Durch das
von Prof. Ehrhardt angewandte Verfahren wurde bereits
das große Sängerkriegsbild, die Fresken im Land-
grafenzimmer und die Medaillons im Elisabethengang
in ihrer alten Farbengebung »nieder hergestellt. Ten
größten Schaden haben die großen Wandgemälde aus
dein Leben der hl. Elisabeth und ihres Gemahls er-
litten.
9t o t i z. Einige für diese Nummer bestimmte Bil-
der konnten nicht gebracht werden, da die Druckstöcke
nicht rechtzeitig eintrafen.
ristisch anmutenden Geschichten aus den Jahren 1492
bis 1814, die uns die damaligen Zustände, Leben
und Treiben unserer hessischen Vorfahren, das oft recht
umständliche Verfahren der Behörden der „guten" alten
Zeit recht lebhaft veranschaulichen. Nicht erdichtete,
sondern auf Akten des Staatsarchivs gegründete, ein-
fache Erzählungen bietet der Verfasser, durch einge-
streute Bemerkungen erläutert und mit dem Leben der
117
Gegenwart tn Vergleich gestellt. Hervorgehoben mögen
werden die Geschichte von: weitgereisten Schneider und
die vom zerbrochenen Galgen. In dieser ist freilich
dem sonst mit den Verhältnissen und der Geschichte
unserer Heimat vertrauten Verfasser eine Verwechselung
des 1760 zur Regierung gekommenen Landgrafen Fried-
richs II. mit dem 1751 verstorbenen Landgrafen Fried-
rich I., König von Schweden, unterlaufen. Dem Wert
des Büchleins für die Kulturgeschichte tut dies kleine
Versehen keinen Abbruch. Jeder Hesse wird cs mit
Behagen lesen und am Schlüsse befriedigt aus der
Hand legen. G. Heer.
Entgegnung.
Meine im Märzheft angez. altd. Namendeutungen
stellen, wie 2mal betont, nur „Versuche" dar. Er-
hoffte fibl. Förderung setzte alsbald ein. Nur 2 Bei-
spiele von vielen gleichen: 1. Volkskundler W. (Ilniv.
K.) schreibt: „Ich zweifle nicht, daß Sie mit vielen
Deutungen auf dem rechten Wege sind. Sehr be-
merkcns- u. anerkennenswert ist, daß Sie mit dem
Volke, das die Namen bildete, aus dem Boden der
Wirklichkeit und Sachlichkeit u. in der natürl. Um-
gebung bleiben, also der Romantik entsagen". 2. Trotz
des so verschiedenart. Inh. richtet L. mit einem
Hieb über „das ganze Buch". Zum 2. Teil schreibt
ein Theologieprofessor: „Ihr Gallim. leistet das
Äußerste, was man an geistreichem Spiel leisten kann;
mit Mutterseelenallein bin ich einverstanden; Grün-
donn. ist sehr fein". — Hauptsache: Das als verur-
teilenswert Herausgegriffene muß auch in dem Buche
wirklich so stehen, was betr. R h ö n durchaus nicht
der Fall ist. — Den limes erwähne ich natürl. gar-
nicht; aber L. schiebt mir als bes. unsinnig limes —
Heerzaun zu. Den Hercyn. Wald glaubte ich als Heer-
oder Wälderzaun, Nord- u. Südgrenze, mit Einschl.
d. Taunus (ohne die geringste Betonung) deuten zu
dürfen. Seit ich Reimer besitze, weiß ich, daß er ein
H i r s ch e n Wald ist, was sich aus Hereczin-, Hir-
zen-, Herzenrode ergibt. — Zwischen der worther-
kunstl. Bedeutung der Namen u. dem, wie Sage u.
Dichtung später sie ausdeuten, ist stets zu scheiden:
Wie Amalungs zu Amsel, Volsungec (Wälsunge) zu
Bolz ahd. — Kuckuck, Nibelungen zu niklnon = Nebel-
huhn, so ist Giebich der Kiebitz, wie Geib, Göb,
lehren. Worms deute ich S. 8; aber die Schreibung
Vereinsnachrichten.
Hessischer Geschichtsverei n. Der Kas-
seler Verein unternahm am 27. April die schon im
letzten Herbst geplante W artburgfahrt, an der
sich 55 Mitglieder in zwei Autos beteiligten. In früher
Morgenstunde trat man bei herrlichem Wetter die Fahrt
an und gelangte über Lichtenau, Eschwege (hier Be-
grüßung durch Bürgermeister Dr. Stolzenberg),
Treffurt und Creuzburg in Eisenach an. Im Wart-
burggasthof überbrachte Oberstudiendirektor Helmbolo
die Grüße des Eisenacher Geschichtsvereins. Sodann
führte Burgwart Nebe durch die Wartburg, vor allem
auch in die sonst nicht zugänglichen, z. T. neu entdeckten
Räume und gab im Vortragsraum der Burg einen
Überblick über die Baugeschichte der Burg und die in
letzter Zeii gemachten Entdeckungen. Der Rundgang
hatte über drei Stunden in Anspruch genommen. Über
Netra, Bischhausen und Waldkappel wurde die Heim-
fahrt angetreten. In Waldkappel wurde der Verein
von Bürgermeister Oeding im Namen der Stadt
118
Bürgermeister Dr. Gustav Lahmeyer.
Vgl. S 119. Phot. K. Eberth. Kassel,
wurmz gab der Sage zur Deutung (Lint-)Wurm-
stadt selbstverständl. Anlaß. — Rhön u. Taunus
„keltisch" glaube ich nicht. Dr. Homburg.
Hierzu schreibt Professor Dr. Losch:
Um nicht noch einmal falsch verstanden zu werden,
empfehle ich Homburgs „Ausgrabungen" den Lesern
des Hessenlandes zur eignen Lektüre und Kritik.
Ph. L.
begrüßt, der auf die bevorstehende 500-Jahrfeier Wald-
kappels hinwies und bei seinen historischen Ermittlungen
die Mithilfe des Vereins erbat. Diese wurde vom
Vorsitzenden, Bibliotheksdirektor Dr. Hopf, zugesagt,
der auf die Wichtigkeit der Erforschung der Heimat-
geschichte hinwies und mit einem Hoch aus das deutsche
und auf das engere hessische Vaterland schloß. Um
12 Uhr nachts traf man wieder in Kassel ein. (Bericht:
Kass. Post 4. 5.) — Der Hersfelder Geschichts-
verein hielt am 10. Mai unter Vorsitz von Direktor
Dr. S ch o o f seine diesjährige Hauptversammlung ab.
Den Berichterstattungen der einzelnen Ausschüsse schlos-
sen sich lebhafte Aussprachen mit mancherlei Anre-
gungen an. Am 14. Mai unternahm der Verein im
Kreisauto einen Ausflug nach Friedewald, wo
Lehrer Wilhelm N e u h a u s über die Geschichte der
Burg und deren Erbauer Hans Jakob von Ettlingen
sprach, der auch die Burg Herzberg erbaute und auf
Hauneck, am Eichhof und in Ziegenhain tätig war.
Sodann besuchte man die Burgreste des zwischen Lautem
Hausen und Hillartshausen gelegenen Dreienberges. (Be-
richt: Hersfelder Ztg. 16. 5.) — Die bisherigen Mit-
glieder des F r i tz l a r e r Vereins, der seit Jahresfrist
seine Tätigkeit eingestellt hatte, beschlossen, den Verein
wieder ausleben zu lassen und wählten einen neuen
Vorstand. Erster Vorsitzender wurde Studienrat Len-
personalien.
Ernannt: zu Konrektoren: die Lehrer Bering in
Fritzlar, Entzeroth in Treysa; zu Hauptlehrern:
die Lehrer W o r m s in Höchst, iir Wasenberg F a u st
aus Zella; Referendar Dr. Karl H o s; s e l d zum Ge-
richtsassessor; Intendant Ernst Legal ans Darmstadt
zum Intendanten des Staatstheaters in Kassel; Pfarrer,
Konsistorialrat O p p e r in Albungen zum Pfarrer
in Homberg; Amts- und Landrichter Nenkirch zum
Landgerichtsrat in Kassel, Amts- und Landrichter Dr.
P a e t s ch zum Landgerichtsrat in Kassel, Amts- und
Landrichter Dr. B o h neu zum Amtsgerichtsrat in
Fulda, Gerichtsassessor Dr. K e u t h e n zum Amtsge-
richtsrat in Hünfeld, Staatsanwalt Kurt Kunze zum
Staatsanwaltschaftsrat in Marburg, Aktuar Jung-
blut aus Krefeld zum Justizobersekretär in Hess.
Lichtenau; Pfarrer R e i n h o l d in Kassel Altstadt III,
Kirchkreis Kassel I, zum Pfarrer in Kassel Altstadt I;
Kreissekretär-Anwärter Br an dis zum Kreissekretär
in Hünfeld.
Befördert: Regierungsrat Freiherr von Müff-
l i n g zum Oberregierungsrat.
Bestätigt: Oberschullehrer Hassenpflug vom
Oberlyzeum als Rektor der Mädchenmittelschule 4.
Endgültig übertragen: dem Tierarzt Dr. Meyer-
Mejer in Wolfhagen unter Ernennung zum Veterinär-
rat die Veterinärratsstelle des Kreises Wolfhagen.
Endgültig angestellt: die Lehrer Weide in Unter-
haun, Loos in Langendiebach, L o k o t s ch in Brotte-
rode, A ck e r in Eckardroth; die Schulamtsbewerberinnen:
Hol theuer in Schmalkalden, Picke ro dt in Mar-
burg, R u p p e l in Mackenzell.
Einstweilig angestellt: die Schulamtsbewerber Cas-
sel m a n n in Weißenhasel, Tünnermann in
Bosserode, Bette in Velmeden; die Schnlamtsbewer-
berinnen: Ru hl in Kassel, Goebel in Seidenroth,
Müller in Schlüchtern.
Gewählt: Dr. Schmidt, bisher Bürgermeister von
Harzgerode bei Ballenstedt, zum Bürgermeister in Mel-
sungen.
Versetzt bzw. überwiesen: Oberregierungsrat, Ge-
heimer Regierungsrat Hausleutner von der Re-
gierung in Wiesbaden dem Oberpräsidium in Kassel;
Regierungs-Vizepräsident Dr. G e h r k e von der Re-
gierung in Oppeln in gleicher Amtseigenschaft zur
Regierung Kassel; Gerichtsassessor Dr. Görg von
Fulda nach Frankenberg, Diplom-Landwirt Dr. H a tz -
mann von Hersfeld nach Limburg; Regierungsland-
messer Viering von Treysa nach Marburg (II); die
Landeskultursupernumerare Heinz G ö b e l von Lim-
burg nach Hanau, Bensch von Treysa nach Hersfeld,
Becker von Hanau nach Wiesbaden, Bartsch von
Marburg nach Dillenburg, Martin von Hersfeld nach
Limburg, E b e l i n g von Wiesbaden nach Marburg,
die Vermessungsobersekretäre Heinrich Groß, D ö h n e,
N o l t e, Georg G r o ß, Jung von Kassel nach Mar-
burg (I), Treysa, Hanau, Wiesbaden und Mayen; Ver-
messungsdiätar Bertermann von Kassel nach Prüm;
die Lehrer H o s e n f e l d von Kassel, Kreis Geln-
narz, Stellvertreter Kaufmann Pfennig, Schriftführer
Dr. Dux lind Schatzmeister Kaufmann Bredt.
Hessischer Gebirgsverein. In der außer-
ordentlichen Mitgliederversammlung des Zweigvereins
Kassel am 26. April wurde der zweite Bürgermeister
von Kassel Dr. Gustav L a h m e y e r einstimmig zum
ersten Vorsitzenden des Hessischen Gebirgsvereins gewählt.
hausen, nach Thalau, P a m m e von Jossa nach Haus-
lvurz, als Hauptlehrer, A l b r e ch t von Süß nach
Nickelsdorf, M i s ch k e von Heimboldshausen nach Schenk-
lengsfeld, D i l l i n g von Blankenbach nach Röhrings-
hof, Riesbeck voll Thalau nach Kassel, Kreis Geln-
hausen, Thiele von Gottstreu nach Trendelburg,
L i nl ni r o t h von Sielen nach Lamerden, B e r ch a ll
von Erkshausen nach Obernburg, Seidel von Wasen-
berg nach Remsfeld, R i e b e l i n g von Seigertshausen,
Kreis Ziegenhain, nach Cölbe; Oberpostmeister Pfle-
g i n g, Hünfeld als Postamtmann an die Oberpostdirek-
tion Köln; Regierungs-Vizepräsident Dr. L e h m a n n
als Vizepräsident des Oberpräsidiums nach Hannover;
Amtsgerichtsrat Funk von Havelberg als Amts- und
'Landgerichtsrat an das Amtsgericht in Kassel; Kataster-
direktor Oldehuus von Schlüchtern nach Springe,
Katasterinspektor E ck o l ö t von Minden nach Kassel
(Regierung).
In den Ruhestand versetzt: Hauptlehrer Blum
iu Fambach; die Lehrer Bernhardt in Freudenthal,
Reumann in Gensungen; die Mittelschullehrerin
Bertram in Kassel; Lehrerin L o matsch iu Esch-
wege; Vermessungsobersekretär Hugo A l b r e ch t in
Hanau auf Antrag, Vermessungsinspektor Franz H o h -
m a n n in Marburg; die Kanzleisekretäre C o m b e ch e r
in Gladenbach, E m m e r t in Weyhers, H e r g e t in
Hilders.
Vermählte: Oberzollsekretär Albert Dietzel und
Frau, Aenne, geb. Matthaei (Frankfurt a. M., Mar-
burg, 26. 3.); Kaufmann Willy Thele und Frau,
Elli, geb. Fischer (Kassel, 17. 4.); Dipl.-Landwirt
Ernst 5k u m m r o w und Frau, Maria, geb. Kranz
(Wolfsanger, 19. 4.); Dr. med. Wilhelm Odenthal
uns Frau, Lilli, geb. Schmidt (Bonn); Dipl.-Ing.
E. Friederich und Frau, Aenne, geb. Ritzel (Hers-
feld, 23. 4.); Zimmermeister E. Hahn und Frau,
Anna, verw. Banaschek, geb. Pfeil (Hersfeld, 23. 4.);
Kurt Landgrebe und Frau, Hedwig, geb. Sander
(Merscheid-Gensungen, 26. 4.); Dr. Friedrich M e d i c u s
und Frau, Frieda, geb. Knock) (Berlin-Steglitz, 28. 4.);
Staatl. Schauspieler Johannes S ch r a d e r und Frau,
Berta, geb. Peter (Kassel, 30. 4.); Kaufmann Heinz
B a u m a n n und Frau, Irmgard, geb. Rieck (Kassel,
7. 5.); Oberleutnant und Adjutant Paul Herrmann
und Frau, Edith, geb. Schuchardt (Kassel, 13. 5.).
Geboren: ein Sohn: Fritz Alexander Wolfs
und Frau, Gretel, geb. Potente (Potsdam, 2. 4.);
Dr. Fritz K u n tz e und Frau, Eva, geb. Schütz (Mar-
burg, 17. 4.); Lehrer Bernhard Heim und Frau,
Milli, geb. Hatzfeld (Hersfeld, 24. 4.); Regierungsrat
von R o o s und Frau, Margarete, geb. Rotermund
(Koblenz, 26. 4.); Kaufmann Walter Herwig und
Frau, Hildegard, geb. Volgenau (Kassel, 2. 5.); Pfarrer
Heppe und Frau, Ruth, geb. Bartels (Cölbe, 5.5.);
Senatspräsident Dr. Martin und Frau, Margarete,
geb. Sippell (Kassel, 7. 5.); Dr. meä. Johannes
Petzold unv 'Frau, Else, geb. Ehrlich (Dresden, 8. 5.);
Adolf Dannenberg und Frau, Luise, geb. Der-
119
venich (Union City, 11. 5.); Zivilingenieur Walter
33 a starb und Frau, Elisabeth, geb. Schade (Kassel,
12. 5.); Konditoreibesitzer Willi Warlich und Frau,
Hanna, geb. Röttger (Kassel, 14. . 5.); Oberförster
K o l st e r und Frau, Theda, geb. Lohstöter (Hersfcld);
Dr. Hans Schräder und Frau, Marie, geb. Butte
(Kassel, 17. 5.); — eine Tochter: Otto Stör ch
und Frau, Anna, geb. v. Kreyfelt (Kleinsassen, 18. 4.);
Sparkassen-Rendant Julius Geffke und Frau, Maria,
geb. Gotbicr (Hersfeld, 26. 4.); Rechtsanwalt und
Notar v. Dehn-Rotfelser und Frau, Tilla, geb.
v. Fichte (Kassel, 1. 5.); Dr. Walter Wegelt unb
Frau, Johanna, geb. Kiefer (Kassel, 2. 5.); Amts-
gerichtsrat Dr. B u r ch a r d unv Frau, Adele, geb.
Linie (Neuhof, 5. 5.); Dr. jur. Walter N iemann
und Frau, 5pilde, geb. Lauckhardt (Kassel, 12. 5.).
Gestorben: Kapellmeister Chr. Bach, 92 I. alt
(Milwaukee); Frau Lisette Zickendraht, geb. Walch,
83 I. alt (5^ersfeld, 12. 4.); Fräulein Gertrud Bös-
s e r, 82 I. alt (Kassel, 15. 4.); Bijouteriefabrikant
Karl G e r e t h, 60 I. alt (Hanau); Mühlenbesitzer
Heinrich Rudolph, 64 I. alt (Kassel-W., 16. 4.);
Witwe Wilhelmine R i e ck, geb. Mohrmann, 78 I.
alt (Kassel, 17. 4.); Buchhändler Ferdinand Büch-
st ä d t, 60 I. alt (Hofgeismar, 18. 4.); Klempner-
meister Georg T> ilcher (Kassel, 19. 4.); Regierungs-
Präsident a. D. Gustav Springorum (Berlin,
20. 4.); Ehefrau des Amtsgerichtsrat Elisabeth B o ck,
geb. Hodes (Bad Orb, 21. 4.); Landwirt Friedrich
P ö P p l e r, 59 I. alt (Liebenau, 22. 4.); Frau
Josephine S i e b r e ch t, geb. Mollenhauer, 60 I. alt
(Kassel, 22. 4.); Pfarrer und Vorsteher des Hessischen
Siechenhauses Andreas M ö h l (Hofgeismar, 22. 4.);
Hauptlehrer i. R. Georg K rüge r (Obervorschütz,
23. 4.); Frau Lehrer Anna L o tz, 67 I. alt (Ober-
rodenbach, 24. 4.); Tochter des Rechnungsrats Toni
G ü n t h e r (Felsberg, 24. 4.); Frau Frieda Abel,
80 I. alr (Kassel, 25. 4.); Fürstin Friederike von
I s e n b u r g - B i r st e i n, Gemahlin des Fürsten
Franz Joseph, geb. Prinzessin zu Solms-Braunfels,
54 I.' alt (Gelnhausen); Schreinermeister Ferdinand
M a r k e r t, 75 I. alt (Großalmerode); Rentier M.
Weber (Homberg); Rechtsanwalt und Notar Justiz-
rat Hermann K a tz, 69 I. alt (Gießen); Oberforst-
meister Fleck (Frankfurt a. M., 25. 4.); Frau Amts-
gerichtsrat Maria S t a tz, geb. Beermann (Fulda,
27. 4.); Landwirt Johann Daniel Bender, 86 I.
alt (Ebsdorf, 28. 4.)- Dekan Stadtpfarrer Geistl. Rat
Karl G r u b e r, 70 I. alt (Wiesbaden); Frau Lehrer
Witwe Fleische r, 75 I. alt (Marburg, 29. 4.);
Prokurist Richard Fro m m e (Kassel, 29. 4.); Frau
Adele G u i s e, geb. Hahn (Kassel); Schwester Ursula
H e ck m a n n (Kassel); Fräulein Maria Appel, 78 I.
alt (Kassel, 30. 4.); Rechnungsrat Ernst S ch reiner,
-73 I. alt (Offenbach a. M., 1. 5.); Lehrer i. R. und
Kantor August M eher (Speele); Witwe des Kauf-
manns Marie Knetsch, geb. Grebe, 82 I. alt (Kas-
sel, 1. 5.); Ehefrau des Staat!. Hegemeisters a. D.
Marie S e e l e r, geb. Engelmann, 69 I. alt (Heine-
bach, 3. 5.); Hoteldirektor Erich Opel (Kassel, 4. 5.);
Pfarrer Hermann Wackerbarth (Westuffeln, 4. 5.);
Frau Selma F a b e r, geb. Adelberg, 74 I. alt (Kas-
sel, 5. 5.); Margarete E s ch, 19 I. alt (z. Zt. Söller
de Mallorca, 6. 5.); Stndienrat Christian W e i d -
m a n n, 45 I. alt (Treysa, 6. 5.); Frau Oberst Nilly
v. Berge r, geb. v. Stamford (Kassel, 6. 5.); Frau
Berta Baumann, geb. Rosenstein (Kassel, 7. 5.);
Pfarrer Kaspar Peter Weber, 50 I. alt (Schwarz-
bach, 8. 5.); Justizrat Friedrich Christoph Dahl-
mann (Berlin, 9. 5.); Staatsförster Heinrich Kurz,
51 I. alt (Rosenthal, 11. 5.); Ingenieur Richard
Sieber, 30 I. alt (Kassel, 11. 5.); Rentner Bruno
Kaiser, 78 I. alt (Fulda, 13. 5.); Kaufmann
Rudolf A l l m e r o t h, 57 I. alt (Kassel, 14. 5.);
Bankier Karl Strauß (Frankfurt a. M., 14. 5.);
Pfarrer Ernst Stroh (Höringhausen); Geh. Regie-
rungsrat Büchler, 44 I. alt (Gießen); Landwirt
und Kaufmann Konrad Mardorf, 66 I. alt (Wa-
bern, 17. 5.); Registraturvorsteher Karl Schäfer
(Kassel, 18. 5.); Ehefrau des Kaufmanns Alma G r a f f
(Kassel, 18. 5.); Fräulein Julie Diener (Kassel,
18. 5.); Geh. Justizrat Dr. Julius Rinteln, 77 I.
alt (Kassel, 18. 5.); Frau Elise G e r h o l d, gisf>.
Bierwind, 72 I. alt (Neue Mühle b. Wolfhagen, 18. 5.);
Fräulein Marie R ü h l, Tochter des Superintendenten
Rühl in Fulda, 45 I. alt (Kassel, 18. 5.); Witwe
Rebecka Hartung, geb. Koch, 75 I. alt (Kassel,
18. 5.); Ehefrau des Amtsgerichtsrats Margarethe K e ck,
geb. Paetz (Treysa, 18. 5.); Rentner Joseph Möller,
76 I. alt (Fulda, 19. 5.); Ehefrau des Zollamtmanns
Friederike H i l d e b r a n dt, geb. Hildebrandt (Kassel).
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Schriftleiter! Paul Heidelbach, Kassel. Druck: F ri e dr. S ch e el. Kassel. Alle Rechte vorbehalten.
Manuskripte sind zu senden an Paul -Heidelbach, Kassel, Hohenzollernstraße 15.
Für unverlangte Einsendungen keine Verbindlichkeit. Rücksendung nur, wenn das Po st geld beiliegt.
120
HEsnlanH
Illustrierte Monatsblatter für Heimattorschung, Kunst und Literatur
Schriftleiter Paul Heidelbach, Kassel. Unter Mitwirkung von Bezirkskonservator Baurat Or. H o l tmey er, Kassel,-
Direktor der Landesbibliothek Or. Hopf, Kassel,- Lyzeallehrer Keller, Kassel,- Staatsarchivrat Or. Knetsch,Marburg,-
OberbibliothekarProfessor Or. Losch, Steglitz,- Schriftsteller Heinrich Ruppel, Homberg,- Professor Or. Schaefer,
Kommissar für Raturdenkmalpflege im Reg.-Bez. Kassel,- Geheimrat Universitätsprofessor Or. Schröder, Göttingen,-
Universitätsprofessor Or. Schwanike, Marburg,- Or. Werner Sunkel, Marburg,- Professor Or. Bonderau, Fulda,-
Universitätsprofeffor Or. W e d e k i n d, Marburg.
■■■■■■ ■ 3m Einverständnis mit den Vereinen: - ...
Verein für hessische Geschichte und Landeskunde,- Hessischer Gebirgsverein,- Knüllgebirgsverein,- Deutscher Sprachverein,
Zweig Kassel,- Verein für Raturkunde, Kassel,- Geologischer Verein, Marburg,- Biologische Vereinigung, Marburg,-
Gesellschaft für Familienkunde in Kurhessen und Waldeck,- Hessischer Volksschullehrerverein.
- Bezugspreis vierteljährlich 2.— Mark ----
39. Jahrgang Heft 6 Kassel, Juni 1927
Martin Otto Johannes.
„Ich bin dahingegangen,
Wie man so sagt: In fremdes Land . . .
Und als ich an der Grenze
Erstmals auf seinem Boden stand,
Da bebte meine Seele;
Es schlang sich ein geheimes Band
Zu mir, als ob mich faßte
Vertraulich eine Mutterhand,
Die mir ein Längsterlebtes
In jäher Klarheit wiederfand.
Nichts war mir fremd; ich grüßte
Uralter Heimat lieben Strand . .
Martin Otto Johannes ist kein Hesse nach der
Geburt. Aus diesem Grunde mag er wohl nicht
in Will Schellers Werk „Die heutige Dichtung
in Liessen" genannt iuorben sein. Seine Heimat-
wiege stand im Steinmeer der Sächsischen Haupt-
stadt. Aber lvenn je einer unserer hessischen Hei-
mat nahe gekommen ist und seine Saugwurzeln
tief in den Boden unseres Hessenlandes eingesenkt
hat, so ist es der geborene Sachse, der durchs und
durch Hesse geworden ist. Das herrliche Werratal
mit seinen burgengekrönten Höhen, den blütenge-
schmückten Hügeln, seiner reichen geschichtlichen Ver-
gangenheit, den träumenden Reizeir kleiner Land-
städtchen, das ist die Heimat des Dichters gewor-
den. Und diese neue — oder, mit des Dichters
Worten „uralte Heimat" — klingt und singt in
allen seinen Liedern und Werken wieder.
In dem Aufsatz „Zehn Jahre Verlagsarbeit"
(Erich Matthes, Leipzig 1923), ist ein kurzer Le-
bensabriß enthalten, der uns einigen Ausschluß
über die frühe Entwicklung des Lehrers Martin
Otto Johannes Rädlein gibt. Da heißt es:
„Ich stamme väterlicherseits aus Oberfranken,
von der Mutter her aus der Oberlausitz, und
wurde als erster Sohn meiner Eltern am 1. De-
zember 1887 zu Dresdew-Neustadt geboren. Mein
Vater, der als Kleinkaufmann nicht bestehen konnte,
schlug sich als Angestellter, später als Beamter
durch, tapfer unterstützt von meiner Mutter, deren
lebensvolles, frohes Wesen mir und meinen drei
Geschwistern eine ungetrübte Jugend schuf. Wir
lebten eingezogen und erfreuten uns an schlichte-
sten Genüssen. Die Ufer der Elbe und der Heide-
wald waren mein liebster Aufenthalt. Ich hatte
auch wenig Umgang mit Gespielen. Schon als
kleinster Knabe war ich oft und lange bei den
Pflegeeltern meiner Mutter in einem Forst hause
des nordsächsisch-lausitzer Tieflandes zu Besuch, was
unauslöschliche Eindrücke hinterließ. Später ver-
lebte ich fast alle Ferien bei dem „Großvater" in
der Lößnitz und Meißnergegend. Meine Schul-
lausbahn begamt in einer Dresdener Bürgerschule
und setzte sich auf der vorbildlichen höheren Bür-
gerschule des Ehrlichen Gestifts zu Dresden-Neustadt
fort. Ich lernte ohne Beschwer und ging damals
gern zur Schule. Der beschränkten Mittel wegen
vor die Wahl zwischen Beamten- oder Lehrerberuf
gestellt, entschied ich mich fürs letztere und besuchte
von 03—09 das Fletchersche Seminar. In dieser
Zeit legte ich mit wenigen auserwählten Freunden
den Grund zu meiner eigentlichen Bildung. Lehrer
wirkten nur in geringem Grade und vereinzelt
auf uns, desto mehr verdankteir wir auserlesenem
Schrifttum und Außerordentliches dem Verkehr in
Haus und Familie eines genialen Mannes. Ohne
vom Wandervogel weiter zu wissen, pflegten wir
diesen Lebensstil in Naturseligkeit und befestigten
121
uns im deutschen Wesen. Die Heimat in weiterem
Umfange und größere Teile Deutschlands wurden
erwandert. Meine erste Anstellung fand ich im
niederen Erzgebirge. Hier befestigte ich zu einem
ersten einen zweiten unlöslichen Lebensbund und
fand meine spätere Frau. Ich blieb bis 1913
dort, verheiratete mich und siedelte in gefühls-
mäßiger Wahl in das mir bis dahin unbekannte
Kurhessen über. Obgleich ich die alte Heimat liebte,
fand ich hier eine neue, mir mehr zusagende, die
unberührter und „deutscher" ist, wie mir scheint."
In Allendorf-Sovden hat der Dichter seine neue
Heimat gefunden. Der Heidewald und die Ufer
der Elbe, dazu die Ferien
in dem einsamen Forst-
hause! Die dort gewon-
nenen Eindrücke müssen
sich tief in des Jünglings
Brust eingegraben haben,
denn sie wirken immer
und immer wieder in Sin-
nen und Denken des
Mannes fort. Die Natur
mit allen ihren Wundern,
das ist der eine Pol, um
den sein Sehen kreist.
Hochwald, Sturmwind um
einsaine Herdeföhren, Son-
nenglast auf Steingrab-
hügeln, goldrispige Hafer-
felder, schweigende Kie-
fern, schwankende Birken,
braungeflügelte Wolken er-
greifen fein Innerstes und
zwingen ihn zu Bekennt-
nissen der Seele. Aus
dieser Liebe zur Natur
entspringt das Werk „Le-
ben in Einfalt" mit dem
Untertitel „Botschaft eines
Laienklosters zu Brans-
halde". Es ist ein Evan-
gelium für alle die, die
im Steinmeer der Stadt
sich selbst verloren haben
und die der Dichter zu-
rückführen will, daß sie
die Schwingungen der eignen Brust wieder hellhörig
vernehmen sollen. Die allernächste Umgebung sei-
nes neuen Heimatortes, der Meißner, gibt die
gedachte Jdealstätte ab, wo die Menschen reinge-
badet werden sollen, die „aus dem Schlackenofen
der Kultur" kommen. Ganz klein und mürbe sollen
sie dort gemacht werden, die Menschen, die all-
zusehr an ihrem eignen Ich gekrankt haben, sollen
in der Natur Fuß fassen, in den Heimatboden
Saugwurzeln treiben und immer genauere Ver-
bindung mit dem All-Leben treiben.
Rousseaus Geist weht uns an. „Nichts ist groß
oder klein, es kommt nur daraus an, was du
hineinlegst! Alle Überschätzung der technischen Ent-
wicklung muß zum Teufel fahren. Der Mensch,
der Mensch und abermals der Mensch steht im
Mittelpunkt der Dinge. Sie sollen ihm dienen,
aber nicht ihn auffressen. Lerne das Wesen selbst
begreifen deines Ichs, der Heimat, des Volkes',
der Stände!" So ruft er uns zu und alle seine
Werke verkünden: Zurück zur Natur, in ihr kannst
du gesunden.
Diese innige Heimatliebe durchweht auch den
Roman „Die Ukrainerin", der in Bad Sooden
spielt. Helläugig hat Martin Otto Johannes
während des Krieges in Feindesland die Seele
des fremden Volkes erkundet, innig seinen Lie-
dern gelauscht, sie im
fernen Ruthenenlande ge-
sammelt, Sprache, Klei-
dung, Sitten, Gebärden
und Brauch der Bewoh-
ner beobachtet. Als eif-
rigster Jünger seiner
Ideen offenbart er in
diesem Roman aus dem
Werratale mehr Kenntnis
mit dem Boden und sei-
ner geschichtlichen Ver-
gangenheit als mancher,
ja, die meisten seiner ein-
gesessenen Bewohner. Wer
dies Werk gelesen hat,
wird nicht mehr behaup-
ten wollen, daß Martin
Otto Johannes kein Hesse
sei; mit Stolz dürfen wir
ihn unter uns zählen.
Neben dieser tiefen Na-
turliebe und Sehnsucht
zu ihr ist es vor allem
die menschliche Seele,
deren geheimen Regun-
gen er bis in ihre un-
ergründlichen Tiefen nach-
spürt. Faustisches Seh-
nen, Gottsuchertum im
Menschen, der mit sei-
nem Schürfhammer Gold-
körner aus Bein und
Fleisch pocht.
Möchte die Welt durchdringen,
ihren Kreis mich rastlos mühend
spiegelnd in die Brust zu zwingen,
höchsten Lebens Kranz erringen.
So singt er im „Lebenslied", zu dessen Schluß
es heißt:
Ach, laß eines nur gelingen:
Den Menschen von der Sehnsucht singen!
Und ein anderesmal:
Viel lieber frei von Bleigewicht
den kalten Sturm im Angesicht
allein, auf weiter, harter' Heide,
doch der gewissen Zuversicht,
daß aufwärts, schwingenbreit zum Licht
die ungehemmte Wandrung leite!
Martin Otto Johannes.
122
Wohl selten finden wir in lyrischen Gedichten
so den Niederschlag eigenen tiefsten Empfindens.
So ringt er um der Menschheit höchste Ziele und
verborgenste Fragen. Ein Rufender, Suchender
und Verlangender! Vieles von seinen Arbeiten
ruht noch in seinem Schreibtisch, vieles dürfen wir
noch von dem in bester Mannesschaffenskraft
Stehenden erwarten. Wir wollen wünschen, daß
er uns noch recht oft aus den Quellen trinken
läßt, die in seiner neugewonnenen Heimat, unserm
lieben Hessenlande, rauschen. Von den bisher ver-
öffentlichten Werken lassen wir anbei die Titel
und den Verlag folgen. Desgleichen eine Probe
seines Schaffens. Nichts ist klein oder groß, es
kommt nur darauf an, was du hineinlegst! Das
steht ungedruckt über der Abhandlung „An eine
Dienstmagd".
An eine Dienstmagd.
Frei federnd schreitest du auf schlanken Schenkeln
und trägst den Leib gestrafft in starken, sanftge-
wölbten Hüften.
■ Unter dem steifen Kittel knospet dir zart die
Brust, eingezwängt vom Zuge eimerbelasteter Arme.
Hoch, gradaus blickt dein Angesicht, mit der
Unmutsfalte über der schmalen Nase, dem wider-
spenstig entringelten Roggenhaar und dem un-
wirschen Blau deiner Augen. —
So seh ich dich Tag für Tag, so früh wie spät.
Schon traten deine groben Schuhe ein gedrücktes
Kreuz quer über den Hos, vom Stalle zur Scheuer,
und aus der Küche zum Keller.
Du frohndest in derber Mühsal und seufzest
nicht; denn was verschlägt es dir?
Tu kennst nichts andres und bist gesund. —
Gesegnet preise sich, wer so der Arbeit begegnet!
Warum bist du nicht froh?
Was trällerst du nie für dich den Kehrreim
eines Liedchens? —
Weil. sie dich ärger halten als das liebe Vieh!
Dem tätscheln sie den Hals, dem gönnen sie
Koseworte; zu dir heißt's nur: Tu dies! Tu das!
Und läßt man sich zur Wechselrede herab, geht's
um die Teurung von Korn und Speck und um den
Ruß am Topfe.
Sonst kein ermunterndes Lob, nicht Nachfrage
nach dem Deinen, noch Widerhall.
Sie wissen bei sich selber, dem Erwerb ver-
pfändet, nichts von Seele; wie sollten sie die
deine ahneü und ihrer gedenken?
Fremd, wie du bist im Markte, kennst du nie-
manden, zu dem du dich gesellen möchtest.
Und wenn dir die Blesse vor ihrer Raufe mit
rauher Zunge die Hand beleckt, so ist's das einzige
Liebe, das dir widerfährt,
v Tu hast wohl Kost und Bett und Lohn, und
einen Sonntag um den andern freie Stunden . . .
Was hilft dir's aber?
Kein Mensch nimmt sich deiner an, der dich
Von den bisher erschienenen Werken seien genannt:
Die Urkrainerin. Roman aus dem Herzen 'Deutsch-
lands. Heimatschollen, Melsungen. / Goldes Fluch und
Segen. Heimatliches Sagenspiel von der Werra. Hei-
matschollenverlag. / Glaube. Gespräche mit Chören.
Verlag Erich Matthes, Leipzig. / Ernst von Mans-
feld. 'Ein Leben. Mit Holzschnitten. Matthes. / Weg-
sucherin Liebe. Tagebuchblätter. Verlag Matthes.
Erdlinde und der Wanderer. Eine Sage. Matthes.
Kriegsbeute. Ruthenisch-Ukrainische Volkslieder mit Lau-
tensätz. Matthes. / Adel verpflichtet. Roman. Matt-
hcsvcrlag. / Kreuz und Leiden. Ein Herbstbild. Der-
selbe Verlag. / Amadis. Verdeutschung von des Grafen
Gobineau nachgelassener epischer Dichtung in drei Bü-
chern. Ebenfalls. / Leben in Einfalt. Botschaft eines
Laienklosters zu Branshalde. Aufstieqvcrlag, Leipzig.
Morgendlich Land. Ein Maispiel. Greifenverlag Rudol-
stadt i. Th.
Arthur Adler.
Von Martin Otto Johannes.
zu deinem verschütteten Selbst hinführte und zu
seiner Erfüllung.
Gelangweilt räkelst du dich im Tor und an der
Ecke; du findest keine Gefährten, und keine suchen
dich.
Tann trollst du dich zum Fuhrknecht über die
Gasse, nach Umgang verlangend.
Sein Weib schaut schief nach dir; den achtlosen
Kindern bist du im Weg.
Tu bleibst so überflüssig . . . unbegehrt . . .
Sprichst du auch einmal mit und lachst du einmal
auf, so quält sich's heiser, unecht hervor, und ver-
zerrt nur deine reingezogenen Lippen . . .
Arme, unerweckte Seele! —
Denn du verdienst den Schatten nicht!
Du bist untadelig gesprossen wie ein Edelreis.
Und wenn du neben jener stehst, die man sich
erdreistet, deine „Herrin" zu nennen, der kleinen,
schwärzlichen Vogelscheuche, die auf schiefen Füßen
watschelt, verkünstelt, geschnürt, mit blödem Ge-
sicht nach ihrem einzigen, kümmerlichen Spröß-
ling äugend — dann wird mir offenbar, daß diese
Zeit die Ordnung der Vernunft verkehrt, wenn
sie den Menschen nach dem Beutel einschätzt, wenn's
hoch kommt, nach dem platt-gewitzten Kopfe, und
Adel zwingt, den Platz mit dem Bastard zu tauschen!
Wenn ich so zu dir spräche, Mädchen, du wür-
dest mich kaum verstehen.
Du würdest vielleicht mich hören, aber hinter-
drein die dumpfgefühlte Not mit verlegnem Lächeln
von deinen Schultern schütteln und denken:
Was er nun will? Der närrische Kerl! Er
ist wohl nicht klug! —
Daß ich dir nicht helfen kann! Das eben ist
das Verhängnis!
Ich weiß, woher du kommst, wohin du gehst
und wie du untergehen wirst . . .
Wie eine ausgezupfte Knospe seh ich's vor meinen
Augen:
Du stammst aus Hitgerode, zwei Stunden hinter
den Bergen.
123
Ich seltne das Dörfchen, ich sah es von der
Straßenhöhe beim Morgennebel zwischen den wal-
digen Rücken, gleichwie mit blassem Kreidestift zart
hingezeichnet, in einen Winkel des Wiesentales
geschmiegt.
Und als ich im Hohlweg durch die Feldflnr
hinanstieg, traf ich zwei alte Leute beim Roden,
gebückt, wie Wurzeln und rissige Weidenstümpfe
mit roter, steiniger Ackerkrume verwachsen:
Das waren deine Eltern!
Kleinbauern; ihr Gütchen liegt am Dorfbach,
allwo der Giebel des Schuppens mit ansgebro-
chenen Fächern fast ans die Gasse zu stürzen droht.
Armselig, eng die Hütte. . .
Der Rater, nach kurzem Jugendmut, verknorrt
in bissiger Plackerei; die Mutter rasch gealtert
in gleicher Fron, zu häufig gesegneten Leibes,
zerhetzt, nur noch ein sehniges Lasttier . . .
Das war das Heim, worin du mit einem Häuf-
lein Geschwister aufgewachsen bist, nach dem, was
in euch gelegt war, und wie es Gott gefiel; denn
Menschen taten wenig dazu. —
Und dennoch: ein Kind bleibt nie ohne Selig-
keit, wenn die Steingruft der Städte es nicht
umkerkert.
Tu lagst in Mutters geblümten, faltigen Trag-
mantel eingewickelt am Feldrain und gucktest mit
weiten Lidern in schwirrende Espenblätter über
dir. Ein Heuschreck sprang fürwitzig auf deines
Händchens Polster und kitzelte dich; da krähtest du
dein erstes helles Gelächter in den Wind.
Tie große Schwester rollte dich im Wägelchen
den Fußpfad hinab durch blühenden Klee.
Du spieltest mit flachen Kieseln und schliefst,
auf dein Ärmchen gelehnt, in greller Sonne ein.
Bald patschtest du selbst mit der Gerte den
Gänsen nach und fühltest dich wichtig im Hirtenamt.
Dann wardst du zur Schule geschickt und lern-
test ein wenig, so viel, als der Anstand erfordert;,
doch lag dir dies Wissen so fern!
Nein, Lehrer wie Pfarrer rührten nie an deines
Wesens Kern und wußten ihn nicht zu eröffnen.
Betreten zwar stockten sie manchmal unwill-
kürlich vor deinem jähen tiefen Blicke, in dem ein
königlich Geheimnis zu harren schien, auf daß es
gelüftet werde.
Sie aber verstanden sich nicht darauf.
Obwohl genugsam gelehrt und unterrichtet, hiel-
ten sie doch für gleich alles Menschenantlitz und
glaubten an Macht ihrer Kunst, zu erziehen.
Sie ahnten nichts vom Rannen des Blutes,
von eingeborenem Erbe, vom zaubrischen Wechsel-
spiel zwischen Innen und Außen, und wie dies
alles zu deuten.
Trum bliebst du Aschenbrödel für sie und dich
selbst, verkannt und umdämmert.
Nur dann erfaßte dich rührender Schauer, wenn
dir die Sage der Heimat erscholl von dem ver-
wunschenen Fräulein unter der alten Burg, und
wenn du im Lenz mit der Jugend des Dorfes
auszogst hin nach Frau Holles Stein, wo ihr
124
hinabstiegt in die grabeskältende Höhle, um Blu-
men als Opfer ins schwarze, reglose Wasser zu
werfen. . .
So träumtest du durch deine Welt, empfandest
vieles stumm, du dachtest wenig und sprachest man-
ches nach, befangen im kärgsten Kreise alltäglicher
Notdürftigkeit.
Tu wardst zur Wärterin deiner jüngeren Ge-
schwister bestellt, von denen vorzüglich dir eines
zugetan:
Die Schwester, die ich öfter bei dir gesehen,
dein kindliches Ebenbild mit fast noch reinerer
Haut und von noch blauerem Blicke.
Schon früh zum Schaffen gedungen, warst du
bald dem Ringe der seltnen Gespielen entwunden.
Die Einsegnung kam, und barscher heischte die
Arbeit ihr Recht.
Sie stählte deine jungen Flechsen und riß dir
die Hände harsch.
Steinschwer umfing dich der Schlaf, und nie
entschwang sich dein Sinnen aus seinem Gefäng-
nis. —
Zu viele Mäuler, am Tisch, griesgramte der
Vater.
Ta tat sich Mutter um und fand dir den Dienst
im Städtchen, den du noch heute versiehst.
Hier war sonst öfterer Wechsel im Schwang:
die Frau galt als böse Sieben.
Doch deine kräft'ge, geschickte Hand und deine
treue, schweigend große Geduld befestigten dich als
begehrt; sie nutzen dich aus.
Was aber wird, ferner geschehen?
Tu bleibst wohl jahrelang hier; vielleicht auch,
wenn sie dich zu schnöde plagen, gehst du vom H>of
und wechselst Stelle nach Stelle, um's selten besser
zu finden.
Du wirst allmählich klüger auf eine ärmliche
Weise: du duldest den Umgang torhaft einfältigen
Volkes.
Sie schleppen dich auf den Tanzboden mit . . .
Bis einst ein gleichgültig roher Bursche vorüber-
streicht, dem deine stolze Feinheit in die Augen
sticht.
Er reißt dich frech an sich, und in dem unge-
wohnten Taumel, daß dir jemand nahe kommt,
— du hast ja weder Kunde noch Erfahrung —,
vergißt du dich, gehst dir verloren, und dein Bestes
ist dahin, wie man den Silberreif von einer Traube
wischt.
Nun schwillt das gebrannte Herzeleid. . .
Sie schicken dich vom Dienst. Daheim ist Pol-
tern und Fluchen.
Geht alles, wie die Nachbarn es verstehen, noch
gut, so taucht der Deine aus und feilscht mit deinen
Eltern lärmend um das Hochzeitsgut . . .
Tann spannt ihr euch zusammen.
Vielleicht erhaschst du ein paar Sommerblicke
wie von Glück und Liebe, im Rausche sinnlicher
Lust . . ., wenn du dein Erstgeborenes an den
Brüsten wiegst . . .
Doch zeitig, fröstelnd ivälzen sich Winternebel
heran.
Ter Mann ist säumig, unbeständig; im For-
dern eifriger als im Gewährenlassen . . .
Dein Haus zum Heim zu wandeln, fehlt's an
allen Ecken.
Die Last der Nahrung liegt auf dir.
Die Kinder zehren zu hart au deinen Kräften
iimb vergelten, dem Vater nachgeartet, Mutter-
sorge mit Entfremdung.
Kleinliche Plagen in Menge, schließlich gar
Krankheit umwölken deine Straße.
Vorzeitig entblättert starrst du wie ein kahler
Baum im Spätsommer, der schon sein Laub ver-
lor, ehe er dessen bewußt gewesen, mitten unter
noch üppigen Kronen des Hains.
Zermürbt, verlebt mühst du dich weiter, bis
deine Brut flügge geworden und ausgeflogen.
Leer geplündert bleibt ihr Alten zurück.
Dann pflegst du wohl den mürrischen Mann
zu Grabe, und, nur geduldet im Haushalt irgend-
eines Kindes oder Schwiegerkindes, ersehnst du
dein Ende, das dir spät nach eitel Mühsal, Qual
und Schmerzen und spärlicher Freude gedeiht, ein
farbloses Leben besiegelnd, das seinem Keime nach
alles werden, zu hoher Vollendung reifen konnte,
hätt es den rechten Wurzelgrund erbohrt, — und
das nun in Nichts zerfloß. —
Wie drückt mich diese Voraussicht!
Ich wünsche dir nichts von dem, was mir
schwant.
Doch fürcht' ich, es möchte sich unversehens
ähnlich wenden.
Denn die gemeine Regel gilt tausendmal für
eine gesegnete Ausnahme wider sie.
O, wenn ich wüßte, wie ich dir helfen könnte!
Wenn ich verpflanzen dich dürfte, mit Ballen
und Stamm und Blatt und Blüte, in einen Garten,
wo edle Menschenknospen Umhegung fänden!
Wo alles, was uralten, werten Erbes Sonnen-
siegel auf der Stirn trägt, geborgen wäre und
nach ihm innewohnendem Gesetze sich offenbaren
und auffalten könnte!
Wo es Befruchtung empfinge, die ihm gemäß,
ans daß es in seinen Sämlingen einen Grund zul
neuen, schöneren Wachstums-Welten schüfe!
Ja, Mädchen, wenn ich dein lichtes Haupt, von
deinem freidigen Wüchse getragen, erschaue, so kann
ich nicht stille schweigen und dich dem trostlosen
Ungefähr überlassen; so darf ich nicht müßig stehen,
das Unzulängliche schleichend dich verstricken zu
sehn. . .
Ich will mich aufmachen und ein Land er-
kunden für dich und deinesgleichen!
Will suchen ein Reich, wo solche wie du nach
ihrem Anschein und Gehalt erkannt, wo sie zu
dem beflügelt werden, lvas ihnen zu erreichen be-
stimmt ist!
Eine Burg für das unschätzbare Kleinod deiner
erbschweren, keuschen Jungfernschaft, auf daß sie
nicht dem blinden Zufall verschleudert werde gleich
einem Spielwerk, Tand oder Ware des Marktes!
Wo sie den Einen, der ihrer würdig, fünde,
der ihrer verborgenen Sehnsucht Stern, der sie er-
kennt und zum Höchsten weiht, dess' sie mächtig:
zur Mutter von Helden, von Heiligen und Götter-
söhnen!
Eine Feste der reinen Zeugung, der unbefleck-
ten Empfängnis, ivo nicht die Narren, die Taug-
und Tngendlosen, die Ungewillten, die nur ums
Glimmen ihrer geringen, dunstigen Lüftchen bangen,
beladen iverden mit dem Werke aller Werke: lust-
vollem Gebären, das sie verabscheuen, das sie fürch-
ten, weil sie wohl fühlen, daß sie nichts weiter-
zureichen haben ins Dämmer der Zukunft, und
ihresgleichen nichts bedeuten fürs ewige Sein!
Suchen will ich für euch, ihr wahren Erden-
kinder, heil an Seele und Leib, den Hort des
strömenden Lichtes, der schöpfrischen Liebe, des
himmelanstürmenden Lebens, empor, empor über
Nacht und Bosheit und Tod zum lebendigen Gott!
Und hab ich dies Land gefunden, dann will ich
vor dich treten, Mädchen, und dich freundschaft-
lich bitten, daß du die Füße dorthin lenken mögest.
Tu wirst zwar nicht begreifen, was es soll, und
ivas da deiner wartet, allein du wirst deni werbenden
Rate vertrauen, den eine innere Stimme in dir
mit Macht bekräftigt.
Und kommst du ans Ziel, dann wird ganz leise,
zaghaft, allmählich deine wahre Seele erwachen,
ein Schauspiel, ergreifender als Aufgang der Mor-
genröte!
Du wirst erfassen, was du bist, was in dir liegt,
und was du aus dir bewegen kannst!
Du wirst Ja sprechen zu deinem Geschick, und
wenn es das Schwerste fordert.
Du wirst es so schlicht und ivillig auf dich
nehmen und tragen wie einst deine Knechtschaft!
Tu wirst Vollkommenheit des Weibtums schmek-
ken und den Gipfel seines Glückes in Wahrheit
erklimmen, und segnen, die dich geleitet haben
aus trübem Dunkel hinaus in den Tag ganzer
Menschlichkeit! —
Ich grüße dich, Tienstmagd, heut noch in dump-
fer Niedrung.
Einst sollst du frei und groß über Höhen schreiten,
Magd Gottes!
♦ Vergilbten Blättern nacherzählt von Martin Otto Johannes.
Ein Mensch ist nur das Gliedchen einer unaus- nach ihm ab; dann ist seine irdische Spur ans-
denkbar langen Kette, die sich aus dem Dämmer der gelöscht wie der Tritt einer Lerche im Wegstaub,
Urzeit herauf durch das Licht der vergehenden wenn der Wind ihn verweht hat. Bald leitet sie
Tage schlingt. Bald reißt sie mit ihm oder kurz ohne Lücke und Ende weiter; dann vermag des
125
Ahnen Blut und Wesen noch in fernsten Kindes--
kindern lebendig zu tvirken. Derlei Unsterblichkeit
gilt schon hoch; von Wenigen nur bleibt mehr
zurück, sei es eine besondere Tat, sei's allein ein
nachdenklich Wort.
* * *
Da ist Herr Cyriax Eitel gewesen, ein Ritter
vom löblichen Geschlechte derer von Hutten; zu
Sannerz war sein Sitz. Was melden die alten
Papiere von ihm? Daß er sich im Jahre 1615
mit denen von Hanau eines Waldes zu Großen-
schlinglof wegen verglich; daß er viele Jahre hin-
durch einen Streit verfocht um die Kirche zu Ram-
holz . . . Aber was sagt das über seine Art?
Mehr als aus noch so vielen dürren Angaben läßt
sich aus einem Bekenntnis entnehmen, das er selbst
ablegte. Es ist eine Stelle seiner Briese über er-
wähnten Streitfall, da schaut der ganze Mann
heraus, grüblerisch, eigenwillig, selbstsicher, wie er
gewesen sein mag, vielleicht mit einem artigen
Schelm im Nacken, wenn er dort schreibt: „Er halte
dafür, daß der rechte, wahre Glaube noch nicht auf
der Welt sei, und daß, wenn dieser käme, alle
Menschen ihn annehmen müßten; darauf wolle er
mit den Seinigen warten". —
O du liebe Seele! Das war nicht unklug ge-
sprochen. Wir harren dessen nach heute.
* * *
Hoch Rühmliches berichten Urkunden und Jahr-
bücher von deni edlen Herrn Hermann Riedeseb
zu Eisenbach. In mancherlei Kriegsläuften be-
währt, doch lieber in Werken des Friedens, stand
er unbeirrt zu den Landgrafen von Hessen. Er
mehrte das Erbgut seines Stammes aus geringen
Anfängen zu reichem Besitze, der seine Nachkommen
für Jahrhunderte förderte und trug. Er gedachte
auch seines Seelenheils in eifriger Übung und Vor-
sorge, und als er, an die achtzig Jahre alt, im
Jahre 1463 das Zeitliche gesegnet hatte, besiegelte
der Deckstein seiner Gruft in der Liebfrauenkirche
zu Schotten ein löblich und fruchtbares Leben, das
ihn unter die Ersten der hessischen Ritterschaft
erhob. Ein treuer Mann, ein Freund des Rechtes,
der oft zur Schlichtung von Streitigkeiten berufen
wurde und selber, ein Wunder für seine Zeit,
niemals in eigener Fehde zu Felde lag, ein um-
sichtiger Haushalter: so läßt sich sein Wesen er-
ahnen. Noch deutlicher Zeugnis von seinem ade-
ligen Sinne, vom Wissen um die Pflicht des
Führers und Herren, legt ein Wort ab, das er den
Einsassen des Gerichtes Schlechtenwegen gegen-
über äußerte, als sie ihm, nachdem er jenes im
Jahre 1429 zu Lehen empfangen, auf einem Berge
bei Fischbvrn geschworen hatten. Da entließ er
sie in Hulden mit diesen Worten: „Gehet heim,
ihr Männer! Und behütet euch vor den Wölfen;
vor Feinden will i ch euch behüten!" —
* * *
Mancheiner scheint sein Leben nur zu durch--
brausen, damit er auf seinem Sterbebette erkenne,
126
wie es verkehrt und verloren gewesen. Des zum
Belege stellt sich ein anderer Hermann Riedesel
dar, ein Sohn jenes verehrungswürdigen älteren
Hermanns, von dem wir vernahmen. Hermann
der Jüngere, samt seinem Bruder Georg, zer-
störten das meiste von dem, was ihr Vater aus-
gerichtet hatte. Ihr Dasein war stetige Fehde
und Widerfehde, Kriegsverlust aus eigene Hand
und im Dienste ihrer Fürsten, Entäußerung ihrer
Güter, von denen sie ein Stück nach dem andern
versetzten, verpfändeten oder verkauften, so daß
Hermann im Jahre 1501, als er ans Sterben kam,
in Schulden schier vergraben lag. Doch eines hebt
ihn hervor: Er belog sich nicht selbst über seinen
schlimmen Zustand und hielt sich nicht für würdig,
ein Beispiel zu sein. Es mochte ein beizendes
Lächeln deutlicher Einsicht, gerechter Abwägung,
aber auch trotziger Selbstbehauptung um seine harten,
zerrissenen Züge irren, als er seinen Enkel Jo-
hann an sein letztes Lager rufen ließ, ihm seinen
guten Degen in die Hand darreichte und dazu sprach:
„Hänschen! nimm hin mein Schwert und erwirb
so viel damit, als ich verloren". — Das war ohne
Trum und Dran die Summa gezogen, bitter, aber
ehrlich, und so konnt' er füglich vor Gott treten.
Der wird ihm ein billiges Urteil gesprochen haben.
* * *
Als der Abt von Fulda gesonnen war, die Stadt
Hersfeld wegen ihres Stolzes zu züchtigen, hatte
er auch den Adel aus der Nachbarschaft dazu auf-
geboten. Unter diesem Bunde war auch Simon
von Haune. Es ward mit großer Umsicht und
Heimlichkeit auf den Abend des 28. Aprils 1378
ein Überfall verabredet, der dazu angetan gewesen
wäre, die ahnungslose Stadt zu vertilgen. Da
schlug Herrn Simon das Gewissen; denn er war
ein rechtlicher Mann. Er gedachte der Gunst und
Neigung, die er von den Bürgern oftmals genossen
und die ihn zur Dankbarkeit verpflichtete. Dazu
verschlug es ihm gegen seine Ehre, die -Gegner
hinterlistig gleich einem Strauchdiebe zu überraschen,
so daß er noch am selben Tage, an dem der Kampf
beginnen sollte, den Bürgern nach altem Brauch
und Rechte einen ehrlichen Fehdebrief übersandte
des Inhalts:
„Wisset, ihr von Hersfeld, daß ich, Simon von
Haune, Ritter, euer und der eueren Feind sein
will, mit allen meinen Helfern und Bundesgenossen,
und will euch nach Leib, Ehr und Gut stehen, und
will das diese Nacht tun. Darnach habt euch zu
richten. Gegeben unter meinem Jnsiegel auf St.
Vitalis Abend, A. D. 1378."
Das mochte nun dem Abte und den anderen
Herren recht sein oder nicht, Simon hatte getan,
was er sich schuldig war. Und wenn die Stadt dabei
gerettet wurde, so war's nur billig, denn es stan-
den sich die Gegner mit gleichen Waffen gegenüber.
* *
Wer Führer sein will, der prüfe sich, ob er fähig
dazu sei; er erkenne seine Pflicht und lasse sich
nicht daran mahnen.
Als Herr Frowin von Hutten und Philipp von
Thüngen im Jahre 1472 mit Otto, Grafen von
Henneberg, in Fehde geraten waren, hatten die
Henneberger aus Rache für erlittenen Schaden
den Joßgrund verwüstet und waren mit großer
Beute abgezogen. Auf die Hilferufe der Bauern
hin eilten die Ritter nebst verschiedenen hanauischen
Amtleuten herbei, boten das Landvolk auf und
verfolgten den Feind eilenden Fußes. Anführer
war als Ältester Herr Philipp von Eberstein zu
Steinau. Sie hielten sich den Joßgrund abwärts,
überschritten die Sinn und stießen bis ins Tal der
Fränkischen Saale vor. Da gelangten sie unweit
Frankenborn an die Hennebergische Grenze. Mit
Ungestüm drängte der Haufe vorwärts. Aber Herr
Philipp gebot Halt und riet mit wohlgemeintem
Bedacht und aus gewichtigen Gründen, den Zug
nicht weiter fortzusetzen, indem er sprach: „Ihr
Männer, laßt uns umwenden, wir ziehen keinem
Edelmanne, sondern einem Grafen ins Land!" —
Da kam er bei den Bauern übel an. Die waren
nicht des Sinnes, ihr Gut, das ihnen geraubt
worden, so leichten Kaufs dahinzugeben, während
ihnen die Hoffnung, es den Feinden wieder abzu-
jagen, noch nahe vorschwebte. Deshalb murrten sie
wider Herrn Philipps Vorschlag und schrieen voll
Zornes: „Das muß sich Gott erbarmen, daß wir
das Unsrige verlieren sollen; der Adel will
nicht vorrücken!"
Dies Wort traf denn die Ritter, die bei dem
Heere waren, und sobald Herr Philipp von Eber-
stein es vernommen, beschwichtigte er die Kläger
und entgegnete ihnen gelassen: „Nun wohlan, einem
andern ist der Bauch so weich als mir!" Damit
gab er seinem Rosse die Sporen. Die übrigen
Edelleute sprengten mit ihm voran, und das Auf-
gebot des Fußvolks rückte, zufrieden über den Fort-
gang, mit frischem Mute hinterdrein.
Zwar nahm es hernach ein übles Ende, doch
das lag im Verhängnis der Dinge und lief nicht
wider die Ehre.
* * *
„Da war auch noch Zucht und Ehre unter dem
Adel, und manch reisiger Knecht ward da gezogen
und redlicher Taten geübt, denn jetzund mancher
Edelmann; denn jedermann fürchtete die schnelle
Strafe . . . Solcher Ehre pflegte der Adel, da
stand es wohl und war auch noch gut strafen, denn
man da spricht: Wo Strafe ist, da ist Zucht, und
wo Friede ist, da ist Gott!" So sagt der Chronist
von den Zeiten des Ritters Simon von Wallenstein,
der als Freischöffe der heimlichen Fehme ein
rasches und furchtbares Richteramt übte, wenn er
die Räuber verfolgte und die Schänder weiblicher
Unschuld zu besserer Kennzeichnung an weißen
Schleiern aufknüpfen ließ. Er selbst hielt sich da-
nach, daß er Anspruch auf solches Amt erheben
durfte, und wer neidete ihm nicht die Anrede, mit
der ihn der Kaiser als „den edlen, unsern und des
Reiches lieben Getreuen" auszeichnete!
Im Jahre 1402 hielt Kaiser Ruprecht Hof-
lager zu Hersfeld von St. Matthäitag bis St.
Michaelistag. Da strömten viele Fürsten und Edel-
leute herbei, unter ihnen auch Simon von Wallen-
stein als Kriegshauptmann der Stadt Hersfeld,
der seinen Einzug, er mit seinen Dienern alle
weiß gekleidet, auf achtzehn grauen Hengsten hielt.
Als ihn der Kaiser höchlich ehrte und an seine Tafel
lud, flüsterte ein Neider in der Gefolgschaft eines
Fürsten: „Wie pranget der von Wallenstein so
hoch! Ich habe ihm wohl vier Pferde genommen
und flog nicht ein Vogel darnach !"
Diese Rede ward Herrn Simon hinterbracht;
der horchte hoch aus und sprach rasch: „Hätte er
geschwiegen, so wäre er mir unbekannt geblieben;
haben keine Vöglein darnach geflogen, so sollen
nun große, schwarze Raben nach ihm fliegen!"
Und er ließ ihn alsbald ergreifen und, nachdem
er gestanden, an einen Baum aufhängen.
* * *
Im Jahre 1420 zogen die deutschen Fürsten,
darunter Landgraf Ludwig von Hessen, gegen die
Hussiten. Herr Simon von Wallenstein bereitete
sich auch zu diesem Zuge und folgte seinem Landes-
herrn mit fünfzig reisigen Pferden und wackeren
Knechten, mit Wagen, Harnischen und Spießen,
die er mit großen Kosten ausgebracht hatte, wie
er meinte, „mit dem Vorsatze, sein Leib und Leben
um Christi Willen an die Ketzer zu setzen". Jedoch
kamen dem Heere unterwegs schlimme Gerüchte
zu Ohren, wie die Feinde unwiderstehlich vorge-
drungen und viele Fürsten und Herren in Nachteil
geraten wären. Dazu brach Krankheit unter dem
Haufen aus, und üble Vorzeichen erschreckten die
Führer, daß in vielen sich das Verlangen regte,
wieder heimzukehren. Es fanden sich etliche Ritter,
die das Heer in diesem Sinne bestärkten, so daß
zuletzt auch der Landgraf ihrem Rate beitrat.
Da schoß Herrn Simon die Galle ins Blut.
Er trat mit dem Helm in der Hand, die Stirne
zornig gerunzelt, zu den Obersten und sprach:
„Dieses Unbestandes und Wankelmütigkeit hättg
ich mich in diesem Werke und diesmal gegen die
Herren nicht versehen. Wie will man um besorg-
ter Gefahr willen und um der Haut zu schonen
sich nicht an den Feind wagen?! Was will man
denn um des Glaubens willen tun? Ich wollte,
daß man fortgefahren hätte, und wenn ich mit
den ungetreuen Obersten hätte bleiben sollen; wenn
ich dann nur in den letzten Todesnöten das Panier
in die Hände meines jungen Enkels hätte reichen
können, aus daß er als ein freudiger Ritter fürder
um den Glauben wider die Ungläubigen stritte!"
Als ihn der Landgraf hierauf fragte: „Simon,
du meinst uns doch nicht?", erwiderte er frei:
„.Herr, ich meine alle feigen und geizigen und
untreuen Obern, die um ihres Geizes willen diese
Reise gewandt haben. Hatte auch meine Hoffnung
dahin gesetzt, entweder ehrlich tot zu bleiben und
127
nicht wieder heim zn kommen, oder meine Faust zu
merklichem Abbruch des Feindes rühmlich zu ge-
brauchen."
So war sein .Herz erleichtert und die Ehrenfrage
reinlich entschieden, wenn es auch nichts half und
er sich fügen mußte.
* * *
Jener Enkel, der Herrn Simon von Wallen-
stein auf dem Hnssitenzuge begleitete, trug beit
gleichen Namen wie sein Großvater und ivar ihm
nicht unebenbürtig, wovon sein Zuname „der
Stolze" und mancher Bericht über seine Taten
zeugt. Seine ritterliche Tugend stach besonders
in einer Angelegenheit hervor:
Durch seine Mutter, eine Erbtochter von Buche-
nan, hatte er Ansprüche ans die Güter dieses Ge-
schlechtes erworben. Während nun ein Teil derer
von Buchenau gewillt war, ihn in ihre Ganerb-
schaft aufzunehmen, >var eine andere Partei unter
ihnen dagegen. Somit war der Keim zu Krieg und
Fehde gelegt, und beide Seiten warben Anhänger
unter der Ritterschaft. Sogar die Fürsten griffen
in den Streit ein, denn Simon war der Marschall
und Vertraute des Landgrafen Ludwig zn Kassel,
während dessen Bruder Heinrich zu Marburg sich
den Gegnern Simons zugesellte.
So geschah es eines Tages im Sommer des
Jahres 1468, daß sich unter Trompetenschall die
feindlichen Herolde nach Buchenau begaben und
daselbst nicht weniger als vierzehn Fehdebriefe aus
einmal abgaben. Herr Simon von Wallenstein
war freilich nicht daheim, aber seine wohledle Ge-
mahlin, Frau Margarethe von Dalwigk, und En-
gelhard von Buchenan wußten, was sich der Sitte
gemäß geziemte, und bewirteten die Herolde reich-
lich mit Speise und Trank. Manch anderem wäre
bei solcher Lage der Dinge das Herz entfallen,
nicht so Herrn Simon, als er vom Hoflager seines
Fürsten nach Buchenau zurückkehrte. Er vernahm
die Neuigkeiten sonder Furcht und Zagen, wie es
sich für einen Ritter seines Geschlechtes gebührte,
und auf die vierzehn Fehdebriefe entgegnete er mit
.großer Gelassenheit: „Es sei ihm leid, daß ihn
jene Herren befehden und hassen wollten, denen
er allezeit zn Diensten bereit gewesen sei, doch so
müsse der Knecht oft seines Herrn entgelten und
mit genießen; sie sollten nur nicht verzagen, das
könnte nicht allein mit Briefen zugehen, denn da
gehöre mehr zu, als ein Paar rote Schuhe zum
Tanze. Würde nur Landgraf Heinrich abstehen,
vor den andern würde ihm nicht bangen; doch
wolle er Gott walten lassen."
Seine Zuversicht betrog ihn nicht. Die Feinde
mußten die Belagerung seiner Burg, zu der es
schließlich kam, unverrichteter Sache aufgeben, und
die Chronik erzählt von ihnen: „Sie machten sich
davon wie die Hallgänse, die sich verirrt haben,
und einer klagte dem andern seine Unfälle. . ,
und zogen also heim mit ihren Senfmühlen."
* * *
Ein edler Mann wird niemals einer Frau die
Ehrerbietung versagen, die ihr gebührt, wenn sie
in dem Reiche ihrer Weiblichkeit verharrt. So-
bald sie aber die Schranken überschreitet, die sie sich
selbst ziehen muß, wird auch der Zarteste nicht an-
stehen, sie zurückziüveisen. Denn nur im ihm Ge-
mäßen reift jedes Menschen Vollendung.
Ein Mann und Held durchaus war Konrad von
Wallenstein, in vielen schwersten Kämpfen erprobt,
bis er von Kaiser Maximilians Hand in der Dom-
kirche des eben eroberten Stnhlweißenbnrg zum
Ritter geschlagen wurde. Gleicherweise treu wie
tapfer, errang Konrad auch das innigste Vertrauen
seines Fürsten, des Landgrafen Wilhelm von Hes-
sen. Als dieser in schweres Siechtum verfiel,
wandte er sich also an seinen Ratgeber: „Konrad,
wir haben manchen Weg mit einander gereiset.
Weil wir nun fühlen, daß wir sterben werden,
so wollen wir die Reise bis gen Marburg znni
Grabe auch mit einander tun und bitten dich, daß
du unsere Seele, Weib und Kinder, Land und
Leute, desgleichen unsern Bruder und dessen Weib
unb Kinder im Befehl haben und das Beste tun
wollest, als wir zu dir, das zuvor andern, Ver-
trauen haben. Denn du bist mit sonst sieben unserer
Räte von uns zum Vormund erwählt und ge-
setzt. Doch du als oberster über alle, als alleiniger
Regent."
Und Konrad hätte dies Vertrauen gewiß nicht
enttäuscht. Aber die Landgräsin Anna von Meck-
lenburg, von Herrschsucht gepeinigt, wußte zwischen
ihren Gemahl und seine Günstlinge Mißtrauen zu
säen, so daß er sie verwarf und gar vor anderen
Fürsten mit harten Beschwerden verklagte. Da
Ivar es kein Wunder, daß Herr Konrad von Wal-
lenstein, der das Land ob dieser Weibsqnertrei-^
bereien in Unfriede und Zwiespalt sah, nach dem
Tode seines Herrn im Jahre 1509 ans dem Land-
tage am Spieß mißmutig ausrief: „Man müsse
eher im Blute bis an die Sporen ivaten, ehe man
sich einer Frau unterwürfe!"
* * *
Der Junker Heinrich von Banmbach war ein
eifriger Diener seines Landesherren, des Land-
grafen Philipp von Hessen. Nachdem er diesem
sonderlich ans den Zügen gegen den Herzog Hein-
rich von Braunschweig seinen tapferen Arm ge-
liehen, ward er im Jahre 1542 zum Amtmann
über die braunschweigischen Ämter Fürstenberg,
Holzminden und Wickense bestallt, worin er sich
so wohl bewährte, daß ihn der Landgraf mit wich-
tigen Sendungen betraute. So ging er einst nach
England und im Jahre 1546, vor Ausbruch des
Schmalkaldischen Krieges, an die schwäbischen
Städte, um sie als Bundesgenossen zu gewinnen.
Als er während dieser eiligen Reise auf der Fahrt
gen Ulm war, erlitt seines Knechtes Gaul einen
Schaden am Fuße, so daß Junker Heinrich den
Diener in einem Dorfe zurücklassen mußte. Da er
sich des Unfalls wegen versäumt hatte, hielt er's
für nötig, die Nacht durch zu reiten, und blieb.
128
also int Sattel. Indes sein Roß sich im Dämmern
den Weg suchte, gingen Herrn Heinrich mancherlei
Gedanken über sein Geschlecht durch den Kopf, und
nicht durchaus erfreuliche. Er gedachte seines Va-
ters Jost. Der war ein weidlicher Ritter gewesen,
dem stets zehn Pferde auf der Streu gestandet
hatten, bereit zum Auszug. Er war sogar wäh-
rend der Minderjährigkeit Landgraf Philipps Mit-
regent geivesen, freilich in den Sturz der Regent-
schaft durch Landgräfin Anna verwickelt und seiner
Güter verlustig erklärt worden. Doch war dieser
Unfall schon längst wieder verglichen, und wackere
Söhne hatten seilt Erbe angetreten. Wo waren
sie aber geblieben? Herr Heinrich sah nur noch
seinen Bruder Ludwig neben sich, der gleich ihm
bisher unverehelicht geblieben war. Die anderen
Brüder barg die Gruft: Asmus, der gegen die
Wiedertäufer vor Münster geblieben war, Jost,
den fröhlichen Sänger und gewandten Fechter, der
so stark von Leibe gewesen war. Noch stand auf
der Brücke zu Tannenberg der Stein von andert-
halb Zentner Gewicht, den er mit einem Finger
hoch gelüftet hatte. Der Ritter aber war längst
durch geringfügige Ursache zu Tode gekommen: er
hatte sich im Harnisch nach etwas zu Boden Ge-
fallenen gebückt und unheilbaren Schaden dabei
genommen.
Nun war noch die Vetternschaft. Herr Heinrich
gedachte auch ihrer nicht froh. War doch sein Ohm
Erasmus nach langem redlichen Leben lvie vom
bösen Geiste geplagt in unbegreifliche Verirrung
gefallen und hatte als Dreiundsechzigjähriger int
Kerker geendet. , Von seinen Söhnen stand Jost
als starrer Anhänger der alten Lehre zu seinen
Gesippen in unversöhnlichem Widerspruch, und seine
Brüder Hermann und Adam schlugen sich im Kriegs-
dienste in aller Herreit Länder herum. Wer aber
verbürgte dem Geschlechte Dauer? Glich nicht
seine Bedrohung der ganz Deutschlands in dieseit
Jahren? —
Unter solchen Gedanken war Junker Heinrich
von Baumbach an eilten Kreuzweg gekomuten, an
dem eine blitzzerspellte Eiche emporstarrte. Daneben
war ein Triesch, dessen Gerölle wie gebleichtes
Gebein leuchtete. Es mochte gegen Mitternacht
sein, und Herr Heinrich beschloß, seinem Gaule
etwas Ruhe zu gönnen, halfterte ihn ab und ließ
ihn weiden. Er selbst setzte sich an den Baum-
strunk und nickte vor Übermüdung ein wenig ein.
Da spiegelte ihm sein erregtes Gemüt absonder-
liche Wahnbilder vor. Er fuhr jählings auf ulld
sah vor sich zwei greuliche Gestalten: ein zottiges
Ungetüm auf zwei Füßen, und eine Larve mit
grünlich verwesten Zügelt. Er kannte sie alsbald
für Teufel und Tod. Sie wiesen grinsend auf ihn,
aber er vermochte weder Zunge noch Glied zu
rühren. „Wer ist dieser?" nickte der Tod. Der
Teufel gröhlte: „Das Hennerchen von Baumbach!
Macht sich Sorgen um seine Sippe! Wir.wollen
ihn einmal in die Zukunft blicken lassen!" Als-
bald sah Junker Heinrich wie im Schattenbild
die ivohlbekanntelt Räume zu Tannenberg vor sich,
auch menschliche Schemen, die er als seilte Vettern
Hermann und Jost erkannte. Hermann saß in
seiner Stube, hatte ein Buch vor sich aufgeschlagen
und bewegte den Mund wie im Gesang. „Was
heult denn der?" fragte der Tod. „Was ganz
Frommes", greinte der Teufel; „Ach Herre Gott,
dein göttlich Wort ist lang verdunkelt blieben."
Jetzt sah man Jost lvie im Zorne herbeieilen, er
drang bei dem Bruder ein, sie gerieteit aneinander,
ein Dolch blitzte in Josts Faust, und Hermann
sank neben seinem Stuhle hintenüber . . . Hein-
rich wollte schreien, er brachte keinen Ton hervor.
Der Teufel höhnte: „Der eine ist lutherisch, der
andre papistisch! So hetzt man die teutschen Bestien
aneinander und macht sie unschädlich! Der unterm
Baume ist auch auf dem Wege; er wird nichts
Gutes ernten? Und wenn das eine Widerspiel
nicht mehr zieht, sei unbesorgt, ich werde neue zu>
erfinden wissen, mehr als genug!" — Der Schat-
ten der Burg tauchte wieder aus, torkelnde Ge-
stalten ringen mit einander, taumeln zur Treppe
herunter auf den Hof, einer trügt eine Büchse, dev
andere schlägt ihm mit der Degenscheide über bett
Arm, jetzt zieht er blank, der erste hebt das Ge-
wehr, Pulverdampf quillt auf, jener wälzt sich
am Boden . . .
Junker Heinrich schaute mit entsetzten Augen.
„Das ist auch ein Heinrich, der sich da fühlt,"
sagte der Teufel, „ein Nesse von dem da, und
der Trott, der ihn niederstreckt, der wird meirt.
Was so ein Weinchen nicht schasst! Darin braucht
niemand diese Teutschen zu bestärken, im Fressen
und Saufen arbeiten sie mir genug in die Tatzen!"
Das Bild des Schlosses zerfloß, ein Ritter eilte
hin und her, das Schwert schwingend. Bald dieses,
bald jenes Banner leuchtete über seinem Haupte
auf, verwirrte Schlachtauftritte ballten und wan-
delten sich wie Wolken. . .
Der Tod fragte: „Was soll das bedeuten?"
„Wieder ein Vetter von dem da," entgegnete der
Teufel, „treibt sich in aller Herren Sold durch die
Welt und verblutet sich so. Darin sollen sich die
lieben Teutschen noch weidlich üben, denn ich hasse
sie als gefährliche Gegner. Hinaus in die Welt
mit ihnen, als Krieger, als Bauern, als Sklaven!
So bin ich sie los und liefere — Völkermist!" —.
„Wer ist aber das," fragte der Tod, „der dort
hinten über die Ackerschollen schreitet?" — „Ein
alberner Duckmäuser," erwiderte der Teufel ärger-
lich, „der sich um nichts kümmert, auf seiner Hand-
voll Boden klebt, seine Rüben baut und ein end-
loses Gezücht von widerlichen Flachsköpfen zeugt."
— „Daß der dir nicht die Rechnung verdirbt,"
höhnte der Tod, „er riecht so nach Grün und
Wachstum!" — „Er kann das Ende hinziehen,
aber nicht aufhalten," trotzte der Teufel, „ich werde
auch ihm ein Bein zu stelleit wissen, oder ich will
mich selber holen!"
Mit diesen Worten fuhr er lvie ein feuriger
Streif davon, der Tod versank im Nebel, und
129
bte Nacht schwieg wie zuvor. Junker Heinrich
lehnte betäubt am Baume. Der Morgen graute
schon, als er erwachte und sich wieder ausrasfte.
Sein Roh stand mit gesenktem Haupte neben ihm.
Nur mit Mühe schwang er sich in den Sattel und
setzte seine Reise fort. Als er im nächsten Dorfe
rastete, sah er sich selbst in einem Spiegelscherben
und erschrak: sein Haupthaar war über Nacht eis-
grau gebleicht.
Von da an war er nie mehr froh. Er verrichtete
seinen Auftrag und diente hernach im Schmalkal-
dischen Kriege mit elf oder zwölf Pferden in alter
Tapferkeit. Aber der unglückliche, vorgeahnte Aus-
gang des Krieges bekümmerte ihn so, daß er dar-
über schwer erkrankte, zumal da das tröstliche Ende
seiner Gesichte entschwunden war. Er sandte
seine Reisigen heim nach Tannenberg und begab
sich zu seinem Anverwandten Ewald von Baumbach
nach Aschaffenburg, wo er noch im selben Jahre
1547 schweigsam und verschlossen starb.
Schwer lastet die Gabe der Voraussicht auf dem
Menschen, dessen schwacher Geist nicht einmal fähig
ist, das Gegenwärtige unbefangen zu übersehen.
Aus dem Borkener Salbuch vom Jahre 1578.
Mitgeteilt durch Amtsgerichtsrat Rabe, Borken.
VonWählungBürger meist er undRats.
Tie gemeine Bürgerschasft haben uff alle Micha-
elis ein Persohn, zwo oder drey auß dem Rath
zu erwählen; welchen dann von Ihnen unser gn.
Fürste und Herr am ziemlichsten ansieht, den-
selbigen bestätigt der Schultheiß von wegen S.
Fürstl. Gnaden, daß er dasselbige Jahr Bürger-
meister ist.
Tie Erwählung der Rathspersonen; werden er-
wellet von wegen U. gn. F. u. Herrn durch den,
Schultheißen sampt Bürgermeister und Rath. Des-
glichen werden die Landschöpfen erwellet und der
Schepfenstuhl besetzt von wegen hochgedachts Für-
sten durch den Schultheißen und die Gerichtsschepfen.
Peinliche Halsgericht.
Werden gesessen durch die Stadtschepfen; wo
der Schepfenstuhl nicht voll, werden Schepfen auß
dem Ampt und Landgericht dartzu genommen, und
wirdt daß Gericht gesessen uff dem Markte oder
vor der Hoffmisten, Nach Gelegenheit des Wetters.
Gerichtliche Sachen.
Es werden alle Jar drey hohe gericht gehalden,
beide Stadt und Landgericht, eins den nächsten
Tag nach Petri (29. Juni), daß ander Walpurgis,
daß dritte Michaelis.
Darnach werden allewege in virtzehn Tagenn,
oder nach Gelegenheit der Amptknechte, nach dem
hohen Gericht ein Afftergericht gehalden, wehr über
diesse sechs Gerichte weider Gericht Haben will,
der mag sie kauffen.
Wenn Bürgermeister und Rath, desglichen die
Landschepfen von wegen U. gn. F. u. Herrn
durch den Schultheißen gefordert werden, gericht
zu sitzen seindt sie schuldig zu erscheinen bei der
Buße.
Die Bürger und Ampts Unterthanen seind uff
die drey hohe Gericht, so ungebotten Ding genannt
werden, jeder in eigener Persohn zu erscheinen,
die Rügen helffen fürbringen bei Straffe von fünff
Schillingen, dem Richter zu erlegen schuldig, auch
die Junckermänner zu Naßenersurth und Großen-
englis.
Wenn die Schepfen zweyspeltig in dem Urteil
werden, haben sie ihren Oberhoff, es sey in Pein-
1Z0
lichen oder bürgerlichen Sachen, zu Hombergk bei
Bürgermeister und Rath sich daselbs zu belernen
und entscheidenn zu laßen.
Die Unterthannen in Statt und Ampt seindt
schuldig zu rügen alles dasjenige, so U. gn. F. u.
Herrn straffbar ist, und wo die Stadt oder ein
Dorff solches vorschlichen verschweigen, wirdt jeder
Bürger und Nachpar als soviel als der in Stadt
oder Dorff weren, jeder in ein Pfundt Buß er-
kanndt, wo sie auch der Rüge nicht einig, gibt die
Stadt oder Torfs ein Pfundt zu Buße.
Welcher den anderen blutigk und blo schlägt,
erkennen die Schepfen derselbigen jeden, der ge-
schlagen ist, U. gn. F. u. Herrn in drey Pfundt
Buße.
Vermeint aber der Beschedigte, daß er unbilligk
geschlagen, wirdt dem Tätter ufferlegt, daß er
darthu und beweiß, daß in der Beschedigte genüg-
sam Ursach gegeben, wo er solches nicht beweiß,
ist er schuldig, die Buße vor sie beide zu erlegen
und den Beschedigten Costen und Schaden zu gelten.
Wenn sie aber einander gehauen oder gestochen
oder andere grobe Muthwillen und Laster begangen,
da auch keine bestendige Strafe uffgesetzt, diesel-
bigen weissen die Schepfen U. gn. F. u. Herrn
zu Gnaden und Ungnaden, dieselbigen werden nach
Verwirkung der Tatten durch seiner Fürstl. Gnaden
Beampten gestrafft.
Die gemeine geringe Verbrechung wie dieselbigen
von wegen U. gn. F. u. Herrn verbotten werden,
zu crhaldunge gutter erbarn Zucht und policey,
erkennen die Schepfen, waß uff jede Verbrechung
vor Straffe gesetzt ist, Wilcher aber den Anderen
.gerichtlichen beclagen will, der leßt denselbigen
in der Stadt durch die Stattknechte vor gericht
gebiten; ist aber uff einem Dorff, so geschieht das
Vorbott durch den Landtknecht und wirdt von
jedem Gebot 1 albus zu besoldunge geben.
Vor Gericht, wenn der Cleger einen umb Erb
oder Gut anclagt, wirdt dem Richter erkanndt ein
Stuhl und ein Küssen, welche der Cleger mit fünff
Schillingen Widder zu lösen hat.
Der Beklagte ist am Stadtgericht uff das dritte
Gericht, und am Landgericht uff daß ander Gericht
zu antwortten schuldig.
Wenn der Stattknecht am Stadtgericht einen Var
Gericht rufst zu antwortteu, gibt ihm der Au-
cleger einen Pfenningk zu besoldunge, desglicheu
wenn der Landknecht einen am Landgericht rufst
zu antwortteu, ist ihme der Ancleger einen Psen-
ningk zu geben schuldigt.
Dem Schreiber wirdt von jedem Satz einen
albus zu belohnung geben und von jedem Urtell
vier Pfenningk, und von den gerichtlichen Acten
zu leßen ein albus oder zweu, Nach der Gelegenheit
der Größe.
Von Copien oder gerichtlichen Sachen abzu-
schreiben wirdt dem Schriber von jedem Bladt
anderthalb albus geben solch Schreibgeldt, wie biß-
hero vermeldt, stehet dem Richter die Helsfte zu.
Von einem Zeugen abzuhören, fünff albus, halb
dem Schulheißen die ander heisst dem Schreiber.
Wenn ein EndUrttel gesprochen wirdt, so Erb-
Geldt oder Gutt anbetrifft, gepuert den Schepfen
ein halb Virtel Wein, ehe und zuvor daß Urtteb
publicirt wirdt, desglicheu wenn einer appelirt,
daß Richter undt Schepfen den Appelanten die Acten
zustellen, gepuert den Schepfen nach Gelegenheit
ein Virtel oder ein halb Virtel Wein und dem
Schultheißen ein halb Virtel Wein vor Siegelung
der Acten.
Wenn einer von dem Landgericht appelirt und
mit Überlifferung der Acten nicht wartten will,
biß aufs ein Gericht, daß die Schepfen beieinander
sein, und vor sich die Schepfen zusammenfordern
leßt, kommen sie uff des Appelanteu Costen, wirdt
jedem Schepfen geben ein Schreckenberger, oder die
Mahlzeit und fünff Schilling, stehet dem Appe-
lanten frey, wilches er am libsten geben will,
und gepuert dem Landkuecht von jedem Schepfen
ein albus zu Vorbotten und dem Schultheißen von
Versiegelung der Acten ein halb Virtel Wein.
Wenn die Schepfen speltig in dem Urttel werden
oder sich belernen wollen, daß die Acten an ihren
Oberhofs gen Hombergk geschickt würden, waß für
Unkosten daraufs gehet, ist der Eleger schuldigt zu
erledigen biß zur Entschafft des Rechten.
Einem Procuratorem, weil sie von der Ober-
keitt bestellt und den Gerichtszwang geschworen,
jeden Gerichtstagk, wenn er einer der Parteien
diennet, ist ein Ortsguldten vor die Besoldung
verordnet, die Parteien mögen weniger oder mehr
geben, wenn es zu der Taxirung der Gerichts-
kosten kompt, wirdt keiner Partei Widder nachge-
lassen, höchere Unkosten vor die Besoldung oder-
andere Gerichtskosten, wie bißhero vermeldt, ein-
zubringen gestattet.
Es ist hiebevor gebräuchlich gewest, den Land-
schepfen alle Gericht ein Mahlzeitt zu geben, das-
selbige ist abgeschafft, wirdt jedein Schepfen vor
die Mahlzeitt geben anderthalben albus biß uff
U. gu. F. u. Herrn weittereu Bescheidt.
Schultheiß und Schepfen besichtigen
und Schuld verhelfsen.
Wenn Partteien einen Zwietracht haben, es.
sei in der Stadt oder uff dem Veldt, daß begerdt
wirdt, daß der Richter und Schepfen den Augen-
schein einnehmen, gepuert dem, der sie uff den
Augenschein führdt, dem Richter ein Virtel Wein
und den Schepfen ein Virtel Wein zu geben, be-
findt sich aber, daß beide Partt Ursach haben,
wirdt der Nnkost zwischen ihnen verglichen».
Befindt sich, daß einer den anderen abgeackert,
abgezeundt oder weitter ingeuommen als ihm ge-
puert, ist die Gelegenheit Herkommen, als manchen
Pfahlsteckeu oder Zaun man schlagen kann, als
manch Pfundt meinem gn. F. u. Herrn zu Buß,
doch ist uff die Verwirkung geschehen, daß die Buß
darnach gelindert worden.
Wo Augenschein im Ampt vonnötten, dieselbige
befiehl der Schultheiß ohn den Laudschepfen und
müßt Erkundigung darumb ein, so darum wissen,
wirdt darvon ihme ein Virtel Wein geben, und
muß derselbig den Unkosten gelten so unrecht be-
funden wirdt; in fall der Schultheiß die Vergli-
chung nicht machen könndt, daß ein oder beide
Parteien begertten, daß die Schepfen uff den Augen-
schein kommen sollten, wo dasselbige also geschieht,
gepuert jedem Schepfen einn Schreckenberger oder
fünff Schillinge undt die Mahlzeitt, stehet den
Partteien zu, welches sie am libsten geben wollen,
undt dem Richter ein Virtel Weines.
Dem Landknecht gepuert von jedem Schepfen
vorbotten ein albus.
Wenn verclagt umb geständig Schuld fei mit
Recht erkennt oder sonsten offenbar und bew-eiK-
lich, leßt ihm der Schultheiß durch den Landknecht
die virtzehn Tagk geben, davon gepuert dem Land-
knecht ein albus. Wenn die Bezahlunge in virt-
zchn Tagen nicht geschieht gepuert dem Schult-
heißen von jedenl Guldten biß uff 26 Fl. ein albus
zu Helsfegeldt, waß darüber ist, bis uff 100 Fl.
wirdt nichts geben, ist aber 100, zwei oder drei,
wirdt von jedem Hundert ein Gulden geben, es
seien der hundert Gulden viel oder wenig. Solches
hat U. gn. F. u. Herr landgrave Wilhelm verordnet,
ist hiebevor der zwelfte Gulden geben worden.
Zum Geburtstag eines Siebzigjährigen.
Es Ist das Alter eine reiche Ernte, Die Liebe, die am Wege Blumen streute,
Wenn Lebenskraft und Freude Wurzel schlugen, War Trostbereiter für die Lebensschatten, -
Wenn zu den Höhen, die wir Alle suchen, So siehst du, auf der Höhe niederblickcnd,
Der Arbeit und des Wirkens Flügel trugen. Am Bergcsabhang lichte, grüne Matten.
Es führt der Schritt nun ruhig heiter vorwärts,
Ein Lächeln steht ob allem Kampf und Streit, —
Es weiß von Sonnen, die ihm Strahlen geben
Kassel. Für Erdenwege bis zur Ewigkeit. Gertrud Hoepfner.
131
Tlcue Kunstakademie in Kassel.
Phot. K. Eberth, Kassel.
150 Jahre Kasseler Kunstakademie
Zu den zahlreichen kulturellen Schöpfungen
Landgraf Friedrichs II., des Gründers des modernen
Kassel, gehört auch die Kasseler Kunstakademie,
die nicht nur eine Vereinigungsstätte tüchtiger
Künstler sein sollte, sondern auch als Lehrstätte
durch Heranbildung eines Nachwuchses die Kunst
des Landes zu heben bestimmt war. Diese Aka-
demie, eine der ältesten in Deutschland, entwickelte
sich aus dem alten Collegium Carolinum, dem
eine Lehrstelle für Zeichenkunst, Malerei, Bau-
und Bildhauerkunst angegliedert war. Schon an
ihm wirkte jenes Dreigestirn von Künstlern, das
auch die neue Akademie ins Leben einführte und
sich durch seine harmonische Schöpfung des Rokoko-
schlosses Wilhelmsthal die Bewunderung der Nach-
welt gesichert hat, der Maler I. H. Tischbein der
Altere, der Architekt S. L. Du Ry und der Bild-
hauer I. A. Nahl.
Am St. Lukastag 1777 wurde die nun selb-
ständig gewordene „Academie de peinture et de
sculpture“ in einem Teil des jetzigen Bellevue-
schlosses feierlich eröffnet, und 1781 wurde ihr
eine Abteilung für Baukunst angegliedert. Unter
Friedrichs II. Nachfolgern verlor die Akademie
äußerlich zwar viel vom Glanz ihrer ersten Blütezeit,
hatte aber fast durchweg einen trefflichen Lehrkörper
und stets eine Anzahl hervorragender Schüler. An-
stelle des älteren Tischbein war der Hofmaler Bütt-
ner getreten, Du Ry's Nachfolger war Oberbau-
direktor Jussow geworden. Auch unter den späteren
Direktoren und Lehrern verfügte die Akademie zu
allen Zeiten über Namen von Ruf; es sei nur an die
Maler August Nahl, Ludwig Hummel, L. S. Ruht,
Ludwig Emil Grimm, August Bromeis, Eduard
Jhlee, Friedrich Müller, Louis Kolitz, Knackfuß,
Neumann, Wünneberg, Olde, Bantzer und Baum,
an die Bildhauer Christian Ruht und Werner Hen-
schel, die Architekten Bromeis, Julius Ruhl und
Hugo Schneider erinnert, und es sei weiter daran
erinnert, daß u. a. ein Wilhelm Tischbein, Georg
und Franz Pforr, Melchior Kraus, Westermeyer,
Erdmann Hummel, Martin von Rohden, Friedrich
Decker, Gerhard von Reutern aus der Kasseler Aka-
demie hervorgingen.
Seit der französischen Fremdherrschaft war die
dauernde Heimatlosigkeit der Akademie für deren
Entwicklung ein großes Hemmnis. Dieser machte
erst der 1908 unter Kolitz vollendete schöne und
zweckmäßige Neubau in der Karlsau ein Ende.
Nach Kolitz hatte Hans Olde die Leitung der
132
Akademie übernommen; ihm folgte der 1918 aus
Dresden berufene Karl Bantzer, der den Führer
des Neuimpressionismus, Paul Baum, der Aka-
demie zuführte. Seit Bantzers Fortgang 1923
wurde vom Minister die Selbstverwaltung ein-
geführt; auf den ersten geschäftsführenden Direktor
Hans Soeder folgte 1925 Kurt Witte, der auch
in diesem Jubilüumsjahr an der Spitze der Aka-
demie steht.
Einen Rückblick auf die verflossenen 150 Jahre
Kasseler Kunstakademie bietet die am 1. Juni im
Orangerieschloß eröffnete Jubiläumskunstausstel-
lung. Sie zeigt in geschickt ausgewählten Gruppen,
wie sich auch hier die künstlerische Entwicklung
Deutschlands vom Rokoko über Klassizismus und
Romantik zum Naturalismus, Impressionismus
und Expressionismus in den aus der Akademie
hervorgegangenen Werken getreu wiederspiegelt.
Neben dieser rückschauenden Abteilung wird in zwei
weiteren Abteilungen einmal das
gegenwärtige Kunstschaffen unserer
Provinz und dann die deutscheKunst
der Gegenwart in führenden Ver-
tretern gezeigt. Über die Ausstellung
selbst wird der Kunstreferent unserer
Zeitschrift berichten.
Der Eröffnungstag wurde durch
einen Festakt in der Aula der
Akademie eingeleitet. Der Kurator
der Akademie, Oberpräsident Dr.
Schw ander, entbot im Namen der
Akademie mit herzlichen Worten
den Willkommensgruß. Im Gegen-
satz zum Zeitgeist, der inmitten der
materialistischen Bestrebungen auch
die Selbstvernichtung der Kunst vor-
aussagt, sieht er in den tastenden
Zügen der neueren Kunstbewegung
eineRegeneration; der pessimistischen
Verneinung setzt er den Willen des
Schaffens entgegen, sieht im Künstler
ein Symbol dieser einzig wirkenden
Substanz. „Neigen wir uns in diesen
Feierstunden tief vor der Kunst,
denn es spricht aus ihr die unmittel-
barste Form, in der der Mensch als
Geist- und Seelenwesen sich in Be-
ziehung setzt zu all den im tiefsten
Grunde geheimnisvollen Dingen nur
ihn her". Direktor Witte sucht
nunmehr in seiner Festrede die Frage
zu beantworten: „In wieweit ver-
mag eine Akademie das künstlerische
Leben einer Zeit überhaupt zu be-
fruchten?" Eine Akademie brauche
nicht immer eine im Regelgeist er-
starrte Institution, sondern könne
auch unter Zurückdrängen des
Akademischen eine Pflegestätte
schöpferischer Kräfte sein, so daß
die ablehnende Haltung ihr gegen-
über nicht mehr am Platze sei. Auch die
Kasseler Akademie habe, wenn auch in aller Stille,
eine rege Anteilnahme an den künstlerischen Strö-
mungen der letzten 150 Jahre genommen. Letztes
Ziel sei die Schaffung eines künstlerischen Stiles.
Das habe eine Neuorientierung und zugleich eine
Verbindung der Kunst mit deul praktischen Leben
notwendig gemacht. Nach Witte sprach sodann
Kultusminister Dr. Becker, der gleichfalls seine
moderne Auffassung stark zum Ausdruck brachte.
Nach einem historischen Rückblick wies er nachdrück-
lich daraus hin, daß in der das äußere und innere
Dasein der Akademien bedrohenden Krise die Kunst-
verwaltung ihre Pflicht vor allem darin sehen
müsse, die Akademien vor unfruchtbarer Isolierung
gegenüber dem Leben zu bewahren und sie in den
Zusammenhang der neuen pädagogischen Ideen und
Reformen zu ziehen. Die moderne Kunstschule
dürfe keine Spezialistenbildung geben. Alles künst-
einem begabten Schüler derAkademie
eine Anslandsstndienreise ermög-
lichen solle. Nach knrzen Ansprachen
von Vertretern answärtiger Akade-
mien übermittelte Landesrat Stöhr
die Glückwünsche des Bezirksver-
bandes, der der Akademie 15000
Mark für die Ansstellnng gestiftet
habe, nnd betonte vor allem die
Förderung der Heimatpflege. Der
Direktor der Staatlichen Samm-
lnngen Geheimrat Dr. Boehlan
wies nachdrücklich daranf hin, daß
das große Erbe, das wir in den
hessischen Knnstsammlnngen an-
traten, anch zn deren Vermehrnng
verpflichte und daher die Schaffung
einer Sammlung von Meisterwerken
der modernen Malerei eine Kasseler
Knltnraufgabe ersten Ranges sei.
Der Rektor derMarbnrgerPhilipps-
nniversität Geheimrat Professor Dr.
Busch überbrachte die Glückwünsche
dieses noch älteren Geburtstagskindes
mit dem Wunsche, daß Marburg
und Kassel gemeinsam das große
Ziel, eine Blüte am Baume der
deutschen Kultur-zn sein, weiter ver-
folgen möchten. Dem Festakt schloß
sich eine gemeinsame Besichtigung
der in den einzelnen Ateliers ver-
anstalteten Schülerausstellnng an,
die leider nur wenige Tage geöffnet
blieb. Sodann begab man sich zum
Orangerieschloß, wo nach dem Vor-
trag einer Krenekschen Kantate durch
3. H. Tischbein ö. A.
lerische Schaffen sei im Handwerklichen verwurzelt.
Tie Akademien werden Künstler von morgen nur
bilden, wenn sie dem Menschen voll heute dienen.
Oberbürgermeister Dr. Stadler hob besonders
Wert und Bedeutung der kleineren Kunstzentren
hervor, gedachte der kulturellen Verdienste der
hessischen Fürsten ulld erinnerte darall, daß gerade
die alte Kasseler Akademie mit ihren trefflichen
Lehrern das Gesicht der Stadt in entscheidenden
Epochen wesentlich bestimmt habe. Als Jubiläums-
gabe der Stadt überreichte Oberbürgermeister Dr.
Stadler eine Stiftung von jährlich 1000 Mark, die
Das Tal von Oueyras und Abritzs, die Heimatgemeinde
von Karlsdorf in Hessen. (SiM) Von Ella ©onnermonn.
Der Winter treibt die Menschen dort oft aus ander angewiesen, die Nachbarn schwer zu erreichen,
den Wohnhäusern, in Stuben innen in den Ställen, Die Pässe über die Alpen sind dann nur mit
zwischen ihren Kühen und Schafen wohnen sie Lebensgefahr zu übersteigen. Napoleon I. hat noch
monatelang. Dann sind die Hausgenossen auf ein- auf dem Totenbett der Bewohner der französischen
Selbstbildnis
den Zulausschen Madrlgatchor Di-
rektor Witte den Zweck der Aus-
stellung darlegte und allen Mithelfern
den Dank der Ausstellungsleitung zum Ausdruck
brachte, worauf Kultusminister Dr. Becker die
Ausstellung für eröffnet erklärte.
Nach dem Festessen im Schloßhotel, bei dem
besonders der Präsident der Handelskammer Ban-
kier Kart Pfeiffer der Entwicklung des Kasseler
Kunstlebens hoffnungsfrohe Worte lieh, folgte
abends im Staatstheater die Ausführung voll Ernst
K r e n e k s Oper „Orpheus und Eurydike", worauf
die Festteilnehmer im Foyer an kleinen Tischen
noch für einige Stunden als Gäste der Stadt
Kassel in zwanglosem Beisammensein vereint waren.
134
Hochalpen gebacht, indem er den Bau von Schlitz-
hütten befahl und im Testament eine Summe da-
für vermachte. Am Col Lacroix und am Col
Jzoard finden wir zlvei solche, die „Refuges Na-
poleon“. Ter Paß La croix führt zwischen Pel-
vas und Viso in das Pellicetal. In älterer Zeit
war der Col de la Traversette, nahe am Viso
ins Potal führend, besonders berühmt durch seinen
zum Schutz der Reisenden schon 1480 erbauten
Tunnel. Zu diesen Alpenübergängen gelangt man
von Abries durch das obere Guiltal. Dem Lauf
des Bouchier folgt man zunächst, weiln man den
beiden Haupteingängen in die Dmiphine zustrebt.
Sie kommen aus dem Tal Saint-Martin, heißen
in Abries Cols St. Martin, jenseits der Alpen:
Cols d’Abries und de Roux. Le Roux ist ein
Dorf der eommunaute von Abries. Dorther stam-
men die in Karlsdors einaewanderten Chaillol.
Tie Martins und Bellons sind aus Abries selbst.
Ter Paß von Thurres führt nordöstlich voll Abries
ins Pragelas oder Valcluson. Aus Villaret im
Valcluson waren außer Clement selbst zahlreiche
hessische Refugies, z. B. die Roux. Die vielen
Pässe über Abries erläutern dieWahl
des Dorfs zum Handelsplatz.
Aber man stieg zur Zeit Ludwigs
XIV. — und durch viele Jahrhun-
derte vorher — nicht in fremdes Ge-
biet über die Alpen. Das alte Fürsten-
tum Brian?onnais, das sich höchst
selbständig und demokratisch, ausge-
stattet mit vielen Vorrechten, sck)on
zur frühesten Zeit der Dauphins wie
eine kleine förderalistische Republik
verwaltete, bestand außer den zwei
Eskartons von Brian^on undQuey-
ras aus den drei jenseits der Alpen-
gipfel liegenden von: Oukx, Prage-
las und Chateau-Dauphin. 1630 et-
wa warPignerolo dazu erobert wor-
den. Viktor Amadeus II. von Sav-
oyen-Piemont, der sich zunächst mit
Ludwig XIV. zu gemeinsamer Ver-
treibung der Waldenser vereint hatte,
sah später größeren Vorteil auf Sei-
ten der holländischen Generalstaaten
winken, rief die Vaudois wieder ins
Land, benutzte sie als Bergtruppen
gegen Frankreich und gewann als
Kriegsbeute die drei Täler jenseits
der Alpen. Es war 1689, als sich
auf den Ruf des Herzogs hin 900
Waldenser unter Führung ihres
Pfarrers Henri Arnaud den Eintritt
in die Heimat mit dem Schwert gegen
vierfache Übermacht erzwangen. Man
nennt dies die „glorieuse rentree“
(glorreiche Heimkehr).* Es waren
*1 Viktor Amadeus vertrieb die Wal-
denser dennoch, nachdem er sich durch Jahr-
zehnte ihrer im Grenzkrieg bedient hatte. 3. -A, z^hl d. Z.
hauptsächlich Vaudois aus Württemberg. Vaudois-
Talleute ist der Name der Bewohner jener Alpentäler.
Vaux heißt Täler, ist zugleich aber auch des Grün-
ders der Sekte französischer Zunamen, den wir als
Petrus Waldus kenneir, dessen Anhänger wir des-
halb Waldenser neunen. Vielleicht stammte Pierre
de Vaux, der reiche Kaufmann von Lyon, der die
Armut predigte und die Bibel ins Französische
(die Langue d’oc) übersetzen ließ, aus diesen Tä-
lern. Wir wissen, daß die Waldenser, die ersten
Evangelischen der Welt, vom Papst und franzö-
sischen Königtum seit dem Ausgang des 12. Jahr-
hunderts aufs grausamste verfolgt, sich in die ent-
legenen Hochtäler im Gebirge retteten. Ihre Ver-
folgung wurde zugleich Ursache zum Untergang
des provenyalischen Grafenhauses. Nicht mehr der
deutsche Kaiser war danach der Oberherr der glück-
lichen Provenee. Die Krone Frankreich drang er-
obernd vor. Allein vor der Dauphine mußte sie
zunächst Halt machen. Kaiser Heinrich VII., der
Luxemburger, machte noch einmal seine alten Rechte
an das Königreich Arelat und Burgund geltend —
umsonst! Die Dauphins sanken endlich ins Grab,
Samuel Naht mit Braut
der letzte vermachte sein Land an einen Prinzen
des königlichen Hauses von Frankreich. Viele Pri-
vilegien sicherten die Dauphins. Aber die Ver-
folgung der Vaudois nimmt von da ab zu. Auch
im Tal von Queyras finden wir schon 1339 Wal-
denser genannt. Sie heißen nach ihren Priestern
auch Larbsts. Äußerlich hielten sich die Vaudois
später zur römischen Kirche, ohne doch von ihrer
Bibel und den religiösen Gebräuchen zu lassen.
Verfolgungen in Savoyen veranlaßten die pie-
montesischen Waldenser stets zur Flucht über die
Alpen auf französisches Gebiet. Noch 1655 retteten
sich 400 Waldenserfrauen vor den Grausamkeiten
Karl Emanuels von Savoyen in die Orte des
Queyras. Ebenso liebevoll wurden die französischen
Reformierten im gleichen Falt jenseits in Piemont
von den Glaubensbrüdern aufgenommen. Während
der französischen Religionskriege ziehen so die ent-
flohenen Protestanten von Sisteron durch das
Queyras nach Savoyen.
Ein Grenzland muß bewacht, befestigt sein. Einst
hielt Chateau Dauphin (heut Kastell Delfino) jen-
seits des Viso Wacht als Grenzfestung. Die Be-
wohner von Abriss und Saint-Martin bildeten
den Hauptbestand der Grenztrnppen, die schon zur
Zeit der alten Dauphins die Alpenübergänge be-
wachten. Aber inmitten des Tals liegt auch heute
noch die alte stolze Burg, die außer dem Guiltal
niehrere Seitentäler und damit die Pässe Col
d’Agnel und Col Isoard, beschützt. Es ist Chateau
Queyras. Der Gnil berührte nach Abriss noch die
Hauptdörfer Aignilles und Ville-Vieille und nahm
zahlreiche Flüßchen auf. Nun umfließt er den
Felsen, auf dem die alte Festung malerisch thront.
Nach Nordosten schließt der Brie Bouchier, immer
von neuem auftauchend, das Tal ab, wie der Viso
sich südlich dem oberen Guiltal als Abschluß vor-
schob. Jetzt scheint auch nach Südwest dem vor-
wärtsdrängenden Fluß der Weg versperrt. Neben-
bäche, das Wasser von Arvieux und die Aigue-
blanche, von rechts und links einfallend, ver-
größeren seine Wassersülle. Er muß vor Jahr-
hunderten vor Chateau-Queyras einen kleinen
See gebildet haben. Heute gibt der grüne Tal-
grund dem Dorf Chateau-Queyras Raum. Ein
Felsen rechts heißt l’Ange gardien, ein- kleines
Bethaus liegt darauf. Hier mag sich mancher
Wanderer seinem Schutzengel befohlen haben. Denn
nun beginnen alsbald die Combes du Guil. Nur
wenige einsame Häuser, kleine Weiler, die die Berge
emporsteigen, haben Platz im Tal. Die Felsen
scheinen oft zusammenzustoßen, den Himmel zu ver-
schließen. Das Tal wird immer enger und dunkler,
in der Tiefe braust ohrenbetäubend der wilde Berg-
strom. Ist jetzt auch die sichere Straße in die
Felsen gehauen, den einsamen Fußgänger mag in
der Schlucht noch heute ein leises Grauen beschlei-
chen. Endlich wird es hell, und ein kristallheller
Fluß vereint sich mit dem Guil, es ist der Cristil-
lan, dessen Name sogar seine Klarheit auszudrücken
scheint. An seinen Ufern breitet sich das alte
136
Städtchen Guillestre mit seinen grauen Türmen
aus, abseits vom Guil, bedeutet der Name. Vor
den Lauf des Flnßes schiebt sich Mont Dauphin,
mit der von Vanban 1694 erbauten Festung. Als
Viktor Amadeus II. durch das Queyras.erobernd
vordrang, mußte sie errichtet werden und ist heut-
zutage ohne Bedeutung. Unterhalb von Mont
Dauphin wirft sich der blaue Guil in die zur
Rhone eilende Durance.
Am Bach von Arvieux und all der Aigue-blanche
(zu deutsch: Weihwasser) liegen noch mehrere.Haupt-
orte des Queyras. Die Aigue-blanche entsteht aus
zwei Quellbüchen, von denen das Agnelletal direkt
zum Eol Agnel emporführt. In ihr liegt stattlich
„das höchstgelegene Dorf Europas, wo man Brot
ißt". Es ist Saint-Vsran (2044 m hoch). Der
Feuersgefahr wegen sind die einzelnen Dorfviertel
durch große Zwischenräume getrennt. Denn die
Häuser sind aus Lärchenholz gebaut. Wie ver-
heerend solche Feuersbrünste auftreten können, be-
weist übrigens Aignilles. Nachdem es mehrfach
aus der Asche entstanden war, verließen es viele
seiner Bewohner nach einem neuen Brand und
wanderten nach Süd-Amerika aus. Als sie in der
Fremde Reichtum erworben hatten, kehrten die
Kinder dieses Dorfs aber, von Heimweh getrieben,
zurück. Stattliche steinerne Villen der Amerikaner
halten nun besser gegen das Feuer Stand, und
das weiße, saubere Dorf ist eine Zierde des Tals.
Dort ist die Neuzeit zuhause mit ihren Errungen-
schaften. Hoch oben in Saint-Vsran erinnert alte
Sitte und Tracht an die Vergangenheit. Zur Zeit
katholischer Wallfahrten und der Messen sieht man
hier alle die malerischen Trachten des Queyras.
Deshalb drängen sich besonders am 16. Juli die
Touristen, um den Anblick zu genießen. Die Ge-
gend um St.-Vsran ist fruchtbar. Kupferminen,
Marmorbrüche, Steinschleifereien geben den Be-
wohnern reichlich ihr Brot. Aus St.-Vsran stam-
men von hessischen Einwanderern wohl die Mathieu
und Jsnel. Ein stattlicher protestantischer tsmpls
erhebt sich hier wieder, ein Pastor wohnt am Ort.
Auch Molines, der zweite Hauptort des Aigne-
blanchetales, hat viele evangelische Bewohner. Es
ist wunderbar, wie der Protestantismus trotz dem
scheinbaren vollständigen Ersticken wieder aufgelebt
ist. Schon unter Ludwig XV., als die Gesetze
gegen die Hugenotten weniger streng gehandhabt
wurden, gingen sogar protestantische Pfarrer halb
öffentlich wieder bei ihren Anhängern umher und
betreuten die nur äußerlich zum Katholizismus Be-
kehrten. Unter Ludwig XVI. dringt die Idee der
Gewissensfreiheit durch. Nach der Revolution be-
kannte man sich getrost von neuem zum Prote->
stantismus.
Kirchlicher Hauptort der Reformierten ist jetzt
Arvieux, wo der tsmpls sich brüderlich neben die
katholische Kirche gestellt hat. Der Pastor Felix
Reff, ch 1829, wirkte hier jahrelang mit besonderem
Segen. In Arvieux tragen die Bäuerinnen eben-
falls noch die malerische alte Tracht. Man ge-
langt von Arvieux über den Col Isoard nach
Brianyon, der berühmten Festung, dem alten
Hanptort des Brianyonnais. Hier versammelten
sich wohl siebenhundert Jahre hindurch alljährlich
an bestimmten Tagen die Vertreter der füns Es-
cartons oder Unionen des Fürstentums um ihren
bailli. Die füns Täler wählten sich jedes ebenso
an bestimmten Terminen ihren Abgeordneten, wie
sich jede eommunaute zu festgesetzter Zeit ihre Kon-
suln erkor. Die Familie sandte dazu ihr Ober-
haupt ins Hauptdorf, und durch Stimmenmehrheit
mit Zuruf und Händeklatschen geschah die Wahl.
Die Konsuln hatten nicht bloß für ihren Ortsbezirk
als Bürgermeister zu sorgen, sie waren auch Beamte
der Dauphins und hatten mancherlei zu verwalten.
Nach der Revolution wurden die alten Privilegien
und Gebräuche im Brianyonnais abgeschafft. Wir
haben gesehen, daß unter Ludwig XIV. dem Für-
Heimfahrt.
Wir fuhren heimwärts auf dem dunklen Strom,-
Das Auge trank an Licht und Grün sich satt —
Mit Häuserquadern stieg und Kuppeldom
Im Schattenriß empor die ferne Stadt.
Es sog des Dampfboots lechzendes Gelüst
Die Spanne Raum mit schaumbedecktem Mund,-
Schon sank vom letzten Sonnenstrahl geküßt
Der letzte Tagestrümmer in den Grund.
stentum drei seiner alten Esoartons entrissen wur-
den. Es verlor schon vorher bei der Aufhebung
des Edikts von Nantes an 4000 seiner tüchtigsten
Bewohner durch Auswanderung — in einem doch
nicht dicht besiedelten Bergland ein harter Verlust.
Es berührt eigen, wenn man in der „Mono-
graphie du Queyras“ unter den Auswanderern
die Namen: Claude Bellon, Chaffrey Chaillol usw.
liest und dann im Kirchenbuch von Karlsdorf die-
selben Namensträger als eingewanderte Familien-
väter findet. Wie schwer mag ihnen das Heimweh
mitgespielt haben! Aber an der Treue und Liebe
ihres neuen Landesvaters richteten sich die Ver-
triebenen auf. Sie.sind gute Deutsche geworden,
die Karlsdorfer Kolonisten. Manch einer aber wird
sich freuen, einmal vom Land seiner Väter zu
hören, vom Tal von Queyras und von Abries,
der Heimatgemeinde von Karlsdorf in Hessen.
Von Finsternis und dumpfem Brodem schwer
Fiel vom entsternten Himmel rings die Rächt,
Und ihr entgegen quoll ein Lichterheer,
Von Lust und Arbeit emsig angefacht.
Roch lag km Ohre mir der Kuckucksruf,
Als in die Träumerei vernichtend griff
Vom Brückendamm Gelärm und Pferdehuf
Und eines Gassenhauers schriller pfiff.
Und meine Seele zog die Segel ein,
Soeben noch von froher Lust geschwellt,-
Aufs neue wollte sie gewappnet sein
Dem Sturm des Elends auf dem Meer der Welt.
Kassel. Fritz Gölner.
Vom Maröurger Gymnasium und seinem Schüler Otto
IZbbelohde. (©djfaS.) Von Philipp Braun.
Einmal machte mir Otto Ubbelohde eine ganz
nnerwartete Freude. Er saß in Obersekunda, und
die Schüler lasen unter meiner Leitung Vergils«
Aeneis. Da es mir darauf ankam, sowohl meine
Schüler in dem Dichter heimisch zu machen, als
auch selbst in ihm heimisch zu werden, so las ich
mit ihnen das schöne Gedicht nicht eßlöffelweise,
sondern es wurde wacker daraus los gearbeitet, und
das machte meinen Jungen und mir große Freude.
Mir wurde dabei eines Tages eine große Über-
raschung zu teil. Wir standen an den Kämpfen
zwischen Turnus und seinen Rutulern gegen die
Trojaner, die fremden Ankömmlinge auf italischem
Boden. Die Trojaner haben sich an dem Meeres-
strande in einem Lager befestigt. Aeneas selbst hat
die Seinigen verlassen und sich fortbegeben, um
Beistand zu holen. Er hat den Seinigen einge-
schärft, sie sollten ja nicht ihr Lager verlassen,
sondern nötigenfalls den Feind hinter ihren Wällen
erwarten. Ta greift Turnus, der seinem Heere
vorauseilt, mit 20 auserlesenen Reitern der Ru-
tuler das troische Lager an. Ein weißgescheckter,
Hengst trägt den Turnus, zwanzig Reiter folgen
ihm. Er höhnt die Feinde, die ihr Nest warm-
halten, statt sich tapfer auf die Feinde zu stürzen..
Das war der Inhalt der zuletzt gelesenen Stelle.
Als ich in das Klassenzimmer trat, sah ich den
Inhalt dieser Stelle, soweit er sich bildlich dar-
stellen ließ, mit der weißen Schulkreide säuber-
lich auf der schwarzen Schultasel dargestellt. Laut-
los und voll stiller Bewunderung staunten meine
Sekundaner und ich das herrliche Bild an. Woher
rührte das? In der kurzen Pause hatte Otto
Ubbelohde, der gottbegnadete Junge, es mit Meister-
hand auf die Tafel gezeichnet, so richtig und sauber,
wie es ein gereifter Meister kaum besser vermag.
Was ich am meisten bewunderte, war die wunder-
volle Wiedergabe der Pferde, die mir armem
137
Stümper beim Zeichnen immer die meiste üaft
machten. Wir waren alle wie im Himmel. Aber
nun geschah etwas so Scheußliches, daß ich mich
noch heute dessen schäme. Als die Stunde zu Ende
war, mußte das Bild von der Tafel ausgelöscht
werden. Es war mit die größte Barbarei, deren
ich mich in meinem Leben schuldig gemacht habe.
Wenn ich heute am Tage auf einer Zeichnung
Ubbelohdes die Umrisse eines Pferdes abgebildet
sehe, so denke ich immer an die „Rosse des Turnus".
(Berg. Aen. IX, 1—55.)
Als ich das Bild des Reiterangriffs damals
wegwischen ließ, tat ich es z. T. um nicht den
Vorwurf auf mich zu laden, als ob ich bei Ungesetz-
lichkeiten der Schüler mit ihnen unter einer Decke
stecke. War mir doch folgendes begegnet. Schüler
der oberen Klassen wollten eine Vereinigung grün-
den, um gemeinsam in einem Klassenzimmer des
Gymnasiums die Gabelsbergische Kurzschrift zu er-
lernen. Der Direktor wollte ihnen die Erlaubnis
nur für den Fall geben, daß ein Lehrer die Leitung
übernehme. Ich hatte früher die Anfangsgründe
gelernt. Das mußten wohl die Schüler wissen,
denn sie baten mich, die Leitung zu übernehmen.
Ich war bereit. Aber einer der älteren Kollegen,
ein sehr tüchtiger, aber krankhaft eitler und klein-
licher Mann, dem sein Ruhm über alles ging,
wollte das nicht und lag dem Direktor in den
Ohren, daß eine solche Vereinigung eine große
Gefahr in sich berge, die nämlich, daß daraus eine
verbotene Schülerverbindung entstehen könnte. Da
zog ich meine Bereitwilligkeit zurück. Das Vater-
land war gerettet. Aus der Stenographie wurde
nichts. Über die dreifache Art der Rechtschrei-
bung am Marburger Gymnasium, die es demselben
Lehrer zu verdanken hatte, will ich schweigen.
Tie Leistungen der Schüler waren in der da-
maligen Zeit gewiß nicht schlecht. Wenn ich aber
die Anforderungen, die damals gestellt wurden,
mit denen vergleiche, die am Hanauer Gymnasium
in der damaligen Zeit eingehalten wurden, besonders
unter der Leitung des unvergeßlichen Piderit,
so ist man über den gewaltigen Unterschied be-
troffen. Man lese, was darüber Jakob Loeber,
der Direktor der Kieler Gelehrtenschule, in seiner
Beglückwünschung des Hanauer Gymnasiums zur
Einweihung seines neuen Schulgebäudes in der
Schrift „Glückliche Gymnasiastenzeit" (bei Knud
Beuck, Kiel 1925) geschrieben hat. Loeber hatte
das Hanauer Gymnasium als Schüler durchgemacht.
Ein durchaus ungesunder Zug machte sich damals
im Marburger Gymnasium geltend, der teilweise
von dem leitenden Schulmann begünstigt wurde.
Man konnte aus lauter Großmannssucht des Guten
nicht genug tun, man wollte „preußischer" sein
als preußisch, und ein allgemeines unbehagliches
und ungesundes Wettlaufen machte sich bemerklich.
Man hatte die Anforderungen so herausgeschraubt,
daß die weniger begabten Schüler ihnen nicht mehr
zu entsprechen vermochten. Unzufriedenheit uitb
138
Mißbehagen stellten sich bei Schülern und Lehrern
ein. Wenn ein Lehrer die Herabsetzung der An-
forderungen vorschlug, verfiel er dem Urteil der
heißspornigen Lehrer. Einer der hervorragendsten
Lehrer, der Klassenlehrer der Prima, stellte als
Grundsatz für die Hausaufgaben der Schüler den
unbarmherzigen und etwas rohen Satz auf: „Im-
mer Futter auf die Raufe"! Die leitenden Schul-
männer wünschten eine Steigerung der Leistungen,
ohne daß man sie hätte erreichen können. Alle
möglichen Mittel wurden z. B. angewandt, um
eine Besserung der lateinischen Arbeiten herbeizu-
führen.
Ich habe manchen trostlosen Brief des Vaters
Ubbelohdes erhalten, in dem er mit vollem Recht
über die Fehler der hohen Anforderungen an den
Fleiß der Schüler klagte, die auch der Gesundheit
der Schüler gefährlich zu werden drohten, tat-
sächlich aber die Lernfreudigkeit untergruben, zu
Täuschung und Benutzung verbotener Hilfsmittel
führten und einen tiefen Gegensatz zwischen den kla-
genden Eltern und der Schule herbeiführten, das
Vertrauensverhältnis zwischen Schülern und Lehrern
störten, dazu führten, daß die Schüler ihren Ruhm
und ihre Hilfe in der Täuschung der Lehrer suchten,
ihrer Verbissenheit bei jeder Gelegenheit Ausdruck
gäben, und was dgl. mehr ist. Daß die Schüler
der oberen Klassen einen guten Boden fanden,
ihre jüngeren Mitschüler der Schule zu entfremden
und das Unwesen der verbotenen Schülerverbin-
dungen zu fördern, ist begreiflich; zudem schlossen
sich an die Schüler junge Leute (Zahnärzte, Post-
beamte usw.), die früher Schüler des Gymnasiums
gewesen waren, an und erschwerten den Lehrern
ihren Beruf oder hemmten ihre Tätigkeit. Das
Gegengewicht körperlicher Anstrengung (Sport jeg-
licher Art) fehlte oder wurde nur wenig geübt.
Vielleicht klagt man heute nicht mit Unrecht dar-
über, daß dem Sport eine zu große Rolle ein-
geräumt werde. Aber sicher ist der heutige Betrieb
viel gesünder als der damalige. Wäre es so weiter
gegangen, wie es damals vielfach der Fall war,
so hätte das unserer Jugend die größte Gefahr
der körperlichen Verkümmerung bringen können.
Selbst das so sehr vermißte Einjährige Dienstjahr
hätte auf die Dauer wohl kaum Abhilfe schaffen,
können.
Über die Lehrkräfte der damaligen Zeit möchte
ich mit aller Vorsicht mich äußern; zumal ich
selbst als reuiger Sünder vielfach an mein Herz
schlagen muß. Im allgemeinen wirkten an der
Anstalt zumeist tüchtige, strebsame sittlich unbe-
scholtene Lehrer, denen es mit ihrem Beruf voller
Ernst war, die in Lehrgeschicklichkeit, Fleiß, Eifer
und wissenschaftlichem Streben nichts zu wünschen
übrig ließen. Viele waren wissenschaftlich tätig,
einzelne freilich betrachteten den Privatunterricht
als wissenschaftliche Arbeit oder betätigten ihren
wissenschaftlichen Sinn darin, daß sie in den „ge-
reimten Genusregeln" weltbewegende Verbesserun-
gen einführten und zu Markt trugen. Es gab, wie
mein unvergeßlicher biederer Freund Weidenmüller,
der ein Muster des Fleißes und der Aufopferung
für seine Schüler war, zu sagen Pflegte, leidev
darunter auch „lahme Esel", deren Hauptgang aus
der Schule ins Wirtshaus war und umgekehrt.
Glücklicherweise ivaren diese Lehrer nur Aus-
nahmen. Im allgemeinen waren die Lehrer treu
und tüchtig, was auch daraus hervorgeht, daß man
vielfach das Marburger Gymnasium ein „Semina-
rium directorum“ nannte.
Unser Otto Ubbelohde setzte, je mehr er in
die höheren Klassen kam, um so weniger beirrt
von Verführungsversuchen, an denen es wohl auch
bei ihm nicht gefehlt hat, seinen Weg fort und
bestand Ostern 1884 die Reifeprüfung. Seitdem
ist er meinem Auge nicht mehr oft sichtbar gewesen.
Bald darauf wurde ich von Marburg versetzt. Ich
habe ihn nur noch wenig gesehen, so einmal, als
ich zufällig Marburg berührte, schnell wieder um-
steigen mußte und er in den Zug nach Goßfelden,
wo er sein Domizil aufgeschlagen hatte, umsteigen
mußte. Aber in engster Beziehung mit ihm und
seiner Kunst bin ich geblieben durch die herr-
lichen Zeichnungen, die jedes Jahr wieder von
ihm veröffentlicht wurden, und die ich mir ziemlich
alle angeschafft oder von meinen Lieben Weihnachten
zum Geschenk erhalten habe. Immer wieder freue
ich mich über die zarte Keuschheit, mit der dieser
„Kunsterzieher des deutschen Volkes" seinen Stift
führte, mögen nun seine Zeichnungen aus der
Wirklichkeit genommen sein oder aus dem Märchen-
traumlande stammen.
Wenn ich vorhin gesagt habe, ich wolle mich
des Urteils über die einzelnen Lehrkräfte ent-
halten, so kann und darf ich doch nicht an einem
Manne vorbeigehen, über den die Urteile damals
und auch später sehr auseinandergingen. Das war der
Direktor vr. F r i e d r i ch Münscher, ein Mann,
für den ich immer die größte Hochachtung sowohl
als einen Lehrer und Erzieher, wie auch als Men-
schen gehabt habe. Was ihm sehr im Wege stand,
war sein übergroßes Vertrauen zu der Aufrichtig-
keit der Schüler wie auch der Lehrer. Wenn einem
Schüler ein Vorwurf gemacht wurde und er die
Tat in Abrede stellte, so sah ihn Münscher eine
Zeitlang forschend an und sagte dann: „Sieh mir
ins Auge". Und wenn der Schüler den forschenden
Blick aushielt, so sagte Münscher: „Nein, du hast
das nicht getan, sonst würdest du mich nicht ge-
rade ansehen können". Das wußten die Schüler,
und diese Vertrauensseligkeit wurde vielfach in ab-
scheulicher Weise mißbraucht. Die Herren Kollegen
ivaren nicht überall so taktvoll, diese Vertranensi-
seligkeit ihres Direktors etwas mit dem Mantel
der Liebe zu bedecken, einzelne verbreiteten die
Schwäche int Publikum und erschwerten dem leicht-
gläubigen edeln Idealisten Münscher seine Stel-
lung. Münscher war nicht nur ein hervorragender
Gelehrter, besonders in Religioit und Geschichte,
zumal der hessischen, er war auch ein Meister der
Rede, auch der lateinischen. Hierfür nur ein Bei-
spiel. Bei einer Feier der Universität Marburg
waren schon viele schöne Begrüßungsreden gehalten
worden. Münscher hatte den Auftrag bekommen,
die Universität namens der kurhessischen Gymnasien
zu begrüßen. Er sprach als letzter. Er verglich
die Universität mit dem Meere, aus dem die Wol-
ken emporsteigen, über das Festland ziehen, um
ihm den fruchtbaren segenspendenden Regen zu
bringen und die Flüsse zu füllen und zu ernähren,
während die Flüsse wieder das Meer mit ihrem
Segen speisen. Mit diesen wenigen Gedanken, die
in knappster Form vorgebracht wurden, hatte sich
Münscher nahezu seiner Aufgabe entledigt. Alles
andere ergab sich von selbst. Überall wußte er für
seine tiefen Gedanken die einfachste und treffendste!
Form zu finden. In seinem Unterrichte war er
ein Meister der Kürze und Klarheit; die Gedanken,
die er äußerte, wirkten geradezu fesselnd und zwin-
gend. Dabei brachte er sie immer in der edelsten
Einfachheit vor. Von Zeit zu Zeit wurden an der
Schule an einem schulfreien Nachmittage Lehr-
proben gehalten. Wenn er eine solche Lehrprobe
hielt, so wußte er mit wenig Worten oft ein wun-
derbares Bild der Vorgänge, die er schilderte, zu
entwerfen, Zusammengehöriges zusammenzufassen
und Verschiedenartiges von einander zu trennen,
jedem Gedanken die richtige Färbung zu geben, kurz,
als ein Künstler sich zu erweisen. Freilich gab
es ja unter den Lehrern auch solche, die nicht den
Segen erkannten, der ihnen durch eine solche prak-
tische Belehrung zu teil wurde, sondern wohl den
Zwang verdammten, durch den ihnen ein schul-
freier Nachmittag „verloren" gegangen war. Wer
jemals Münscher mit voller Aufmerksamkeit bei
einer solchen Gelegenheit gehört hat, dem wird
das unvergeßlich sein. Und ähnlich wirkten seine
Ansprachen bei den Schulandachten, die er meistens
am Wochenschluß hielt. Da war nichts tioit eng-
herziger Frömmelei. Lauter und wahr entfloß
seinem Munde das Wort Gottes, tief und innig
war sein Gebet. Und für viele ist so der edle Mann
ein Segen für ihr ganzes Leben geworden. Auch
äußerlich war >er ein kräftiger Helfer. Mancher
armen Witwe, die das Schulgeld nicht aufbringen
konnte, und der ein amtlicher Nachlaß nicht ge-
währt werden konnte, zahlte er das Schulgeld aus
seiner Tasche; leider hat mancher dies mit schnödem
Undank gelohnt und den treuen Lehrer verhöhnt
und bloßzustellen gesucht. 8unt pu6ri pueri, pueri
puerilia tractant.
Berichtigung. Auf Seite 107 wurde irrtümlich bemerkt, daß damals (1883) zwischen Witzenhausen und
Münden noch keine Eisenbahn bestand. Die Strecke wurde bereits im Frühjahr 1872 eröffnet.
139
Aus Heimat und Fremde.
H o ch s ch u l n a ch r i ch t e n. Marburg: An:
21. Mai fand in üblicher Weise die feierliche Immatri-
kulation der Studierenden des Jubiläumssemcsters statt.
Der Rektor Geheimrat Prof. Dr. Busch verband mit
seinen Begrüßungsworten den Hinweis, daß das jetzt
begonnene Semester den Mschluß der 400 jährigen Ge-
schichte der Universität bilde, aber nur die letzten Tage
des Semesters sollten der Feier gelten. Der Vorsitzende
der Marburger Studentenschaft stuck. K a y s e r begrüßte
die jungen Kommilitonen im Namen der Studentenschaft.
Dann erfolgte mittels Handschlag die Überreichung der
Matrikel. — Im Alter von 58 Jahren verschied am
25. Mai der ordentliche Professor Dr. jur. Paul
Meyer. In Bergedorf geboren, habilitierte er sich
1897 in Marburg und wurde 1907 zum Professor er-
nannt. 1896/97' war er als Assessor in Marburg
tätig. Sein Fach war Rechtsgeschichte, Privat-, Han-
dels-, Wechsel- und Seerecht. — Bibliotheksrat Dr.
Heller an der Universitätsbibliothek wurde in gleicher
Eigenschaft an die Universitätsbibliothek in Münster
i. W. versetzt. — Am 21. Mai hielt Dr. rer. pol.
Rolf Fricke seine Antrittsvorlesung über „Öffentliche
oder private Wohnungswirtschaft". — Am 28. Mai
hielt Dr. phil. Rudolf T o m a s che k seine Antritts-
vorlesung „über absolute Bewegung und die experimen-
tellen Grundlagen der Relativitätstheorie". — Die theo-
logische Fakultät ernannte den Geheimen Studienrat
Professor Gustav H ü p e d e n in Kassel zum Ehrendoktor.
— Der preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und
Volksbildung beauftragte den Frankfurter Bildhauer
Benno Elkan, für das Universitätsjubiläum eine Me-
daille zu schaffen. — Die Arbeiten am Denkmal für
die im Weltkrieg gefallenen Angehörigen der Univer-
sität, das gegenüber der Universität an der Weiden-
häuserbrücke Aufstellung findet, sind soweit gediehen,
daß der in Granit gehauene Löwe auf den Sockel ge-
setzt werden konnte. Die Einweihung findet anläßlich
des Universitätsjubiläums statt. — Am Abend des
30. Juni brach im Dachstuhl des neuen Universitäts-
ebäudes, des sog. Landgrafenhauses, ein Brand aus,
er auch das dort untergebrachte Juristische, Arbeits-
rechtliche und Mathematische Seminar ergriff. Die zu-
gehörigen Bibliotheken wurden durch die Studenten
zum größten Teil in Sicherheit gebracht, doch sind viele
Akten' durch die ungeheuren Wassermengen vernichtet
worden. — In der Jahresversammlung des Univer-
sitätsbundes Marburg teilte 'Geheimrat Prof.
Dr. T r o e l t s ch mit, daß der Bund in 18 Gruppen
2956 Mitglieder zählt. Jur Förderung wissenschaft-
licher Arbeiten bewilligte der Bund insgesamt 15 600
Mark. Seine Haupttätlgkeit war im vergangenen Jahr-
aus Sammlung für das neue Kunstinstitut beschränkt
gewesen. Es wurden bis jetzt 1250000 RM aufgebracht
und zwar 725 000 RM aus öffentlich-rechtlichen Krei-
sen und 525 000 RM aus privaten Kreisen; nicht mit-
einbegriffen ist der Wert des Baugrundstückes, das
die Stadt Marburg stiftete. Als Gegengabe wurde
bei den Ortsgruppen von 43 Herren 50 Vorträge ge-
halten. Die Mitglieder des bisherigen Verwaltungs-
rates wurden wiedergewählt; an Stelle des verstorbenen
Oberbürgermeisters Dr. Voigt trat Oberbürgermeister
Mueller' und an Stelle des ausgeschiedenen Prof. Dr.
Merk Geheimrat Prof. Dr. jur. Manigk. Nach Ge-
nehmigung des Kassenberichts schlossen sich in der Uni-
versitätsaula zwei Vorträge an; es sprachen Prof.
H ä p k e über die Anfänge der modernen Wrrtschafts-
140
Politik und Prof. Verso über die Vorgänge bei der
inneren Sekretion und ihrer Störung. Ein gemein-
sames Essen in den Stadtsälen beschloß die Tagung. —
Gießen: Ter bisherige Hilfsarbeiter an der Uni-
versitätsbibliothek Dr. Joseph G i e ß l e r wurde zum
Bibliothekar au der Landesbibliothek in Düsseldorf er-
nannt. — Die Gesamtzahl der Studierenden betrügt
1476 (gegen 1353 im W.-S. und 1388 im letzten S.-S.).
— Die theologische Fakultät ernannte den ord. Prof,
der Rechte an der Universität Tübingen, Geh. Justiz-
rat Dr. Arthur Benno Schmidt zum Ehrendoktor. —
Darmstadt: Die Technische Hochschule zählt 2276
Studierende, 37 Hörer und 122 Gäste; im W.-S.
waren es 2344 Studierende, 45 Hörer und 265 Gäste.
— Hannover: Die Technische Hochschule ernannte
Kommerzienrat Adam Credo, den Inhaber der Wag-
gonfabrik Gebrüder Credo in Niederzwehren, zum Ehren-
doktor.
P e r s o n a l ch r o n i k. Am 26. Mar beging der
am 2. März 1839 in Kassel als Sohn des Oberst-
leutnants Friedrich v. Bardeleben geborene General-
major Friedrich v. B a r d e l e b e n in Frankfurt a. M.,
der bekannte Hippologe, sein 70 jähriges Militärjubi-
läum. — Robert Bartram wurde anläßlich seiner
40 jährigen Zugehörigkeit zum Verband des Staats-
theaters in Kassel zum Kammersänger ernannt. — Ka-
pellmeister Franz Wilhelm R e u ß vom Städtischen
Opernhaus Berlin wurde an Stelle des nach Wies-
baden berufenen Kapellmeisters Dr. Ernst Zulauf
als erster Kapellmeister an das Staatstheater in Kassel
verpflichtet.
Todesfall. Am 3. Juni verschied zu Hersfeld
Kreispfarrer Superintendent Gustav Feyerabend.
Einer mederhessischen Familie entstammend, deren männ-
liche Mitglieder seit mehr als zweihundert Jahren sich
dem Beruf des Lehrers oder Geistlichen widmeten,
wurde er am 21. Juli 1855 als jüngster Sohn des
Metropolitans Dr. Reinhard Feyerabend in Felsberg
geboren. Nach dem Besuch der Gymnasien in Kassel
und Marburg studierte er in Marburg und Leipzig,
wurde Pfarrer in Jestädt und Nentershausen und er-
hielt 1896 die dritte, 1909 die erste Pfarrstelle in
Hersfeld.
Tausendjahrfeier eines Rhönfleckens.
Der Marktflecken Hettenhausen (Kreis Gersfeld)
kann in diesem Jahre seine Tausendjahrfeier
begehen. In Fulda liegt ein Schenkungsverzeichnis von
927. Darin wird bestätigt, daß zwei Männer, Willi-
kauer und Volmar, ihre Besitzungen in Hettinshus dem
Kloster Fulda als Lehen übergeben.
Kassel. Die Altstädter Gemeinde beging am
22. Mai festlich die Wiederkehr ihres 400 jährigen
Gründungstages als des Tages, an dem zum ersten
Male in 'der ihr 1527 von Landgraf Philipp geschenkten
Brüderkirche, der alten Klosterkirche der Karmeliter^
evangelischer Gottesdienst stattfand. Gleichzeitig (1527)
wurde die bisherige Kirche der Gemeinde, die Cyriakus-
kirche auf dem Marställer Platz, abgerissen und ihre ehr-
würdige große Glocke, die Osanna, auf den Martinsturm
gesetzt. — In diesem Jahr besteht die Kasseler St.
Elisabethenkirche, in der Landgraf Friedrich II. begraben
liegt, 150 Jahre. Aus diesem Anlaß werden die
katholischen Gemeinden Kassels nach 400 jähriger Unter-
brechung am 19. Juni einen Fronleichnamsprozession
veranstalten, die sich auf dem Friedrichsplatz abspielen
wird. — Die Festfeier, in der die bis vor 20 Jahren
selbständige Dorfgemeinde Bettenhausen ihr 800 jähriges
Bestehen begehen wird, soll vom 30'. Juli bis 1. Aug.
stattfinden. Vorgesehen ist am 30. Juli Kommers, am
31. Juli und 1. August Volksfest auf den Diemar
und Hellerschen Wiesen in der Agathofstraße, dem Sonn-
tag früh ein Festakt vorausgeht. Eine die Ortsge-
schlchte aus archivalischer Grundlage behandelnde Fest-
schrift wird vom Volkswirt Bruno Jacob verfaßt. —
Für Beihilfen an bedürftige Kasseler Künstler hat der
Magistrat einen Betrag von 5000 RM bewilligt, der
im ' Benehmen mit dem Reichswirtfchaftsverband für
bildende Künstler zur Verteilung gelangen soll.
Marburg. Am 27. Mai begannen vor der alten
Lutherkirche in großen Ausmaßen mit Massenszenen,
Gruppen und Einzelauftritten die Marburger Festspiele.
Den .Hauptinhalt des von A. Pfeffer verfaßten Stückes
bildet die Übergabe der Marburger Marienkirche an den
evangelischen Gottesdienst durch Landgraf Phillipp. Die
Ausführung war vortrefflich. Die gesamte Spiellei-
tung lag 'in den Händen des Nniversitätslektors 0r.
Fritz Budde. Die Spiele, an denen über 250 Dar-
steller mitwirken, werden bis zum 19. Juni wieder-
holt. — Auch die 400-Jahrfeier des Gymnasium Philip-
pinum nahm in dreitägiger Dauer bei zahlreicher Be-
teiligung ehemaliger Schüler — als ältester der an-
wesenden Ehemaligen sprach am Begrüßungsabend
Pfarrer Weiß- Hofgeismar — einen glänzenden Ver-
lauf. —- Am 24. Mai jährte sich zum 600. Male der
Überfall Marburgs durch einen Mainzer Kriegshaufen.
Die Marburger setzten sich mit Erfolg zur Wehr und
verfolgten die Mainzer bis in die Gegend von Amöne-
burg, wo sie in einen feindlichen Hinterhalt gerieten
und zum größten Teil erschlagen wurden.
F u l d ä. Der preußische Minister des Innern hat
aus Grund des § 4 Alp. 1 und 2 der Kreisordnung für
die Provinz Hessen-Nassau vom 7. Juni 1885 die
Stadt Fulda im Regierungsbezirk Kassel vom 1. April
d. I. ab für ausgeschieden aus dem Verbände des
Kreises Fulda erklärt. Seit diesem Tage bildet die
Stadt Fulda für sich einen Stadtkreis.
Melsungen. Hier soll in der Nähe des Bahn-
hofs eine neue Fuldabrücke errichtet werden, um die
alte Brücke zu entlasten; diese soll als historisches Bau-
denkmal stehen bleiben und nur noch dem leichteren
örtlichen Verkehr dienen.
Friedberg. Das vor sieben Jahren ins Leben
gerufene Wetterauer Heimatmuseum hat sich mittler-
weile zu einer reichhaltigen Sammlung von Kunstgegen-
ständen aller Art aus' dem Heimatgebiete entwickelt,
so daß die Neubeschasfung von Räumlichkeiten dringend
notwendig ist.
4k eu entdeckte Handschriften zur Ge-
schichte des Klosters Fulda. Während man
sich für das berühmte und vielerörterte Schreiben
Karls des Großen an den Abt Bangulf
von Fulda über die Bildung der Klostergeistlichkeit
und die Notwendigkeit des Studiums bisher auf eine
einzige Handschrift des 11.—12. Jahrhunderts stützen
mußte, ist es Prof. Paul Lehmann in München ge-
lungen, in Oxford eine aus Würzburg stammende Kopie
zu entdecken, die ihren angelsächsischen Schriftzügen
nach zeitlich wie örtlich in die nächste Nähe des Emp-
fängers, ans Ende des 8. Jahrhunderts und ins Schrift-
gebiet von Würzburg-Fulda, führt. Die Abweichungen
im Wortlaut geben Veranlassung zu einer in mancher
Hinsicht neuartigen Erklärung wichtiger Stellen des
Briefes. Ferner' konnten, wie Prof. Lehmann aus der
neuen Folge seiner Fuldaer Studien in der Bayerischen
Akademie 'der Wissenschaften mitteilte, dem mit 361
Bildern geschmückten Kodex der Enzyklopädie des Hra-
banus Maurus aus Montecassino von 1023 zum ersten
Male zwei andere illustrierte Handschriften desselben
Werkes aus der Vaticana angeschlossen werden. Be-
sonders wertvoll ist ein 1425 in Deutschland abge-
schlossener Band, der früher dem Pfälzer Kurfürsten in
Heidelberg gehört hat. Die alten Bilder sind mit Ge-
schmack und Geschicklichkeit in den deutschen Stil des
15. Jahrhunderts übertragen und geben in vielem reiz-
volle Darstellungen von Natur und Leben.
Aus dem S ch l i tz e r L a n d. Der „Schlitzer Bote"
berichtet: Vor kurzem hatten der Sohn Karl des Bürger-
meister Döring in Rimbach und die Tochter Barbara
des Landwirts Faust in Queck Hochzeit, die in alt-
hergebrachter Schlitzerländer Sitte gefeiert wurde. Be-
merkenswert war, daß der ganze Hochzeitszug mit den
reizenden Schlitzerländer Trachten und der Brautwagen,
der vor der Hochzeit gefahren wird, von Schulrat
Lorentz-Lanterbach mit der Filmkamera aufgenommen
worden ist. Der Filmstreifen wird ein Stück dörflicher
Eigenart im Bild festhalten, die allmählich unserer
Zeit geopfert wird.
Von der Schwalm. Wer mit offenen Augen
durch unsere Schwalmdörfer wandert, der muß mit
Betrübnis die Wahrnehmung machen, daß es mit der
schönen Tracht des Schwälmer Volksstammes immer
weiter rückwärts geht. Das ist eine traurige Tatfacho,
an der alle Bemühungen einsichtiger Volkskreise, denen
die Erhaltung des echten Schwälmer Volkstums am
Herzen liegt, leider nicht viel werden ändern können.
Gibt es doch schon eine tjan^e Reihe von Dörfern in
der Schwalm, in denen die städtische Tracht die Ober-
hand gewonnen hat, während die Schwälmer Tracht
immer mehr zurückgedrängt wird. Kommt man gar in
die Schulklassen hinein, so bemerkt man mit Erstaunen,
daß nur noch wenige Kinder die echte Schwälmer
Kleidung tragen. Und bei dem kleinen Nachwuchs
sieht's noch viel ärger aus. Es ist hohe Feit, daß
die Schwälmer selbst aus angeborenem Nationalstolz
heraus diesem Bestreben mit allen Mitteln entgegen-
treten und vor allem selbst an der prächtigen Ur-
vätertracht festhalten. Wenn es ihnen nicht gelingt,
ihre eigenen Volksgenossen von dem unsinnigen Ge-
bahren zurückzuhalten, dann wird die Zeit nicht mehr
fern sein, in der man die schönen Schwälmer Trachten
nur noch in den Museen wird bewundern können. Es
wird an den Schwälmern selbst liegen, diese Befürch-
tungen in möglichst weite Ferne zu' rücken. (Oberhess.
Jeitung.x
Steinau (Kreis Schlüchtern). Nach gründlicher
Wiederherstellung ist jetzt die hiesige Teufelshöhle
vom Verkehrsverein Steinau wieder für das Publikum
freigegeben worden. Sce ist die größte Höhle Hessens
und bietet ein ideales Beispiel dafür, daß Höhlenbäche,
Springe, Penore, Wassersickern und Unterhöhlen mit
Kropfsteinen auf kleinem Gebiet vorkommen können. Man
gelangt in sie durch einen 53 Meter langen Gang.
Der Hauptdom ist 30 Meter hoch, mißt 111/2 Meter
im Durchmesser und endet rn einem linken, abschüssigen
Gang, der in das Innere der Höhle nach Süden führt.
Man glaubt, daß außer der Haupthöhle, dem Wasser-
bassin und den kürzlich neuentdeckten Seitenhöhlen noch
weitere Höhlen vorhanden sein müssen, was auch mit
den Beobachtungen bekannter Geologen übereinstimmt.
Ist ein Kasselaner an Schillers Tod
schuldig? Unter dieser Überschrift weist Or. Kurt
Brauer im „Kasseler Tageblatt" vom 5. Junr darauf
hin, daß die ursprüngliche Tapete in Schillers Sterbe-
zimmer Arsen und Kupfer enthielt, also aus Schwein-
fnrter Grün bestand. Wegen der Schädlichkeit i>tc)er
Tapeten wurde durch Reichsgesetz vom Jahre 1887
die Verwendung des Schweinfurter Grüns zum Färben
von Tapeten verboten. Es fei sehr wohl möglich, daß
Schillers dauernde Kränklichkeit und früher Tod in
ursächlichem Zusammenhang stehen können mit der Gif-
tigkeit dieser, übrigens durch Goethe für Schiller' be-
sorgten grünen Tapeten. Neuerdings hat nun Dr.
Franz Feldhaus festgestellt, daß der 1784 in Kassel
geborene Kaufmann Johann Christian Wilhelm Sattler
der Erfinder des Schweinfurter Grüns war. Dr. Brauer
weist noch darauf hm, daß tatsächlich heftige Ver-
giftungserscheinungen durch Einwirkung grüner Zim-
mertapeten nachgewiesen sind.
Die Römervilla am Main. Bei den Aus-
schachtungsarbeiten für neue Wohnviertel auf dem Ge-
lände des ehemaligen römischen Nida zwischen Hed-
dernheim und "Praunheim wurden neue, sehr
wichtige Funde und Ausgrabungen gemacht. Unter
der Führung des Historischen Museums legte man
zunächst an der Westseite der großen römischen Siedlung
eine frühkeltische Siedlung frei, von der nicht weniger
als 20 Wohnstätten aufgedeckt wurden, nämlich an der
Stelle, wo sich in Urzeiten eine Furt über die Nidda
befand. Dann aber grub man die Reste einer glänzend
ausgestatteten römischen Villa aus, die mit ihrem reich
gegliederten Grundriß, den wunderbaren Heizungsan-
lagen und den hervorragenden Wandmalereien als bis-
her einzig am Main dastehend bezeichnet werden müssen.
Das Herrenhaus war 46 Meter lang und 40 Meter-
breit. Von der pfeilergeschmückten Süoseite führte eine
stattliche Freitreppe in das Haus, an dessen Rückseite
sich ein großer Hofraum anschloß. An der Westseite
erhob sich in gleicher Ausdehnung wie das Herren-
haus das großartige Wirtschaftsgebäude. Die ausge-
dehnte Anlage befand sich außerhalb der eigentlichen
Stadt Nida und ist vermutlich im 2. Jahrhundert
gebaut. Vielerlei Anzeichen sprechen dafür, daß der
Germaneneinfall um 260 n. Chr. den Ausbau der Villa
unterbrach, und daß die Räume rasch geräumt werden
mußten. Wenigstens findet man nichts von Hausrat
und sonstigem Inventar. Ferner wurden die Ostmauern
der Stadt "Nida und andere bedeutende Bauten ermittelt,
die aber noch längst nicht freigelegt worden find. Man
rechnet, da die Arbeiten den ganzen Sommer über
fortgesetzt werden, noch mit werteren glänzenden Er-
gebnissen. (Fuldaer Ztg.)
Landwirtschaftliche Betriebe in Hes-
sen-Nassau. In der Provinz Hessen-Nassau
wurden gezählt: 242 043 landwirtschaftliche Betriebe und
zwar in "Klasse 1: 149 296, Klasse 2: 55 155, Klasse 3:
34 197, Klasse 4: 2893, Klasse 5: 298, Klasse 6: 165,
Klasse 7: 39. Von diesen sieben Klassen wurden zu-
sammen 700 901 Hektar landwirtschaftlich genutzte Fläche
bewirtschaftet und zwar von Klasse 1: 91 805 Hektar
— 14,3 Prozent, Klasse 2: 177 092 Hektar — 28,5
Prozent, Klasse 3: 301 134 Hektar — 41,9 Prozent,
Klasse 4: 77 104 Hektar — 8,8 Prozent, Klasse 5:
20 620 Hektar — 2,6 Prozent, Klasse 6: 22 886 Hektar
— 2,8 Prozent, Klasse 7: 10 260 'Hektar — 1,1 Prozent.
Das Geheimnis des Zuchthauses
in Kassel.
Vor einigen Tagen entdeckte man bislang nicht be-
kannte unterirdische Räume im Bezirk des alten Zucht-
hauses an der Fulda und fand einen oberirdischen Zu-
gang — eine abgedeckte Einsteigöffnung in diese — vor.
Ich mußte lächeln, als eine hiesige Zeitung an demselben
142
Tag, an dem diese interessante Entdeckung gemacht
wurde, bereits „feststellen" konnte, „daß es diejenige
Zelle war, aus der zu kurfürstlichen Zeiten zum Tode
Verurteilte in die Fulda gestoßen wurden". (Es wäre
immerhin interessant gewesen zu erfahren, aus welche
Einzelfälle diese geschichtlichen Kenntnisse sich gründen.)
Das ist natürlich purer Unsinn, und auch die Mehrzahl
der bisher an die Auffindung dieser Räume geknüpften
Kombinationen ist haltlos. Ich stelle dies fest, ohne zu
einer örtlichen Besichtigung Gelegenheit gehabt zu haben.
Es handelt sich bei dem Fund um nichts weiter als
die Auffindung von Kasematten und Befestigungsan-
lagen, die der älteren Zeit, und zwar einer Periode vor
der Mitte des 16. Jahrhunderts, entstammen, und die
das linksseitige Fuldaufer von der Bastion Finkenherd
an bis zu dem Rondell am Schloß in geschlossener Linie
begleiten. Daß die Räume heute mit Wasser ange-
sammelt sind, ist selbstverständlich, denn man hat den
Fuldaspiegel im Laufe der Jahrhunderte mehrfach, be-
ginnend ' mit den Ausbauarbeiten der Unterneustädter
Mühle im 16. Jahrhundert, erhöht. Eine nochmalige
wesentliche Erhöhung des Wasserstandes ist zu Gunsten
der Vogtschen Mühle erst in neuster Zeit wieder vorge-
nommen worden; wie wir wissen, unter Herbeiführung
ganz bedeutender Schäden für die tiefer gelegenen Stadt-
teile der Unterneustadt und Altstadt sowie der Karls-
aue. Ich habe diese srüh-mittelalterlichen Kasematten
schon vor langen Jahren mehrfach nachgewiesen, u. a.
in meinen beiden großväterlichen Häusern in der Fulda-
gasse (die den alten Brückenkopf in der Eisbrecherlinie
flankierten), bei Errichtung des Zaitenstockes an der-
selben Stelle, sowie bei Ausführung der Abbruchsarbeiten
des Stadtbaues; ich vermute sie —- Nachforschungen
werden dies sicher bestätigen! — am Rondell, unter
den Renthofgebäuden, in den anderen Häusern der Fulda-
gasse und zwischen Stadtbau und Finkenherd. Im Zucht-
haus sind sie ja inzwischen gefunden worden. In eins
gehenden Ausführungen im „Hessenland" (Jahrgang
1912, Heft 13/16 und 1925, Hest 5) habe ich daraus
hingewiesen und unter Beigabe einer Zeichnung u. a.
eine Hypothese ausgestellt bezüglich der früheren Ge-
ländeverhältnisse und speziell der Geschoßteilung des
Stadtbaus, der wohl kaum widersprochen werden kann.
Hätte man die von mir damals angeregten Nachgra-
bungsarbeiten ausgeführt, so hätte man den Beweis für
meine Behauptung und mit ihm das unter dem uns
bekannt gewesenen Kellergeschoß des Stadtbaus noch
vorhandene und wahrscheinlich zum größten Teil ver-
schüttete frühere Kellergeschoß dieses alten städtischen
Gebäudes einschließlieh der gleichen Kasematten wie am
Zuchthaus vorgefunden. Ich habe im Stadtbaü auch
eine ebensolche Einsteigöffnung nachgewiesen und einen
weiteren runden Schacht neben dem Turmbau, dessen
Zweckbestimmung mir nur als Brunnenanlage oder als
weitere Einsteigösfnung zu darunter gelegenen Räumen
gegeben erscheint.
Wie gesagt — daß die Räume heute unter Wässer
stehen, ist ebenso selbstverständlich, als daß sie zur Zeit
ihrer Anlage und ihrer Benutzung zu Verteidigungs-
zwecken waiserfrei gewesen und allenfalls bei Hoch-
wasser der Überschwemmungsgefahr ausgesetzt waren.
Ich glmibe, in der Lage zu sein, für meine aufge-
stellten Behauptungen nicht nur eine große Anzahl
von Beweisen erbringen, sondern auch den Gang der
weiteren Ermittelungen im Sinne dieser Beweisführung
abwarten zu können, möchte indessen diese kurzen Aus-
führungen der Öffentlichkeit nicht vorenthalten,- damit
nicht noch phantastischere Vermutungen auftauchen.
Fritz Stück.
Die hessische Verwandtschaft von Aug.
Herm. F r a n ck e.
Von Lic. Rudolf Fraucke.
Als ich vor einer Reihe von Jahren in Heldra im
Kreis Eschwege Familienforschungen nachging, mußte
ich zu meinem Leidwesen erfahren, daß die Kirchenbücher
nur bis zum 30 jährigen Kriege zurückreichten. Ich
war daher darauf angewiesen, die mutmaßlichen Vor-
fahren unseres ältesten Stammvaters auf andere Weise
zu ermitteln. Der Name Frank (Frankk) kommt zum
ersten Male auf einem Kelche vor, der im Jahre 1611
von einem Schultheiß Christian Frank gestiftet wurde.
Ein Johann Frank wiro 1636 als Schultheiß von
Heldra genannt. Eine von „Herrn Dr. Franken bet die
Heldrische Kirche verehrte Kurfürstenbibel" stammt aus
dem Jahre 1666. Der Stifter kann niemand anders
sein als der Vater von Aug. Herm. Francke, der Hof-
und Justizrat Johannes Francke, dessen Vater Christian
im Jahre 1628 als Bäcker von Heldra nach Lübeck aus-
gewandert war. Dieser Justizrat Fr. war zuerst Dom-
Syndikus in Lübeck und wurde 1666 nach Gotha be-
rufen, wo er 1670 starb. Sein Sohn August .Her-
mann wurde am 23. März 1663 in Lübeck geboren.
Personalien.
Ernannt: Opernsänger Robert Bartram in Kassel
zum Kammersänger; zu Rektoren: Mittelschullehrer
Beckers in Hanau; Lyzeal-Oberlehrer Hassen-
Pflug in Kassel; in Elgershausen der Lehrer Rit-
t erbn sch aus Wesermünde; zum Konrektor: der Leh-
rer Sprenger in Bebra; zur Konrektorin: die Leh-
rerin I u p p e in Großauheim; zum Hauptlehrer: der
Lehrer Wigand in Naumburg; Pfarrer B ö l g e r -
Hellstein zum Bezirksjugendpfleger des Regierungsbe-
zirks Kassel; Regierungsassessor Dt. Kollath bei
der Regierung in Kassel zum Regierungsrat; Steuer-
amtmann Kühn in Melsungen zum Regierungsrat;
die Pfarrer extr. T i s ch e r in Germerode, D e h n -
h a r d in Rengshausen und Bohlender in Spielberg
zu Pfarrern daselbst; der Pfarrer B l a z e j e w s k i in
Rockensüß zum 1. Pfarrer der Altstädter Gemeinde in
Eschwege; zu Obersteuersekretären die Steuersekretäre:
M e r g a r d in Kassel, S t r i tz k e in Hanau, H a a ß
in Hünfeld; zu Oberzollsekretären die Zollsekretäre:
Pfeffer in Eschwege, M ü l o t in Kassel, Sander
in Melsungen, Rapp in Hanau; zum Zollsekretär der
Zollassistent Ries in Fulda; Regierungsbaupraktikant
Brauns in Marburg zum Regierungsbauobersekretär,
die Kreisobersekretäre Bieg in Gelnhausen zum ordent-
lichen Mitglied und Gerl off. in Melsungen zum
stellvertretenden Mitglied des Prüfungsausschusses für
die bei den Landratsämtern anzustellenden Kreissekretäre.
Bestätigt: Dr. rsr. pol. Otto Schmidt, seither
Bürgermeister der Stadt Harzgerode, zum Bürgermeister
der Stadt Melsungen; der zum Oberbürgermeister der
Stadt Marburg gewählte seitherige Bürgermeister von
Marburg Müller; der zum Bürgermeister der Stadt
Großalmerode gewählte seitherige Stadtobersekretär
Louis Wieder st ein.
Übertragen: dem Förster Schmidt zu Leuterode,
die Försterstelle Caldern; den überzähligen Förstern
Eggert, die Försterstelle Jesberg; Gel ch, die För-
sterstelle Klein-Ropperhausen; I a n e tz k e, die Förster-
stelle Odelsheim; K a u p i s ch, die Försterstelle Burg-
haun und P ü s ch e l, die Försterstelle Theerhütte; dem
Forstsekretär Schneider, Obersörsterer Kirchditmold,
Weiter tvird im Kirchenbuche genannt: Elisabeth,
Adams Franken hinter!. Wittib, geb. 1631, f 30. 6.
1712. Dann folgen in den Kirchenbüchern noch ver-
schiedene Glieder der Familie Francke, so daß sich etwa
folgender mutmaßlicher Stammbaum ergibt:
Christian Frank, Schultheiß in Heldra, geb. 1565?
Johann Friedrich, geb. 1590? Christian, geb. 1595?
Schultheiß in Heldra 1636 Bäcker, 1628 nach Lübeck
Adam, geb. 1625? Johannes, geb. 1620?
verheiratet mit Elisabeth, verheiratet 1651 in Lübeck,
geb 1631 f 1712 f 1670 als Justizrat in Gotha
Johann Christoph Johann Heinrich August Herrmann
Amtmann in Tref- Bürgermeister geb. 23 3. 1663 in
fürt, geb. 1660? geb. 1665 Lübeck, f 8. 6. 1727
st 1702, verh. mit st 1728 in Halle
A.G geb. Klinkerfuß
Von ihm Gotthilf
Von ihm stammt die stammen Ohne Nachkommen
hessische Pfarrer- wahrscheinlich
familie Francke ab. die in Heldra
ansässigen Franckes ab.
die Försterstelle Hattenbach; dem überzähligen Förster-
Clausius, Oberförsterei Steinau, die Försterstelle
Niederklein; dem überzähligen Förster D r e) dy e r, die
Försterstelle Machtlos; dem Stadtoberschulrat Boese
in Kassel nebenamtlich die staatliche Schulaufsicht über
die Mittel- und Privatschulen der Stadt Kassel und
dem Stadtschulrat B e t t i n g daselbst über die Volks-
und Hilfsschulen der Stadt Kassel.
Endgültig angestellt: die Lehrer Haas in Ober-
möllrich, Plettenberg in Moischt, Bachmann
in Rengsfeld; die Lehrerin F r e d e r k i n g in Wa-
bern ; die Schulamtsbewerber F a ck in Weidebrrinn und
Heinrich Carl in Herlefeld.
Berufen: Kapellmeister Wilhelm Franz Reuß vom
Städtischen Opernhaus Berlin als erster Kapellmeister
an das Staatstheater in Kassel.
Verliehen: die Rettungsmedaille am Bande dem
Zivilmaschinisten Kurt Rother in Philippstal.
Versetzt: Oberförster Holländer in Elnhausen
auf die Oberförsterstelle Rantzau; Pfarrer Schmidt
zu Battenberg ist ab 1. Juli an die Ringkirche zu
Wiesbaden versetzt; Regierungsrat Wegeler vom
Landratsamt Mayen zur Regierung Kassel; Reg.- und
Kulturrat Dr. H o e f i g aus Hersfeld an das Kultur-
amt in Kiel; die Lehrer Linde von Schmalkalden
nach Frankenberg, R u h l a n d von Frankeubcrg nach
Schmalkalden, G o e b von Uerzell nach Niederklein,
Höhn von Ohndorf nach Großhegesdorf, Walker-
l i n g von Niederaula nach Süß, N ö l k e r von Höhne-
bach nach Mecklar, Drescher von Widdershausen nach
Löhlbach.
In den Ruhestand versetzt: Abteilungspräsident Dr.
Finger vom Landesfinanzamt Kassel.
Vermählte: Rechtsanwalt Dr. Karl Zuschlag und
Frau, Charlotte, geb. Noelle (Köln, 7. 5.); Handels-
redakteur Gerhard W i l h e l m i und Frau, Liselotte,
geb. Tesch (Kassel, 21. 5.); Karl K r e ck und Frau,
Rosa, geb. Thiele (Indianapolis, U. S. A.); Dr. phil.
Maximilian Krafft und Frau, Erna, geb. Astroth
(Marburg-Bochum, 22. 5.); Studienrat Emil Jung-
h e n n und Frau, Martha, geb. Braun (Kassel, 4. 6.).
Geboren: ein Sohn: Lehrer Fr. S ch a a b und
Frau, Adda, geb. Jung (Bernsheim, 20. 5.); Apo-
thekenbesitzer Walter Niedergerke und Frau, Eli-
sabeth, geb. Straub (Bielefeld, 26. 5.); Dr. mack. R.
Falk und Frau, Isolde, geb. Baumgart (Kassel, 6. 6.);
Wilhelm Lieberg und Frau, Hertha, geb. Hersch
(Kassel, 5. 6.); Dr. Rolf Rinteln und Frau, Alma,
geb. Rothstein (Kassel, 7. 6.); -— eine Tochter:
Prof. H ä p k e und Frau, Erna (Marburg, 27. 5.);
Diplom-Landwirt Wilhelm Petrasko, Edler von
Kornya und Frau, Hildegard, geb. Wertheim (Schloß
Möchling, 27. 5.); Oberregierungsrat a. D. Dr. Blänk-
u e r und Frau, Ella, geb. Koskowski (Kassel, 26. 5.);
Privatdozent Dr. K. A. Eckhardt und Frau, Ilse,
geb. Thiel (Göttingen, 28. 5.); Studienrat Schmidt
und Frau, Jda, geb. Wende (Hersfeld, 30. 5.); Prof.
Dr. Jacobshagen und Frau, Erika, geb. Schmidt
(Marburg, 8. 6.); Oberförster Waldschmidt und
Frau, Gertrud, geb. May (Ehlen, 12. 6.).
Gestorben: Ehefrau des Oberpostsekretärs i. R. Ste-
fanie N i e m a n n, geb. Bode (Kassel, 21. 4.); Amts-
gerichtsrat t. R. Karl Bock und Frau, Helene, geb.
Cauer (Kassel, 18. 5.); Fräulein Else Hoffmann,
49 I. alt (Kassel, 18. 5.); Ehefrau des Obertelegraphen-
sekretärs Anna B o ck e l, geb. Friedrich, 42 I. alt
(Kassel, 19. 5.); Reichsbahuobersekretär i. R. August
H a r t m a n n, 70 I. alt (Kassel, 20. 5.); Junglehrer
Richard Schulz, 26 I. alt (Wolfhagen, 21. 5.);
Zimmermeister und Sägewerksbesitzer Leopold Feuer-
st e i n, 57 I. alt (Dipperz, 25. 5.); Regierungsrat
Dr. jur. Theodor Engelhardt, 59 I. alt (Mühl-
heim-Ruhr, 25. 5.); Obersekretär Karl Stroh (Hom-
burg v. d. H.); Rechtskonsulent Louis Wehn, 70 I.
alt (Marburg, 27. 5.); Kommerzienrat Weise, 82 I.
alt (Kassel); Ehefrau des Stadt-Oberinspektors Elsa
Diez, geb. Kujas, 41 I. alt (Kassel, 27. 5.); Pfar-
rer i. R. Karl Schwarzenberg, 65 I. alt (Nieder-
zwehren); Fräulein Anna Heller, 72 I. alt (Kassel);
Rentner Büttner, 84 I. alt (Ehrsten); Postassistent
Georg B r e ß l e r, 45 I. alt (Kassel, 28. 5.); In-
genieur Karl Brandt, 71 I. alt (Kassel, 28. 5.);
Ehefrau des Försters Marie B ö l z e r, geb. Scherb,
62 I. alt (Gudensberg, 29. 5.); Kaufmann Wilhelm
Henkel, 71 I. alt (Kassel, 30. 5.); Redakteur An-
dreas Dietrich, 74 I. alt (Kassel, 30. 5.); Land-
wirt Justus M o st, 78 I. alt (Großenenglis, 30. 5.);
Bürgermeister Heinrich Wilhelm, 63 I. alt (Winnen,
30. 5.); Prof. Dr. jur. Paul Meyer (Marburg, 30. 5.);
Beigeordneter Reinhardt Gimpel (Treysa); Ehefrau
des Finanzrats Elsa Hahn, geb. Rau, 42 I. alt
(Vieselbach, 30. 5.); Ehefrau des Inspektors Auguste
Löwe, geb. Röhre, 44 I. alt (Höchst a. M., 31. 5.);
Professor Walter Völker (Kassel-W., 1. 6.); Ehe-
frau des Lehrers Hedwig Walther, geb. Lücke (Has-
selbach, 1. 6.); Landessekretär Heinrich Damm,
58 I. alt (Kassel, 1. 6); Mühlenbesitzer Wilhelm
Möller, 79 I. alt (Kassel-B., 2. 6.); Hotelbesitzer
August K l e p s ch, 81 I. alt (Bad-Sooden); Super-
intendent Gustav Feyerabend, 71 I. alt (Hers-
feld) ; Sekretär Claus, 88 I. alt (Philippsthal);
Lehrer i. R., Kantor Engelhardt August Eckhardt,
71 I. alt (Kappel, 2. 6.); Ehefrau des Musiklehrers
Anna B r e d e, geb. Hoffmann, 62 I. alt (Kassel,
3. 6.); Kaufmann H ü t h e r (Hofgeismar); Witwe des
Lehrers Henriette Jobst (Kassel, 4. 6.); Ehefrau des
Oberpostinspektors Rose M a r t i n, geb. Reyher (Kassel,
4. 6.); Witwe des Lehrers Emma Rabe, geb. Pötter,
84 I. alt (Kassel-W., 4. 6.); Ingenieur Leopold
Brandt, 77 I. alt (Kassel, 5. 6.); Ehefrau des
Gutsinspektors Marie Scholz, geb. Heidrich, 56 I.
alt (Marbach, 5. 6.); Besitzer des Kurhauses Lmdenlust
August Halb reit er, 78 I. alt (Melsungen, 5. 6.);
Hospital-Rendant Landwirt Paul P f a l z g r a f, 72 I.
alt (Niederaula, 5. 6.); Uhrmachermeister Georg Froh n,
72 I. alt (Kassel, 5. 6.); Frau Baurat Kamp f, geb.
Schirmer (Kassel, 5. 6.); F ü r st i n AlfredzuUsen-
burg u. Büdingen, geb. Gräfin zu Castell-Rüden-
hausen (Büdingen); Georg Rumpf, 61 I. alt (Kassel,
7. 6.); Witwe des Direktors Mathilde G o t t h e l f t,
geb. Sennet, 62 I. alt (Kassel, 8. 6.); Privatmann I.
Pits ch, 74 I. alt (Kassel, 9. 6.); Bildhauer und
Steinmetzmeister Engelbert Stock, 64 I. alt (Fulda,
10. 6.); Ober- und Geheimer Baurat a. D. Karl
D a u b, 80 I. alt (Kassel, 10. 6.); Apotheker Emil
Winter, 74 I. alt (Fulda, 11. 6.); Lehrer a. D.
und Kantor Karl Huhn (Lehnerz, 11. 6.); Möbel-
fabrikant Oskar Franke, 75 I. alt (Kassel, 12. 6.);
Pfarrer Karl Israel (Oberrosphe, 12. 6.); Pfarrer O.
Ziegler, 33 I. alt (Walburg, 12. 6.); Haupt-
lehrer und Kantor Jakob (Löhlbach); Konrektor i.
e. R. Ernst Berg (Eschwege).
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das „Hessenland" beim Verlag (Dr. K. Braun, Eschwege, Herrengasse 10) zum Vorzugspreis von R.-M. 1.75
vierteljährlich portofrei. Nichtmitglieder bestellen bei ihrer Buchhandlung oder direkt beim Verlag, bzw. beim nächsten
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Verlag: Dr. Karl Braun, Eschwege, Herrengasse 10.
Postscheckkonto: Frankfurt a. M. 82145, Johs. Braun, Eschwege.
Schriftleiter: Paul Heidelbach. Kassel. Druck: Friedr. Scheel, Kassel. Alle Rechte vorbehalten.
Manuskripte find zu senden an Paul Heidelbach, Kassel, Hohenzollern st ratze 1 ö.
Für unverlangte Einsendungen keine Verbindlichkeit. Rücksendung nur, wenn das Po st geld beiliegt.
144
HeHenlanH
illustrierte Mnatsblätter für Heimatsorschung, Kunst und Literatur
Schriftleiter Paul Heidelbach, Kassel. Unter Mitwirkung von Bezirkskonservator Baurat Dr.H o ltmeyer, Kassel,-
Direktor der Landesbibliothekvr. Hopf, Kassel,-LyzeallehrerKeller,Kassel,-Staatsarchivrat vr. Knetsch,Marburg,-
Oberbibliothekar Professor I)r. Losch, Steglitz,- Schriftsteller Heinrich Nuppel, Homberg,- Professor vr. Schaefer,
Kommissar für Naturdenkmalpflege im Reg.-Bez. Kassel,- Geheimrat Unkversitätsprofessor vr. Schröder, Göttingen,-
Universitätsprofeffor vr. Schwa nt ke, Marburg,- vr. Werner S unkel, Marburg,- Professor Ur. Bonderau, Fulda,-
Universitätsprofessor Or. W e d e k i n d, Marburg.
■—————— 3m Einverständnis mit den Vereinen: ——»» -
Verein für hessische Geschichte und Landeskunde,- Hessischer Gebirgsverein,- Knüllgebirgsverekn,- Deutscher Sprachverein,
Zweig Kassel,- Verein für Naturkunde, Kassel,- Geologischer Verein, Marburg,- Biologische Vereinigung, Marburg,-
Gesellschaft für Familienkunde in Kurhessen und Waldeck,- Hessischer Volksschullehrerverein.
... ..- Bezugspreis vierteljährlich 2.— Mark ——..
39. Jahrgang Heft 7 Kassel, Juli 1927
Der Alma mater Milippina!
Nun laßt mit frischen Lorbeerzweigen
Bekränzen uns den Zubeltag
Und dankbar unsre Stirnen neigen
Vor dem, was er uns bringen mag,-
Der Tag, da einst in Marburgs Mauern
Die goldne Knospe sich erschloss,
Da unter Sturm und Wetterschauern
Der Segen auf die Lande floss.
Schaut Ihr des Münsters Türme ragen?
Im gottgeweihten Ordensbund,
Von stolzer Ritterschaft getragen,
Das schwarze Kreuz auf weissem Grund?
Die Glocken künden: leer und eitel
Strahlt dieser Erde Glück und Glanz —
Auf Sankt Elisabethens Scheitel
Der Kaiser drückt den goldnen Kranz!
Doch höher noch den Blick erhoben! —
In schicksalsschwerer Zeiten Lauf
Ein Fürst tritt aus dem Schlosse droben
Und reisst der Zukunft Siegel auf!
Im Herzen tief, dem hochgemuten,
Entsprießt das Wort aus seinem Mund,-
Zu wahrheitsvoller Weisheit Fluten
Den Bronnen senkt er in den Grund.
Er winkt, und weither kommt gezogen
Der Schüler Schwarm im blonden Haar,-
Auch derer Schar, die ausgewogen
Des Lebens Früchte bieten dar,-
Des Bornes Kraft zu offenbaren,
Heiss müht sich Meister und Gesell,-
Die Eimer auf und nieder fahren
Und füllen sich mit lauterm Quell.
Das ist ein Rausch, das ist ein Streben,-
Die Zugend schäumt beim Becherklang,-
Den blanken Schläger seh' ich heben
Und brausen hör' ich den Gesang! —
Drum lasst mit frischen Lorbeerzweigen
Bekränzen uns den Zubeltag
Und dankbar unsre Stirnen neigen
Vor dem, was er uns bringen mag! —
Fritz Gölner.
14)
Marburg mit Universität, Rathaus und Schloß. PM- K. Eberth-Kaffel
Zum Jubiläum der Philipps-Universität, Marburg.
Wenn die hessische Landesuniversität, die älteste
evangelische Hochschule, die Feier ihres 400jährigen
Bestehens begeht, ist sie der Teilnahme des ganzen
Hessenlandes und im übrigen Deutschland nicht nur
der Teilnahme derer gewiß, die einst in der schönen
Lahnstadt Student gewesen sind. Sie freilich in
erster Linie werden an den Ehrentagen der Alma
mater Philippina durch die flaggengeschmückten
engen, an historischen und — persönlichen Erinne-
rungen so reichen Gassen schlendern und in frohem
Kreise Jugenderinnerungen austauschen. Aber dar-
über hinaus wird Marburg in den letzten Julitagen
einen Menschenstrom aufnehmen, wie ihn die alte
Universitätsstadt wohl noch nicht gesehen hat. Sind
doch die Verkehrsmöglichkeiten seit der letzten Jahr-
hundertfeier in 1827 wesentlich andere geworden.
Wir haben im vorigen Jahr im September- und
Oktoberheft des „Hessenland" die anschauliche Schil-
derung eines alten Burschen von dieser vier Tage
und vier Nächte dauernden Säkularfeier veröffent-
licht, die uns zeigte, daß damals schon „das Zu-
strömen der Fremden über alle Vorstellung" war.
Wieder einmal wird man dankbar des hochgemuten
146
Hessenfürsten gedenken, der hier in der zweiten
Residenz des Hessenlandes, der Hauptstadt des Ober-
fürstentums, am 30. Mai 1527 die Universität Mar-
burg stiftete und sie am 15. Juli desselben Jahres
mit 11 Professoren und 94 Studenten feierlich er-
öffnete. Diese Universität hat Marburg, das Adolf
Wilbrandt einmal „die reizendste Bergstadt, die wir
Teutschen haben," genannt hat, bis auf den heu-
tigen Tag in so starkem Maße ihr Gepräge auf-
gedrückt, daß der oft zitierte Satz Ernst Kochs von
anderen Städten, die eine Universität haben, und
von Marburg, das eine Universität ist, auch heute
noch gilt.
Nicht die, zeitweise auch an andere Orte gebundene
Geschichte der — je durch Krieg und Pest oder durch
den Wohlstand des Landes — darniederliegenden
oder blühenden Universität soll hier skizziert werden,
zumal sich den Arbeiten von Justi, Varrentrapp,
Wenck, Heer, Dersch und Gundlach eben jetzt eine
umfassende Geschichte der Philipps-Universität an-
reihen wird. Aber aus der Vergangenheit leuchten
Namen herüber, die nur genannt zu werden brauchen,
um für die Bedeutung unserer Landeshochschule zu
allen Zeiten zu zeugen, von dem Theologen Adam
Krafft, dem Dichterkönig Eobanus Hesse und seinem
Freund, dem Dichter und Botaniker Euricius Cordus,
dem Juristen Johann Oldendorp an über den Sa-
tiriker Johann Balthasar Schupp, den Physiker Denis
Papin, den Aufklärungsphilosophen Christian Wolfs,
den Mediziner Baldinger, die Juristen von Savigny,
von Vangerow und Sylvester Jordan, den National-
ökonomen Bruno Hildebrand, den Chirurgen Wil-
helm Roser, den Chemiker Bansen, den Historiker
von Sybel, den Physiker Kohlrausch, den Theologen
Vilmar, die Philosophen Zeller, Lange, Cohen und
Natorp, die Historiker Lamprecht, Lenz und von Below,
die Philologen Ferdinand Justi, Viötor, Stengel und
Wechßler, die Germanisten Edward Schröder, Albert
Köster und Friedrich Vogt, den Gründer des deut-
schen Sprachatlas Georg Wenker, die Juristen
Arnold, Leonhard und Enneccerus, den Geologen
Kayser, die Theologen Ranke, Jülicher, Harnack,
Herrmann und Achelis, den Mediziner von Behring
— um wenigstens einige herauszugreifen — bis in
die Gegenwart hinein.
Marburglied.
(Zu eigener Melodie.)
Diese vergangene und gegenwärtige Wissenschaft
wird man am festlichen Schluß des Jubiläums-
semesters mit Stolz nach Recht und Gebühr feiern.
Man wird schmerzvoll der im Weltkrieg gefallenen
Angehörigen der Hochschule an ihrem Ehrenmal
gedenken und wird der Einweihung neuer Heilstätten
und eines großartigen Kunstinstituts beiwohnen.
Daneben aber wird man wieder einmal aufgehen
in den wunderbaren Reizen dieser deutschen Klein-
stadt, die sich von jenem hohen Lied von Stein,
der Elisabethkirche, bis hinauf zum Schloß der hes-
sischen Landgrafen am Lahnberghang so unvergleich-
lich schön aufbaut. Den unzähligen alten Herren
aber, die aus Nah und Fern zusammenströmen
werden zur Stätte ihrer frohesten Jugendtage, um
alten Kommilitonen einmal wieder die Hand zu
schütteln und teilzunehmen am Geburtstag der vier-
hundertjährigen und noch so jugendfrischen Alma
mater Philippina, wird das Herz höher schlagen
uud sie werden wieder mit einstimmen in den Sang:
O Marburg, o Marburg, du wunderschönes Nest,
Darinnen ich vor Jahren einmal Student gewest!
8.
O Marburg, hoch erhoben
Wohl über dem blühenden Tal,
Wke prangst du so hold dort oben!
Gegrüßt sek tausendmal.
Bergzüge, waldbestanden,
Rings wogen im Sonnenlicht.
Du Krone in deutschen Landen,
Heb' stolz dein Angesicht.
Wo heut' Studiosen gehen
Im Stürmer und im Barett,
Hast wandeln du gesehen
Einst Sankt Elisabeth.
Es rauscht von Vergangenheiten/
Sie läuten vom Münster her.
Die Ritter, ich seh' sie reiten,
Deutschherren in Eisenwehr.
Ein Helm auf deinem Haupte
Das Schloß ragt ritterlich.
Ob Sturm dich oft entlaubte,
Stets neu verjüngst du dich.
Auf türmende Terrassen
Stellst eng du Haus an Haus,
Und Lkederklang in den Gaffen
Jauchzt froh ins Tal hinaus.
Oft buhlten um dich die Franzosen,-
Wie spröd'tat'st du sie ab!
Sie rutschten auf ihren Hosen
Den Steknweg wieder hinab.
Zerome auch, ungeladen,
Der König Luftik, kam.
Du ließ'st in Kassel ihn baden,
Bis kläglich er Abschied nahm.
Ob hundertmal dich zerschlugen
Krieg, Bot und Zertrümmerung,
Fest stehst du in deinen Fugen
So maienschön und jung.
So flicht auch heut' dir wieder
Den Kranz ins greise Haar.
Es feiern unsere Lieder,
Marburg, dich immerdar.
Marburg. Th. Birt.
Landgraf Philipp gründet feine Llniverfität.
Öffentliches Spiel zum Marburg er Universitätsjubiläum 192? verfaßt von Th. Birt.
(In dem Augenblick, wo der Festzug an die Trauben-
apotheke kommt, verstummt die Musik und der Herold
ruft:)
H e r o l d:
Ächtung, Achtung! Laßt das Geschrei!
Gebt Raum und haltet die Wege frei.
(Die Spitze des Zuges mit Philipp ist vor ■ dem Rat-
haus angelangt; der Herold aber ist an der Ecke der
Kommerzbank halten geblieben und beginnt noch ein-
mal von vorne:)
Achtung! sag' ich. Laßt das Geschrei!
Gebt Raum und haltet die Wege frei!
147
Ein Fest, gar herrlich, wird heut' gemacht.
Der Fürst zieht ein in aller Pracht.
Daß keiner uns hier den Weg versperr';
Es ist Philippus, der Landesherr.
Großherzig ist er ungemein.
Drum heißt er magnanimus auf Latein.
Er sichert mit seiner gewaltigen Hand
Vor Feinden und Räubern das Hessenland
Und kommt geritten hoch zu Roß,
Dahinter die Junker und sein Troß,
Der Kanzler auch und die Räte zumal.
Er will heut' speisen im Rittersaal.
Auch ist er — ihr seht es — nicht erschienen
Ohne sein holdes Gemahl, Christinen,
Die Landgräfin. Drum lob' ich sie,
Sie leistet dem Eheherrn Compagnie.
Wir wollen nicht bloß Mannsbilder schau'n.
Was wär' ein Fest auch ohne Frau'n?!
Noch einmal ruf' ich: Gebet acht!
Ihr Weiber, die Fenster ausgemacht!
Ihr Jungfern, ihr Maidlein, in jedem Haus,
Reckt hübsch die Köpfchen zum Fenster hinaus!
Ich seh' euch schon! Nun ist es traun,
Als ob lauter Rosen herniederschaun.
Philipp, von hohem Stamm geboren,
Ein feiner junger Fürst, seht hin:
Heut hat er Marburg sich erkoren,
Und große Dinge hat er im Sinn.
Die Sache will ich euch verkünden,
Eine neue Schul' will er hier gründen.
Ich- weiß nicht, ob ihr mich versteht:
Man nennt's eine Universität.
Die Weisheit ist wie Kerzenschein,
Und Marburg soll der Leuchter sein!
O weh! Nun hab' ich es ausgeschwatzt.
Das kommt, weil mir sonst die Kehle platzt.
Jetzt aber will ich ganz verstummen.
Trummschläger, schlage deine Trummen!
Spielleute, Bläser ihr und Pfeifer,
Macht musicam mit rechtem Eifer!
Tann aber schweiget plötzlich still,
Weil auch der Landesherr sprechen will.
(Die Musik spielt ein kurzes Jägerlied.)
Philipp:
Hier bin ich; mein Rößlein halt' ich an.
Wer ist hier, zu dem ich reden kann?
Bürgermeister:
Ich, Herr . . .
Philipp:
O, mein Herr Bürgermeister!
Wir kennen uns ja. Geht es Euch gut?
Ihr werdet ja wahrlich immer feister.
Was nicht die hessische Wurstsuppe tut!
Bürgermei st er:
Seit Euer Gnaden zur Herrschaft gekommen,
Hat eben alles zugenommen.
Christine (ihm die Hand reichend):
Ja, wenn ich Euch seh', wird mir wohl zu Mut.
Man merkt, Eure Hausfrauen kochen gut.
148
O, Marburg, Marburg, wie eng und klein,
Aber wie schön ist dies Städtelein!
Möcht' halt hier immer wohnhaft sein!
Bürgermei st er:
Durchlauchtigster Fürst, Ihr seid bekannt
Als ein heller Stern schon im teutschen Land.
So sag ich in Ehrfurcht und ganz submiß:
Was Ihr auch plant, ist gut gewiß.
Auch haben wir schon davon vernommen.
Philipp:
Nun, das ist's, weshalb wir hiehergekommen.
Nicht unser Leib nur, Herr Bürgermeister,
Es brauchen wohl Nahrung auch die Geister.
Was nützt es, wenn euch der Magen satt
Und der Schädel da oben Hunger hat?
Satt macht den Denkenden nur das Wissen.
(mit erhobener Stimme:)
Drum Fehde allen Finsternissen!
So hab' ich beschlossen mit aller Kraft:
Wie hell das Licht auch strahlen mag
Von Leipzig, Wittenberg oder Prag,
Auch in Hessen soll wurzeln die Wissenschaft,
Und in Schönheit soll die Hochschul' stehn.
Drum hab' ich Marburg mir auserseh'n.
Bürgermei st er:
Und Marburg dankt Euch. So laß Euer Gnaden
Sich erst zu einem Trünke laden.
(reicht einen Becher mit Wein)
Ein Willkumm aus einem guten Faß!
Philipp (trinkt):
Nun denn: in viiio veritas!
Bürgermeister:
Trinkt unsre Frau Fürstin nit auch uns zu?
Wir haben Milch, frisch von der Kuh.
Philipp (lachend):
Ei, laßt doch eure Kuh in Ruh'!
Bürgermeister:
Oder auch Honigwasser mit Zimmt?
Philipp:
Ei was, Wein ist's, was Christinchen nimmt.
Christine:
Habt ihr gehört, was mein Eheherr spricht?
Gehorsam ist des Weibes Pflicht.
Bürgermeister:
Frau Fürstin, ihr gebt da gute Lehr'
Dem Weibervolk (er reicht ihr einen Trunk).
C h r i st i n e:
Heut' fällt mir's nicht schwer.
Solch goldiger Wein war auch mein Begehr. >
Ist's Marburger Traube?
Bürgermeister:
O! Nimmermehr!
Der Wein, den man hier in Marburg baut,
— An der Kirchspitz — ist Euch ein saures Kraut.
Ihm ward von Gott die Kraft verliehn,
Tie Löcher im Strumpf zusammenzuziehn.
Der Wein ist aus Elsaß, dem teutschen Land,
Euch, Herr, zum Willkumm hergesandt.
Philipp:
Erst proben!
Dann loben!
Zu Marburgs Heil sei der Pokal erhoben.
(er leert den Becher; dann feierlich:)
Die Hochschul' zu Marburg an der Lahn,
Sie sei denn hiermit aufgetan,
Die Landesuniversität,
Die da Weisheit erntet und Weisheit sät,
Die Geistesnährerin,
Der Jugend Lehrerin,
Des Wissens Mehrerin,
Des Unklaren Klärerin,
Tie Rätsel lösend, die Gottes Welt
Tausendfach an die Seele stellt.
Am reinen Evangelio
Ward meine Seele frisch und froh.
Doch soll man, die Wissenschaft zu mehren,
Hier alle freien Künste lehren.
Theologen, Juristen, Mediziner,
Sie alle sind gleichsam Gottes Diener.
Doch die vielgestaltete Philosophie,
Ein Progymnasma nenn' ich sie.
Denn das Denken lernen und das Reden,
Das muß wohl die Vorschul' sein für jeden.
Herbei denn, mein Geschäftsverwalter,
Herr Feige, Kanzler, du mein Alter,
Lies vor die Statuten, die wir verfaßt,
Die du in der Satteltasche hast.
Feige:
Die Statuten sind länglich von Natur,
Ich gebe daraus ein Pröbchen nur.
Wo die vominieani hiebevor
Gewohnt, hart über der Lahn am Tor,
Und am Plan in der Nähe des Barfüßertores,
Da sollen sie lehren, die Professores.
Acht sind's die die Philosophie vertreten,
Je vier in den andern drei Fakultäten,
In Summa zwanzig. In jedem Jahr
Beziehen sie 100 Gulden Salar.
Nur hundert! Davon läßt sich nicht leben,
Das Geld ist eben heute rar.
Drum werden auch Naturalien gegeben,
Wurst, Brennholz, ein altes Huhn, auch Kohl,
Gratis! Da fühl'n sich die Herr'n schon wohl;
Und ein Ohm voll Landwein, ein uresus vini,
Und gar ein Gänslein zu Martini.
Ja, ja, wenn unsre Bauern nicht wären!
Die soll'n den Gelehrtenstaat ernähren.
Doch genug! Mein Gaul ist voll Ungeduld;
Mein Pferd ist doch auch kein Lesepult.
Und da steh'n die Gelehrten ja selber schon.
(Feige weist nach links)
Philipp:
Was seh' ich? Da seid ihr in Person,
Ihr Herren, die ich berufen habe?
Ich vergleiche euch einer Honigwabe.
Seid mir gegrüßt von Herzen, ihr Guten,
Ihr ersten Marburger Professores,
Und lernt mir fleißig die Statuten!
Haltet auf Zucht vor allem, auf mors»!
Die Schul' ohne Zucht, sine moribus,
Ist ein liortuIu8 sins kloribns.
Ich bin noch jung, doch ihr Gelehrten,
Ihr Männer mit den grauen Bärten,
Euch schätz' ich an Zucht als die wohlbewährten.
Da ist schon der Rektor, Herr Eisermann.
Ich verhoff', er ist kein leiser Mann,
Aber gewißlich ein weiser Mann.
Und ist denn. Euricius Cordus nicht hier?
Ei! Euricius Cordus, da seid Ihr?
Seht an! Den Lorbeer auf der Kappe (lachend)
Und lauter Rezepte in eurer Mappe?
Ich wüßt' nicht, wer mir lieber erschiene,
Als er, der voetor meckieinus
Und obendrein Poet! Poet!
Der Dichter hat uns nicht verschmäht.
Leider dichtet er nur Intins.
Und auch ihr, Herr Adam Krafft, kamt her,
Die große Kraft der Gotteslehr' ?
Das schafft uns wahrlich nicht Verdruß!
Und ihr heißt Busch?
Professor:
Ja, Buschius.
Philipp:
Ei, Buschius! (nachdenklich).
Es erfaßt mich ein wunderlich Geistersehen.
Wer weiß, bei künftigen Jubiläen
Wird euer Name noch auferstehen!
(Philipp wendet sich nach rechts.)
Doch was woll'n die Kerlchen, die hier steh'n?
Feige:
Schulbuben! Die woll'n ihren Stifter sehn,
Vom Gymnasium, das hier neu erstand.
Philippinum ist's nach Euch benannt.
Philipp:
Ihr Bürschchen, so hebt denn hoch die Hand
Gelobend, ihr wollet in allen Sachen
Einst mir, dem Philippo, auch Ehre machen.
Nennt, Kinder, getrost euch die Philippinen
Und seid mir fleißig wie die Bienen.
Im Griechischen, will ich, und im Latein,
Sollt ihr vor allem mir Meister sein.
Denn das ist der Bildung erste Zier.
Doch sind nicht auch schoir Studenten hier?
Feige:
Dort, Herr!
Philipp:
So seid mir gegrüßt auch ihr!
Jungmannen, gerad' und Wohlgestalt,
Von jungen Eichen ein ganzer Wald,
Schmuck im Barett und mit dem Rapier! —
Doch kamt ihr her, nicht um zu fechten,
Und diese Waffen sind nicht die rechten.
Es ist vielmehr des Geistes Schneid',
Die sollt ihr schärfen kampfbereit!
Das sei euer Spruch: Viel Lehr' viel Ehr'!
O, daß ich euresgleichen wär'.
Der Mensch soll zur Erkenntnis reifen.
Wir woll'n nicht nur schau'n, wir woll'n begreifen.
149
Ein tausendfältiges Warum
Treibt aller Zeiten Geschlechter um.
So viele Dinge, so viele Fragen
Sind es, die uns entgegenschlagen.
Das höchste aber, wie ich schätz',
Das ist im Weltenall das Gesetz.
Das Gesetz, in der Natur, wie im Staat,
Ist Frage nicht nur, ist Postulat.
Doch ringt sich der Mensch seine Seele wund,
Verlangend nach dem letzten Grund,
Da ward ihm gegeben als schönster Hort
Das liebe, heilige Gotteswort.
Marburg, du Städtlein fein,
Steh' hell im Morgenschein.
Ehre und Ruhm sei dein,
Fleckenlos rein.
Sei du das neue Licht,
Das durch die Wolken bricht.
Gott meine Zuversicht!
Gott trüget nicht.
Und hiernach wend' ich nun mein Roß.
Ich lad' euch alle heut' auf mein Schloß,
So viel es der Festgenossen sind.
.Herold, tu deine Pflicht geschwind.
Herold:
Heut' ist Geburtstag, kein ckies ater.
Heut' ist geboren die alma mater.
Der Herr Philippus ist der Pate;
Drum rufen wir fröhlich ein ckudilats!
(Studenten, Professoren, Schüler rufen: Jubilate!)
(Paukenschlag)
Voran der Zug!
Tie Pauke schlug.
Schließt an, auch ihr Bauern, in eurer Pracht,
In eurer stolzen Landestracht.
Eine Freude ist's, euch hier zu seh'n,
Denn ihr wollt mit uns das Fest begeh'n
Und dürft wohl stolz sein; lvas wäre der Lehrstand
Auch ohne euch und ohne den Nährstand?
Ta auch manche Geister von großem Namen
Von euch und aus euren Dörfern kamen.
Das Neformationsfest von
Studentenschaft.
Seit dem Winter 1816/17 war die Marburger
Studentenschaft arg zerklüftet. Gegen die am 3. De-
zember 1816 ins Leben getretene „allgemeine Bur-
schenschaft", gewöhnlich Teutonia genannt, kämpfte
die Partei der seitdem eng zusammenhaltenden drei
Landsmannschaften Rhenania, Hassia und Guest-
phalia mit allen Mitteln. Eine durch diesen Streit
im Februar 1817 veranlaßte Untersuchung endete
damit, daß im Juni sämtliche Mitglieder beioer
Parteien allen Verbindungen für immer schriftlich
entsagen mußten. Aber die Parteien bestanden
weiter. Die Landsmannschaften, unter deren Mit-
150
Wohlan, voran!
Und zum Schloß hinan! !
Dort oben soll's ein gar lustig Leben
Und allerlei Spiel und Kurzweil geben
Und auch ein köstlich Traktament.
Das glaubet, wer unseren Fürsten kennt.
Vorwärts! Hallt! Halloh!
Ob auch der Regen droh',
In dulci jubilo
Seid lustig und seid froh!
Es blasen die Trompeten,
Und droben gibt's Pasteten.
Ich lobe mir, ich lobe mir
Die Festivitäten.
(Der Zug setzt sich in Bewegung.)
(Nachdem der Festzug auf dem Schloßhos angelangt
ist und dort ein Chor zu Philipp's Ehren ein Lied
vorgetragen hat, das mit den Worten: „Ein feste
Burst ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen"
schließt, spricht Philipp das Schlußwort:)
Philipp:
Solch Liedersang, wie wohl der tut!
„Ein feste Burg," ei, das klang gut.
Es wirkt in mir in aller Kraft.
Hab Dank, du edle Sängerschaft.
Möcht' auch mein Schloß, das ihr seht ragen,
Solch feste Burg sein in allen Tagen.
Ich danke Gott in Überschwang,
Daß heut' so Herrliches gelang.
(zu Christine:)
Doch nun, Christine, mein trautes Weib,
Begehrst Du nicht andren Zeitvertreib? —
Sie nickt! — So gescheh', was mein Herold sprach.
Geh' jeder hier jetzt seiner Freude nach
In meinen Gärten, ivo jedermann
Sich nähren und verlustieren kann.
Ob Mummenschanz, ob Schwertertarrz,
Zu schauen gibt's in Abundanz.
Ein Tag der Wonnen sei's und der Ehren.
Die Zukunft soll noch davon zehren,
Noch die fernsten Saecula davon lesen,
Wie dankbar und froh wir heut gewesen.
Schluß.
1817 und die Maröurger
Von Georg Heer.
gliedern selbst allmählich der burschenschaftliche Ge-
danke einer Vereinigung der gesamten Studenten-
schaft sich verbreitet hatte, sahen sich veranlaßt,
am 7. September 1817 zu einer Art Gegenburschen-
schaft Germania zusammenzutreten. Diese hatte
keine gemeinsamen Farben, hielt auch an dem bis-
herigen Komment und demnach an dem Fortbestand
der drei Landsmannschaften fest. Mittlerweile hatte
die Spannung der Parteien etwas nachgelassen.
Mitglieder der Teutonia wie der landsmannschaft-
lichen Partei, in: ganzen 14 bis 20, beteiligten
sich an dem burschenschaftlichen Wartburgfest am
18. und 19. Oktober, das unter dem Zeichen oer
Verbrüderung der gesamten deutschen Studenten-
schaft stand. Das blieb auch in Marburg nicht ganz
ohne Wirkung. Da führten die Ereignisse bei dem
am 31. Oktober in Marburg von der Universität
gefeierten Jubelfest der Reformation zu einer ent-
scheidenden Wendung.
Bei Feststellung der Festfolge für die Refor-
mationsfeier sah der Senat einen Festzug zur
Nniversitätskirche und von da zur Aula vor. Die
Studenten sollten dabei ebenso wie die Professoren
nach Fakultäten geordnet gehen, weil dies die
einzige anerkannte Einteilung sei. Als nun der
Prorektor, Professor Hartmann, am 29. Oktober
diesen Beschluß des Senats den versammelten
Studenten mitteilte und sie aufforderte, „Mar-
schälle" für den Zug zu wählen, traten dem die
Wortführer der Studenten stuck. theol. Karl Hoff-
mann, stuck. ttieol. Karl Daubenspeck, stuck, theol.
Ernst Sallmann und stuck. jur. Karl Friedr. Glast
entgegen mit der Begründung, daß daraus leicht
Unordnung entstehen könne. Der eigentliche Grund
war freilich, daß man sich das befehlshaberische
Verfahren nicht gefallen lassen wollte. Gegenvor-
stellungen des Rektors wurden mit Murmeln und
Zischen beantwortet, die Wahl der Marschülle ver-
weigert. Am 30. Oktober berief der Prorektor die
vier Fakultätsältesten Hoffmann, Johs. Zimmer-
mann, Gg. Will). Witting und Georg Tasch,
übergab ihnen die Listen der Fakultäten und for-
derte sie auf, mit ihren Kommilitone!: die Teil-
nahme am Festzug zu besprechen. Eine allgemeine
Studentenversammlung um 1 Uhr aus dem luthe-
rischen Kirchhof beschloß aber für den Fall, daß
es bei der Einteilung nach Fakultäten bleiben
sollte, nicht am Festzuge teilzunehmen und keine
Marschälle zu wählen. Als weitere Vorstellungen
fruchtlos blieben, ernannte der Prorektor am Abend
die vier genannten Fakultätsältesten zu Marschällen
und forderte sie auf, für die allgemeine Betei-
ligung am Festzuge zu wirken, während die Sti-
pendiaten vom Ephorus besonders zum Gehorsam
ermahnt wurden.
Am 3t. Oktober erschienen zum offiziellen Fest-
zug noch nicht 20 Studenten. Die anderen hatten
sich auf dem lutherischen Kirchhof versammelt, wo
sie von dem Studenten Grafen Theodorich v. Boch-
holtz, der sich schon am 30. heftig geäußert hatte,
nochmals zum Widerstand gegen die Anordnung des
Senats aufgefordert wurden. Paarweise geordnet,
wahrscheinlich nach Verbindungen eingeteilt, aber
ohne „Chargierte", zogen sie von da zur Kirche,
nahmen hier eigenmächtig Plätze ein, zogen dann
ebenso vor dem eigentlichen Festzug in die Aula
ein und besetzter: hier für die Gäste bestimmte
Plätze. Der Festzug mußte im Kreuzgang der Uni-
versität halten, aber vergeblich mahnte:: die Pedelle
und der Prorektor selbst zur Räumung der Plätze.
Sofort nach dem Festakt trat die Deputation
zusammen und beschloß, die vier Wortführer der
Studenten Hoffmann, Glast, Daubenspeck und Sall-
mann zu verhaften, ungeachtet die beiden ersten
am offiziellen Festzug teilgenommen hatten. Aller-
dings ividersprachen einige Professoren und machten
geltend, daß man zur Teilnahme an einem Feste
keinen Studenten zwingen könne. Am Abend brach-
ten die Studenten den Verhafteten unter den Fen-
stern des Karzers ein Lebehoch und dem Prorektor
ein Pereat und wiederholter: dies arrf den: Markt-
platze. Am 1. November reichten Graf Bochholtz
(Germania) und Karl Weber (Teutonia) namens
sämtlicher Studenten ein Gesuch um Freilassung
der Verhafteten ein, wurden aber deshalb ebenfalls
in den Karzer gesteckt. Noch an: selben Vorrnittag
beschloß der Senat die Relegation der sechs Ver-
hafteten. Ohne solche Maßnahme hielt man die
Disziplin und das Ansehen des Senats für umso
gefährdeter, als die Vorgänge auf der Wartburg die
Gemüter erhitzt und zu standhafter Behanptur:g der
sog. akademischen Freiheit begeistert hätten. Vergeb-
lich stellten 82 Studenten in einer von Tasch,
Karl Schöller, Will). Zanders und Hern:. Heinr.
Keßler überreichten Eingabe vor, daß die Relegierten
nur in ihrem Sinne und Aufträge gehandelt hätten
und sie mithin alle gleich schuldig seien.
Die aus der Haft entlassener: Relegierten ver-
brachten die Nacht mit vielen Kornmilitonen in
Gisfelberg. Von dort zogen sie, vor: den in Pfeiffers
Garten versammelten Studenten in vielen Wagen
zun: Teil auch zu Pferd und zu Fuß, geleitet, um
die Mittagszeit durch die Straßen Marburgs nach
Halsdorf und reisten von da nach Kassel weiter.
Nach einer Erzählrrng soll Graf Bochholtz sich in
seine preußische Kürassierofsiziersuniform geworferr,
von: Stadtkommandanten die Aufenthaltserlaubnis
erwirkt und, darauf gestützt, der Anweisung des
Senats, die Stadt binnen 24 Stunden zu verlassen,
getrotzt haben. Das scheint aber ans einer Ver-
wechselung mit dem Verhalten Bochholtz' bei seiner
späteren Relegation wegen Duells in: März 1818
zu beruhen. Auf ihre am 5. November eingereichte
Beschwerde, die durch eine Eingabe des Magistrats
vom 3. November unterstützt wurde, erhielten die
Relegierten schon an: 7. November vom Geheimen
Rat in Kassel die Erlaubnis zur vorläufigen Rück-
kehr nach Marburg. Als sie am 10. November
zurückkamen, tvurden sie, an ihrer Spitze Graf
Bochholtz, von der gesamten Studentenschaft im
Triumphzug mit Musik eingeholt und durch die
Stadt zum lutherischen Kirchhof geleitet. Die Stu-
denten Schöller und Ernst Stieglitz erbaten die Er-
laubnis, mit den Zurückgekehrten einen frohen
Abend in Pfeiffers Garter: feiern zu dürfen. Pro-
rektor und Senat wagten nicht, die Erlaubnis zu
versagen. Am Abend vereinigte ein großer Kommers
die ganze Studentenschaft zur Feier des Siegs;
dabei wurde der alte Hader zwischen der burschen-
schastlichen Partei und der landsmannschaftlichen
endgültig beigelegt und eine allgemeine Vereini-
gung beschlossen. Noch im Laufe des November
wurde die Verfassung für die allgemeine Burschen-
schaft angenommen; diese führte den Namen „Deut-
el
scher Brüder-Verein zu Marburg" und trug kurz
nachher unter Vorlage ihrer Verfassung der Jena-
ischen Burschenschaft ein Kartell an.
Der Senat rechtfertigte in dem eingeforderten,
vom Vizekanzler Professor Robert verfaßten aus-
führlichen Bericht vom 30. November sein strenges
Verfahren, nicht ohne daß zwei der Mitglieder ein
abweichendes Votum beifügten. Besonders wurde
geltend gemacht, daß die Zügellosigkeit der Stu-
denten infolge früherer Nachsichtigkeit aufs äußerste
gestiegen sei; durch die auf der Wartburg gefaßten
Beschlüsse, die anscheinend das Licht scheuten, sei sie
noch gesteigert worden. Höchst bedenklich erscheine,
daß der Weg zur Abschaffung der Landsmann-
schaften durch einen allgemeinen Burschenverein
gehen solle. Man nehme an, daß dahinter einer
der gefährlichsten Orden, der schwarze Orden, stecke.
Ter Kurfürst aber ließ sich durch diese von wahr-
haft naiver Auffassung getragene Meinung nicht
bestimmen, sondern verordnete am 23. Dezember,
um das Andenken an die Feier eines festlichen Tages
nicht zu trüben, solle diese Sache gänzlich auf sich
beruhen und eine Bestrafung der Studenten nicht
stattfinden.
So hatte das übereifrige, plumpe Verfahren des
akademischen Senats die beabsichtigte Wirkung gänz-
lich verfehlt, eine Entwicklung, die man als „ge-
fährlich" meinte abwenden zu müssen, geradezu
herbeigeführt, sie hatte, so schließt ein gleichzeitiges
Tagebuch seinen kurzen Bericht, „das Gute ge-
stiftet, daß bei allgemeinem Rat sie (die Studenten)
sich gänzlich lute auch mit den Teutonen vereinigten,
welches sonst, da nur wenige Studenten von hier
in Eisenach waren, nicht zustande gekommen wäre".
Die erste Ehrenpromotion einer deutschen Frau.
Auch eine Erinnerung zum Marburger Universitälsjubiläum. Von Edward Schröder.
Im Jahre 1925 hat man bei der Wiederkehr
des hundertjährigen Todestages der edlen Dorothea
von Schlözer vielfach an derer: philosophische Pro-
motion zu Göttingen im Jahre 1787 erinnert,
auch wohl hervorgehoben, daß diesem frühsten weib-
lichen Promotionsakt erst nach einem Menschen-
alter (1817) in Gießen der rite erworbene medi-
zinische Doktortitel der Marianne Charlotte Hei-
land gen. v. Siebold (so nach Adoption durch
ihren Stiefvater) gefolgt sei. Von weiblichen
Ehrenpromotionen aus früher Zeit scheint man
in weitern Kreisen nichts zu wissen: soeben noch
wurde in einem besonderen Artikel über diesen
Gegenstand im Hannov. Kurier (Beilage „Die
Frau" vom 30. Juni d. I.) behauptet, nach der
Ehrung der italienischen Archäologin Gräfin Cae-
tano-Lovatelli durch die philosophische Fakultät der
Universität Halle 1894 sei die Promotion der
Frau Cosima Wagner im Berliner Jubiläumsf-
jahre 1910 als die erste derartige Auszeichnung
für eine deutsche Frau anzusehen.
Dem gegenüber mag es gerade jetzt an der
Zeit sein, darauf hinzuweisen, daß schon vor 100
Jahren die Universität Marburg die Feier ihres
300 jährigen Jubiläums zum Anlaß genommen hat,
am 29. Juli 1827 den Philosophischei: Doktor-
titel honori8 causa neben verdienten Männern
auch einer Frau zu verleihen: der Witwe des
Leidener Philologie-Professors Wytteubach, die frei-
lich damals in Paris lebte und ihre Bücher durchweg
in französischer Sprache geschrieben hat. Gewiß
ein früher und obendrein ein merkwürdiger Fall,
der aber seine Erklärung in den persönlichen Ver-
hältnissen der also ausgezeichneten Dame findet:
sie war eine geborene Hanauerin und die Enkelin
eines hochangesehenen Marburger Professors.
Jean ne Wytteubach geb. Gallien
kam wohl um das Jahr 1770 zur Welt: als
Tochter des Professors an der Hanauer Zeich-
nungsakademie Jean Louis Gallien, eines gebo-
rener: Parisers, und der 1743 geborenen Tochter
Susanne des Professors Daniel Wytteubach d. Alt.,
der, 1756 von Landgraf Wilhelm VIII. aus Bern
berufen, bis zu seinem Tode 1779 eine Säule
der theologischen Fakultät war. In reiferen Jahren
schloß sie 1816 einen späten Ehebund mit ihrem
Oheim, dem Professor Daniel (Albert) Wytten-
bach, einem der tüchtigsten Schüler des Göt-
tinger Philologen Heyne, der nach! langjähriger,
segensreicher Wirksamkeit in Amsterdam 1799 einem
dringenden Rufe als Nachfolger Ruhnkens nach
Leiden gefolgt war. Sein Hauswese:: hatte sie
schon in Amsterdam geleitet; zur Zeit seiner Ver-
heiratung mit der Nichte Jeanue Gallien stand W.
bereits im 71. Lebensjahre, vier Jahre später (1820)
ist er gestorben. Die Witwe nahm zuerst ihren Wohn-
sitz in dem ihr von früherem Aufenthalt und ivohl
noch immer durch Verwandte des Vaters vertrauten
Paris, kehrte aber später nach Holland zurück, wo
sie 1830 in der Nähe von Leiden verschieden ist.
Von ihren ästhetischen und popularphilosophi-
schen Schriften seien hier erwähnt: Theagene (Paris
1815, deutsch Leipzig 1816) — Banquet de Leontis
(Paris 1817, deutsch 'als „Gastmahl der Leontis.
Ein Gespräch über Schönheit, Liebe und Freund-
schaft", Ulm 1821) — und der Roman Alexis
(Paris 1817). Die Marburger Universität ehrte
indessen wohl weniger diese gewiß liebenswürdige,
aber doch recht bescheidene frauenzimmerliche Schrift-
stellerei*) der hessischen Französin, als die Schülerin
zugleich Wyttenbachs und Platos, die sich in ihnen
bekundete, und vor allem den guten Geist, der
dem alternden Gelehrten durch ein Vierteljahr-
hundert das einsame Heim behaglich gemacht und
seelisch erwärmt hatte. Aus den Äußerungen der
Zeitgenossen tritt weniger das Erstaunen als der
freudige Beifall.zu Tage, den diese Damals neu-
artige Ehrung gefunden hat.
*) Das Elogium — ich glaube es vor Jahren einmal
gelesen zu haben — ist mir zur Zeit nicht erreichbar.
152
Robert Bunsen.
Wilhelm Robert Bunsen, der größte Naturwissen-
schaftler unter seinen Zeitgenossen, einer der größ-
ten Naturwissenschaftler überhaupt, wurde als
Sohn einer alten angesehenen waldeckischen Familie
am 31. März 1811 in Göttingen geboren, besuchte
das Gymnasium in Holzminden, kam dann als
Student nach Göttingen, wo er 1831 in Physik
und Chemie promovierte, habilitierte sich nach
Studienreisen durch Deutschland, Frankreich, die
Schweiz, Italien und Österreich, die ihm durch die
hannöversche Regierung ermöglicht waren, im Jahre
1834 in Göttingen als Privatdozent der Chemie,
war schon damals weit bekannt und geschätzt in
der ivissenschaftlichen Welt, so daß ihn die Kasseler
Regierung am 30. März 1836 als Nachfolger des
berühmten Dr. Friedrich Wühler zum Lehrer der
Chemie, der chemischen Technologie und Mineralogie
an die höhere Gewerbeschule zu Kassel berief. Nach
31/2 Jahren wurde er am 7. August 1839 als,
außerordentlicher Professor an die Universität
Marburg versetzt, am 29. Juli 1841 erhielt er
das Ordinariat der Chemie und wurde am 11. No-
vember 1841 Direktor des chemischen Instituts,
das er bereits seit zwei Jahren geleitet hatte. Die
zwölf Jahre, die Bunsen in Marburg gewirkt hat,
sind von außerordentlicher Bedeutung für die Uni-
versität gewesen. Vortrag und Experiment, das
nie mißglückte, waren aus einem Guß. Die Per-
sönlichkeit des Lehrers, eines der edelsten und lie-
benswürdigsten Menschen, war den Zuhörern un-
vergeßlich. Einer seiner berühmtesten Schüler, der
englische Physiker John Tyndall, der übrigens die
Zeit seines Marburger Aufenthalts als schönste
und lehrreichste seiner Studienzeit betrachtete,
schreibt von ihm: „Die hervorragendste Erscheinung
an der Universität war zu unserer Zeit Robert
Bunsen, dessen Name durch chemische Untersuchun-
gen von beispielloser Schwierigkeit und Bedeutung
und durch die erfolgreiche Anwendung der Grund-
lehren der Chemie und Physik auf die Erklärung
der vulkanischen Erscheinungen in Island Berühmr-
heit erlangt hat. Er war der erste, der das Rätsel
der isländischen Geiser löste und die richtige Theorie
über ihre Tätigkeit aufstellte. Ich hörte in Mar-
burg die Vorlesungen vieler bedeutender Männer,
richtete aber mein Hauptaugenmerk auf Mathematik,
Physik und Chemie. Ich lernte Deutsch, indem ich
Bunsen zuhörte, und mit dem Zunehmen meiner
Sprachkenntnisse wuchs auch die Anziehungskraft
seiner Vorlesung. Aber mein Interesse war von
Anfang an rege gewesen, denn Bunsen beherrschte
die Sprache des Experiments und redete zum Ver-
stand nicht bloß durch das Ohr, sondern auch durch
das Auge. Seine Vorlesungen waren voll Inhalt.
Bunsen war eine stattliche Erscheinung, schlank,
schön, ritterlich und ohne eine Spur von Affek-
tation oder Pedanterie. Er ging in seinem Gegen-
stand auf, sein Vortrag war lichtvoll, seine Sprache
Von Carl Knetsch.
rein; er sprach den sauberen hannoverschen Dialekt,
der englischen Ohren so wohl klingt; er war jeder
Zoll ein Edelmann. Nach einiger persönlicher Er-
fahrung blicke ich auf Bunsen zurück als auf den,
der meinem Ideal eines Universitätslehrers am
nächsten kommt." Leider verließ Bunsen am 1. April
1851 Marburg, er folgte, durch die Hassenpflugsche
Reaktion veranlaßt, einem Rufe nach Breslau,
zog aber schon im August 1852 nach Heidelberg,
wo er bis zum Herbst 1888 als Professor wirkte
und bis zu seinem Lebensende am 16. August
1899 wohnen blieb. Während seiner Marburger
Bunsens Abschied von Kassel.
Dl
Zeit hat er in den Universitätsferien fast alle
Länder Europas bereist, 1841 war er in Schweden,
1843 in Italien, 1845 machte er eine sehr erfolg-
reiche wissenschaftliche Expedition nach Island.
Über seine ungemein wichtigen Entdeckungen und
Erfindungen (Spektralanalyse, Bunsenbrenner, Mag^-
nesiumlicht) soll hier nicht weiter geredet werden,
sein Name in der Geschichte der Wissenschaften ist
unsterblich.
Hier sollen nur noch ein paar Worte über
drei Bilder gesagt werden, die im engsten Zusammen-
hang mit der Kasseler und Marburger Zeit des
berühmten Gelehrten stehen; sie befinden sich im
Besitz von Bunsens Großnichte Frau Dr. Hildegard
Riehn geb. Bunsen in Hannover. Es sind einmal
zwei amüsante auf durchscheinendes Papier mit
Wasserfarbe flottgemalte Bildchen, die dem Jahre
1839 entstammen und Bunsens Abreise aus Kassel
und seine Ankunft in Marburg darstellen. Auf
dem einen sehen wir im Mittelpunkt den allen
alten Kasselanern bekannten Turm der großen
Kirche mit einem der Kasseler Wahrzeichen, der
Glocke über dem Turme. Auf dem obersten Um-
gang des Turmes steht ein Mann und winkt mit
weißem Tuche Abschiedsgrüße, ebenso wie von der
Pyranride des Herkules im Hintergrund der große
Christofsel selber zwei Tücher oder Fahnen schwenkt.
Vorn sieht man unter einem Wegweiser „Nach
Marburg" neben einem früchtebehangenen Baume
der Erkenntnis, an dem sich die Schlange empor-
windet, den zylindergekrönten hageren Gelehrten
mit Felleisen und Regenschirm und lang aus der
Hinteren Rocktasche heraushängendem Taschentuch
die Stadt verlassen, während hinter ihm eine
siebenköpfige Deputation des Naturvereins mit der
trauerflorgeschmückten Fahne, deren Spitze ein
Spielkartenblatt bildet, hinter einer vielbrüstigen
Weibsperson, in Tränen, so daß der ganze Vor-
dergrund davon überschwemmt ist und ein dem
Abziehenden nachbellendes Hündchen in dem Trä-
ncnbach fast versinkt. Die Unterschrift besagt: „Die
Chemie verläßt Cassel. Der Naturverein, seine
Vorsteherin an der Spitze, geben ihr das Geleite.
Seufzer und Thränen bilden den Vorgrund". —
Das Gegenstück „Wie die Ehemie nach Marburg
eingeführt wird", zeigt im Hintergrund die Ruine
des Frauenbergs, vorn die zweitürmige stark stili-
sierte Elisabethkirche, davor einen langhaarigen
Schwälmer Bauern in der Pelzmütze, der auf einem
Schubkarren den in einem Buche lesenden Professor
(mit der Tonpfeife im Mund) und seine chemischen
Instrumente und Retorten in die Stadt fährt. —
Das dritte Bild hat ernsteren Charakter. Es ist
ein schönes großes Ölgemälde, gemalt von Bauer,
das Bunsen bei seiner Übersiedlung nach Breslau
1851 von einer Reihe von Marburger Freunden
liberreicht wurde. Es ist der Blick etwa vom
Standpunkt der heutigen Post in der Bahnhosstraße
auf Elisabethkirche und Schloß und zeigt im Vor-
dergrund links eine Gruppe von zehn Männern,
sämtlich Porträts, und zwar eben der Professoren,
154
Bunsens Ankunft in Marburg.
die dem scheidenden Kollegen diese schöne Erinne-
rungsgabe zugedacht hatten. Da sehen wir den
Theologen und Orientalisten Gildemeister, den
Juristen Fuchs, den Historiker Heinrich von Sybel,
den Theologen und Bibliothekar Henke, den Mathe-
matiker Stegmann und den berühmten Philosophen
Zeller, dann den Altphilologen und Bibliothekar
Caesar und neben ihm, alle anderen um Hauptes-
länge überragend, den Direktor des pharmazeutisch-
chemischen Instituts, Konstantin Zwenger, dann
Wilhelm Roser, den ausgezeichneten Chirurgen, und
den Physiker Kohlrausch (?); unten am Wasser,
einem Nebenarm der Lahn, steht unter einer male-
rischen Weide Bunsens Jnstitutsdiener Bretthauer.
Das Bild ist in jeder Beziehung interessant, der
dargestellten Landschaft wegen, die sich in den Zeit, da die kleine Universität Marburg eine ganze
75 Jahren seit 1851 natürlich stark verändert hat, Reihe von Gelehrten ersten Ranges besaß, Männer
des ersten Eigentümers halber und nicht zuletzt wie Sybel, Zeller, Roser, Kohlrausch, deren Namen
wegen der dargestellten zehn Gelehrten aus einer wie der von Bunsen unvergessen bleiben werden.
Beziehungen deutscher Dichter und Denker zur Mar-
burger Universität. Von Dr. Wilhelm Schoos.
Mit der Gründung einer hessischen Landesuni-
versität als der ersten protestantischen Universität
Deutschlands war Philipp der Großmütige von An-
fang an bestrebt, bedeutende Männer nach Marburg
zu ziehen, die das Licht des Evangeliums und
geistiges Leben in alle hessische Gaue verbreiten,
sollten. Unter den zehn Professoren, die sich auf
seinen Ruf hin am 1. April 1527 in Marburg
eingefunden hatten, befand sich als erster medizi-
nischer Professor ein hervorragender Vertreter des
Humanismus, Euricius Cordus aus Simts-
hausen bei Wetter, der von 1527—1534 an der
jungen alma mater wirkte. In seinen 18 Büchern
Epigrammen feiert er seinen Landesherrn und seine
Kollegen Lonicerus, Niger, Nigidius, Schnepf.
Später, als ihm der Aufenthalt dort verleidet wor-
den und er einem Ruf als Arzt und Lehrer am
Gymnasium nach Bremen gefolgt war, sandte er
voll Verbitterung manchen satirischen Pfeil gegen
die Marburger Professoren und Bürger.
Einen begeisterten Lobredner fand die Universität
in dem bald nach Euricius Cordus Weggang
von Erfurt aus berufenen bedeutendsten Vertreter
des Humanismus Eobanus Hessus aus Bok-
kendors bei Frankenberg. 1536 wird er als Pro-
fessor der Geschichte und Dichtkunst nach Marburg
berufen. Hier vollendet er seine letzten Arbeitend
ilnd lebt in Zufriedenheit bis an sein Lebensende.
Wie wohl er sich hier gefühlt hat, geht aus den
Briefen an seinen Freund Georg Stürzt hervor.
So schreibt er an ihn am 24. September 1536
(in deutscher Übersetzung):
^ „Ich habe einen glücklichen Tausch mit meiner neuen
Stellung in Hessen gegen jene in Erfurt gemacht.
150 Thaler bekomme ich hier jährlich, und ich habe
gute Aussicht in Händen, bald ein eigenes Haus zu
besitzen. Alles ist hier unglaublich viel billiger als in
Erfurt, Brot, Fleisch, Hühner und Hähne, Gänse,
Wild, Bier und, nur mit Ausnahme des Weines, be-
kommt man hier alles bedeutend billiger als bei Euch.
Die Bewohner sind die denkbar höflichsten Menschen,
sodaß ich keinerlei Grund habe, mit Ausnahme Deiner
Person, jene dicken und stumpfsinnigen thüringischen
Bäuche verlassen zu haben."
Eobanus galt für den ersten lateinischen Poeten
des Erfurter Dichterkreises, für den „König der
Dichter" im deutschen Reich, daneben aber auch für
eins der größten Kneipgenies seiner Zeit. In
launiger Weise hat ihn neuerdings nach dieser
Seite hin Karl Preser in seinem bekannten, von
1 Epistolae familiäres, ed. Draco. Marp. 1543.
Franz Melde vertonten Kommerslied „Eobanus
Hessus" gefeiert.
Ein dritter Vertreter des Humanismus, Eras-
mus Alberus aus der Wetterau, hat der Uni-
versität in der 48. Fabel seines Buches „Äsopus"
ein schönes Denkmal gesetzt:
„Es ligt ein stadt im Hessenlandt,
Die ist deshalben weit bekannt.
Dieweil der Fürst dieselbe stadt
Den Musis eingeweihet hat.
Des Bapst jahhund und terminierer,
Die Lügenreder, Stotzanierer,
Meßpfaffen und die Müncherey
Sampt ihrer großen heucheley,
Die falsch berhümpte Bruderschafft,
Der Fürst hat alles abgeschafft" usw.
Im 17. Jahrhundert finden wir einen der vor-
züglichsten Prosaisten und hervorragendsten Gelehr-
ten seiner Zeit in Marburg ansässig: Johann
Balthasar Schupp. 1616 in Gießen geboren,
studierte er in Marburg und war von 1635—1646
Professor der Geschichte und Beredsamkeit an der
Universität, seit 1643 auch Prediger an der Elisa-
bethkirche. Er wohnte in eiirem romantisch ge-
legenen Sommerhause vor der Stadt, dem „Avellin",
ttnd erfreute sich großer Beliebtheit in der Stadt
bei seinen Kollegen. Was ihn veranlaßt haben
mag, Marburg zu verlassen und nach Hamburg
überzusiedeln, ist nicht recht klar. In einem Lob-
gedicht auf ihn aus der Hamburger Zeit heißt
es u. a.:
„Du Marpurg kennest noch den weitberümten Geist.
Wie konntest du mit ihm so übermütig prangen?
Es war dein Aug' und Hertz, dein Zierath, dein Ver-
langen.
Ja, Ja, du Hessen Land hast den Mann hoch gepresst,
Gedenke, was Dein Fürst aus diesen Mann gelegt."
Unter den Männern des 18. Jahrhunderts ist
in erster Linie der aus dem Nassauischen gebürtige
I o h. Heinrich Jung, gen. Jung-Stil-
l i n g zu nennen, der 1787 als Professor der Kame-
ralwissenschaften nach Marburg berufen wurde,
schon damals einen Weltruf als Augenarzt, Ge-
lehrter und mystischer Schriftsteller genoß und zahl-
reichen Besuch von Künstlern und Gelehrten in
seinem gastlichen Heim empfing. Von 1795 an
wohnte er vier Jahre einen großen Teil des Früh-
lings, Sommers und Herbstes in einer ländlichen
Wohnung zu Ockershausen unweit von Marburg,
„um von der freien und reinen Luft in der schönen
Natur mehr Stärkung, Erholung und Aufheiterung
zu erhalten". Seine Kollegien aber las er in
155
der Stadt in seinem Hause. Seinen Marburger
Aufenthalt hat uns Jnng-Stslling in „Heinrich
Stilling's Jugend, Jünglingsjahre, Wanderschaft
und Alter" (Sämtl. Schriften Bd. 1.) ausführlich
erzählt und der Universität, an der er 16 Jahre
lang wirkte, ein rühmendes Denkmal gesetzt. Ter
mit ihm befreundete Dichter Matthison hat
über einen Besuch bei ihm in Marburg in seinen
„Erinnerungen" (Schriften Bd. 3, S. 84—91)
berichtet und Stilling's segensreiche Tätigkeit in
Marburg gebührend gewürdigt.
Das 19. Jahrhundert, das Zeitalter der Roman-
tik, ist untrennbar verknüpft mit den Namen Sa-
v i g n h, Brentano, C r e u z e r, Grimm. Um
den Professor der Rechtswissenschaften Friedrich Karl
von Savigny, der das untere Haus des durch
Bettina von Arnim berühmt gewordenen Forst-
hofes bewohnte, hatte sich ein Kreis von geist-
reichen, bedeutenden Männern gesammelt, unter
denen sich als Savigny's Schüler die Brüder Jacob
und Wilhelm Grimm befanden. In einem Brief
an die Marburger Juristen-Fakultät vom 11. No-
vember 1850 bekennt Savigny, daß er nicht nur
den größten Teil seines akademischen Unterrichts
an dieser Universität empfangen habe, sondern daß
auch mehrere ihrer Lehrer von dem entscheidendsten
Einfluß auf seine ganze fernere Bildung gewesen
seien. In der Widmung zu Savigny's 50 jährigem
Doktorjubiläum hat Jacob Grimm ausgesprochen 2,
was er diesem geistreichen Lehrer für seine spätere
Entwicklung zu verdanken hatte. Christian Bren-
tano, der Bruder von Klemens und Bettina Bren-
tano, studierte 1804—06 in Marburg und bewohnte
ein kleines Haus am Fuße des Berges, in das
man mittelst einer steilen hohen Treppe hinein-
kam. Seinen Aufenthalt in Marburg hat er in
seinen „Nachgelassenen religiösen Schriften" ge-
schildert. Diesem Kreis gehörte auch der Professor
der Theologie Friedrich Creuzer an, der in seinem
Buch „Aus dem Leben eines alten Professors"
uns ein anschauliches Bild von den damaligen
Zuständen an der Universität entworfen hat.
Etwa zwanzig Jahre später studierten Ernst
Koch, der Dichter des „Prinz Rosa-Stramin",
Franz Dingel st e d t und Friedrich Oet-
ker in Marburg. Seine Marburger Studienzeit
hat Koch im 21. Kapitel seines „Prinz Rosa-
Stramin", Dingelstedt in einem Gedicht „Die
Extrapost"* 3, Oetker in seinen „Lebenserinnerungen"
(Bd. I) geschildert. Die klassischen Worte Koch's
über die Marburger Universität im Vergleich zu
Göttingen verdienen besonders erwähnt zu werden:
„In Göttingen ist's kalt, fein und stolz. Überall
riecht's nach Professoren und Heine'schen Personal-
witzen. In Marburg ist's warm, grob und zutraulich.
. . . Ein Ball in Göttingen ist ein Handschuh, den
die Damenwelt in den Cirkus der gräßlichsten Lange-
weile wirft, und den die Männerwelt mit Schaudern
zurückholt. Ein Ball in Marburg ist eine lachende
^ Kleine Schriften.
3 Sämtliche Werke Bd. VII, S. 97.
156
Rose, welche die Studenten den Marburger Mädchen
schenken. Göttingen hat eine Universität,
Marburg i st eine, indem hier alles, vom Pro-
rektor bis zum Stiefelwichser zur Universität gehört.
In Göttingen geht das Laster in Glacehandschuhen und
Vatermördern einher und wird Baron genannt; in
Marburg geht es verachtet über die Gassen."
In den vierziger Jahren studierte der als fein-
sinniger Novellist und Kulturhistoriker bekannte W.
H. v. Riehl, der aus Biebrich stammte und das
Gymnasium zu Weilburg besuchte, anderthalb Jahre
in Marburg Theologie. In den 1894 erschienenen
„Religiösen Studien eines Weltkindes" erzählt er
uns von seiner Studienzeit:
„Klings neutestamentliche Vorlesungen waren fried-
liche und weihevolle Stunden, an die ich mit Freuden
zurückdenke. Er hielt dieselben in einem kleinen Garten-
saal seines Hauses — ein Kollegiengebäude gab es
damals in Marburg noch nicht — durch die offenen
Fenster öffnete sich uns der Blick in den Garten und
darüber hinaus in die freie Landschaft; wir sahen, vom
Pult aufblickend, die nahen Apfelbäume blühen und
Früchte ansetzen; tvir sahen die Äpfel reifen: das war
ein natürlicher Kalender, an welchem tvir den Fortgang
des Semesters erkannten, und Ivenn die ersten Äpfel ge-
brochen wurden, standen die Ferien vor der Thür ustv."
Eine Zierde der Universität bildete in den vier-
ziger Jahren der bekannte Chemiker B n n s e n,
der Entdecker der Spektralanalyse und anderer epoche-
machender Erscheinungen. Er wirkte 13 Jahre an
der Universität und ging 1851 der Hassenpflug'schen
Reaktion aus den: Wege. Einer seiner bedeutendsten
Schüler war der berühmte englische Naturforscher
John Tyndall, der von 1848 an vier Semester
in Marburg studierte und 1893 auf seinem Land-
sitz Hind Head bei Haslemere starb. Er hat später
eingehende Mitteilungen über seine Marburger
Studienzeit in den in London erscheinenden New
Fragments gemacht, die auch in deutscher Sprache
in Richard Fleischer's „Deutscher Revue" 4 unter
dem Titel „Erinnerungen ans meinem Leben" er-
schienen sind.
In den fünfziger Jahren studierten Julius
R o d e n b e r g, der bekannte Herausgeber der „Deut-
schen Rundschau", und Karl Altmüller, der
Verfasser des Liedes: „Ich weiß ein teuerwertes
Land", in Marburg. Jener hat der alma mater
ein schönes Denkmal in seinem Jugendroman „Die
Straßensängerin von London" (1860) und in seinem
Buch „Klostermanns Grundstück" (1891), dieser in
seiner anheimelnden Studentenerzählung „Die Iro-
nischen" (1880) gesetzt. In der „Straßensängerin"
heißt es u. a.:
„Die Musen werden daselbst noch geehrt wie zur
Zeit des trefflichen Erasmus; und die furcht- und
tadellosen Jünger derselben haben noch ihre Stachel-
tintenfässer, ihre großen Mappen, ihre Bänder, ihre
Mützen, ihre Schläger und ihre Humpen wie in der
guten alten Zeit; und sie so dahinziehen zu sehen durch
die altmodigen Gassen, in hohen Kanonenstiefeln und
4 Vergl. auch „Hessenland" 1895, S. 4 ff.: „Der
Studienaufenthalt eines berühmten englischen Natur-
forschers in Marburg 1845—50."
Der Forsthof in Marburg. Zeichnung von Otto Ubbelohde.
AuS: Carl Knetfch, Der Forsthof und dle Rktterstraße zu Marburg. Verlag Adolf Ebel, Marburg 1921
157
groben Flausröcken, Arm in Arm, dampfend aus ge-
waltigen Pfeifen mit Quasten und Troddeln und ge-
folgt von nachtrottenden Hunden, ist ganz ein Bild des
mittelalterlichen Studentenlebens."
In den sechziger Jahren wirkte Ernst Konstantin
Ranke, der jüngste Bruder des berühmten Histo-
rikers, als Professor der Theologie in Marburg
und wohnte hoch oben in dem alten Forsthof, der
durch Bettina von Armin und die Romantiker be-
kannt geworden ist. Aus dem von seiner Tochter
herausgegebenen Briefwechsel ^ mit seinem Bruder
und seinen Frerinden erhalten wir ein lebendiges
Bild über sein geselliges Leben und seine Tätigkeit
als Universitätslehrer, insbesoirdere auch über die
Ehrungen, die seiitem Bruder Leopold durch die
Universität zu teil wurden. Ernst Ranke ist auch
als feinsinniger Dichter durch seine „Chorgesänge
zum Preis der heil. Elisabeth" bekannt geworden.
Mit den siebziger Jahren nähern wir uns schon
mehr und mehr der Gegenwart. Alle Dichter und
Denker aufzuzählen, die im letzten halben Jahr-
hundert in Beziehungen zur Universität als Lehrer
oder Schüler gestanden haben, würde den Rahmen
des zur Verfügung stehenden Raumes weit über-
schreiten. Nicht unerwähnt mag aber bleiben, daß
der bekannte Romandichter Ernst Eckstein, aus
Gießen gebürtig, 1866 in Marburg promovierte
und der Jugendschriftsteller und Novellist Viktor
B l ü t h g e n sich 1874 in Marburg aufhielt, um
sich für orientalische Sprachen zu habilitieren, aber
wegen zu geringer Mittel den Plan wieder aufgeben
mußte. Aus neuerer Zeit mögen noch folgende ge-
nannt sein: Edward Stilgebauer, der in
seinem Roman „Götz Krafft" seine Marburger Stu-
identenjahre geschildert hat ebenso wie Walter
B l o e m in seinem Roman „Der krasse Fuchs",
R u d o l f H e r z o g, der das Marburger Studenten-
5 Etta Hitzig: Ernst Konstantin Ranke. Ein Lebens-
bild. Leizig 1906.
leben in seiner Erzählung „Die Welt in Gold" ver-
herrlicht, Wilhelm H e g e l e r, der in seinen:
Roman „Flammen" einen beliebten Universitäts-
lehrer der neunziger Jahre zum Helden der Handk-
lung macht, und Adolf Wilbrandt, dessen
Roman „Der Sänger" das Marburger Studenten-
leben der neunziger Jahre begeistert schildert. Ein
bedeutender Gelehrter und feinsinniger Dichter zu-
gleich ist der unter dem Deckmantel Beatus Rhe-
nanutz bekannte Professor der klassischen Philologie
Theodor Birt. Ein geborener Wandsbecker,
wirkt er seit über vier Dezennien an Marburgs
alma mater, und sein gastliches Heim unterhalb des
Schloßberges — unweit des Forsthofes — bildet
ähnlich wie vor ihm das von Ernst Ranke den
Mittelpunkt geistiger Interessen und anregenden Vev-
kehrs. In seiner bei Quelle und Meyer in Leipzig
erschienenen Schrift „Marburg an der Lahn", in
seiner Prologszene „Philipp der Großmütige",
sowie in einem Festlied zur Einweihung der neuen
Universitäts-Aula hat er der Universität rühmend
gedacht.
Damit sind wir unmittelbar bei der Gegenwart
angelangt. Von Erasmus und Eobanus bis zu
Beatus Rhenanus — eine vier Jahrhunderte um-
spannende, lange Zeit, ausgefüllt von Männern, die
bei aller Verschiedenheit ihrer Naturen sich einig
sind in ihrer persönlichen Einstellung zu der gelieb-
ten alma mater Philippina, der ihr bestes Schassen
und Streben galt oder der sie tiefgehende Förde-
rung für ihre fernere Lebensgestaltung zu verdanken
hatten. Mögen die Fäden, die uns heute mehr
denn je an die ruhmvolle Vergangenheit von Phi-
lipps des Großmütigen Schöpfung binden, auch in
Zukunft unzerreißbar bleiben trotz aller Stürme,
die über sie hinweggebraust sind und wohl noch über
sie hinwegbrausen werden, zum größeren Ruhme
unserer hessischen alma mater Philippina und unseres
Hessenlandes.
Über einen im Jahre 1831 gemachten Vorschlag der Ver-
legung der Marburger Universität nach Kassel.
Daß die einstige Residenzstadt Kassel von 1633
bis 1653 Sitz einer freilich nie bedeutenden Un,i-
versität war, die während des Dreißigjährigen
Krieges zeitweise sogar die Marburger Universität
an Frequenz überragte, ist bekannt. Weniger be-
kannt aber dürfte es sein, daß man einmal nach
mehr als 300 jährigem Bestand der hessischen Lan-
desuniversität den ernstgemeinten Vorschlag machte,
diese von Marburg nach Kassel zu verlegen, wie
das ja auch schon einmal Landgraf Friedrich II.
geplant hatte.
Das Verhältnis Kurfürst Wilhelms II. zur Grä-
fin Reichenbach war je länger je mehr zum öffent-
lichen Ärgernis geworden, bis schließlich die ge-
reizte Haltung der hauptstädtischen Bevölkerung
Mitgeteilt von Paul Heidelbach.
den Landesherrn veranlaßte, seine Residenzstadt
für immer zu verlassen. Alsbald zeigte sich, daß die
Entfernung des kurfürstlichen Hofes für das Kas-
seler Erwerbsleben die nachteiligsten Folgen hatte,
was um so drückender empfunden wurde, als Han-
del und Gewerbe ohnehin seit langem darnieder-
lagen. Zn den zahlreichen Bittschriften, mit denen
die Stände des neuen Landtages überschüttet wur-
den, gehört auch eine solche der sämtlichen Gilden
und Zünfte zu Kassel „um Verbeßerung ihres
gänzlich gesunkenen Nahrungs- und Wohlstandes
von den beauftragten Prokuratoren Beste, Rößing
und Schwarzenberg entworfen und eingereicht im
März 1831".
Diese im Kasseler Stadtarchiv (I 61 o) ab-
schriftlich aufbewahrte Bittschrift betont zu Ein-
gang, daß die Bürger Kassels die neue — am
8. Januar feierlich verkündigte — Verfassung
keineswegs kalt und teilnahmlos aufgenommen
hätten. Aber die veränderten Zeitumstände hätten
eine allgemeine Nahrungslosigkeit unter der ge-
werbetreibenden Klasse der Residenzbewohner her-
vorgebracht, wie denn überhaupt der Wohlstand
des gesamten Landes tief gesunken sei. Der Grund
liege in Folgendem:
„Ein klägliches Finanzsystem, welches stets dar-
auf bedacht war, die Staatskasse durch hohe, immer
wachsende Abgaben so viel als möglich zu füllen,
leider aber vergaß, daß ein solches System in
sich selbst seinen Untergang finden mußte, wenn
man nicht gleichzeitig für die Beförderung des
Wohlstandes der Ackerball und Gewerbe treibenden
Klassen, und die Belebung des Handels auf eine
wirksame Weise sorgte, untergrub bald den frühern
Wohlstand des Landes. Das Sinken des Leinen-
Handels, einst eine reichhaltige Quelle der all-
,gemeinen Wohlhabenheit, welcher eine Menge
Menschen beschäftigte; die Erschwerung des Tran-
sito-Handels durch hohe, zum Theil sehr zweck-
widrige Turchgangszölle, und die Vernichtung jeden
andern Verkehrs mit dem Auslande durch die
schädlichen, und für ein so kleines, gleichwohl zer-
stückeltes mit vielen Grenzen versehenes Land, be-
sonders unpaßenden Mauthsperren, entzogen dem
Lande reiche Hülfsyuellen, erschufen eine künst-
liche Theuerung, beförderten andererseits den stets
zunehmenden Geldmangel und wirkten Vereins auf
die Gewerbe sehr nachtheilig zurück. Außer diesen
und vielen andern allgemeinen Gründen des Ver-
falls unseres Wohlstandes, fehlt es jedoch auch
nicht an mancherlei besonderen, welche der Klasse
der Handwerker der Residenz Nahrung und Arbeit
entzogen, so, daß fast kein Gewerbe mehr vorhanden
ist, welches nicht unter den veränderten Zeitum-
ständen gelitten hätte.
Vor allen Dingen rechnen wir hierher die ver-
änderte Militairöconomie. Statt, daß früher der
Soldat seinen Sold nach Belieben verzehrte, und
viele einzelne der hiesigen Bäcker, Metzger und
Victualienhäudler gewannen, wird jetzt alles für
die Militair-Menagen im Großen, zum größten
Theile außerhalb der Residenz eingekauft, wobei
sich nur einzelne Lieferanten bereichern, während
die ärmeren Bürger der erwähnten Klassen leer
ausgehen. —
Noch nachtheiliger, als die auf die ebeu erwähnte
Weise bewirkte Verköstigung des Militairs ist es,
daß auch die Bekleidung und Uniformierung dessel-
ben, lediglich von im Militair stehenden Haud-
werkern gegen eine mäßige Erhöhung ihres Sold's
besorgt wird.
Während sonst jene Arbeiten für das Militair
eine bedeutende Anzahl Schneider, Schuhmacher,
Riemer der Residenz beschäftigten, ist diesen nicht
nur jetzt jeder Erwerbzweig dieser Art entzogen,
sondern jene Militairhandwerker arbeiten sogar
noch heimlich für das städtische Publicum, zum
größten Nachtheile der Zünfte.—
In gleichem Maaße wirkt auch die vermehrte
Industrie der Zwangs- und Werkhäuser nachtheilig;
denn nicht allein ist dadurch, daß dort eine Menge
Gewerbe für einen geringen Tagelohn betrieben
werden, der hiesige Arbeitslohn sehr herabgedrückt,
sondern es sind zugleich auch hierdurch der ge-
werbtreibenden Klasse der Residenz bedeutende Er-
werbszweige, wenn nicht ganz entzogen, doch sehr
geschmälert, weil es sich nicht erwarten läßt, daß
die Handwerker, welche oft eine zahlreiche Familie
ernähren, und ihre Gesellen nur um einen weit
höheren Lohn beschäftigen können, mit jenen
Zwangsarbeiten gleiche Preise halten können.
Andere Gewerbe sind durch die veränderte Mode
fast ganz zu Grunde gegangen, hierher darf man
z. B. die sonst hier befindlichen Hutfabriken rechnen,
welche eine Menge von Gesellen beschäftigten; jetzt
aber durch die überhand nehmende Mode der Tuch-
kappen, sowie auch die, durch die aus dem Auslande
zu beziehendeu Seidenhüte, deren Verkauf jedem
Kaufmanne frei stehet, fast ganz untergegangen
sind. —
Einem gleichen Wechsel der Mode unterlagen
die Zeug- Rasch- Kammlot- Etamin- Sammt- und
Strumpf-Fabriken, welche früher eine Menge Hände
beschäftigten. —
Dem Schlosserhandwerke thaten die vermehrten
Eisenhandlungen, deren Zahl von 2 bis auf 9 in
Kassel stiegen, bedeutenden Abbruch, welche mit
Schlosserarbeiten aller Art handeln, die sie meist
zu sehr wohlfeilen Fabrikpreisen beziehen können.
Endlich hat auch die gestiegeue Fabrikation des
In- und Auslandes die Nahrung der Handwerker
geschwächt; zwar Einzelne bereichert, aber auch
die Verbreitung eines allgemeinen Wohlstandes
unter den Einwohnern der Residenz gehindert.
Die Spinn- Streich- Krempel- und Scheer-
Maschinen der Tuchfabriken, haben eine große Zahl
von Tuchmachermeistern außer Thätigkeit gesetzt,
welche sonst sicher doppelt so viel arme Hand-
werker beschäftigten, als jetzt sämmtliche hiesige
Tuchfabriken und Tucharbeiter vereint. —
Früher kannte man in Kassel keine Wagen-
fabriken und es mußten sich bei der Verfertigung
der Wagen viele Handwerker gegenseitig Hülfe lei-
sten; der Sattlermeister ließ die Wagen beim Wag-
nermeister, die Schlosserarbeit beim Schlossermeister,
die Lakirerarbeit beim Lakirer, die Gelbgießerarbeit
beim Gießer anfertigen, und so waren alle diese
Handwerker beschäftigt, deren Verdienst jetzt ein-
zelnen Fabrikanten zugefallen ist, welche alle jene
Arbeiten durch ihre Fabrik-Arbeiter anfertigen
lassen. —
Die vervollkommnete Einrichtung der größer»
Bierbrauereien, der Seifensiedereien usw. hat eben-
wohl dem Mittelstände der Bürger einen Erwerb
entzogen, der sonst manchen in Nahrung setzte.
Daß alle diese Verhältnisse einen Zustand her-
beigeführt haben, ivo wohl einzelne der Gewerb-
treibenden sich bereichern konnten, während die
große Mehrzahl darben muß, läßt sich nicht ab-
leugnen, und leider konnten auch die sonstigen
Verhältnisse der Residenz keinen Ersatz gewähren,
indem der Verkehr überall stockte, und fast alle
Fremde, sowie die Fürstlichen Personen, deren
Aufenthalt in Kassel ein bedeutendes Kapital in
Umlauf setzte, sich von dort zurückzogen.
Es erscheint daher gewiß als ein dringendes
Bedürfniß, so viel als thunlich, für die Ent-
fernung eines Zustandes zu sorgen, welcher manchen
redlichen und fleißigen Hausvater zur Verzweif-
lung treibt, und als die einzige wahre Ursache
der Gährung zu betrachten ist, welche, der gerechten
Mißbilligung aller rechtlich gesinnten Bürger Kas-
sels ungeachtet, doch hier und da auszubrechen
drohte. —
Die Unterzeichneten haben von den Zünften
der hiesigen Residenz den ehrenvollen Auftrag er-
halten, mehrere in dieser Hinsicht laut gewordenen
Wünsche der hochachtbaren Stände-Versammlung
zur geeigneten Berücksichtigung vorzutragen."
Es werden nun verschiedene Mittel zur He-
bung des gesunkenen Wohlstandes der Residenz in
Vorschlag gebracht. Dazu gehört die Bildung einer
Aktiengesellschaft, unter die eine Summe von etwa
10 bis 20 000 Thalern als Baudouceur unter der
Bedingung verteilt werden sollen, davon alte bau-
fällige Häuser anzukaufen und durch neue zu ersetzen,
wodurch nicht nur eine allmähliche Verschönerung
der Stadt erreicht, sondern auch eine Menge Kas-
seler Bauhandwerker beschäftigt würden. Sodann
müßten die Militärlieserungen wieder den gewerbe-
treibenden Klassen überlassen werden. Auch dürfe
den Handiverkern keinerlei Konkurrenz mehr durch
die Zwangsarbeits- und Werkhäuser erwachsen.
Weiterhin wurde eine Verteilung des den Stadt--
gemeinden gehörenden Forstes verlangt, der für
Gartenbau urbar gemacht werden könne. Überaus
notwendig sei auch eine Beseitigung der herrschen-
den Kreditlosigkeit, an der nicht zuletzt die schlep-
pende Justizverwaltung schuld sei. Vorbedingung
sei also eine radikale Verbesserung der Justiz-
pflege und bessere Besoldung der Justizbeamten.
Viel versprach man sich dann von der Errichtung
einer, durch einen Fonds von mindestens zwei
Millionen Talern gesicherten Landeskreditkasse (die
ja dann auch 1832 gegründet wurde), verbunoen
mit der Errichtung einer Sparkasse und der gleiche-
zeitigen Aushebung des Lombards, das halbver-
armte Familien vollends an den Bettelstab ge-
bracht habe.
Vor allem aber erhoffte man eine nachhaltige
Besserung durch die Verlegung der Uni-
versität Marburg nach Kassel. Um
diesen Vorschlag zu begründen, suchte man zunächst
seine Zweckmäßigkeit durch folgende Argu-
mente zu erhärten.
„1.) Die Stadt Kassel eignet sich zu einer
Universität für das In- und Ausland ihrer Lage
nach ganz vorzüglich, denn sie liegt in der Mitte
160
des Landes, und alle Provinzen — Hanau allein
ausgenommen — sind ihr fast gleich nahe; die
Eommunication mit dem Auslande ist nach allen
Richtungen hin leicht und bequem.
In ihrer Nähe ist nur eine Universität, Göt-
tingen, aber diese Nähe würde nicht wichtig genug
sein, um die neue Anstalt zu Kassel niederzuhalten,
indem die Stadt Göttingen mit Kassel in keiner
Hinsicht sich messen kann; die Umgebungen und das
Innere der Stadt sind durch Natur und Kunst
lgleich anziehend und Fürst und Stünde würden
gewiß mit liberalem Sinne die junge Universität
pflegen, und dann würde die Nähe von Göttingen
nur eine edle Eifersucht erwecken, welche wohl-
thätig auf das neue Institut einwirken müßte.
Zwar läßt es sich 2.j nicht verkennen, daß die
hohe Stellung, welche Göttingen durch die Treff-
lichkeit seiner Anstalten, durch den ausgezeichneten
Geist seiner Lehrer von jeher unter Europa's Hoch--
schulen eingenommen hat, Kassel große Anstrengung
kosten würde, wenn es ihr sollte folgen wollen;
allein auf der einen Seite ist der Reiz der New>
heit immer groß und mächtig wirkend, noch an-
ziehender, zugleich lehrreich die ausgezeichnet herr-
liche Natur, und auf der andern Seite möchte
auch wohl ein mäßiger Zuschuß des Staats zu
den bisherigen Fonds der Universität die Mittel
schaffen, noch mehr Männer von ausgezeichnetem
Rufe heranzuziehen.
Gewiß werden solche es vorziehen, hier unter
dem Schutz einer freisinnigen Verfassung sich kräftig
und frei zu bewegen, als in weniger begünstigten
Staaten ihre Geistesfähigkeiten in Fesseln schlagen
zu lassen.
Einen Zauber ähnlichen Einfluß äußern milde,
freigebige Regierungen, großartige Staats-Grund-
verträge, auf die geistige Ausbildung; zeichneten
unter Friedrich II. in dem goldenen Zeitalter
Hessens, — schnell ein Runde und Dohm, ein Tiede-
mann und Sömmering, ein Förster und Casparsohn,
ein Mauvillon und Johann von Müller in der
Gelehrten-Welt als unsterbliche Geister hier in
Kassel sich aus, schufen sie unvergängliche Werke;
so dürfen wir auch wohl mit Recht darauf rechnen,
daß unter ähnlichen vielleicht noch günstigeren Ver-
hältnissen Deutschlands erste Männer wieder unsere
Stadt zieren werden. —
So dürfte wohl bald ein schöner Rangstreit
Kassels mit Göttingen sichtbar werden, möglich
wohl gar, daß der jetzige Augenblick, der Göt-
tingen eine nur langsam heilende Wunde geschla-
gen hat, das frische Leben hier über den dort
herrschenden niedergedrückten Zustand der Vege-
tation siegen ließe. —
3.) Die Einrichtung der Universität zu Kassel
würde außerdem keine große Schwierigkeiten ha-
ben, denn wir haben vieles Nothwendige schon
bestehend, oder doch die Mittel dazu um das Feh-
lende leicht hinzustellen. —
An Gebäuden fehlt es nicht; viele der Art,
die dem Staate gehören, sind bald zu Universitäts--
gebäuden einzurichten; Wohnungen für die Pro-
fessoren und Studenten würden in Kurzem in
Menge eingerichtet, oder neu erbauet, Tausende
von Menschen würden beschäftigt und die Stadt
würde aus dem natürlichsten Wege erweitert und
verschönert werden. —
4. ) Die Institute, welche wir schon haben, wür-
den sehr zu statten kommen, die Charitee, das
Museum, die Bibliothek, die Sternwarte, die Bil-
dergallerie, unsere Vereine, unsere Academie, unsere
Ausstellungen, unsere Fabricken usw. würden Wis-
senschaft und Kunst, für welche letztere zu Marburg
wenig geleistet werden kann, leicht und schnell
fördern. —
5. ) Der Geist des Fleißes, der in allen Dica-
sterien der Verwaltung hier waltet, der Hinblick
auf die Männer, unter denen Mancher ein Muster
werden kann, die vielfache Gelegenheit, sich für
das Leben zu bilden, selbst der Umstand, daß
neben so vielen Höhern der Student weniger her-
vortritt und also auch in Nebendingen weniger eine
Rolle spielen kann; der liberale Sinn, der ohne
Zweifel sich immer mehr in unserm Lande, und
namentlich in der Residenz von nun an entfalten
wird; die Achtung, welche die Bürger von Kassel
im In- und Auslande jetzt genießen; dies Alles
würde heilsam einwürken auf den Geist der Studi-
renden, und die Väter würden gern ihre Söhne auf
eine Universität schicken, auf der sich so Vieles
Vortheilhaft für deren Ausbildung vereinigt.
6. ) Diese Umstände zusammen genommen, wür-
den auch das Vorurtheil beseitigen, als ob eine
Residenz zu einer Universität sia) nicht eigene. —
Mehrere Beispiele der neueren Zeit zeugen für das
Gegentheil. —
Wenn in Berlin die Academie gedeiht, so
mag dies noch sicherer in Kassel zu erwarten sein,
wo alle Vortheile der Residenz der Hochschule zu
statten kommen, aber die Nachtheile verschwinden
werden, weil Kassel gerade eine Stadt von Mittel-
größe ist, und als Hauptstadt eines kleinen Landes
mit großartigen politischen Geschäften nie so über-
häuft sein wird, daß die Regierung nicht still-
waltend beu Blick auf das Gedeihen der Universität
richten und alles dahin Gehörige hinreichend über-
sehen könnte.
7. ) Daß die Stadt Kassel durch Errichtung einer
Universität gewinne, liegt wohl jedem Unbefan-
genen klar vor, der materielle Gewinn für den
Erwerb ist aber nicht der höchste; sondern höher
noch ist der ideelle, der nämlich, daß die Stadt
diese Einrichtung als eine Wohlthat der neuen Ver-
fassung hinnähme, wodurch sie für ewige Zeiten
mit Liebe an die Constitution gebunden würde,
welche dem Lande so viel Seegen gebracht hat,
und noch bringen wird.
8. ) Und endlich dem Lande selbst würde diese
Einrichtung höchst heilsam sein; — Es fehlt uns
doch im H>essenlande gar sehr an öffentlichen An-
stalten, welche großartig auf das Ganze Vortheil-
haft wirken; eine Universität von größerm Um-
fange würde das können.
Diese selbst würde mit einem neuen Geiste ins
Leben treten, manche veraltete Form würde schwin-
den, für manches Bedürfnis der Wissenschaft und
Kunst würde besser gesorgt werden; die Zahl der
Studirenden würde bei der ausgesprochenen Stu-
dienfreiheit sich mehren, und die Söhne wohl-
habender Inländer würden ihr Geld nicht mehr
ausländischen Universitäten zuwenden, wie bisher
von beit meisten geschah. —
Daß aber dadurch die Umgegend einer großen
Universität, in der Mitte des Landes gelegen und
also das Land selbst in einem weiten Umkreise
gewinnen müsse, das kann keinem Zweifel unter-
liegen."
Zur Entschädigung Marburgs schlug man
vor:
„Zuerst die Verlegung des Ober-Appellations-
Gerichts von hier nach Marburg.
Es ist der Würde eines obersten Gerichtshofes
gerade angemessen, fern von der Residenz und
ihren Einflüssen in einer Provinzialstadt seine
Schranken aufzuthun; die größere Entfernung von
einzelnen Theilen des Landes ist dabei nicht nach-
theilig, weil die Verhandlungen schriftlich abge-
macht, und die Betheiligten nicht persönlich zu
erscheinen genöthiget werden. —
Sodann könnte das Forstlehrinstitut von
Melsungen ebenfalls nach Marburg verlegt wer-
den. An Local dazu würde daselbst Ueberfluß
sein, die Forste in der Umgegend entsprächen der
Ausbildung der Forstlehrlinge; der dort angelegte
Forstgarten würde zu statten kommen, und die
bisherige Studentenjagd, sowie die in den Landes-
forsten könnte dem Forstinstitute auch zur Ein-
übung des Jagdwesens eingegeben werden. —
Daran würde es sich zweckmäßig anschließen, daß
das Jägercorps ebenfalls als stehende Garnison
nach Marburg verlegt würde, denn dadurch würde
mancher Jäger, schon vor seinem Eintritt ins
eigentliche Forstlehrinstitut, mancherlei Vorberei-
tendes lernen und sich zu freiern Ansichten erheben
können.
Hervortreten würde die Nothwendigkeit, die Füsi-
liere von den eigentlichen Jägern zu scheiden, und
diese dann, freilich in geringerer Anzahl, zu dem
für Hessen so wichtigen Berufe des Försters, dem
ein so bedeutendes Capital, ein Forst, anvertrauet
werden soll, zweckmäßiger und mehr wissenschaftlich
heranzubilden. —
Die Universität bringt für Marburg dermalen,
wenn man im Durchschnitt 200 Studenten annimmt,
und für jeden Einzelnen 250 Rth. jährliche Ver-
zehrung, die Summe von 50 000 Rth. ein; dazu
gerechnet noch etwa 20 000 Rth. für Gehalte der
Professoren usw. würde also ein Capital von
70 000 Rth. jährlich dort in Umlauf gesetzt. —
Wenn die unter 1, 2, 3 und 4 vorgeschlagenen
Ersatzmittel dorthin verwendet würden, so möchte
diese Summe wohl leicht dadurch gedeckt werden
161
und, — Marburg wäre entschädigt, die Stadt
Kassel würde aber weit mehr gewinnen, als Mar-
burg als Universität je gewinnen kann, die Hoch-
schule selbst würde neues Leben bekommen, und
das ganze Land würde diese Veränderung als eine
Folge der neuen Verfassung betrachten und die
neue Universität als ein achtbares Nationalin-
stitut verehren. —
Welcher Zeitpunct könnte aber wohl auch gün-
stiger sein, um einen solchen Plan auszuführen,
als der jetzige?
Die dem Lande wieder erstatteten so bedeutenden
Staats-Capitalien würden es möglich machen, eine
solche neue Lehranstalt mit den großartigsten Mit-
teln zu begrlinden. —
Die bürgerlichen Unruhen, welche einen großen
Theil der Studirenden von dem Musensitze zu
Göttingen, sowie auch aus München verscheucht
haben, lassen mit Grund erwarten, daß es der
neuen Anstalt nicht an zahlreichen Besuchern aus
dem Auslande fehler: würde, so daß man, ohne
sich einer trügerischen Hoffnung hinzugeben auf
,eine dreifach, ja vierfach größere Anzahl von Studi-
renden rechnen könnte, als dermalen sich zu Mar-
burg befinden."
Daß diese der Landes Universität nicht eben sehr
freundwillig gesom:enen Bestrebungen keiner: prak-
tischen Erfolg hatten, braucht nicht noch gesagt
zu werden.
Carl Banher, dem Siebzigjährigen. Von paul Heideibach.
Wenn wir bereits ir: dieser, meist Marburg ge-
widmeten Nummer des größten hessischen Malers,
Carl Bantzers, gedenker:, der am 6. August seinen
70. Geburtstag begeht, so ist das nicht ohne Grur:d.
In Marburg hat Geheimrat Professor Dr. Carl
Bantzer seine glückliche Jugend verlebt, und in
Marburg, dessen Hochschule ihn zum Ehrendoktor
ernannte, hat er nun seinen Ruhesitz genommen.
„Ruhesitz" freilich ist für jeden, der Bantzer in den
letzten Wochen und Tagen sah, ein nicht wörtlich
zu nehmender Begriff. Denn der schaffensfrohe,
hochaufgerichtete rüstige Altmeister deutscher Kunst
denkt nicht daran, der Ruhe zu pflegen. Eben jetzt
schickt er sich in Willingshausen an, jenes große,
für das Marburger Rathaus bestimmte Gemälde
der „Vier Lebensalter" zu schaffen.
Carl Ludwig Noah Bantzer — den alttestamen-
tarischen Vornamen verdankt er seinem Paten, dem
Marburger Universitätsbuchhändler Noah Gottfried
Elwert — wurde als Sohn eines Kreistierarztes 1857,
also im selben Jahr wie Max Klinger, in Ziegen-
hain geboren. Schon hier, im Herzen der Schwalm,
empfing der Knabe jene starken Eindrücke, die dann
sein Schaffen bestimmend beeinflussen sollten. Nach
des Vaters Tode verzog der Sechsjährige mit seiner
Mutter, einer feinsinnigen Pfarrerstochter, nach
Marburg, und hier hat der junge Gymnasiast,
dessen lustige Karikaturen seiner Lehrer und Mit-
schüler schon damals auffielen, sich die schöne Um-
gebung mit offenen Augen immer wieder erwandert.
Mit achzehn Jahren bezog er die Berliner Kunst-
akademie, wo ihm besonders Karl Gussow viel zu
geben wußte. Dann zog ihn Ludwig Richter nach
Dresden, an dessen Akademie er Schüler Pohles
wurde. Aber die entscheidenden Einflüsse hat er
doch in Paris empfangen, wo er den Freilicht-
Jmpressionismus an der Quelle studierte. Auf
der großen Münchener Ausstellung 1888 erregte
dann durch die moderne Auffassung eines roman-
tischen Stoffes sein Bild „Wallfahrt am Grabe
der hl. Elisabeth" Aufsehen, das Wörmann so-
fort für die Dresdner Galerie ankaufte. Einen
162
Wendepunkt seiner Entwicklung zeigt sein 1892
gleichfalls im Münchener Glaspalast ausgestelltes
und für die Berliner Nationalgalerie angekauftes
„Abendmahl in einer hessischen Dorfkirche", das
ihn mit einem Schlag an die Spitze der Dresdener
Sezession stellte. In Dresden machte damals die
Landschaftsschule von Goppeln viel von sich reden.
22 Jahre lang ist Bantzer dann Leiter der Mal-
klasse an der Dresdener Akademie. Aber so sehr ihn
auch die Landschaft des Elbtales reizte, die hessische
Heimat zwang ihn immer wieder in ihren Bann.
In all den Dresdener Professorenjahren verbrachte
er die Sommerhalbjahre regelmäßig mit seinen
Schülern in Willingshausen, das Gerhardt von
Reutern, der Schützling Goethes, schon vor mehr
als hundert Jahren gleichsam künstlerisch entdeckt
hatte, zu dem dann in den 30 er und 40 er Jahren
des vorigen Jahrhunderts Frankfurter und Düssel-
dorfer Maler wallfahrteten und in dem vor allem
auch Ludwig Knaus, der 1848 von Düsseldorf
herüberkam, zum Bauernmaler wurde. Dann kamen
Münchener und Berliner Maler, wie Paul Thu-
mann und Kretzschmer, es kamen Adolf Lins, Hein-
rich Otto, Hans von Volkmann, Zimmermann,
Matthei, Giebel, Metz und viele andere. Mit
keinem Namen aber lvar die Fortentwicklung der
Kolonie so eng verbunden als mit dem Carl Bant-
zers, der die Schwalm schon seit 1884 besuchte
und seit 1887, also jetzt seit 40 Jahren, alljähr-
lich nach Willingshausen kommt. Hier, in dem
schönen Atelier, das er sich vor mehr als 35 Jahren
für das „Abendmahl" bauen ließ und das jetzt
auf dem Haseschen Besitztum steht, entstanden all
die Bilder, die seinen Namen berühmt machten,
vor allem der hessische Bauerntanz (Hamburg) mit
seinem Rausch von Farbe::, seinem Überschuß an
Lebensfreude und Lebenskraft, in dem er mit vir-
tuoser Technik eines der schwierigsten malerischen
Probleme löste, die hessische Bäuerin (Dresdener
Galerie), das berühmte Bildnis des Johann Hein-
rich Falck (Hannover, Provinzialmuseum), der Hoch-
zeitsschmaus (Breslauer Museum) Hessische Bauern
vor der Kirche (Landesmuseum, Darmstadt), der
wuchtige Erntearbeiter (Städtisches Museum, Kas-
sel), den man als das beste Freilichtbild der Gegen-
wart bezeichnet hat, das köstliche Familienbild
(Breslauer Museum), das Bildnis des Bauern
Rupp (Städtisches Museum, Kassel), Sonntag in
der Schwalm (Städtisches Museum, Kassel), Junge
Mädchen (Frankfurt), Wanderer im Walde (Mün-
chen), Hessische Bauernbraut (Laudesmuseum, Darm-
stadt) und Abendruhe (Zwickauer Museum). Bon
seinen vielen Bildnissen sei noch dasjenige Hinden-
burgs genannt, das 1919 zur Zeit des Wilhelms-
höher Hauptquartiers entstand und im Kasseler
Rathaus hängt.
deutung im deutschen Kunstleben geben könne.
Gab es doch auch eine Münchener, eine Düssel-
dorfer, eine — man denke an den jetzt 80 jährigen
Max Liebermann — Berliner Kunst. Aber es
sollte anders kommen. Als Ende 1921 der von
Bantzer an die Akademie berufene Neoimpressionist
Paul Baum sein Amt niederlegte, um sich wieder
der freien Kunstbetätigung zu widmen, wurden
unter den Nachfolgern des Ministers dessen Richt-
linien in ihr Gegenteil verwandelt; man suchte
im Kampf gegen die bisherige Richtung die Aka-
demie zu einer ausschließlichen Expression isten-
Züchtungsanstalt zu machen. Bedauerlich war, daß
die expressionistische Gruppe an der Akademie
Geheimrat Professor Dr. Carl Bantzer in seinem Willingshäuser Atelier.
Im Jahre 1918 nämlich beivog ihn uad) Oldes
Tod der damalige Kultusminister Schmidt, das
Direktorat der Kasseler Kunstakademie zu über-
nehmen in der ausgesprochenen Absicht, die seit
langem verloren gegangene Verbindung der Aka-
demie mit dem heimischen Boden herzustellen. Bant-
zer willigte, trotzdem er eine glänzende Stellung
aufgab, ein. Zunächst galt es einmal, wieder eine Ann-
tomieklasse, eine Perspektivklasse, eine Landschafts-
klasse zu schaffen. Dann aber galt es vor allem,
wieder rege Fühlung mit dem Lande und seiner
Eigenart zu suchen, eine künstlerische Formsprache
zu schaffen, die aus dem Geist und der Beschaffen-
heit des Landes und aus dem Wesen seiner Be-
wohner herauswuchs. Auch die Schüler, zum größ-
ten Teil Nichthessen, erkannten, daß eine mittel-
deutsche, keineswegs an die politischen Grenzen
Hessens gebundene Kunst Kassel wieder eine Be-
phol. K. Eberth-Kaffe!.
eine Förderung ihrer — inzwischen antiquierten
— Bestrebungen darin sah, verächtlich von der
Heimatkunst „irgendwelcher Feld-, Wald- und Wie-
senbildchen" zu reden, ivoinit sie lediglich zum
Ausdruck brachte, daß sie Bantzers Kunst nicht im
entferntesten zu verstehen versuchte. Carl Bantzer
hat zu jeder Zeit für sein Schaffen den irreführen-
den und begrenzten Begriff der Heimatkunst, die
lediglich gegenständliche Beziehung zum Land hat,
durchaus abgelehnt; er ist sich beivußt, daß jeder
Künstler nur sich selbst malen kann. Etwas ganz
anderes ist es, wenn einem in Beziehung zur
Heimat gesetzten Werk solche Überzeugungskraft
innewohnt, daß das allgemein Menschliche darin
— man denke nur an den „Schwälmer Tanz" und
das „Abendmahl" Bantzers — nicht nur zu den
Landsleuten des Künstlers, sondern zu allen Men-
schen spricht. Bantzer war eine zu vornehme Natur,
WZ
um gegen solche Argumente anzukämpfen. Er schied,
wenn auch nicht ohne Bitterkeit. Und es ist zu
verstehen, wenn er eine Beteiligung an der jetzigen
Jubiläumsausstellung ablehnte; denn die aus öffent-
lichem Besitz dort ausgestellten Werke Bantzers ge-
langten ohne sein Wissen dorthin.
So bedauerlich sein Fortgang für viele war,
er brachte doch den einen großen Gewinn, den
Künstler, unbeschwert von Verwaltungsdienstpflich-
ten, seinem freien Schaffen wiederzugeben. Und
wie Professor Carl Bantzer in jenem Jahre 1922,
in dem er seinen 65. Geburtstag beging, die Ge-
wißheit wurde, daß ihm neben der Anerkennung
in der gesamten Kunstwelt auch unzählige Hessen-
herzen in treuer Anhänglichkeit und Liebe schlugen,
so wird er, der mit allen Fasern an seiner
Heimat hängende Hesse, auch jetzt, wo er ungebeugt
und jugendfrisch in das biblische Alter eintritt,
erfahren, wie starke Verehrung ihm und jeiner
großen Kunst auch hier im Hessenland entgegen-
gebracht wird. Auch heute noch gilt, was Wil-
helm Jde ihm damals zurief:
An einer Schwelle stehst du jetzt, du kannst
In Ehren schauen auf ein reiches Leben,
Und was du selbst an gold'nem Glück gewannst,
Du hast es tausendfältig uns gegeben.
Was wünsch' ich dir? Sieh her! Das eine nur:
Noch oft im eig'nen Herzen zu erleben
Das Glück, das du erlauscht aus Hessenflur,
Das 'Glück, das du dem Hessenvolk gegeben.
Das eine nur: Noch oft im jungen Mai
Mit hellen Augen durch die hellen Weiten
Wie deine Hessenleute aufrecht, frei
Zu uns'res Herrgotts Gabentisch zu schreiten.
Sieh her, die Hessenherzen schlagen stark,
Das bannt die lockenden, die falschen Geister,
Du bist wie wir vom gleichen Stamm und Mark,
Glückauf, du Hessenkind, du deutscher Meister!
Marburg im Urteil der Vergangenheit. (1785—1837.)
In seinem der Marburger Studentenschaft ge-
widmeten literarischen Gedenkbuch „Marburg, die
Perle Hessens" (Marburg, N. G. Elwert, 2. Aufl.
1902), das recht wohl eine Neuauflage verdiente,
hat Wilhelm Schoof aus sechs Jahrhunderten eine
überraschende Fülle von literarischen Äußerungen
über die alte Musenstadt zusammengestellt. Nach-
folgend mögen einige Urteile über Marburg aus
früherer Zeit mitgeteilt werden, die entweder in
die Schoofsche Sammlung noch nicht aufgenommen
waren oder dazu (wie Wetzet und Böhringer) einige
Ergänzungen bringen. Wenn diese Urteile auch
nicht immer günstig lauten, so bleibt es doch von
kulturhistorischem Interesse zu sehen, wie sich- ver-
schieden geartete Reisende auf Marburg einstellten.
Da ist zunächst der 1818 verstorbene einstige
Hauslehrer Alexander und Wilhelm von Hum-
boldts, der Philanthrop und Pädagoge Joachim
Heinrich Campe, der in seinen, oft von recht
altklugen Reflexionen durchsetzten, aber doch auch
förderliches Wissen mitteilenden Jugendschriften
(„Sammlung interessanter und durchgängig zweck-
mäßig abgefaßter Reisebeschreibungen. Zweiter
Theil." Wolfenbüttel 1786) seine im Jahre 1785
unternommene Reise von Hamburg nach der Schweiz
schildert und darin über Marburg schreibt:
„Der nächste nahmhafte Ort, den man sieben
Meilen jenseits Cassel berührt, ist die Hessische
Stadt Marburg. Diese Stadt hängt — gar artig
anzusehn — an der Seite eines Berges, welcher
nach oben zu so steil wird, daß die aufwärtslau-
fenden Straßen zu bloßen Treppen werden, welche
nicht befahren werden können. Den Gipfel des
Berges ziert ein altes, ehemals befestigtes Schloß,
und sein Fuß wird von der Vorbeifliessenden Lahn
gewaschen. Die ganze kleine Gegend ist, wie die
zu Münden, von Bergen eingeschlossen und überaus
romantisch. Kommt man vollends, wie dies der
Fall auf meiner Rückreise war, hier zur Nachtzeit
an: so machen die erleuchteten Fenster der Häuser,
von untenauf gesehn, eine sonderbare Wirkung.
Es scheinen nemlich alsdann, weil man den Berg
und die Stadt nicht zugleich mit sehen kann, die
vielen Lichter, welche man erblickt, in der Luft
zu schweben, welches einige Augenblicke lang eine
angenehme Täuschung verursacht.
Marburg ist eine Universität. Auch wenn ich
dieses vorher nicht gewußt hätte, so würde der
erste, der mir bei meiner Einfahrt in diese Stadt
begegnete, mich wenigstens auf die Vermuthung
gebracht haben. Es war ein Student zu Pferde,
der seine Parsorcepeitsche um nichts und wieder
nichts unaufhörlich knallen ließ, um die Leute an
die Fenster zu locken, damit sie ihn reiten sähen.
Sein Gesicht, welches mit einer ungeheuern finger-
breiten Schmarre von oben bis unten gezeichnet
war, kündigte einen von jenen academischen Don-
quischotten an, welche auf heroische Abentheuer
ausgehn, und nicht in der Absicht zu lernen und
sich auszubilden, sondern in der sich zu raufen und
herum zu balgen da zu seyn glauben. Arme ver-
blendete Jünglinge! Wie werdet ihr einst, aber
vergebens wünschen, die edle Zeit und die kostbare
Gesundheit, die ihr jetzt so liederlich verschwendet,
für einen Theil eures Lebens zurückkaufen zu können!
Die Ursache der vielen Katzebalgereien, welche
hier, wie auf den meisten andern Universitäten, im
Schwange gehn, liegt auch hier, wie anderwärts,
theils darin, daß die Studenten, nach einem alten
sehr schädlichen .Herkommen, nicht der ordentlichen
Obrigkeit des Orts, sondern einem eigenen Ge-
richte unterworfen sind, welches die Professoren aus-
machen, theils in der Gelindigkeit, womit die Rau-
fereien der Studenten von diesen ihren academischen
165
Richtern bestraft zu werden pflegen. Diesen acade-
mischen Richtern liegt nemlich viel daran, daß die
Zahl der Studenten nicht vermindert werde; auch
liegt einem jeden voll ihnen insbesondere viel daran,
sich einen Anhang unter den Studenten zu machen,
weil ihr Brod und ihr Ansehn davon abhängen:
was Wunder, daß Verbrechen, welche man in jeder
andern bürgerlichen Gesellschaft mit Festungsbau,
Landesverweisung oder mit den: Schwerte bestraft,
hier gemeiniglich nur mit einer gar nicht beschwer-
lichen kurzen Gefangenschaft und mit einer Geld-
strafe geahndet werden, welche nicht den jungen
Verbrecher, sondern seine schuldlosen Eltern drückt?
Wie lange wird es noch währen, daß unsere Für-
sten diese höchst schädliche Einrichtung ihrer Univer-
sitäten und das viele Unheil, welches daraus ent-
springt, mit gleichgültigen Augen ansehn?
Reisende, welche gern etwas Glänzendes sehn,
pflegen nicht zu verabsäumeil, in einer der hiesigen
Kirchen das Grabmal der heil. Elisabeth anzu-
staunen, welches aus geschlagenem und vergoldetem
Silber bestehn und mit Perlen und Edelsteinen
besetzt seyn soll. Ich habe es nicht gesehn."
Wieder hören wir danil von Marburg in „Fischers
Reise von Leipzig nach Heidelberg im Herbst 1805"
(Görlitz 1808). Der Verfasser ist vermutlich der
1819 in Bamberg gestorbene Dichter uild Redakteur
des „Fränkischen Merkur" Friedrich Gottlob Wetzet.
Er schreibt:
„Über Marburg als Universität kann ich dir
nichts sagen: Der Musen Stimme schwieg in der
kriegerischen Unruhe dieser Tage, und überdem
waren Ferien. Daß unter den hiesigen akademischen
Lehrern einige vortreffliche Namen glänzen, ist
bekannt. Doch scheiilt die Kunde von dem neuen
großen Tage der Wissenschaft noch nicht hieher
gedrungen. Das wird den weniger wundern, wer
bedenkt, daß es selbst in jenen Gegenden, von
wannen jene bessern Ansichten größtentheils aus-
gingen, noch Universitäten giebt, wo man von dem
hellen Tage nichts weiß oder nichts wissen will;
und wo man den alten Sauerteig immer noch
knetet und verbäckt. Die Stadt Marburg übrigeils
ist, wie das Volk der Gegend, häßlich gebaut,
hohe Häuser mit überhängenden Stockwerken und
enge, krumme Straßen. Die Lage der Stadt aber
ist mahlerisch, zumal von der Seite aus Giessen
zu nimmt sie sich herrlich aus auf dem Berge,
mit üppigen Grün, wie ein heiteres Gemälde,
eingefaßt.
Von Marburg aus Giessen herunter zieht sich
ein herrlicher Grund voll immer wechselndes Lebens.
Schon ein ferner Wiederschein der herrlichen lebens-
kräftigen Rheinnatur! Berg und Thal und Wald
und grünende Flächen bilden ein schönes Gemälde,
und bieten dem Auge die mahlerischsten Ansichten
dar. Auch an Erinnerung der schönen ritterlichen
Vergangenheit mangelt es nicht: ernst schauen Burg-
ruinen von den Bergen nieder. Der Durchzug der
französischen Artillerie, die in Wolken Staubes
sich wie ein Gewitter daherwälzte, raubte mir
166
zwar die heitere Aussicht des herrlichen Grundes
ein wenig, gab aber auf der andern Seite ein
interessantes Schauspiel. Ich meyne das des fran-
zösischen Heeres selbst. Unglaublich ist die Kraft,
der heitere Muth, womit diese Genossen des Mars
die stärksten Erschöpfungen ertragen und besiegen.
Bis Nachts 10, 12 Uhr währte bisweilen der
Marsch, früh um 4, 5 Uhr ging der Zug weiter.
Und doch immer heiter, immer lustig!"
Schon aus dem nächsten Jahr haben wir das
Zeugnis eines Hessen, des 1781 in Kassel als Sohn
eines Gastwirts geborenen und schon 1807 ver-
storbenen begabten Philipp Ferdinand B r e d e, der
1805 in Marburg promovierte und in seiner „Reise
durch Teutschland, Frankreich und Hollano im Jahr
1806" (Göttingen 1807) vor allem durch seine
Charakteristik Marburger Dozenten fesselt:
„Marburg's Anblick gewährte unsern Augen nach
dem langen einförmigen Wege hinter Wabern eine
wahre Erquickung. In der That ist seine Lage
romantisch und 'unmuthig; nur darf man dabei
nicht an die böse Jahrszeit denken, wann Winde
heulen und Regengüsse herabplätschern. Sein stolz
prangendes Schloß mit seinen pittoresken Umge-
bungen, seine gleichsam auf Terrassen sich erhebenden
Häuser, seine waldigen Berge, bunten Felder und
beblümten Wiesengründe, durch welche sich die Lahn
wie ein Silberfaden windet, bilden ein höchst ge-
fälliges Ensemple. Die beiden Hauptpunkte, welche
den Blick des annähernden Pilgrims besonders ans
sich ziehen, sind das Schloß auf dem keck sich er-
hebenden Berge, welches einst die treffliche Amalia
Elisabeth, deren Biograph der edle Justi jetzt wer-
den will, befestigen ließ, und im tiefern Vorgrunde
der hehre gothischschöne Bau der Elisabethkirche mit
ihren hohen Mauern aus Quaderstücken, mit ihren
gleichsam geleckten Thürmen, mit ihren sieben
Glocken, mit dem edelsteingeschmückten Sarge der
kanonisirten Landgräfin und mit den köstlichen Kunst-
produkten Albrecht Dürer's. Wehmuth preßte mein
Herz bei dem Gedanken, daß es hier war, wo die
fromme Dulderin Elisabeth, deren Leben Justi so
meisterhaft geschildert hat, von einem ränkevollen
Beichtvater gequält so manche herbe Stunde erlebte;
wo Konrad von Marburg, ein Kannibal unter der
Kutte, von blindem Fanatismus getrieben der liebe-
vollsten Religion blutige Opfer brachte und mit
den Blutströmen der gemordeten Unschuld den Ketzer-
bach anschwellte; wo ich im Winter 1801 von dem
Dämon schwarzer Hypochondrie gepeinigt wie eine
Leiche umherwankte und darum so oft mißverstan-
den ward. Wie glücklich, wie heiter fühlte ich mich
jetzt, wie leicht rieselte jetzt das Blut durch die
Adern! —
Die Brücke über die Lahn ist schlecht und so
schmal, daß kaum zwei Wagen neben einander pas-
siven können. Am Thore wurden wir examinirt; aber
man forderte die Pässe nicht. Man nimmt's damit in
Hessen überhaupt nicht so genau, selbst in der Resi-
denz nicht, obgleich der Staat sonst ganz militärisch
organisirt ist. Ich fand bald, daß Marburg noch
ganz das Alte ist. Noch eben so schmutzig, krumm,
bergig und eng, eine gleichsam zusammengewürfelte
Häusermasse. Ich glaubte indessen zu gewahren,
daß sich auch hier allmählig der Geschmack vev-
edelt. Dies zeigt sich sowohl im Häuserbau, als
in der Kleidung der Einwohner und Studenten.
Wir kehrten im Gasthose zum Ritter ein, der am
Markte liegt. Ich empfehle denselben wegen der
Billigkeit und Artigkeit des Wirths, wiewohl das
Innere eleganter und bequemer eingerichtet werden
könnte. Im Posthause wird die Bewirthung der
Gäste schon mehr als Nebensache betrachtet. Die
Stadt verdankt ihre Lebhaftigkeit der Garnison, der
Universität und den Landleuten, die hier ihre Eiw
käufe machen. Im Ganzen genommen herrscht hier
wenig Wohlhabenheit, obgleich die Einwohner sehr
betriebsam sind. Die allerliebsten Environs der
Stadt und ihre innere Gesellschaftlichkeit vergüten
das häßliche Äußere. In letzterer Hinsicht muß
besonders Göttingen weit zurückstehen, daher ich
die Georgia Augusta durchaus nicht für eine Bil-
dungsschule der Sitten gelten lassen kann. Man
kann in dem sogenannten Leinathen allerdings so
grundgelehrt werden, daß man sich vor Ideen und
Vielwisserei kaum bergen kann; aber es wird schwer
halten, es dort nur so weit zu bringen, daß man
die gebildetere Welt und ihre feinern Weisen in
Etwas kennen lernt, denn der stete Umgang mit
Burschen, Aufwärterinnen und Philistern ist sicher-
lich nicht zum Abschleifen gemacht. Der vorherr-
schende Ton der Marburger Zirkel ist gastfrei und
traulich; aber doch auch oft äußerst kleinstädtisch.
An der Klatschsucht laboriren viele und die tausend-
züngige Fama stößt bei jeder Gelegenheit in die
Posaune. In der schönen Jahrszeit vereinigt man
sich oft zu Lustparthieen aufs Land, im Winter
fehlt es nicht an Pickenicken, Theegesellschaften und
Bällen. Unlängst war ein Kreis von Dilettanten
zu einer Schauspielertruppe zusammengetreten, um
die häufige Armuth zu unterstützen. Wer wird
dies nicht höchst lobenswerth finden? — Aber soll
der Staat es so weit kommen lassen? — Dies ist
eine Frage, die — nicht in dieses Kapitel gehört.
Die Universität befindet sich dermalen in keinem
erfreulichen Zustande, sie zählt kaum 150 Musen-
söhne. Es mögen der Gründe viele seyn. Ich
rechne dahin die Abreißung des linken Rheinufers,
die Veredlung mehrerer bisher schlecht organisirter
Akademieen, die Einschränkung des Studirens von
Seiten der kurhessischen Staatsregierung, die Strenge
des akademischen Senats, den gestiegenen Preis der
Dinge, worin sich viele Eltern nicht zu finden
wissen u. dergl. m. Die Universitätsbibliothek ent-
hält viele alte Sachen; aber der schwache Fond
erlaubt nicht, daß viel Neues zugekauft werden
kann. Ihre Lage, die Aussicht nach hinten ins
reizende Gießer Thal abgerechnet, ist gleichfalls
sehr unpassend. Illiberal ist es, wenn man von
den Studenten verlangt, daß sie ihre Kapots ab-
legen sollen, weil man befürchtet, sie möchten lange
Finger machen. Das Auditorium, worin die Dok-
toren kreirt werden, ist ein neueingerichteter, ein-
facher, aber geschmackvoller Saal. In der Probstei
des sogenannten Kugelhofes befindet sich ein Stipen-
diatentisch. Eine finstere Behausung. Es sind der
Stipendiaten gewöhnlich 24, die Spottvögel unter
den Studenten nennen sie: Knochenschaber. Als ich
einst zugegen war, wurde ein Ungar an einem be-
sondern Tischlein getränkt und gespeist. Es geht
an dieser Tafel gewöhnlich hastig und unordentlich
zu, wiewohl zwei Majoren zu Tische sitzen. Besser,
glaube ich, wäre es, ivenn man den Stipendiaten
ein vergütendes Stück Geld gäbe und ihnen Frei-
heit ließe, zu essen, wo sie wollten, unstreitig
besser für Sitten und Gesundheit. Der Marburger
Student denkt in der Regel an nichts als an sein
Brodstudium und an sein Vergnügen. An häus-
lichen Fleiß und äußern Anstand bleibt er hinter
dem Göttinger zurück. Justi las einst Ästhetik und
zwar vortrefflich und hatte nur — vier Zuhörer.
Geräuschvolle Lustbarkeiten z. B. Musiken und
Umzüge liebt er enthusiastisch. Orden und Lands-
mannschaften sind noch immer, wenn auch ver-
steckt, an der Tagesordnung. Die Buchhandlung
von Krieger ist ziemlich bedeutend; nur thut es
mir leid, daß dieser Mann durch öftern Nachdruck
seinem guten Namen Flecken anhängt.
Eine wahre Zierde Marburg's ist der Superin-
tendent und Professor Justi. Man braucht diesen
Mann nur zu kennen, um ihn zu lieben und zu
verehren. Er ist als Gelehrter eben so achtungs-
werth, als im Umgänge interessant und liebens-
würdig. Herzlich zu beklagen ist es, daß ihn das
Schicksal nicht genug begünstigt hat, um eine ganz
sorgenfreie und bequeme Existenz zu genießen, um
sich mit ganzer Seele dem Dienste der Musen, deren
anerkannter Liebling er ist, weihen zu können.
Wer doch der Fortuna den Staar stechen und ihren
Wandellaunen eine bessere Richtung zu geben ver-
stände! — Jenem dort ist die reichlichste Muße zu
Theil geworden, gemächlich kann er nach Willkühr
über seine Stunden schalten, denn er besitzt alle
Mittel, die dazu gehören; aber es fehlt ihm an
Kopf und Herz, sie nützlich anzuwenden, er ver-
geudet sie mit kindischen Spielereien, mit Nichts-
würdigkeiten und untergräbt seine Gesundheit und
Seelenruhe. Er wäre recht eigentlich dazu gemacht,
ein mechanisches Zugthier abzugeben; aber die Göttin
des Glücks, die sich vielleicht selbst das größte
Räthsel ist, wollte es anders. Dagegen erseuszt
dieser unter dem Druck der Lebenssorgen, unter
dem Preßzwang langweiliger geisttödtender Ge-
schäfte, die sich wie Meereswogen stets von neuem
aufthürmen, und hat kaum so viel Zeit, daß er,
wenn der späte Abend dämmert, Minuten lang in
seinem Gärtchen in einem Bade reinen und frischen
Äthers Elastizität des Lebens und der Seele für
den kommenden Tag einsangen kann, während ihn
Natur und eigene Energie ganz dazu erschaffen
hat, durch Lehre und Beispiel Tausende zu elek-
trisiren, sein Leben und seine Kräfte zum Heil
der Welt zu vervielfältigen, die halbe Menschheit
167
durch seiner Worte Klang und Kraft zu entzücken,
durch seiner Gedanken Tiefe und hohen Flug zu
rühren, zu begeistern, sich selbst aber durch seines
Genius Schöpfungen längstverdiente Denkmähler zu
setzen, unvergänglicher als Marmor und Erz. —
Prof. Robert, gegenwärtig Prorektor, ist bei
den Studenten wegen seines außerordentlichen Ri-
gorismus gar nicht beliebt. Er liest den praktischen
Prozeß mit Beifall. Über die Theorie des Prozesses
will er dereinst, wie er oft im Kollegiimr geäußert
hat, etwas herausgeben, das alles bisherige unnütz
machen und verdunkeln soll. Er ist, wie viele der
hiesigen Professoren, ein Antagonist von Göttingen
oder wengistens von denen, die daher kommen. —
Pros. Weiß ist ein hochgelehrter und, wie man sich
auszudrücken beliebt, eleganter Jurist, der mit seinen
juridischen Kenntnissen ausgebreitete philologische
verbindet; allein alles hat bei ihm eülen pedanti-
schen Anstrich. — Prof. Wachler ist ein Mann von
ausgedehnten Einsichten, von Kopf und literärischer
Thätigkeit. Eine gute Akquisizion für Marburg.
Ein junger Prof. Rommel hat den trefflichen ge-
schmackvollen Philologen Kreuzer ersetzen sollen.
Ich weiß nicht, in wiefern dies gelungen ist. —
Viele der hiesigen akademischen Lehrer widmen
der Literatur nur einen geringen Theil ihrer Zeit
und schreiben fast gar nichts. Sie gehen lieber in
Klubs und wichsen ein Lchombre ustv. — Nur die
Besoldungen der aus dem Auslande vozirten Pro-
fessoren sind gut; die übrigen stehen sich bei der
geringen Frequenz nicht sonderlich. Ich blicke in
die nahe Vergangenheit. Armes Marburg, wie viele
Koryphäen hast Du seit kurzem verloren! — Wann
werden sie ersetzt werden? — Tiedemann, Stein,
Kurtius, Baldinger. Welche Namen! Ein Orkan
hat gewüthet und die Könige unter den Eichen ent-
wurzelt.
Ich 'führte meinen Freund vor das Haus, wo
Baldinger wohnte und sein originelles Wesewerk
trieb. „Hier sagte ich ihm, in der Bel-Etage war
seine auserlesene große über 16 000 Bände starke
Büchersammlung aufgestellt, sein Stolz und eine
Merkwürdigkeit von Marburg, dort oben war sein
Wohnzimmer, zugleich seine Arbeitsstube, daneben
hatte er allerlei Raritäten etalirt, dort war seine
Garderobe, die drollig und kärglich genug war
dicht neben der Bibliothek wohnte seine Gattin,
an ein Assembleezimmer war nicht zu denken."
Baldinger war ein seltsames, aber höchst inter-
essantes Kompositum. Welche Talente, welche viel-
seitigen Kenntnisse, welche ungeheure Belesenheit,
welcher Zufluß von Witz, welcher Scharfblick, welches
unermeßliche Gedächtniß, welche gutmüthige Laune,
welche altteutsche Biede»herzigkeit und Einfachheit,
welche Dienstsertigkeit und Gastfreiheit, welche her-
kulische Gesundheit auf der einen Seite; welche
Eitelkeit, welche kindische Spielsucht, welche Auf-
dringlichkeit, welche lächerliche Vielwisserei, wel-
cher Jähzorn, welche falsche, an Verschwendung
grenzende Freigebigkeit, welche aller Diätetik gerade
zuwiderlaufende Lebensweise, welche fast weibische
168
Schwäche, welche Verleugnung alles Geschmacks und
feinen Anstands, ich möchte sogar sagen mitunter
Brutalität, auf der andern! — Bei allem dem
wird sein öfterer Wahlspruch: Non oinnig moriar
ohne allen Zweifel in Erfüllung gehen und Viele
werden ihr Lebelang mit Ehrfurcht, Dankbarkeit und
Liebe an ihn denken. Ich betrachte es als einen
wahren Verlust, daß wir keine erschöpfende Bio-
graphie oder Charakteristik von ihm erhalten haben.
Justi wäre durch Talent und vertraute Bekanntschaft
vollkommen dazu im Stande gewesen; aber er
war zu delikat, um als Historiker bei einem ver-
storbenen Freunde das Amt des Minos zu über-
nehmen. Seine äußere Rauheit rührte von dem
Zeitgeist seiner akademischen Bildungsjahre und
von seiner militärischen Laufbahn unter dem preußi-
schen Heere im siebenjährigen Kriege her. Seine
Zuneigung zum Militär war eine Art Fanatismus.
Oft fand ich einen zerlumpten Invalid neben ihm
auf dem Sofa sitzen, im Begriff eine Flasche Wein
zu leeren. Oft sah ich ihn aus dem Markte einem
Soldaten das Gewehr wegnehmen und damit exer-
ziren, oder einem Lauerposten um den Hals fallen
und ihn küssen. Oft machte er sich, wenn sein
Humor vorzüglich heiter war, das Vergnügen, seine
altfränkische preußische Uniform anzulegen und darin
aufzumarschiren. Kam der Kurfürst von Hessen
nach Marburg, um über die dasige Garnison Revüe
zu halten; so miethete er sogleich eine Mähre,
jagte, im Kostüme eine Art Don Quixote, nach
dem Kampfrasen hin und wohnte den Manoeuvern
bei, indem er hin und her sprengte. Vom Land-
grafen Friedrich II., den er stets seinen unver-
geßlichen Wohltäter nannte, sprach er nie ohne
die tiefste Rührung und ohne Thränen in den
Augen. Zuweilen brachte er ihm, wie er sich aus-
drückte, eine Libazion, indem er Wein auf die
Erde goß und dabei ein Elogium hielt. Nie ge-
noß man Baldinger mehr als des Abends bei
einer Bowle Punsch, vorausgesetzt, daß er den
Tag über nicht zu weidlich gezecht. Dann spru-
delte sein Witz, dann war er ganz Freund und
fideler Kumpan, in einzelnen Momenten aber auch
Gebieter und Lehrer. Reisende Gelehrte waren
ihm besonders willkommen, denn er betrachtete
sich selbst als die erste Kuriosität von Marburg
und — er hatte nicht ganz Unrecht. Sein Flaschen-
keller stand jedem offen, ein nicht geringer Theil
seiner Besoldung von 2000 Rthlrn. mag darauf
vcrivendet worden seyn. Aus guter Meinung soll
seine Gattin oft, auf gut französisch, den Wein mit
Wasser vermischt haben, sowohl der Quantität als
Qualität halben. Gar gern ließ er seine Eigen-
liebe kitzeln. Oft muthete er diesem oder jenem
zu, ihm die mancherlei Lobgedichte vorzulesen, die
man auf den Universitäten auf ihn verfertigt hatte
und die zum Theil von platten Schmeicheleien
strotzten. Seine Korrespondenz erstreckte sich bei-
nahe auf alle Weltgegenden, das Porto allein muß
jährlich eine ansehnliche Ausgabe verursacht haben.
Er wollte fast alle Sprachen verstehen; allein er
redete fast keine erträglich und verstand nur wenige
vollkommen. Bei Krankheiten spielte er gern den
Propheten und in der That seine Weissagungen
gingen in der Regel in Wahrheit über. Unaufhörlich
war seine Thätigkeit. War etwas schnell zu expe-
diren, so scheute er, selbst noch als Greis, keine
Aufopferung nächtlicher Ruhe. Oft sah ich ihn
schon um vier Uhr des Morgens im Winter, indem
er sich eine große Laterne vortragen ließ, zu
Pazienten eilen. Gewöhnlich sang er alsdann mit
seiner Stentorstimme das bekannte Lied: Allons
enfans de la patrie etc. Nicht, weil er französisch
gesinnt war; sondern weil er die erhabenen Worte
und die herzerhebende Melodie liebte. Von 8—9
des Morgens verstattete er allen Kranken freien
Zutritt. In Ansehung des Essens und Trinkens
band er sich durchaus an keine Zeit. Er aß mehr
Fleisch als Vegetabilien. Fast nie soupirte er.
Ein Feind von allen Komplimenten senkte er doch
den Hut bis aus die Erde, wenn ihn jemand in
der Straße grüßte. Wenn man zu ihm sagte:
Was befehlen Sie? — antwortete er öfters weiter
nichts, als: Pfuy doch, und kehrte den Rücken zu.
Bei guter Laune nannte er seine Gattin gewöhnlich
seine gnädige Frau. „Die Professoren, sagte er
oft lachend, müssen mit den Studenten umgehen,
dann legen erstere den Bettelstolz und letztere das
Bramarbasiren ab." — Das Corpus juris nannte
er scherzweise: porcus juris. Er schrieb so häßlich
und unleserlich wie mit einem Span.
Eine andere Merkwürdigkeit, welche Marburg
eingebüßt, hat, war der bekannte Staarstecher und
Pietistische Schriftsteller Jung, der in neuerer Zeit,
besonders in der Allgem. T. Bibliothek, richtiger
gewürdigt worden ist. Ich hospitirte einst in einer
seiner staatswirthschaftlichen Vorlesungen; allein ich
lernte daraus weiter nichts, als daß es wahr seyn
müsse, daß Hr. Jung vormals Stilling gewesen.
Als Augenoperateur mag er allerdings Verdienste
haben; aber als Pfuscher in dem Fache der Theo-
logie sollte man ihm billig das Handwerk legen,
damit sein Nonsens wenigstens ungedruckt und ge-
sunde Köpfe unverwirrt blieben. Man hat be-
haupten und beweisen wollen, Herr Jung sey ein
Tartüfse. Ich glaube, Pietisten und Tartüffes
waren immer Kinder Einer Mutter.
Es ist Zeit, daß ich Dich verlasse, kleines,
aber geselliges Marburg, das bei größerer Toleranz
einen angenehmen Aufenthaltsort darbieten würde!
— Deutet es nicht übel, Ihr Marburger, daß ich
frei gesprochen, denn wahrlich die Wahrheit ist auf
meiner Seite, wiewohl Ihr dies schwerlich zu-
geben werdet, denn der Mensch, ist ein Sklav der
Gewohnheit und — ä chaque oiseau son nid est
beau.
Vor dem Barfüßer Thore gewährte uns Mar-
burg zum zweitenmal einen reizenden Anblick mit
neuen Parthieen und Farbenspielen ausgestattet.
Die Stadt zeigte sich von dieser Seite mit ihren
lieblichen Umgebungen in einer schönern Beleuch-
tung. Auf dem Wege nach Gießen dufteten uns viele
anmuthig blühende Felder mit Wintersaamen aus
ihren gelben Blumen den würzigsten Geruch ent-
gegen. Schon hier war die Vegetazion augenschein-
lich besser, als in Unterhessen. Wie mancher Mar-
burger Studiosus, dachte ich, indem ich lächelnd die
Chaussee mit meinen Augen maß, mag schon mit
beklommener Brust aus eiligst gemietheter Rosi-
nante diese Straße gezogen seyn, um sich in Gießen,
wo man mit solchen Artikeln nicht theuer ist, für
Geld und gute Worte ein Doktordiplom zu holen,
damit er mit dieser ehrfurchtgebietenden Urkunde
in der Hand daheim für einen hochgelehrten Mann
gelte und dadurch entweder eine fette Pfründe oder
eine goldschwere Braut oder wenigstens äußere
Ehre erangele. Denn in dem titelsüchtigen Teutsch-
laud ist jeder — 0, der kein Diplom, keinen Titel
aufzuweisen hat; ausgenommen, wenn er durch
vollwichtige Louis Bücklinge zu erzwingen weiß,
dann stehen ihm aber auch hinwiederum alle ge-
heime Kanzleien und alle Charaktere zu Gebote."
Bredes Schilderung hat der Anonymus der
„Topographischen Bemerkungen eines Reisenden"
über Marburg und Umgebung in Rosenmeyers
Archiv des Königreichs Westfalen (Cassel 1808) zum
Teil wörtlich abgeschrieben. Vom „Auditorium, wo-
rin die Doctoren kreirt werden", schreibt er:
„Vor der Erneuerung und Vergrößerung dessel-
ben wurde eine nicht unbeträchtliche Sammlung
von Bildnissen verschiedener durchl. Erhalter dieser
hohen Schule, hauptsächlich aber von Lehrern der-
selben darin aufbewahrt. Sie umkränzten in einer
zusammen geketteten Linie drei Seiten des Audi-
toriums ganz nahe unter der Decke desselben. Links
zur Seite des Katheders erblickte man die Bildnisse
des verewigten großmüthigen Stifters der Univer-
sität, seiner beiden ättesteu Söhne, und seines er-
habenen Enkels. Rechts demselben die vortreflichen
Bildnisse der zwei letzten Rectorum magnificen-
tissimorum aus dem Hause Hessen-Cassel. Die
Abbildungen der Professoren hingen nicht nach den
Fakultäten, sondern nach ihrer Einlieferung, und
die neueren schlossen sich beinahe schon den herr-
schaftlichen Bildnissen rechts an. Kein Ort stand
schicklicher zu ihrer Aufstellung zu wählen, als
dieser, wo die feierlichsten akademischen Handlungen
stets vorgenommen worden sind, und noch werden,
und wo jeder Akt sicherlich eine feierlichere Stim-
mung bekommt, wenn man solche erhabene und
ehrwürdige Repräsentanten der Vorzeit gleichsam
dabei vergegenwärtigen siehet. Da diese schätzbare
Sammlung von Bildnissen unserer einheimischen
Gelehrten seit ihrer Abnehmung im Jahre 1793
bisher noch nicht wieder aufgestellt ist, so dürfte wohl
nicht länger damit verweilt werden, wo man nicht
geflissentlich ihren Untergang bezweckt, welches doch
zu wenig Dankbarkeit gegen solche verdienstvolle
Männer verrathen würde, deren Bemühungen durch
Unterricht und Schriften zu der Morgenröthe und
Lichtsverbreitung in den Regionen der Wissenschaften
so erhebliche Dienste geleistet haben. Ihre Bild-
169
nisse müssen der Nachkommenschaft jedes Zeitalters
schätzbar und verehrlich sein und bleiben. Der
Herr Professor Justi hat uns in seinen hessischen
Denkwürdigkeiten 1. c. S. 428—440 eine ausführ-
liche Nachricht von diesen Bildnissen nach den
Wissenschafts-Sektionen und der Zeitfolge mitge-
theilt."
Der Geograph Christ. Gottfr. Dan. Stein,
Professor am Berliner Gymasium zum grauen
Kloster, kam auf seinen „Reisen nach den vorzüg-
lichsten Hauptstädten von Mittel-Europa" (Leipzig
1827) auch nach Marburg und schreibt u. a. :
„Die 1527 gestiftete Universität, seit der Auf-
hebung der zu Rinteln unter der westphälischen
Regierung 1809, die einzige im Kursürstenthum,
feierte am 28. Juli ihr drittes Secularfest, und
hatte 1825 360 Studenten, worunter 78 Aus-
länder. Sehenswerth sind: die schöne Bibliothek
mit mehr als 100,000 Bänden, das chirurgische
Wilhelmsinstitut, das physikalische, mathematische
und chemische Kabinet, das anatomische Theater,
das Klinikum, die staatswirthschaftlichen, chemischen,
zoologischen und Veterinairinstitute, das Entbin-
dungshospital, der botanische und Forstgarten usw.
Auch bestehen hier ein Pädagogium, ein Schul-
lehrerseminar, eine naturforschende Gesellschaft
(1817 gestiftet), eine Bibelgesellschaft usw. Inter-
essant ist die Stadt auch durch das 1529, wie
immer, fruchtlos gehaltene Religionsgespräch.
Den Gewerbfleiß der Einwohner bekunden die
Woll-, Baumwoll-, Leinwand-, Tabak-, Pfeifen-,
Semilorfabriken, die Stückgießerei ustv. Die Stadt
hat seit 1811 zweckmäßige Armenanstalten, zu denen
Hospitäler, eine Verpflegungsanstalt für kranke Arme
und unmündige, zur Aufnahme in das Waisenhaus
noch nicht fähige Kinder, ein Arbeitshaus für frei-
willige und Zwangsarbeiter, eine Gewerbefreischule
für arme Kinder überhaupt und eine Sonntagsschule
für arme Handwerkslehrlinge gehören.
Gast Höfe: die Post, der Ritter, der blaue
Löwe, die Krone. Zum Vergnügen der Einwohner
dienen: das Casino für alle Gebildete mit täg-
lichen Zusammenkünften und freiem Zutritt für
Fremde, so wie in dem meistens aus Professoren
bestehenden literarischen Club; die adelige Don-
nerstagsgesellschaft, die musikalische Gesellschaft. Ge-
schmackvolle Anlagen auf dem Dammelsberge, Frau-
enberge usw. Eine Stunde von der Stadt liegt
in einer sehr angenehmen Gegend der St. Elisabeth-
brunnen, ein vortreffliches Trinkwasser, der aber
1817 durch die Forstaxt die alten Bäume, seine
schönste Zierde, verloren hat."
Schließlich seien noch aus des Wittenberger
Privatgelehrten Dr. August Böhringer „Reise-
bildern" (Dessau 1837) des Verfassers Eindrücke
über Marburg mitgeteilt:
„Ter Weg von Cassel nach Marburg ist äußerst
romantisch, der Burgen und Villen giebt es viele,
und das Auge schwelgt in die reizende Landschaft
hinein. Im Städtchen Wabern im Gasthofe zum
grünen Hofe wurde gefrühstückt. Hinter diesem
Orte begegneten uns eine Menge Würtembergische
Auswanderer, alt und jung, reich und arm, kräftige,
frohsinnig scheinende Menschen, die ihr schönes
Vaterland verließen, um in Amerika eine neue
Heimath zusuchen. Gott geleite sie! In Halts-
d o r f, einem Flecken, rasteten wir wieder im Gast-
hof zum goldenen Löwen und kamen nach 8 Uhr
Abends zu Marburg an, wo wir im Gasthofe zum
deutschen Hause bei Herrn Weiß, einem sehr
gesprächigen und viel erfahrenen Mann, abstiegen.
Marburg ist ein alter, eben nicht schön gebauter,
bergiger Ort, eine der älteren Universitäten mit
tüchtigen Lehrern, aber wenigen Studenten bedacht,
während die Letzteren seit langer Zeit kaum die
Zahl von 300 erreichten, zählt die theol. Facultät
sechs, die juristische neun, die medizinische sieben
und die philosophische Facultät elf Professoren und
außerdem giebt es noch mehrere Privatdocenten;
den sich ausbilden wollenden Musen fehlt es daher
nicht an Gelegenheit, als unter den Lehrern mancher
von hoher Gelehrsamkeit und Ruf. Ich hatte Ge-
legenheit den auch als Dichter bekannten Professor,
Ober-Consistorial- und Regierungs-Rath, Superin-
tendenten und Dr. der Theologie, Herrn I u st i,
einen gar freundlichen und bejahrten Mann, kennen
zu lernen, wie ich denn auch zu dem Herrn Ober-
gerichts-Rath C n y r i e m — dem Verwandten
meiner holden Reisegefährtin Theodora, einem höchst
launigen und genialen Mann — das Vergnügen
hatte, zu Tische geladen zu werden. Nachmittags
brachte ich einige Zeit in dem sogenannten Museo,
wo die Professoren und eine bedeutende Anzahl
Studenten allein nur verkehren, dort einen Lese-
zirkel bilden, und in dem schönen Locale auch
sonstigen Festivitäten huldigen, zu. Eintracht und
Ungebundenheit, vermählt mit Anstand und Würde,
herrscht hier unter den Lehrenden und Lernenden
und wahrhafte Freude gewährt es, sich in solcher
Mitte zu befinden. Möchten jene Herren, welche
mich so freundlich aufnahmen, auch aus der Ferne
mein Dankeswort vernehmen. Die Kirche zu St.
Elisabeth mit ihrem so herrlichen Glockenge-
läute, ein schönes Denkmal gothischer Baukunst,
schloß einst die Gebeine der hochgefeierten Land-
gräfin Elisabeth in seinen Hallen ein; — doch
kann man hier nur noch das Grabmal finden; die
Überreste der edeln Fürstenfrau ließ einst der Land-
graf Philipp der Großmüthige herausnehmen, und
Niemand weiß, wo sie geblieben und hingekommen
sind. Die Kirche selbst enthält der historischen Denk-
mäler viel. So manches erlauchte Fürstenpaar hält
hier ewige Siesta mit im Staube zerfallenem Pur-
pur, Mahnung der Zeit. Im hochgelegenen alter-
thümlichen Schlosse weilen zur Zeit noch mehrere
politische Gefangene, deren Wehruf, ob oder ob
nicht verschuldet, herniederweint in das gesegnete
Lahnthal."
170
Der Sprachatlas des Deutschen Reichs und seine Be
deutung sür die Maröurger Universität.
Im April vorigen Jahres hat der Sprachatlas
des Deutschen Reichs in Marburg sein fünfzig-
jähriges Bestehen feierlich, begehen können. Am
5. April 1876 sandte Georg Wenter, der
Gründer des Sprachatlas, seine ersten Fragebogen
aus, um daraus Sprachkarten, Mnndartkarten zu
gewinnen und zwar zunächst von Westdeutschland.
Als diese Karten so neuartige Ergebuisse zeigten,
daß sie ein allgemeines wissenschaftliches Inter-
esse beanspruchen kouuten, da suchte und fand Wenker
weitschauende staatliche Hilfe, die die Gründung
eines Instituts als „Sprachatlas des Deut-
schen Reichs" in Marburg möglich machte.
Wenker konnte nun auch darangehen, seine Samm-
lungen aus das ganze Deutsche Reich auszudehnen.
So wurden seine heute berühmten vierzig Sätz-
chen zunächst in alle Schulorte West?- und Ost-
deutschlands, dann auch Süddeutschlands gesandt.
Bis 1890 etwa waren über 46 000 Antworten
zurückgekommen; von diesen erwiesen sich 44 251
als brauchbar. Diese von den Lehrern und den
dahinter stehenden Kindern und Eltern in die Orts-
mundart übertragenen Formulare mit den 40 Sätz-
chen sind die Urkunden, aus denen die nun in
50 jähriger, entsagungsvoller Arbeit gezeichneten
1600 Kartenblätter des Sprachatlas (Maßstab
1 : 1000 000) hervorgewachsen sind. Und diese
Karten haben einen überaus wertvollen Querschnitt
durch die mundartlichen Verhältnisse um 1880 bis
1890 ergeben. Ein Volkswerk ist so entstanden,
das keine andere Nation in der Form aufweisen
kann.
Wenker hat den Abschlnß seines Lebenswerkes
nicht mehr erleben dürfen; aus vollem Schaffen
wurde er im Jahre 1911 abberufen. Der Krieg
und die darauffolgende Notzeit hatte bisher eine
Drucklegung der Karten verzögert. Erst in diesem
Jubiläumsjahr 1927 ist die erste Lieferung des
„Deutschen Sprachatlas" (Maßstab 1 :
2 000 000) ans Licht gekommen, bearbeitet unter
, Leitung von Ferdinand Wrede, dem Nach-
folger Wenkers, an der Zentralstelle für den
Sprachatlas des Deutschen Reichs und deutsche
Mundartenforschung (so heißt das Institut seit dein
2. August 1920). Der Verlag Elwert, Marburg,
und der Herausgeber haben damit eine sicherlich
nicht geringe Gabe auf den Festtisch der Universität
gelegt. In regelmäßiger Folge sollen jedes Jahr
zwei neue Lieferungen erscheinen. Durch die hoch-
herzige Unterstützung des Reichsministeriums des
Innern ist der Preis einer Lieferung (7.50 RM) so
gering, daß das Werk nicht nur von einigen Biblio-
theken und reichen Leuten gekauft werden kann, son-
dern daß jeder für die Mundart- und Sprachforschung
Interessierte es sich anschaffen kann. Ein Volks-
Von Dr. Bernhard Martin (Marburg).
werk soll es so bleiben; denn aus dem Volk ist es
geboren.
In den ersten Jahren der Arbeit war die Ver-
bindung des neuen Instituts mit der Universität
Marburg nur lose, weil es galt zunächst einmal
in mühseliger Handzeichnung die einzelnen Karten
herzustellen, ehe an eine Auswertung herangegan-
gen werden konnte. Sobald aber eine größere An-
zahl Karten vorhanden war, stand der Sprachatlas
für Auskünfte und zur Einsicht allen Forschern
zur Verfügung. Schnell zeigten sich auch die Wir-
kungen des Werkes. Ferdinand Wrede, der lang-
jährige Mitarbeiter Wenkers, dem Lehrkörper der
Universität angehörend, schrieb zunächst fortlaufende
wertvolle Berichte über den Stand des Unter-
nehmens. Unter seiner Führung wurden auch die
ersten Arbeiten am Sprachatlas in Angriff genom-
men, die sich zum Ziel setzten, die neuen Wege und
Aufgaben die aus der Übersicht des gesamten deut-
schen Sprachgebiets erkennbar waren, klar zu er-
fassen und darzustellen. Dazu kamen die Arbeiten,
die in kleineren Gebieten die Ergebnisse des
Sprachatlas nachzuprüfen suchten mit den Mitteln
der phonetischen Ausnahme an Ort und Stelle und
von Ort zu Ort. Ferd. Wrede gründete für
diese Forschungen die Sammlung „Deutsche
Dialektgeographie" (Marburg, Elwert
1908 ff.). 21 Bände liegen gedruckt vor; weitere
30 schlummern im Schrank. Besonders die rheinische
Dialektaufnahme und-untersuchung ist in diesen Ar-
beiten gefördert worden; sehr stattlich ist aber auch
die Zahl derer, die Teilgebiete unserer Heimat-
provinz behandeln. Leider liegen grade davon die
meisten ungedruckt, ungenutzt da. Alle diese Ar-
beiten aber haben einmütig den großen Wert und
die Zuverlässigkeit des auf indirektem Wege ge-
wonnenen Wenkerschen Werkes bestätigt. Ferner;
ist auf ihnen unter Wredes Führung eine neue
Anschauungsweise in der Mundartenforschung er-
wachsen, die Dialektgeographie, die vor
allem die soziale Bedeutung der Sprache wieder
stärker unterstrich und die verloren gegangene Ver-
bindung von Sprach- und Geschichtsforschung wie-
der herstellte.
Der umfassenden Arbeit an den deutschen Mund-
arten dienen drei weitere Unternehmungen, die an
der Zentralstelle ausgeführt werden.
Seit 1915 wird in Marburg eine große Biblio-
graphie der deutschen Mundartenforschung und
-dichtung zusammengestellt; daran arbeiten viele
Gelehrte des In- und Auslandes mit. Dieses Werk
soll der Mundartforschung das Rüstzeug bereitstellen.
Wenkers Sprachatlas ist wesentlich auf die
Läutgeographie (wie sich die Vokale, die Kon-
sonanten usw. ausgeprägt und entwickelt haben!)
171
eingestellt. Seit einigen Jahren versucht die For-
schung auch der w o r t g e o g r a P h i s ch e n Seite
(lute sich die Wortwahl für dasselbe Ding usw.
gestaltet: Rechen/Harke; Kartoffel/Erdapfel usw.)
besser gerecht zu werden. Unter Mitwirkung,
der großen landschaftlichen deutschen Wörtev-
buchunternehmungen wurden von der Zentral-
stelle bisher zwei Fragebogen ausgesandt in eine
Auswahl von Orten. Die Antworten laufen in
Marburg zusammen und werden dort verarbeitet.
Wertvolle Ergebnisse konnten schon in der Mund-
artzeitschrift „Teuthonista" (Bonn, Klopp) veröf-
fentlicht werden.
Die Mundarten wurden bisher von den For-
schern im allgemeinen durch das Ohr aufgenommen
und dann mit bestimmten Zeichen schriftlich fest-
gelegt. Dabei blieben aber wesentliche Elemente
der Mundart, der Rhythmus, die Klangfarbe, die
Betonungsverhältnisse unberücksichtigt oder kamen zu
kurz. Dem sucht man nun abzuhelfen durch G r a m-
mophonaufnahmen. Auch dieser Aufgabe
unterzieht sich die Zentralstelle seit 1921. Im
phonetischen Kabinett der Universität wurden in
Verbindung mit Prof. Doegen, dem Leiter der
Lautabteilung an der Preußischen Staatsbibliothek,
über 300 Kupferplatten aufgenommen von etwa
140 Mundartsprechern. Die größere Zahl dieser
dauerhaften Kupferurkunden entfällt auf das Ge-
biet des Hessen-Nassauischen Wörterbuchs. Wert-
volles Forschungsmaterial ist damit bereitgestellt;
es harrt der Verarbeitung. Außerdem stehen die Mit-
arbeiter am Sprachatlas immer wieder mündlich nnd
schriftlich den zahlreichen Forschern zu Auskünften
zur Verfügung. Groß ist die Zahl der Besucher
aus allen Gebieten deutscher Zunge. Lebendig ist
die Fühlung mit der Mundartforschung in den
deutschen Diasporagebieten (Rußland, Siebenbür-
gen usw.).
Aber auch der Heimatforschung im engeren Sinne
hat sich der Sprachatlas nicht versagt. Seit 1912
leitet F. Wrede auch das große Wörterbuch-
unternehmen der Provinz Hessen-Nassau (mit Ein-
schluß von Oberhessen, Wittgenstein, Wetzlar und
Waldeck), dessen erste Lieferung als Jubiläums-
gabe erscheinen wird. Die enge Verbindung dieses
Werkes mit dem großen Nationalunternehmen des
Atlas hat gute Früchte gezeitigt und wird ihm
eine besondere Note geben.
Alle die Erfahrungen, alle die Einrichtungen der
Zentralstelle stehen seit Jahren der Forschung im
Reich und in der engeren Heimat zur Verfügung.
In steigendem Maße fand das anch seinen Ausdruck
in den Vorlesungen und Übungen an der Universität.
So war es nur eine notwendige Krönung, als
der Sprachatlas am 11. Mai 1918 auch in die Reihe
der Universitätsinstitute eingeordnet wurde. Die
Marburger Universität besitzt in der Zentralstelle
den natürlichen Mittelpunkt der deutschen Mund-
artforschung und eine wertvolle Arbeitsstätte zur
Erforschung der engeren Heimatkultur.
Im Rheinlande ist seit einigen Jahren eine Ar-
beitsgemeinschaft am Werke, die die Erforschung der
rheinischen Kulturgeschichte von allen Blickpunkten
aus in Angriff genommen hat. In ihr sitzen der
Historiker, der Sprachforscher, der Kunsthistoriker,
der Geograph, der Geologe zusammen, um ihre
Kentnisse und Methoden gegenseitig auszutauschen
und zu verfeinern. Wertvolle Veröffentlichungen
sind aus der Zusammenarbeit hervorgegangen. Für
unser Heimatgebiet sind erst Ansätze zu einer solchen
Gemeinschaft vorhanden; der Historische Atlas und
der Sprachatlas sind Keimzellen dazu. Hoffentlich
gelingt es auch in unserer Provinz ein Institut
für Heimatkunde zu schassen, das alle vereinzelt
arbeitenden Kräfte zu dem Ziel einer großen Kul-
turgeschichte der Heimatprovinz zusammenfaßt.
Erlebnisse eines Handwerksburschen in Marburg 1806.
Gegenüber der reichen Memoirenliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts sind uns handschriftliche Zeugnisse
aus der Welt des kleinen Mannes nur sehr spärlich überliefert. Um so dankenswerter war es, daß die Nachfahren
des 1787 zu Langensalza geborenen und 1867 ebendort verstorbenen Bäckermeisters Chr. Wilh. Bechstedt dessen
hinterlassene Aufzeichnungen*) der Öffentlichkeit übergaben. In einem schweinsledernen Band von über 800 eng-
beschriebenen Seiten hat Bechstedt an der Hand seiner Tagebücher seine Entwicklungs- und Wanderjahre für Kinder
und Enkel aufgezeichnet, ohne sich dabei träumen zu lassen, daß sie einmal durch den Druck vervielfältigt werden
würden. In diesen Aufzeichnungen verrät er eine Bildung, die weit über seinen Stand hinausging. Sie offen-
baren einen erfrischenden Mutterwitz und eine überraschende Bildhaftigkeit der Darstellung, so daß dieses Werk kultur-
historisch zu den interessantesten gehört, die uns in den letzten Jahren beschert wurden. Bechstedt ist auf seiner
Wanderfahrt wiederholt durch Hessen gekommen; einmal zog er über Fulda, Gelnhausen, Frankfurt, Offenbach, Hanau,
Gießen, Marburg, Haina und Kassel, dann wieder von Dresden aus über Hanau, Offenbach, Darmstadt nach der
Schweiz, und schließlich von Wien aus über Bamberg, Wertheim, Menburg, Offenbach, Sachsenhausen, Gießen,
Grünberg, Alsfeld, Hersfeld nach der Heimat. Nachstehend lassen wir ihn über seine Erlebnisse in Marburg berichten:
Eine Stunde vor Marburg kam mir ein Hand-
werksbursche entgegen, dem ich was Bäckermäßiges
ansah. „Hui Schütz!" fuhr ich ihn an; „Löb-
* Meine Handtverksburschenzeit 1805
bis 1810. Von Chr. Wilh. B e ch st e d t. Nach
der Urschrift herausgegeben von Charlotte Francke-
Roesing. Köln (Hoursch und Bechstedt) 1925. 326
Seiten. Preis in Ganzleinen 6.50 RM.
Schütz," antwortete er ebenso derb. Wir gaben uns
die Hände. „Wo kommst her, Bruder?" — „Von
Frankfurt, und du?" — „Aus dem Loche da." —
„Ist es so schlecht?" fragte ich. „Niederträchtig!
Mein Meester, der Kerl, wollte tags dreimal
backen mit mir alleene, soll dir der Teufel holen!
Meester, sag ich, Sie müssen noch zwei Gesellen
anschaffen, sonst mach ich Schicht auf den Sonn-
tag. Gestern mußt er mir vor die halbe Woche,
die ich da war, den vollen Wochenlohn zahlen.
Meester, sag ich, ich geh bei's Gericht, will sehen!
Donnerwetter, dreimal backen tags! Sechzehn Gute-
groschen, mehr verlang ich ja nich. Na, ein Ber-
liner ist bescheiden, höflich, wie?! — Nu werde ich
mir ins Westfälische schlagen. Was bist du für ein
Landsmann?" — „Dresdner, Brüderchen," schwin-
delte ich, „wie heißt denn der Meister, bei dem
du warst?" — „Der Kerl heißt Schlingel-uf, ja,
ja, so war's; wenn er dir Arbeit anbietet, grüß
ihn von mir und sag, er soll sich pappen lassen.
Wo denkst du denn naus, Brüderchen?" — „Ich
will über Kassel und Hannover nach Hamburg."
— „Ach, Hamburg, geht nichts drüber, Bruder!
Seh zu, daß du Bodenarbeit kriegst, kannst auf
den Bergkneipen bleiben bis nach Mitternacht,
Donnerwetter, schöne Deeren da oben! Na, bist
noch jung, nimm dir in acht! bleib nicht zu lange
bei die Gesellschaft, sollst mir dauern. Leb wohl,
Bruder Dresdner," — „Adieu, Bruder Berliner"
— so schieden wir voneinander.
Auf der Herberge erfuhr ich gleich, daß beim
Bäcker Schlinglofs in der Wettergasse Arbeit offen
sei und ließ mir das Zeichen zum Zusprechen
geben. Ich überlegte: hier ist auch eine Universität,
hier kannst du ebensogut wie in Gießen Stunden
nehmen; auf die Reden des Berliners achtete ich
nicht, denn das war ein liederlicher Strick. —
Nachdem ich die Taschen schon voll Semmeln hatte,
kam ich in die Wettergasse in ein schönes, großes
Backhaus, und der Meister, ein junger kräftiger
Mann, sprach mich in Arbeit. „Es ist hier Kas-
seler Bäckerei, naß wirken, wirst du wissen," sagte
er. „Ich bin nicht in Kassel gewesen und kenne
das Naßwirken nicht, lerne aber leicht." — Es
wurde richtig gemacht. Er nahm mir meine Kund-
schaft ab und ich holte mein Felleisen her; eine
Magd wies mir eine Treppe hoch eine hübsche
Kammer an mit einem guten Bette, sogar ein ver-
schließbarer Kleiderschrank stand darinnen, was mir
in der Fremde noch nicht vorgekommen war.
Der Backofen war sehr klein; es wurde richtig
dreimal tags gebacken. Aber gleich in den ersten
Tagen hörte ich von der Magd folgende Rede:
„Der Meister hat bis jetzt geschleudert, damit nur
viel abgehen sollte; jetzt fängt er an und macht
die Ware wieder kleiner. Geben Sie acht, Musje
Wilhelm (so hieß ich hier wieder), es wird nicht
lange dauern, so backen wir nur einmal und wenn
das nur immer bleibt! Es sind gar zuviel Bäcker
hier in Marburg." — Und es traf der klugen
Magd Rede aufs Haar ein.
Als ich mich im Hause recht umgesehen, fand
ich folgende Genossenschaft:
Der Meister, etwa 26 Jahre alt, hatte erst vor
sechs Wochen Hochzeit gehabt.
Die Frau Meisterin, 39—40 Jahre alt, blöd-
sichtig, Schirm vor den Augen.
Die Haushälterin, 46 Jahre alt, gute, gescheite
Frau.
Ihr Töchterchen, 10 Jahre alt, artiges mun-
teres Kind.
Die Magd, 23 Jahre alt, Bauernmädchen, bei
Marburg zu Haus.
Die Beletage bewohnte ein Posamentier, und die
ganze Dritte hatte der alte Graf von der Lippe mit
einem jungen Burschen inne.
Es lagen noch Abdrucke von einem schwülstigen
Hochzeitsgedichte im Hause herum, das Ding sing
an:
Apollo stimme deine Leyer
Sehr hoch für dieses Brautpaar an,
Und singe dabei laut und freier.
Daß jeder Gast vernehmen kann.
Ein abgebrannter Student hatte es verfertigt.
Die Braut hatte vierzigtausend Taler Vermögen,
und er tlichts gehabt. Nur weil sie stupid und
kränklich war und durch Heirat Gesundung er-
hoffte, hatte sie der Schlinglofs erwischt. Er war
aber auch ein Schlingel, was ich noch erzählen will.
Das Naßwirken hatte ich bald weg. Der fertige
Brotteig bleibt im Troge liegen, ein breiter, nied-
riger Tops wird danebengesetzt und die Wage dabei-
gehängt. Nun streicht man den Teig tüchtig mit
Wasser ein und schneidet mit nassen Händen ge-
schickt ein rundes Brot heraus, das so schwer ist,
wie das Gewicht auf der Wage. Die Schale,
worauf das Brot gewogen wird, muß immer genetzt
werden. Dann hält man das Brot auf der nassen
linken Hand, steckt die rechte in den Wassertopf
und streicht das Brot rund und glatt. Auf einem
mit Mehl eingeriebenen Backbrett kömmt es zur
Gare und zuletzt in den Ofen.
Als viel Weißbrot liegengeblieben war, mußte
ich es in einem großen Kübel voll Wasser weichen
und mit in den frischen Teig kneten. Dadurch
buk es sich schlecht und schmeckte nicht fein; natür-
lich blieben die Käufer weg. Keine acht Tage drauf
buken wir einmal täglich.
Um diese Zeit zog ein Student, ein bemoostes
Haupt, der sich mit dem Meister duzte, mit einem
wohlfeilen Reitpferde ins H>aus. Das Pferd muß-
ten wir füttern; dann sollte es nach einem halben
Jahre dem Meister zufallen. Der Student war
oft bei mir in der Backstube und ein guter Kerl;
ich fütterte das Pferd und ritt es einen Tag um
den andern aus.
Der Meister bekümmerte sich immer weniger um
die Bäckerei und bald mußte ich mein winzig
kleines Gebäckchen mit der Magd alleine machen.
Es kam auf dreimal Backen die ganze Woche. Der
Meister war kreuzfidel dabei und ich war auch nicht
böse drüber. Dem Töchterchen der Haushälterin
hatte ich in einem Schreibebuche vorgeschrieben —
vierzehn Tage drauf hatte ich fünf kleine Mädchen
in der Backstube sitzen, denen ich Buchstaben vor-
malte. Der Meister wollte sich totlachen drüber und
nannte mich nur „Schollmeister".
Uns gegenüber befand sich eine Leihbibliothek;
ein junger Mensch in meinem Alter gab die Bücher
aus und wir wurden bald Duzkameraden. Wenn
m
er Zeit hatte, saß er bei mir in der Backstube;,
manchmal kam auch der Student dazu und mir
spielten eilte Art Schworps.
Eines Tages nach Tisch bat mich der Meister,
in seinem Garten einen Korb Kirschen zu holen
und gab mir den Schlüssel. Die Magd sei zwar
schon da, habe aber weit hinten im Garten zu tun
und schließe dann vorne ab. Als ich dreißig bis
vierzig Schritte in den Garten hineingegangen war,
sah ich hinter hochgestängelten Bohnen in einem
Gebüsch Ivas Weißes hervorschimmern. Ich fand
einen großen Handkorb mit schneeweißer Serviette,
darunter allerhand gute Dinge nebst einer vollen
Bouteille. Da sich der Stöpsel leicht abheben ließ,
kostete ich — es war delikater Malaga. Alle
Teufel, dachte ich, der schmeckt, und fing an zu
überlegen — hm, hm! in unser Hans gehört die
Geschichte nicht; sie ist also hier eingeschwärzt.
Ich zog noch einmal tüchtig, ging dann über das
Flüßchen, das quer durch den Garten floß und
war schon nahe am Gartenhaus — keine Magd ließ
sich sehn. Ei, was da, was da! wird der Kops
nicht runter gehn, warum setzen sie es hin?! Ich
ging wieder zu meiner Bouteille, machte gluck!
gluck! bis kein Tropfen mehr drin war, füllte sie
beim Flüßchen und brachte alles wieder in schönste
Ordnung. . . .
Als ich die Gartenhaustüre aufdrückte, kam mir
die Magd eine kurze Treppe herunter entgegen.
„Na, Müsse Wilhelm, was wollen Sie denn hier
im Garten?" fragte sie verlegen. „Na, Jungfer
Marie, was macht Sie denn so lange da oben,
gibt's nichts anderes zu tun hier?"
„I Herrje, herrje, Sie werden's doch dem Mei-
ster nicht sagen?! Friedrich komm runter!" und
ein Friedrich in Bedientengestalt zeigte sich auf
der Treppe. „Der Meister wird auch bald kommen,"
warnte ich und beide schoben schnell ab.
Als die Magd zurückkam, beteuerte sie, daß
Friedrich ein Verwandter von ihr und Bedienter
auf einem Gut im nächsten Dorfe sei; auch sei
er gar nicht lange dagewesen. Ich sagte: „Es tut
mir ja leid, wenn ich euch gestört habe, aber immer
doch besser, als wenn's der Meister gewesen wäre,
wie?" — „Ach, der Meister! wenn ich nur wollte
— aber da kann er lange warten; lieber gehe ich
auf der Stelle weg . . . Und wenn Sie es doch
einmal missen: der Friedrich will die Schänke
pachten und da machen wir im andern Jahr
Hochzeit."
„Das ist brav, Marie, bleibe Sie Ihrem Fried-
rich getreu, da bin ich Ihr ordentlich gut drüber."
(Schluß folgt.)
Gründung eines Marburger Museumsvereins.
Das Universitäts-Jubiläum des Jahres 1927
wird als stärkstes Zeugnis für die Bedeutung der
Universität Marburg, die Anhänglichkeit ihrer alten
Studenten, die Teilnahme ihrer Freunde und Gönner,
den großen Neubau des Jubiläums-Kunstinstitutes der
Nachwelt hinterlassen. Was hier durch freiwillige Spen-
den von Freunden der Universität geschaffen ward, ist
an wissenschaftlicher und sozialer Bedeutung nur ver-
gleichbar dem, was der Staat in den letzten 5 Jahren
durch Erbauen mehrerer Kliniken zur Erweiterung der
Universität beigetragen hat. Durch die Angliederung der
Kunstsammlungen an die wissenschaftlichen Institute wird
den fachwissenschaftlichen Instituten eine volksbildende
und Kunstgenuß vermittelnde Aufgabe zugewiesen. Zum
ersten Male wird auch durch Schaffung einer Zentral-
bibliothek mit gemeinsamem, allen zugänglichem Lese-
saal der wissenschaftliche Apparat des Kunstinstitutes in
den Dienst der Allgemeinheit gestellt. Große und pracht-
volle Reproduktionswerke vermitteln hier ein vertieftes
Studium von Meisterwerken der Malerei, der bildenden
und graphischen Künste.
Das Universitäts-Museum im Kunstinsti-
tut wird nach seiner Eröffnung eme ganz besondere
Stellung in Deutschland einnehmen; indem es von der
Elisabethkirche zerstreute oder schwer zugängliche Kunst-
schätze aufnehmen wird, erfüllt es die doppelte Aufgabe,
diese Schätze ins rechte Licht zu rücken, für jedermann
zugänglich zu machen und für ihre Erhaltung zu sorgen.
Die Sammlungen des Hessischen Geschichtsvereins und
des Marburger Kunst- und Altertumsvereins, deren
traditionelle Stellung und verdienstvolle Tätigkeit selbst-
verständlich unangetastet bleibt, werden über die Kunst-
entwicklung der hessischen Lande unterrichten, die reichen
Schätze an hessischem Kunstgewerbe werden auf die
heimischen Betriebe anregend wirken. Leihgaben der
großen Museen in Berlin und Kassel werden erlauben,
die Fortschritte der Malerei an Originalen zu demon-
strieren. Gelegentlich sollen auch schöne Stücke aus
Privatbesitz gezeigt werden und so in Marburg die
Neuerscheinungen der heutigen Kunst vorführen. End-
lich wird es auch möglich sein, die Werke hessischer
Maler, zu denen so bedeutende Vertreter wie Bantzer,
Paul Baum, Ubbelohde zählen, zu sammeln. Durch
Schenkungen namhafter neuerer Künstler ist schon der
Ansang zu einer Sammlung moderner Kunst gemacht
worden. Nach allen Seiten hin und für jedermann wird
das Universitäts-Museum belehrend, anregend und bil-
dend wirken können. Vorträge, Führungen, Buchvcr-
öfsentlichungen werden den Laien einführen und ihm
den Wert der Sammlungsgegenstände nahezubringen
versuchen.
So wie für den Museumsbau die außerordentlich
großen Mittel aufgebracht worden sind, gilt es nun
auch durch freiwillige Mitarbeit seinen inneren Aus-
bau, seine Erhaltung und Pflege zu sichern. Das kann
nur durch Beitritt möglichst aller am Wohl der Uni-
versität und Stadt Marburg Interessierten zu einem
Verein geschehen, zu dessen Gründung unter dem Na-
men „Marburger Museums-Verein E. V." wir hiermit
aufrufen. Es wird sein Zweck sein, die wissenschaftlichen
und volksbildenden Aufgaben des Marburger Univer-
sitäts-Museums zu fördern: durch Erleichterung des Be-
suches, Öffnung des Museums an möglichst vielen Tagen
und Tagesstunden, auch Sonntags, durch Veranstaltung
von Führungen, Vorträgen und wechselnden Ausstel-
lungen soll dieses Museum ein Mittelpunkt des kul-
turellen Lebens der Stadt werden. Damit dieses Ziel
erreicht werden kann, muß das Museum jedem Bürger,
auch dem, der mit dem bescheidensten Einkommen zu
rechnen hat, zugänglich sein. Es wird daher neben den
174
Einzelmitgliedern, die 6.— RM Jahresbeitrag zahlen,
die Gruppe der genossenschaftlichen Mitglieder geschaffen.
Alle Mitglieder, die einem wirtschaftlichen oder gesell-
schaftlichen Verbände angehören, der als Gesamtheit
beitritt, zahlen nach Vereinbarung mit den Vorständen
ihres Verbandes pro Kops des Mitglieds nur bis zu
1 RM Jahresbeitrag. Von den wohlhabenden Bürgern
Marburgs und seiner Umgebung wird erwartet, daß
sie es als ihre selbstverständliche Ehrenpflicht ansehen,
durch Zahlung eines höheren Jahresbeitrages den finan-
ziellen Ausgleich zu schaffen, der dem Museumsverein
die Mittel zur Verfügung stellt, durch den Erwerb von
Werken alter und neuer Kunst Wert und Bedeutung
des Museums dauernd zu erhöhen.
Mitglied des Museumsvereins sein heißt zugleich
am Gemeinwohl der Stadt mitarbeiten. Die Zahl der
Studenten wird sich vermehren, wenn die Studierenden
wissen, daß auch für geistige Bedürfnisse und Genüsse
außerhalb des Studiums in Marburg künftig mehr
gesorgt sein wird als bisher, die Besucher Marburgs
werden einen Anziehungspunkt mehr in der Stadt finden,
die Bedeutung der Stadt Marburg als Kongreß- und
Versammlungsort wird wachsen. Das kleine Schärflein,
Lindenblüte.
Die alte Linde steht in Blütenpracht
Wie eine Braut im Ehrentagsgeschmetde,
Die tausend, tausend Knospen sind erwacht,
Ihr Mattgoldgrün liegt aus dem Blätterkleide.
Die Linde träumt, wie tief in Glück verstummt,
Wie selbst betäubt von ihrem Blütensegen.
In ihren Zweigen aber lebt's und summt
Und braust in ruhelosem Flügelregen.
Rinteln a. W.
das jeder beiträgt, wird sich durch das Aufblühen der
Stadt, das mit dem Aufstieg seiner Universität unlös-
lich verknüpft ist, für ihn selbst wieder bezahlt maclM.
Beitrittsmeldungen werden an die Geschäftsstelle
„Marburger Museumsverein", Universitätsstraße 33,
erbeten. Beiträge nehmen alle Marburger Banken und
Sparkassen aus Konto „Museumsverein" entgegen.
* * *
Der Marburger Museumsverein wurde inzwischen
gegründet und legt das größte Gewicht aus eine enge
Verbindung mit den benachbarten Städten und Kreisen.
Der Verein ernannte — wegen ihrer hervorragenden
Verdienste teils um Universität oder Universitätstum,
teils um das hessische Kunstleben — zu Ehrenmitgliedern
Kunstmaler Geheimrat Bantzer, Paul Baum, Dörrbecker,
Giebel, Kätelhön, Glasmaler Fr. Schultz, Bankier Al-
bert Strauß und Geheimrat Troeltsch. Erster Vor-
sitzender des Vereins ist Professor Hamann, zweiter
Vorsitzender und Schriftführer der Leiter des Universi-
tätsmuseums Or. Kippenberger. — Der Museumsverein
wirb zum Jubiläum die Reihe der Wechselausstellungen
mit einer Ausstellung „Marburgs Bild in der deutschen
Kunst" eröffnen.
Ein jedes Blülensternchen scheint belebt,
An seinen Staubgefäßen saugen Immen,
Von Düftewellen ist der Baum umschwebt,
Von ungezählter Lebewesen Stimmen.
Die Linde thront, gleich einer Königin,
In juliheißen blühenden Geländen,
Und spendet — segnende Verschwenderin —
Von ihrem Reichtum mit gefüllten Händen.
Helene Brehm.
150 Jahre Kasseler Kunstakademie.
Iubiläums-Kunst-Ausstellung im Orangerieschloß 192?. Von Dr. Gustav Struck.
1. DieAkademieim Spiegelihrer Meister
und Schüler in der Vergangenheit.
Revolutionäre Zeiten schieben gern die gesamte
Historie in den geduldigen Antiquitätenschrank recht
weit zurück, damit diese nur ja nicht das hochgeschwellte
Bewußtsein ihrer eigenen Größe belästigt. Verbrauchter
Überschwang und wiederkehrende Vernunft aber machen
das Gesicht der Vergangenheit sehr bald wieder erträg-
licher, wertvoller, ja unentbehrlicher, und die kluge
Selbstbesinnung lehrt und fordert am Ende rückschauen-
des Begreifen des eigenen Werdens, ohne das kein
fester Grund auf Neuland gewonnen wird. Wir stehen
heute in einer solchen künstlerischen Glaubenswende und
Jdeenmetamorphose mitten drin, und so konnte es
der Akademie, auch wenn sie zur lebendigen Bekräftigung
ihrer ewigen Jugendlichkeit ganz dem Menschen von
heute dienen will, nicht mehr schwer fallen, sich freudig
zu ihrer 150 jährigen Geschichte zu bekennen.
Mit einer Fülle von Bildern an den Wänden
kleiner Kabinette, in die Prof. Soeder Du Rys weit-
räumige Rokokoschöpfung, das Orangerieschloß in der
Karlsau, durch Leinwandbespannung und hölzerne Zwi-
schenrahmen geschickt gegliedert hat, wollte man einen
schöpferischen Entwicklungsprozeß, wollte man den Geist
dieses Schicksalsweges, die Persönlichkeiten, die Kul-
turen, Stile, den Zeitausdruck versclstedner Generationen
beschwören und das Geheimnis eines unzerstörbaren
Organismus enthüllen, aus dem auch der Gegenwart
noch die Blutsäfte für ihr Ringen um neue Heilig-
tümer zuströmen. Dabei muß man aus dem Wechsel der
Gestalten und Motive mit aufmerksamem Auge die
inneren Beziehungen und Bindungen ablesen, die sich
in der Tradition von Künstlerfamilien, Schülerkreisen,
Programmen und Richtungen und in der unaufhörlichen
Wechselwirkung zur gesamtdeutschen Kunst offenbaren,
um so Eigenleben und Wachstum des hessischen Kunst-
institutes klar zu erschauen.
Am Anfang begegnen uns Johann Valentin
Tischbein (1715—1767) und Johann August
N a h l der Ältere (1710—1781), beide Repräsentanten
eines kommenden großen Künstlergeschlechtes. Die Tisch-
beins kannte man im 18. Jahrhundert in allen Kunst-
zirkeln, und meist traf man in den Kunststädten einen
davon an. Johann Valentin, Hofmaler zu Hildburg-
hausen, ist der Älteste, gewissermaßen der Pfadfinder
und Wegbereiter. Er gehört noch mit seinen schweren
breiten soliden Porträts des Ehepaars Robert (der
Schwiegereltern seines Bruders Joh. Heinr. 1740),
mit dem Rheingrasen in imposantem Rot und der
silbergrauen Stolberger Gräfin (1741) ins späte Barock,
von dem er aber seinen Hang zu ungekünstelter Menschen-
darstellung nicht unterdrücken ließ. Der ältere N a h l
steht zwischen Barock und Rokoko. Während er als
Plastiker mit seinem Friedrichsdenkmal, neben dessen
Modell eine Büste seines Sohnes Samuel gezeigt wird,
die großartigen Schnörkel der alten Zeit nicht ver-
leugnen kann, prägen sich in seiner dekorativen Innen-
ausstattung des Schlosses Wilhelmsthal bewegliche Ele-
ganz und fließende Linie aus. Ganz dem Rokoko ge-
hört Valentin Tischbeins jüngerer Bruder Johann
Heinrich Tischbein der Ältere (1722—1789), der
Schöpfer der Wilhelmsthaler Schönheitsgalerie, an. In
dem Bilde des Staatsministers I. S. Waitz von Eschen
klingt die Strenge von früher noch nach, aber sonst
merkt man überall, wie in den Bildern der hessischen
Prinzessin Charlotte, des Braunsehweiger Herzogs, des
Ministers Wittorf und des ein wenig posierenden Fami-
lienbildes alles festlicher, prunkvoller, farblich kulti-
vierter, leuchtender, flüssiger und schmiegsamer wird,
ja auch das Seelische sich vertieft (C. Kolborn, ältere
Frau und besonders in den beiden Selbstbildnissen),
auch das Idyllische (Kinder des Künstlers) noch etwas
steif aber sinnig verwertet wird. In dem gleichen
Milieu ist auch der jüngste der drei Tischbein-Brüder
Anton Wilhelm Tischbein (1730—1804), der
Hanauer Hofmaler, groß geworden, nur daß er nüch-
terner, pedantischer, typischer, handwerklicher bleibt, in
zwei Damenbildern (Gräfinnen zu Solms) noch Rokoko-
Anmut gibt, während ein Kinderbild sich schon dem
Zopfstil nähert. Bon ihm ist auch eine antike Studie
(Odysseus und Nausikaa) ausgestellt, während man bei
Johann Heinrich historische und mythologische Szenen
vermißt; die Schlacht-, Jagd-, Tierbilder und Stilleben
von Johann Valentin sind leider verschollen. Valentins
Sohn Johann Friedrich A u g u st Tischbein
(1750—1812) darf heute — besonders nach Ad. Stolls
eingehenden und gründlichen biographischen Unter-
suchungen — wohl als der bedeutendste der Familie
gelten. Die vier Porträts (Dame, Gräfin Bentinck,
Frau Buri, Willen), ein Familienbild, und wenn es
ihm zuzurechnen ist, auch das Bild des Freiherrn von
Biedenfeld verraten deutlich die Steigerung der Technik,
die Differenzierung, Auflockerung, man möchte fast sagen
die Entmaterialisierung des Farblichen, die zarten Reize
erhöhter Sensibilität, die Verfeinerung und Vergeisti-
gung, das Sentimentale, Lyrische und Weibliche in
der Auffassung. Der Neffe des älteren Joh. Heinr.,
der Neapolitaner Johann Heinrich Wilhelm
Tischbein (1751—1829), der Maler eines berühmten
Goethebildes, ist nur mit zwei achtbaren, aber kaum
besonders charakteristischen Obststilleben vertreten.
Vom Rokoko zum Klassizismus leitet der Architekt
Simon Louis Du Ry (1726—1799) hinüber, der
mit Nahl und Tischbein das lenkende Dreigestirn der
neu gegründeten Akademie 1777 bildete und von dem
nur Entwürfe für Schloß Wilhelmsthal zu sehen sind,
da in Kassel und Wilhelmshöhe genügend Bauten für
seine bahnbrechende Tätigkeit zeugen. In seinen Bahnen
wandelte Heinrich Christoph I u s s o w (1754—1825),
ursprünglich Elementarlehrer, später Direktor der Bau-
akademie, weiter; das beweisen die beiden Modelle
der Katlenburg (von F. Blaue) in den einfachen Linien
ihrer ruhigen symmetrischen Anlage; in seiner mittel-
alterlichen Löwenburg-Jmitation gab er freilich bereits
ben romantischen Neigungen der Zeit nach. Den Klassi-
zismus in der Plastik und Malerei veranschaulichen die
Nahl-Söhne: der Bildhauer Samuel Nahl (1748
bis 1813), von dessen Werk die vorsichtig idealisierten
Büsten seines Vaters, Du Rys und des älteren I. H.
Tischbein, zwei fein modellierte Plaketten (Friedr. II.
und Gemahlin), die mythlogische Diana mit Huno und
das reizende Genrestück „Der Schmerz" treffliche Pro-
ben geben, und der Maler Johann August Nahl
176
der Jüngere (1752—1825), dessen mythologische Szenen
uns heute in ihrer pathetischen Haltung allerdings
mehr als Charakteristika der Zeit interessieren, während
seine Porträts (Selbstbildnis, Goethe?, S. Nahl und
Ruhl) und das Gruppenbild S. Nahl mit Braut immer-
hin durch schlichte Wirklichkeitstreue in schöner Form
ihr persönliches Gepräge erhalten. Die Schaffenskraft
seines Sohnes Wilhelm Nahl (1803—1880), dessen
schöntonig und edel gebändigtes Spohr-Bild und einige
andere (zum Teil allerdings nicht ganz sichere) Porträts
auf einen begabten Fortsetzer hoffen ließen, erlahmte
allmählich über der Leidenschaft des Kunstsammelns.
Der Porträtist des ausgehenden 18. Jahrhunderts
Wilhelm B ö t t n e r (1752—1805) aus Ziegenhain, der
Nachfolger des älteren I. H. Tischbein, steht auf der
Grenzscheide zwischen Rokoko und Klassizismus. Man
spürt noch die Nähe seines Vorgängers in seinem Lud-
wig XVIII., in den Elternbildern, auch in dem wuch»-
tigen Landgrafenbild oder dem stark dekorativ profi-
lierten Komthur E. v. Baumbach, auch die Allegorien
der „Supraporte" weisen nach rückwärts, aber wenn
man genau hinsieht, die Selbstbildnisse (den ernsten
Arbeiter und kecken Bohemien), die Gräfin Hessen-
stein, das Fräulein und den biederen Musikus Hüderich
ins Auge faßt, können einem die Verbürgerlichung und
Vermenschlichung, die Regungen eines neuen Realismus,
die in der psychologischen Nuancierung ebenso wie in
der Lichtbehandlung liegen, nicht entgehen. Zwei Frauen-
bildnisse des jüngeren Zeichenlehrers Gottlieb Kobold
(1770—1809) bleiben dahinter weit zurück, dagegen
läßt das klassizistisch abgeklärte Empirebild der hessischen
Prinzessin Caroline von Friedrich B u r y (1763 bis
1823) auf seelischen Spürsinn und eine gestaltungs-
kräftige feinnervige Hand schließen. Ganz im 18. Jahr-
hundert wurzelt noch die Theatralik der Germanenszene
„Treuschwur des Teutobald" von Andreas Range
(1761—1835), der ebenfalls Zeichenlehrer an der Aka-
demie war, ebenso ein farblich etwas stumpfes weib-
liches Porträt von seinem Zeitgenossen Ernst Friedr.
Ferd. Robert (1763—1843) und ein Reiterbild von
dem aus Ulfen stammenden, als Pferdemaler gerühmten
Johann Georg Pforr (f 1798). Bei Ludwig
Philipp Strack (1761—1836) aus Haina, dem olden-
burgischen Hofmaler, treffen wir in seiner hübsch arran-
gierten, kulissenhaften italienischen Flußansicht endlich
auch ein Stück Landschaft. Interessant ist es, die
gleichaltrigen beiden Hummel: Johann Erdmann
(1769—1852), der in Berlin Professor, und Ludwig
(1770—1840), der in Kassel Direktor wurde, zu ver-
gleichen: dort in Landschaft, Tierstudie (toter Adler),
Bildnis (Tochter und Frau Bialon) die gesteigerte
kompositorische Exaktheit uno Sorgfalt, die immer
stärker zu einer anschaulichen schönen, wohl geordneten
Natürlichkeit hindrängt, — hier die elegante Glätte
und kokette koloristische Lebendigkeit, die Wilhelm Tisch-
beins italienische Schule nicht verleugnen kann. Unter
den Architekten finden wir den Übergang vom Klassizis-
mus zur Gotik nicht, sondern nur zur Renaissance.
Johann Conrad B r o m e i s' (1788—1845) Ent-
würfe für das Fürstenhaus im Gestüthof Beberbeck,
die spätklassizistisch sind, deuten diese Richtung an, die
dann in Julius Eugen Ruhls (1796—1871)
Ständehausmodell anspruchsvoll-massig hervortritt und
in Johann Heinrich W o l f f s (1792—1869), Spohrs
Schwiegersohns, eigenartigem architektonischen Entwurf
ein konstruktiv merkwürdiges Zwitterding schafft.
In den Kreis der Romantik führen uns Ludwig
Emil Grimm (1790—1863), der Bruder von Jacob
und Wilhelm und vielseitige Radierer, mit einem ma-
donnenhaften Bilde seiner Tochter Friederike und sein
Freund, der Bildhauer Werner H e n s ch e l, (1782 bis
1850) mit zwei schöngeistigen vornehm-geschmackvollen
Büsten. Franz P f o r r s (1788—1812), des früh
verstorbenen Mitgründers der mittelalterlich-klösterlichen
sogenannten nazarenischen Bewegung, Eigenart läßt
seine altertümelnde bekannte Allegorie auf Overbecks
und Pforrs Schicksal ahnen, von dem gleichen schwärme-
risch rückschauenden Zug ist auch Friedrich Müllers
(1801—1889) Frau mit Spinngerät und sein Rosen-
wundec der Heiligen Elisabeth (Galerie) beherrscht.
Das Archaisierende, Historische und Allegorische der
Romantik repräsentiert der Akademiedirektor Ludwig
Sigismund R u h l (1791—1887) mit seiner Sa-
lome, Olind auf dem Scheiterhaufen und der ruhenden
Benetia.
Die immer stärker tverdende realistische Strömung,
die zunächst im bürgerlichen Biedermeier ihren Aus-
druck findet, hat ihren hellsichtigen ahnungsvollen Vor-
lüuser bereits um die Jahrhundertwende in dem genialen
Kasseler Johann Martin von Rohden (1778 bis
1868), dessen italienische Landschaften aus der Cam-
pagna und bei Tivoli in ihrer unbestimmt schimmern-
den Tönung des Hintergrundes bereits an das moderne
Licht- und Luftproblem rühren und auch sonst an
Stelle der idealisierenden Größe und Vollendung (noch
in der Landschaft mit Einsiedler) mehr und mehr das
Intime in Natur und Milieu herausarbeiten. Diese
feine Beobachtung und Schlichtheit des Erfassens gibt
auch der männlich-ernsten, sprechend-lebendigen Porträt-
kunst Friedrich D e i k e r s (1792—1843) ebenso wie
den Naturstudien und dem Frauenbildnis seines Sohnes
Johannes Deik er (1822—1895) ihre besondere Note.
Rohdens und Deikers Schüler war Gerhard von R e u -
lern (1794—1865), der erste Willingshäuser Maler,
der mit einem durch seine klug gewählten leuchtenden
Details wirkungsvoll pointierten Bildnis des Düssel-
dorfer Malers F. C. Sohn das Auge angenehm fesselt.
Die weiche konziliante Art der Bildnisse von August
von der E m b d e (1780—1862) macht seine einstige
Beliebtheit verständlich. Auf gleichem Niveau halten
sich auch ein Familienbild von Heinrich A h r e n s
(1805—4863) mit unvermeidlicher Vorhangdekoration,
zwei Porträts Carl Christian A u b e l s (1796—1882),
unter ihnen das etivas salonmäßige der Sängeriir
Henriette Sonntag, und einige liebenswürdige Pastell-
bilder von Friedrich Theodor Roux (* 1806).
Je mehr sich die Bildnismaler der Revolutionszeit
von 1848 nähern, umso mehr streifen sie alles Reprä-
sentative ab, bemühen sie sich die Figuren direkt aus
dem Leben frei und ungezwungen, oft auch nüchtern und
alltäglich herauszuschälen. So blickt uns Eduard
Handwercks (1824—1883) Frau Feldstein zwar noch
gesellschaftlich-geputzt, aber natürlich und unkonventio-
nell an, so genießen wir Joh. Eduard I h l 6 e s (1812
bis 1885) ettvas weichliches Knabenbildnis, Louis
K a tz e n st e i n s (1824—1907) gewandte Porträts und
Louis Des Coudres' (1820—1878) Selbstbildnis
und das seines Bruders, selbst den in flotter Haltung
dastehenden Oswald Achenbach bei ihm ohne Hinterge-
danken. An der Bescheidenheit der Aufmachung merkt
man, tvie die Bildniskunst mit dem Rückgang gesell-
schaftlichen Lebens langsam in den Hintergrund gedrängt
wird und Landschaft und Historie das Feld erobern.
177
Ein intensiveres Studium des geographischen Schau-
platzes setzt ein. Auch wenn manches Starre und Spröde,
manche ästhetischen Grenzen noch bleiben, will man
doch der dekorativen Stilisierung, dem Heroischen und
Hübschen entsagen. Man sucht die Stimmung geschauter
Natur einzufangen und hält sich wie Äugn st B r o-
m e i s (1813—1881), der Sohn des früheren Ober-
baudirektors, in seiner Dörnberg-Ansicht an die Heimat,
oder man sammelt auf Reisen die anregenden und be-
fruchtenden Eindrücke wie der auch in Hessen herum-
streifende Karlsruher Direktor Johann Wilhelm Schir-
mer (1807—1863) in Italien, Schweiz und an der
Meeresküste. Bei Georg Cornicelius (1825 bis
1898), dem Hanauer Akademieprofessor, zeigen sich in
der koloristischen und dunkeltonigen Malweise die Ein-
flüsse des französischen Realismus. Aus seinem reichen
und vielseitigen Lebenswerk sind hier ein Bildnis (Or.
Bode), eine Zigeunerstudie, eine Skizze zu einer Geigen-
spielerin, eine düstere Brandszene und ein durch viele
Details illustriertes Naturbild von Groß-Steinheim aus-
gewählt; leider fehlt dabei die eigentliche Landschaft,
in der sich bei ihm der Jmpressionimus schon ankündigt.
Cornicelius' Studiengenosse Friedrich Carl 5) a u s -
mann (1825—1886) hat ebenfalls in Frankreich in
der Schule von Fontainebleau seine geistig-künstlerische
Durchbildung erfahren. Freiheit der Phantasie, kühnes
Pathos und hohe farbliche Kultur zeichnen ihn aus
l Skizze zu Galilei vor dem Konzil, knieende Kardinäle,
Billa Adriana), aber auch Intimität (Jnterieurecke)
und Naturstimmung (Waldessaum, Vaux de Cerny)
weiß er eigen zu gestalten. Die beiden Neul-Portrüts
von Heinrich F a u st (1843—1891) aus Reinsdorf
(Schaumburg) geben von dem Makart-Schüler in dem
altmeisterlichen goldbraunen Ton nicht mehr als rou-
tinierte Pinselführung, bei dem Kunsthistoriker .Hermann
Knackfuß (1848—1918) gestatten zwei kleine Inter-
mezzi (Geburtshaus, Pferdestudie) nur einen flüchtigen
Blick in die Nebenarbeiten des viel beschäftigten offi-
ziellen Historienmalers.
Louis Kolitz (1845—1914), der ein Menschenalter die
Akademie leitete, aus der Atmosphäre der Düsseldorfer Ma-
terschule kam und den Impressionismus noch vorbereiten
half, wird in der stattlichen Auswahl seiner verschieden-
artigen Bilder zum sichtbaren Ausdruck der Entwick-
lung im neuen Reich. Seine Menschendarstellung wie
seine landschaftlichen und geschichtlichen Gemälde durch-
laufen die einzelnen Stufen von dem einfachen Realis-
mus hinüber zu seiner salonmäßigen Verfeinerung (Hol-
ländische Landschaften, Frau in der Laube), zu der
kraftvoll bunten Breitflächigkeit seiner hochgestimmten
Kriegsbilder (Um Metz, General Werder) oder einer
Vom Kasseler Kleinen Theater.
Ein Rückblick auf den Theaterwinter 1926/27 bietet
nicht allzuviel Erfreuliches. Zwar wenn mir den Stim-
men aus dem Reiche lauschen, den Berichten der großen
Bühnen in Berlin, Hamburg, Frankfurt folgen, zeigt
sich rastloses Zielen und zielloses Jagen nach dem
Bühnenerfolg, der in erster Linie die Kasse sichern
soll und nur wenig dem Dichter dient. Dichter und
Dichtung sind von der stärkeren Kraft des Spielleiters
abgelöst: Regieleistungen beherrschen die Szene, bevor-
munden den Dramatiker oft genug anmaßend und ent-
stellend — wir haben das am Tralowschen Don Carlos
und Wallenstein schaudernd selbst erlebt — Regielei-
stungen, die höchstens neben sich noch sog. Prominente
gelten lassen. Das ist einer der Wesenszüge aus dem
Gesamtbilde „deutsches Theater der Nachkriegszeit"; von
178
Szene wie dem Rennen in Benrath und schließlich zu
der Auflösung der Dinge und Formen im Spiel des
Lichtes (Tanzplatz in Münden, Hohenzollernstraße). Aus
der gleichen abgeklärten, ein wenig akademischen Zone
stammen auch Johannes Kleinschmidts (1858 bis
1905) gepflegter Mönch und vor allem Max L i e b e r g s
(1856—1912), des Kolitz-Schülers, Straßburger Ein-
zugsbilder und Porträts, darunter ein zart-durchseeltes
seiner Mutter. Als einziger Plastiker dieser Zeit er-
scheint Carl B e r n e w i tz (* 1858) mit drei realistisch-
edel ausgeformten uno linieumäßig abgerundeten Bild-
werken: Henschelbüste, Arbeiter (Lokomotivenbau) und
Industrie-Symbol. Bei Hans Olde (1854—1917),
dem neuen Direktor von 1911, aber umflutet uns die
Fülle des hellen Lichtes und der flimmernden Buntheit
seiner Sommeransichten, die sich in den Kühen auf der
Regel fast zur augenschmerzenden Grellheit steigern.
Diese blühenden und glühenden, wogenden und sprü-
henden Farbenflecken schaffen ein eigenes Fluidum, das
mit seinen feinen Schwingungen auch den Gestalten der
Porträts den Zauber einer fast gefühlsmäßig spür-
baren Lebenswärme einhaucht. Paul B a u m (* 1859)
dessen Neoimpressionismus den hochkultivierten Sinnen-
reiz dieses sensiblen Lichterspiels bis an die Grenzen
der reinen Farbe und der frühlinghaften reinen Helle
trieb, kann an aufschlußreichen Bildern der achtziger
und neunziger Jahre (Flandern, Holland, Taormina,
Weimar u. a.) in seinem Wachsen gedeutet werden.
Carl B a n tz e r, von 1918—1923 Direktor der
Akademie, ist der letzte in dieser stolzen Reihe der
Vergangenheit. Er, der in dem Ziegenhain der Schwalm
geboren wurde und am 6. August dieses Jahres seinen
70. Geburtstag feiert, steht wirklich wie ein letztes
krönendes Ziel am Ende, denn er ist der geniale Deuter
und Verherrlicher seines Volkes, der bahnbrechende Trä-
ger und Prophet der hessischen Heimatkunst geworden,
der das bäuerliche unverfälschte bodenständige Leben
inmitten der heimischen Natur in seiner Ürsprüng-
lichkeit, Frische, Einfalt, Farbigkeit und schlichten
Größe reich und wahr widerzuspiegeln wußte. Nur
wenige Stücke: Dillenburgerin, Oberhessische Bauern
und Abend (1905) hat man in die Gesamtschau ein-
gereiht; umso fühlbarer erinnern sie an die, die nicht
da sind, rührt das Vermißte an die Bitternisse heim-
licher Künstlertragik, die dem Lebensabend dieses vor-
nehmen, feinsinnigen, stillen Meisters nicht erspart blieb.
In einem weiteren Aufsatze: die Akademie im Strome
der Gegenwart sollen die Abteilungen, die das Schaffen
der Gegenwart an der Akademie, in Hessen und in
Deutschland umgrenzen, gewürdigt werden.
den anderen, die ebenso wenig erhebend sind, sei nur
noch die unverständliche Vernachlässigung Shakespeares
und der Klassiker im Spielplan genannt. Und wie eine
seltene Perle im wertlosen Sandmeer mutet uns die
tapfere Tat des Spielleiters im Ruhrgebiet an, der
im Bochnmer Theater in einer Festspielwoche sämtliche
Königsdramen Shakespeares aufführte. Was ehemals
einzelne Fürsten im Kleinen und doch ideal Großen
taten, das Theater wirtschaftlich zu sichern, leisteten
in diesem Falle die „Kohlenbarone". Mag in dieser Hand-
lung wirklich so „etwas von einer herausfordernden
Geste des deutschen Kapitalismus" liegen, wie Julius
Bab in seinem vortrefflichen Aufsatz in der Julinummer
der „Hilfe" ausführt, diese Herren schufen doch die
Möglichkeit, daß Hunderte von Menschen über den
leidenschaftlichen Kampf um des Lebens Notwendig-
keiten hinausgeführt und dem eigentlichen Sinne des
Daseins nahe gebracht wurden.
In Kassel fehlen uns leider diese „Barone", und
auf ihre „herausfordernde Geste" werden wir noch lange
warten müssen. Aber ich glaube, die Herren Scheur-
mann und Klemm wären schon zufrieden, wenn der
„Verein der Freunde des Kleinen Theaters" ein paar
hundert Mitglieder mehr fassen wollte. Auf dieser
dann wohlgcgründeten Erde baute sich zweifellos mit
mehr Sicherheit und Ruhe der Spielplan, und ein Spiel-
leiter — wenn auch nicht vom Ausmaße eines Jeßner
oder Piscator — könnte viel Anregendes ohne nervöse
Überhastung leisten. In Herrn Chmelnitzki war ein
geeigneter Leiter gefunden, der es auch durch eine Reihe
guter Aufführungen bekundet hat. Er ging mit dem
kommenden Winter, und an seine Stelle trat Dr. Erich
M o s s e, Träger eines in Schriftstellerkreisen hoch be-
werteten Namens, selbst Bühnendichter. Nur zwei Auf-
führungen tragen sein Zeichen: Der Geschlagene
von Wilhelm Schmidtbonn und Tagore' s Bühnen-
spiel : Das P o st a m t. Der rheinische Dichter, der
zu den Stilleren im dramatischen Neuland gehört,
zeichnete in seinem Flieger Josef Wachholder die ur-
alten Kämpfe des Menschlichen im modernen Gewände.
Der indische Weltweise, der in unserer raschlebenden
und rasch vergessenden Zeit Mode geworden war, hat
im „Postamt" im Schicksal eines kleinen eingesperrten
Knaben, der langsam dem Nirvana entgegenblüht, ein
lyrisch-dramatisches Spiel geschaffen, das in seiner
Schlichtheit der Menschheit Leiden tiefer faßte, als die
sich expressionistisch gebärdenden Redeströme unserer Aller-
jüngsten. Eine jugendliche Künstlerin, Tilde Maschat
-- das Staatstheater hat sich diese Vielversprechende
bereits gesichert — schuf diese Gestalt in lieblicher
Reinheit und rrug den Erfolg des Abends.
Nach Erich Mosse, im Zwischenreich der regielosen
Zeit, begann ein bedenkliches Schwanken des Spiel-
planes. I» den zwei Dutzend oder mehr Neuheiten, die
von den Künstlern tragender Rollen (Elaasen, Braune,
Ady Halm, Ellen Selander) mit selbstloser Hingabe
und letzter Nervenkraft ermöglicht wurden, trat das
Lustspiel, der Schwank in vordere Reihe. Ich möchte
nicht für die Fülle der flüchtigen Gesichte der trockene
Schleicher sein, der nachträglich noch stören will, nur,
was noch in der Erinnerung haftet, soll gebührend ge-
nannt werden wie: Impekovens und Reimanns „Ekel",
den Scheurmann mit der ganzen Lust seiner reichen Kunst
in ein breites Lachen verwandelte; ferner die vielgespielte
Wildekopie „M rs. Cheneys End e", die mit andern
Theatern zu gleicher Zeit gebrachte Uraufführung von
Berstls „Dover - Calai s", die technisch phantastische
Kolportage „K u r v e link s" von Palitzsch, aus der
französischen Komödien-Ehekammer Bernards „P e r l e",
Verneuils „K a r u s s e l l", „D a s Fr ü ch t ch e n" von
Gignon und Thery, als Gabe zu Sudermanns 70. Ge-
burtstag „D i e S ch m e t t e r l i n g s s ch l a ch t". Ro-
derich Benedix immer noch möglichen „Zärtlichen
V e r w a n d t e n" standen schon unter dem neuen Spiel-
leiter Bruno Schönfeld, der auch schon Berstls
Komödie gute Form gegeben hatte, mit Benedix mehr
als eine „Restauration" machte, in Shaws „Lieb-
haber" den rechten Ton des englischen Durchschnitts-
theaters traf, seinen größten Erfolg aber mit Franz
Molnars „Spiel im Schloß" erzielte. Vom ernsten
Gesicht des Kleinen Theater kündeten unter seiner
Führung drei Einstudierungen: eine hier weniger als
anderwärts glückhafte Wiedergabe von Hans I. Reh-
fisch „R a z z i a", eine Berliner Tragikomödie, deren
lose Bilder aus den dunkleren Schichten der Haupt-
stadt ohne Hauptmanns „Ratten" kaum denkbar wären,
auch des Slaven Wolodymo Wynytschenko Drama „D i e
L ü g e", wenn damit der angekündigte Versuch, russi-
sches Theater einem deutschen Kreise nahe zu führen,
verwirklicht werden sollte, fand wenig Gegenliebe. Am
unglücklichsten war der Wedekindabend „S ch l o ß We t -
t e r st e i n". Diese ungeheuerliche und quälende Lnlu-
Dichtung dritten Teiles sollte überhaupt nicht über
die. Bretter gehen. Der Eindruck dieser satanischen Hetz-
jagd menschlicher Verderbtheiten ist schon im Buch fürch-
terlich, auf der Bühne unerträglich. Für einen ge-
schlossenen Kreis literarisch Interessierter entschuldbar,
für die Öffentlichkeit? . . . Der Menschheit Würde ist
in eure Hand gegeben . . .
Der große Tag des Kleinen Theaters war eine Ur-
aufführung des Wiener Fr. Schreyvogels Drama „D a s
brennende Schisf". Der Dichter, eine starke .Hoff-
nung der nachexpressionistischen Jugend, ergreift hier
das alte Ödipus-Motiv und gestaltet es auf seine jung-
jugendliche Weise. Sein Held hat bislang in seiner-
schönen Frau Mutter den Inbegriff aller Weiblichkeit
gesehen. Er muß erleben, daß sie sich seinem Jugend-
freunde, der eben mit ihm die hohe Schule verlassen
hat, hingibt. Das stürzt in ihm Sitte nnc> Gesetz, er
begehrt die Mutter, die ihm nun das Weib ist. Sie
tötet sich, um die eigene Schuld zu sühnen, um den
Sohn zu entsühnen. Dr. Ritter holte heraus, was zu
retten war, vermochte aber nicht der seltsamen Stil-
vermischung die fehlende Einheit zu verschaffen. Pein-
liche Gefühle hinterließ die Bekanntschaft mit Walter
Hasenclevers jüngstem Werk „M o r d". Wer der Ent-
wicklung dieses Dichters unbeirrt von den Fanfaren-
klüngen, die seinen „Sohn" begleiteten, gefolgt ist, kann
über sein vorläufiges Ende auf dem Gebiete der Kol-
portage und übler Kinodramatik nicht überrascht sein.
Was hier an knalligen Szenen und Sensationen vorüber-
gehetzt wird, war kaum der unendlichen Mühe der Ein-
studierung wert. Ritters Spielleitung stand hier vor
technischen Schwierigkeiten, die für die kleine Bühne
unüberwindlich sind, auch nicht von der Erfindungs-
gabe und hohen künstlerischen Kraft Helmut S ch u b e r t s
gelöst werden konnten. Ein Gleiches ist von der Auf-
führung von Georg Kaisers „Gas 1. Teil" zu sagen,
deren Ausdehnungen ins Ungemessene sich nur für
Bühnen mit großer Technik eignen. Weit gelungener
gestaltete sich die Komödie „F e n st e r" des vielge-
nannten Galsworthy. An das Schicksal einer Früh-
gestrauchelten, die in der Familie eines englischen Schrift-
stellers aufgenommen wird, knüpft der Dichter die
Gegensätze, die sich aus den freien Anschauungen und
denen der sog. gut-bürgerlichen Gesellschaft ergeben,
läßt uns, die wir behaglich die Früchte einer guten
Erziehung genießen, durch die blankgeputzten Scheiben
des symbolhaften Fensters in jene andere Welt blicken,
wo die Armen schuldig werden. Das Spiel wurde von
der in ihrer herzfrischen Kunst vorbildlichen Marie
Wolfs und von Rudolf Scheurmanns fein erfaßtem
Philosophen im Arbeitsgewande getragen, sowie von
Ellen Selander, die die von der guten Moral Abwegige
bald naturhaft, bald „rührend-hilflos" darstellte.
Einem besonderen Verdienst der Direktion des Kleinen
Theaters muß die schuldige Würdigung zuerkannt wer-
den: sie vermittelte uns nicht ohne gewisse Opfer in
einer Reihe von Gastspielen die Bekanntschaft mit her-
vorragenden Bühnenkünstlern unserer Zeit, die sich sonst
selten nach Kassel verirren. Wir sahen Alexander Moissi
als „Oswald" in den „Gespenstern", Heinz George in
Strindberg und Wedekind, Leopoldine Konstantin mit
179
ihrer Gesellschaft in zwei mondänen Komödien, Hansi
Arnstaedt und Karl Heinz Klubertanz in Rudolf Lot-
hars „Werwolf", Rosa Valetti, die ihre reiche Kunst
in einem Detektiodrama und der „Roten Robe" leuchten
ließ, ein Gastspiel des Theaters vom Schiffbauerdamm
führte zu tiefster Erschütterung mit Raynalds „Grab-
Universität und Stadt treffen die letzten Vorberei-
tungen zum großen Fest. Der Gang der Feier soll
deshalb kurz geschildert werden, wobei wir hinsichtlich
der einzelnen Veranstaltungen Änderungen vorbehalten
müssen.
Am Freitag, den 29. Juli, finden von der
Studentenschaft nachmittags turnerische Vorführungen
auf dem Stadion statt. Um 5 Uhr folgt dann die Ein-
weihung des Gefallenendenkmals, an der sich in der
Hauptsache wohl nur die Dozenten und Studenten der Uni-
versität selbst beteiligen werden, da der Raum auf dem
Rudolphsplatz sehr beschränkt ist. Es wird in dieser Zeit
der Straßenverkehr über den Rudolphsplatz auf n/o
bis zwei Stunden unterbrochen werden müssen. Am
Abend ist seitens der Universität im großen Festzelt
auf dem Kämpfrasen eine Begrüßungsfeier vorgesehen.
Die Studentenschaft wird einen Fackelzug veranstalten
und die Bürger der Stadt werden gebeten, ihre Häuser
zu illumiinieren. Die Zelte auf dem Schloßberg wer-
den bereits vom Freitag ab für die Bewirtung der
Gäste zur Verfügung stehen.
Am Sonnabend, den 30. Juli, vormittags,
finden zunächst Gottesdienste statt und sodann um 11
Uhr der erste Festaktus in dem großen Festzelt. Zu
diesem Festaktus werden sich die Mitglieder unserer
Universität und die anwesenden Gäste im feierlichen
Zuge voraussichtlich von der reformierten Kirche durch
die Barfüßerstraße nach dem Festzelt auf dem Kämpf-
rasen begeben. Nachmittags wird das neue Kunstinstitut
übergeben werden und außerdem die Kinderklinik und
die Ohrenklinik. Am Abend ist ein Festessen für ge-
ladene Gäste. Am Nachmittag wird in den Stadt-
sälen eine Faust-Rezitation von Wüllner stattfinden
und am Abend ein Sinfoniekonzert. Auf dem Schloß-
berg soll schon am Sonnabend nachmittag Musik und
Tanz stattfinden.
Am Sonntag, den 31. Juli, ist vormittags
im großen Festzelt auf dem Kämpfrasen der zweite
Festaktus. Nachmittags wird sich dann zunächst der
historische Festzug durch die Stadt bewegen. Der Fest-
zug ist gedacht als Einzug Philipps des Großmütigen
im Jahre 1527. Er wird sich durch die Bahnhofsstraße
— Ketzerbach — Steinweg — Wettergasse nach dem
Markt hin bewegen. Auf dem Markt selbst wird der
Magistrat Philipp begrüßen und in Rede und Gegen-
rede wird auf die Bedeutung des Tages hingewiesen
werden. Dann soll der Zug durch die Barfüßerstraße
— Lutherischer Kirchhof — Kalbstor — Lutherstraße —
Behringweg sich nach dem Schloß begeben. Bei diesem
langen Weg kann wohl erwartet werden, daß jeder
Besucher die Möglichkeit hat, den Festzug zu sehen.
Ter untere Teil des Marktes wird für die Ehrengäste
und für den Festzug selbst freigehalten tverden müssen.
Es ist keine leichte Aufgabe, durch unsere engen Straßen
einen Festzug zu leiten, und wir appellieren auf das
dringendste an die Selbstdisziplin der Bürgerschaft, da-
mit der Zug nicht gestört wird. Die genauen Vor-
schriften über die Straßen, die für den Verkehr ge-
sperrt sind, Iverden noch erlassen werden. Auf dem
Schloß angekommen, wird der Landgraf Philipp von
180
mal des unbekannten Soldaten". Sie zählen zwar noch
nicht zu den Prominenten, verraten aber echtes Theater-
blut, die beiden Max Walter und Putti Rnpprecht vom
Deutschen Theater in Hannover, die das übermütige
Lustspiel Ludwig Fuldas „Die Durchgängeri n" 511
bestem Gelingen führten. A. Latwesen.
Müller-Marburg folgendes bekannt:
unseren Marburger Sängern begrüßt werden und wird
mit kurzen Worten das große Schloßfest eröffnen.
Für die Ehrengäste wird die Möglichkeit geschaffen,
diese Begrüßung von den sog. Ziergärten des Schlosses
aus anzusehen. Von der Stadt wird dann im Ritter-
saal für die Gäste ein Kaffee gegeben. Die Zahl der
Einzuladenden ist durch die Größe des Saales be-
schränkt. Für die übrigen Gäste und die Mitglieder
unserer Universität soll zur gleichen Zeit das neue
Schloßkaffee zur Verfügung gehalten werden. Nach
dem Einzuge des Landgrafen, der auf spätestens 4 Uhr
angesetzt iverden soll, soll dann auf dem Schloßberg
in fröhlicher, aber würdiger Weise ein allgemeines
Fest stattfinden, das den Beweis erbringen soll, daß
Universität, Stadt und Provinz eine Gemeinschaft bil-
den. Es sind Zelte vorgesehen, die ungefähr 7000
Gäste aufnehmen können und außerdem uoch ungefähr
3000 Plätze im Freien. Im Vorhof des Schlosses, vor
dem Kavalierhaus, ist ein Zelt aufgestellt, dessen Be-
wirtung Gastwirt Prinz hat, im Schloßkeller und an
der Nordseite des Schlosses hat Gastwirt Hildemann
die Bewirtschaftung übernommen. Im Keller selbst
ivird Musik veranstaltet. Der Rittersaal wird voraus-
sichtlich in der ganzen Zeit — vom Freitag ab bis
zum Montag — als Kaffee zur Verfügung stehen.
Den hinteren Teil von Bückingsgarten, in dem ein
großes Zelt aufgeschlagen wird, hat Gastwirt Grande-
rath inne. Es werden dort Schwälmcr und Ober-
hessische Bauern ihre Tänze aufführen. Außerdem wird
der Akademische Turnverein Kurhessen den historischen
Schwertertanz zeigen, und Jugendgruppen werden Ju-
gendtänze zur Aufführung bringen. Diese Tänze sollen
sich ungefähr alle Stunde wiederholen, so daß jedem
die Möglichkeit gegeben ist, die Tänze zu besichtigen.
Vom Breiten Weg wird eine große Treppe nach Bük-
kingsgarten gelegt.
Auf dem Platz vor dem Judizierhäuschen wird
eine große Tanzdiele errichtet. Hier kann jeder sich
der Tanzfreude widmen. Die Tänze werden unter-
brochen werden durch Gesänge unserer Gesangvereine.
Auf dem Platz westlich vom Judizierhaus, aus oem
früheren staatlichen Gelände, das die Stadt erworben
hat, wird dann das große Schankzelt aufgebaut werden,
in dem über 3500 Personen bewirtet werden können,
abgesehen von Tischen und Stühlen, die im Freien
aufgestellt werden. Die Bewirtschaftung dieses Schank-
zeltes hat Herr Lowka übernommen. Auf dem Kinder-
spielplatz wird die Studentenschaft ihrerseits für Be-
lustigungen sorgen, außerdem ist dort an eine Belustigung
der Kinder durch den Puppenspieler Gierow gedacht,
in gleicher Weise, wie der Puppenspieler Jwowski
voraussichtlich in der Nähe des ehemaligen Schillersteines
seinen Platz aufschlagen wird. Auf dem Platz vor-
der ehemaligen Sternwarte soll ein großes Weinzelt
errichtet werden, das Herr John übernommen hat.
In diesem wird stündlich eine Oberhessische Spinnstube,
dargestellt von Damen und Herren unserer Stadt, für
Frohsinn sorgen. Ihre Vorführungen dauern ungefähr
20 Minuten. Das Schloßkaffee wird bis zum Fest
soweit fertiggestellt, daß neben den Räumen im Kaffee
Zur ^00-Iahr-Feier der Universität M Oberbürgermeister
selbst noch eine große Veranda Raum für die Gäste
bietet. Auf dem Festplatz des Dammelsberges werden
voraussichtlich Hans Sachs-Spiele und Aufführungen
der Akademischen Bereinigung stattfinden. Auf dem
Bunten Kitzel soll durch ein paar Karussells für die
allgemeine Belustigung gesorgt werden. 349 Uhr abends
werden dann die Teilnehmer des Kommerses, der um
9 Uhr in der Festhalle auf dem Kämpfrasen statt-
findet, sich zum gemeinsamen Zug aus dem Behring-
>veg versammeln und mit Musik zum Festzelt hinab-
ziehen. In den späten Abendstunden, vielleicht gegen
3/212 Uhr, wird dann die Schloßbeleuchtung erfolgen.
Am Montag, den 1. August, werden in den
Abendstunden Stadt und Universität gemeinsam einen
Abschiedstrunk auf dem Schloßberg nehmen. Die Zelte
und Restaurationen auf dem Schloßberg und das Kaffee
im Rittersaal sind vom Freitag bis zum Montag ge-
öffnet.
Es ist hinreichend Sorge getragen für die Bewirtung
und Unterbringung der Gäste. Weiterhin sinö für die
Sicherung der Stadt und des Festzuges umfangreiche
Vorkehrungsmaßnahmen ergriffen. Für den Sonntag
tverden 70 Schupobeamte zur Verfügung stehen. Ebenso
ist vorgesorgt, daß Autos und Fahrräder untergebracht
tverden können. Gleich an den Eingängen der Stadt
Der Dämon.
Weil er den Boden selber pflügen mußte,
Hat er den Nacken fest ins Joch gespannt,
Er pflügt mit Haß die harte Erdenkruste,
Die^Geißel hält er in der eigenen Hand.
wird den einzelnen Autos eine Unterkunftsmöglichkeit
nachgewiesen tverden. An den Festtagen selbst muß die
obere Stadt möglichst vom Autoverkehr freigehalten
werden. Am Sonntag wird ein Fährverkehr zum Schloß
hinauf sich nur ermöglichen lassen über den Roten-
berg bis zur Calvinstraße. Am Sonntag rechnen wir
mit einem Besuch von 25 bis 30 000 Gästen. Bei
einem derartigen Besuch kann das Fest nur gelingen,
wenn jeder sich freudig der Gemeinschaft einordnet,
und wenn den Anordnungen der Ordner unbedingt
Folge geleistet wird. Wer den Festzug einmal gesehen
hat, möge damit zufrieden sein und sich dann aus das
Schloß begeben. Auf dem Schloß möge man von Ort
zu Ort wandern, um sich die einzelnen Darbietungen
anzusehen. Für den Besuch des Festes sind Fest-
abzeichen vorgesehen, die voraussichtlich schon einige
Tage vorher für die Bevölkerung in hiesigen Geschäften
verkauft werden. Außerdem werden von der Stadt
Pläne mit einem genauen Programm hergestellt, die
ebenfalls zum Verkauf gebracht werden.
Es soll bei dem Fest auf dem Schloß die Freude
regieren; sie kann dies aber nur tun, wenn die Einzelnen
sich innerhalb der Grenzen halten, die ein harmonisches
Beisammensein Vieler ermöglichen. Dann wird das
Fest für alle eine dauernde frohe Erinnerung bleiben.
Die Schollen brechen sich, die Schollen biegen
Und heben stöhnend aufwärts sich und liegen,
Wie tausend Schwerter blitzt am Pflug das Eisen,
Und hinter ihm die schwarzen Bögel kreisen.
Die Willen brechen sich, die Willen biegen
Und heben stöhnend aufwärts sich und liegen,
Und tausend Nacken sind ins Joch gespannt,
Er aber schwingt die Geißel in der Hand.
Marburg. Bertholt» Leinweber.
Aus Heimat und Fremde.
H 0 ch s ch u l n a ch r i ch t e n. M a r b u r g: Am
17. Juni verschied in Marburg der Professor der Rechts-
wissenschaft Geh. Justizrat Dr. Fritz A n d r 6. In
Osnabrück 1850 geboren, war er als Göttinger Privat-
dozcnt 1892—96 Schriftführer der Kommission für das
Bürgerliche Gesetzbuch, wurde 1899 ord. Professor in
Marburg und übernahm später als Nachfolger von
Enneccerus das Ordinariat für römisches und deutsches
bürgerliches Recht. 1905/06 war er Rektor der Uni-
versität und tvurde 1917 Geh. Justizrat. Auch im
öffentlichen Leben machte er sich verdient, so daß die
Stadt Marburg eine Straße nach seinem Namen be-
nannte. Andre war u. a. Mitherausgeber einer Text-
ausgabe des Bürgerlichen Gesetzbuches. — Am 8. Juli
ivurde der emeritierte ord. Honorarprofessor der mittel-
alterlichen Geschichte D. Dr. Karl W e n ck, 74jährig,
von seinem schweren Leiden erlöst. In Leipzig geboren,
promovierte er an der Universität seiner Vaterstadt, kam
1878 als Hilfsarbeiter an die Universitätsbibliothek
Halle, ivurde an der dortigen Universität 1881 Privat-
dozent lind kam 1891 nach Marburg, wo er zwei Jahre
später Professor und 1905 ord. Honorarprofessor wurde.
1922 wurde er von seinen amtlichen Verpflichtungen
entbunden. Seine bedeutende wissenschaftliche Tätigkeit
umfaßte besonders die Geschichte des Papsttums im
13. Jahrhundert, die hessisch-thüringische Geschichte und
das Leben der hl. Elisabeth. Wenck, Ehrendoktor der
theologischen Fakultät, war ein eifriges Mitglied des
Hessischen Geschichtsvereins. — Der ord. Professor für
deutsches und römisches Recht Dr. zur. et pbil. Erich
Jung tvurde von der Universität Innsbruck zum
Dr. rer. pol. ehrenhalber ernannt. — Regierungspräsi-
dent i. e. R. Dr. S t ö l z e l tvurde zum Honorarprofessor
der juristischen Fakultät ernannt. — Der bisherige
Privatdozent und Assistent am physikalischen Institut Dr.
phil. Hermann Senftleben wurde als Privatdozent
der Physik an der Universität Breslau zugelassen. —
Der Privatdozent für Paläontologie Dr. Otto Heinrich
S ch i n d e w 0 l s wurde zum nichtbeamteten außerordl.
Professor ernannt. — Antrittsvorlesungen hielten: Dr.
G. A. Walz „Vom Wesen des Krieges", Dr. Joachim
Brock „Über nervöse gastro-intestinale Syndrome beim
älteren Kinde" und Dr. Karl Eimer über „den Ein-
fluß körperlicher Leistungen auf das Herz". — Dr. Erwin
Wiskemann, Assistent am Staatswissenschaftlichen
Seminar, wurde die venia legendi für Volkswirtschafts-
lehre und Finanzwissenschaft erteilt. — Die neuerbaute
Universitätsklinik wird jetzt Karolinenhaus ge-
nannt, und zwar nach dem Namen der Tochter des
Dr. b. c. George Horst, Reading Pa. U. S. A., der die
Mittel zum Bau größtenteils zur Verfügung stellte. —
Am 11. Juli faud eine inoffizielle Einweihungsfeier
des von den Landeskirchen Kassel, Frankfurt und Wies-
baden dem Studentenheim gestifteten F 0 r st h 0 f e s
und des von dem Großindustriellen gestifteten und
nach ihm benannten Karl Dnisberg - Hauses statt.
Aus diesem Anlaß gab die Studentenschaft am Abend in
Bückings Garten neben dem Schloß ein Sommerfest.
Die zum Forsthof und Duisberghaus gehörigen Grund-
stücke erstrecken sich von der Ritterstraße zum Behringweg
(früher Breiter Weg). — Am 17. Juni wurde das
Universitäts-Reitinstitut im früheren Deutschordensgut
am Ortenberg seiner Bestimmung übergeben. — Die
endgültige Zahl der Studierenden beträgt 2906, nämlich
2417 Männer und 489 Frauen; dazu kommen noch 43
Männer und 21 Frauen, die zum Hören der Vor-
lesungen zugelassen sind, so daß die Gesamtzahl sich
auf 2970 erhöht. Aus die einzelnen Fakultäten ver-
teilen sich die Studierenden wie folgt: Theologen 210
M., 15 Fr., Juristen 892 M., 20 Fr., Mediziner 486
M., 54 Fr., Philosophen 829 M., 400 Fr. Der Heimat
nach stammen 1938 Männer und 382 Frauen aus
Preußen. Die anderen verteilen sich auf die anderen
Reichsländer außer etwa 90, die aus dem Ausland
stammen. — Gießen: Der ord. Professor für römi-
sches, bürgerliches und Zivilprozeßrecht Ör. Leo R o -
s e n b e r g wurde zum Rektor der Universität gewählt.
— Die theologische Fakultät ernannte den ordentlichen
Professor der Rechte an der Universität Tübingen
Geh. Justizrat vr. jur. Arthur Benno Schmidt zum
Ehrendoktor. — Dr. Stephan Temesvary in Frank-
furt wurde zum Universitätsmusikdirektor ernannt und
zugleich Leiter des Gießener Konzertvereins und des
Akademischen Gesangvereins. — Auf Beschluß der Stadt-
verordnetenversammlung wurden, der Universität gestiftet
10 000 RM für die Inneneinrichtungen des Psycholo-
gischen Instituts, 50 000 RM für den Erweiterungsbau
der Universitätskinderklinik. Ferner stellt die Stadt
kostenlos Gelände für eine bei der Universität zu er-
richtende Heilstätte für Kranke und Tuberkulöse und
Gelände für die Errichtung eines Studentenheims zur
Verfügung. — Darmstadt: Zum Rektor der Tech-
nischen Hochschule wurde der ord. Professor Dr.-Jng.
Ernst Kammer gewühlt. — Der langjährige Ordi-
narius für Botanik an der Technischen Hochschule Geh.
Hofrat Professor vr. Heinrich Schenk ist im Alter
von 67 Jahren gestorben. — Die Zahl der Studierenden
beträgt 2276, dazu 37 Hörer und 122 Gäste. — Güt-
tingen: Der Privatdozent für Staats-, Verwaltungs-,
Kirchen- und Sozialversicherungsrecht Or. Hermann
M i r b t (geborener Marburger), ivurde zum nichtbe-
amteten außerord. Professor ernannt. — Berlin:
Die Friedrich-Wilhelms-Universität verlieh dem Präsi-
denten des Reichspatentamts Geh. Oberregierungsrat
v. Specht die Würde eines Ehrendoktors. Präsident
von Specht wurde am 6. August 1860 in Kassel geboren.
Todesfälle. Am 14. Juni entschlief zu Kassel
im Alter von 65 Jahren der Bundesvorsitzende des
Mitteldeutschen Sängerbundes Georg Schad e. Er stand
nahezu 25 Jahre an der Spitze des Mitteldeutschen
(früher Kurhessischen) Sängerbundes, um den er sich
sehr verdient gemacht hat. Schade war auch Ehren-
mitglied der Kasseler Liedertafel, der er über 30 Jahre
als Vorstandsmitglied und erster Direktor angehörte.
Von Haus aus Lehrer, übernahm er später das Geschäft
seines Vaters, eines Pianofortefabrikanten. — In Fulda
starb 69 jährig der Geh. Sanitätsrat Or. Hermann
Kind. Er entstammte einer Fuldaer Arztfamilie und
nahm, u. a. als Stadtverordneter, lebhaften Anteil
am öffentlichen Leben. Er besaß eine wohl einzig-
artige Sammlung Fuldaer literarischer und kulturge-
schichtlicher Dokumente. — Am 1. Juli verstarb zu
Kassel 72 jährig der zu Witzenhausen geborene Senior-
chef des Kasseler Bankhauses Werthauer, Kommerzienrat
Moritz Wert he i m, der am Ausbau der Kasseler
182
Industrie regen Anteil genommen hat. Er gehörte von
1910—18 der Kasseler Stadtverordnetenversammlung an,
auch stellte er der Kasseler Reichsbankstelle seine Kennt-
nisse als Beigeordneter zur Verfügung. — Am 8. Juli
verschied General Max Hosfmann in Bad Reichcn-
hall und wurde auf dem Berliner Jnvalidenfriedhos
beigesetzt. Der außergewöhnlich begabte und Willens-
stärke General wurde am 25 Januar 1869 in Homberg
a. Efze geboren. Er war der Typ des preußischen
Generalstäblers Schlieffenscher Schule und leitete zu
Beginn des Weltkrieges die Operationen in Ostpreußen.
Er schuf nach dem Russeneinbruch die Grundlagen für
die Schlacht bei Tannenberg und blieb auch später als
Generalstabschef des Ober-Ostbefehlshabers Prinz Leo-
pold von Bayern der führende Kopf des Oberosthaupt-
quartiers. Bekannt ist seine Tätigkeit bei den Friedens-
verhandlungen von Brest-Litowsk. Seine Kriegserinne-
rgngen faßte er in dem viel gelesenen Buch „Der Krieg
der versäumten Gelegenheiten" zusammen.
Der zweite deutsche N a t u r s ch u tz t a g wird
vom 1.—6. August in Kassel abgehalten. Er wird zwei
Ausstellungen bringen, „Naturschutz und Schule (Stadt-
halle) und Naturschutz und Kunst" (Gemäldegalerie).
Es werden zahlreiche Vorträge gehalten, darunter ein
solcher von Prof. Or. Schwefel, dem Kommissar für
Naturdenkmalpflege im Regierungsbezirk Kassel, über
„Die Naturdenkmäler des Hessenlandes". Ausflüge fin-
den statt nach Sababurg und durch die niederhessische
Basaltlandschaft zur Eddertalsperre.
Schloß S ch ö n f e l d. 150 Jahre waren in diesen
Tagen verflossen, seit Heinrich von Schönfeld das nach
ihm benannte Schlößchen bei Kassel erbaute, dessen
wechselreiche Geschichte uns Philipp Losch in seinem
fesselnden Buch „Schönfeld, Bilder aus der Geschichte
eines hessischen Schlößchens und seiner Besitzer" ge-
schildert hat. Zur Feier fand vor dem Schloß im Park
ein Volksfest statt.
800 Jahre Betten hausen. Die 800-Jahr-
feier des Bestehens der Dorfgemeinde Bettenhausen,
des jetzigen Stadtteils Kassel-Bettenhausen, wird in
den Tagen vom 6.—8. August auf dem Festplatz der
Diemar-Hellerschen Wiese iu der Agathofstraße statt-
finden. Im Mittelpunkt der Feier steht ein Festzug,
der am 7. August, nachmittags 3 Uhr beginnt. Bruno
Jacob verfaßte die mit zahlreichen Bildern geschmückte
Festschrift.
Fulda. Hier wurde eine „Bereinigung für Fami-
lien- und Wappenkunde zu Fulda 1927" gegründet. Zum
Vorsitzenden wurde Herr Gustav Iller gewählt.
E s ch w ege. Das übliche Johannisfest, das in den
ersten Julitagen stattfand, brachte diesmal die Wiederauf-
stellung des Dietemanns, des alten Eschweger Wahrzei-
chens, auf dem Schloßturm und die Aufführung eines vom
Lehrer Adler-Datterode verfaßten Festspieles. Im Verlag
von Otto Volprecht-Eschwege erschien ein zahlreiche Auf-
sätze und Abbildungen enthaltendes Johannisfestbuch,
auf das wir in nächster Nummer noch zurückkommen.
Friedrichsbrück. Am 9. und 10. Juli konnte
hier das 150 jährige Bestehen unseres am Hirschberg
gelegenen Ortes, den Landgraf Friedrich II. 1777 durch
zehn Bauernfamilien aus Oberhessen und Nassau-Weil-
burg besiedeln ließ, durch Kommers, Festspiel uud
Festzug begangen werden. Schriftsteller W. Jde-Kassel
hielt die Festrede.
Ein Kulturfilm „Die Lah n". Unter Mit-
arbeit des Verkehrsverbandes für die Lahn ist bei der
Kinematographischen Abteilung der Friedrich Krupp
Aktiengesellschaft Essen ein Kulturfilm von der Lahn
in Vorbereitung. Das Manuskript zu diesem groß
angelegten Kulturfilm, der sowohl für die Verkehrs-
werbuna des Lahntales, als auch für die heimatkund-
lichen Bestrebungen von Bedeutung ist, wurde von dem
Kulturschriststeller Dr. Ludwig Mathar-Köln bearbeitet.
Bücherschau.
Jubiläumsliteratur.
Zum bevorstehenden Universitätsjubiläum hat der
rührige Verlag N. G. Elwert (G. Braun)-Marburg
eine ganze Reihe von Festgaben erscheinen lassen. Wir
besprachen an dieser Stelle schon den weit über 600 Sei-
ten starken Gundl ach scheu Catalogus Pro-
fessorum Academiae Marburg ensis (24
RM, geb. 27.50 RM), der als Gabe der Historischen
Kommission für Hessen und Waldeck die Lebensläufe der
akademischen Lehrer der Philipps-Universität von 4527
bis 1940 umfaßt, und ferner Georg Heers, des
besten Kenners des Marburger Studententums, präch-
tiges, reich illustriertes Buch vom M a r b ur g e r Stn-
dentenleben 4527—4927 (42 RM). Weiter wer-
den noch rechtzeitig erscheinen aus der Feder von .H e r -
m e l i n k und K a e h l e r die etwa 900 Seiten um-
fassende Geschichte der Universität M a r -
b u r g (etwa 30 RM), sodann Wilhelm D i l i ch s
h e s s i s ch e L a n d k a r t e n, herausgegeben von E.
Stengel (etwa 50 RM), Die Einführung der
R e f o r m a t i o n in 5) e s s e n von 5). Herme link
(2 RM), Die hessische Glasm a ch e r k u n st von
M. K i l l i n g (etwa 20 RM) und Elwerls etwa 2000
Nummern umfassender Jubiläumskatalog des
Antiquariats. Gleichfalls als Festgabe erscheinen int
selben Verlag die erste Lieferung des von Ferdinand
W r e d e geleiteten „Deutschen Sprachatlas"
(7.50 RM) lind die erste, mit dem Buchstaben L be-
ginnende Lieferung des „Hessen-Nassauischen
Vereinsnachrichten.
§ essischer G e s ch i ch t s v e r e i n. Der erste
diesjährige Ausflug des M a r b u r g e r Vereins am
21. Juni führte die Mitglieder in das ehemals main-
zische Amt Neustadt. Von Neustadt aus wanderte man
unter der Führung der Herren Oberstleutnant Freiherr
S ch e n k z u S ch weinsberg und Obertelegraphen-
inspektor O t t e n s nach der Wüstung F o r st und
von dort nach der W ü st e b u r g, deren Erdbefestigungen
Oberstleutnant von Schenk erläuterte. Endziel des Aus-
flugs >var A l l e n d o r f. In der Sitzung am 4. Juli
sprach Staatsarchivdirektor Prof. Dr. K ü ch über d i e
Anfänge der Universität und des Päda-
gogiums zu M a r b u r g. Diese Anfänge stellte
der Vortragende hinein in das Werden des Territorial-
staates und erwies sie als eine sich notwendig ergebende
Stufe seiner Entwicklung. Die schon von Landgraf Wil-
helm II. erwogene Gründung war dann gleichsam eine
Folge der Besetzung des 4500 in Marburg errichteten
Hofgerichts mit gelehrten Juristen. Juristen und nicht
Theologen nahmen denn auch die ersten Stellen in
der Matrikel ein. Die weiteren wertvollen Ausfüh-
rungen brachten vielfach neue Ergebnisse über die be-
scheidenen und schwierigen Anfänge der Universität. —
In der sich anschließenden Hauptversammlung wurde
Personalien.
Ernannt: die Regierungsassessoren Dr. Heinrichs
und Dr. Kollath zu Regierungsräten; zum Rcgie-
rungsrat der Steueramtmann Lenz beim Finanzamt
Mit kulturgeschichtlichen Bildern von der Lahn zwang-
los verwoben, werden die Landschaft, die Kunst, die.
vielseitige Wirtschaft und das Verkehrsleben zur Dar-
stellung kommen.
Idiotikons" von Luise B e r t h o l d. Schließlich
sei noch die inhaltreiche, von Ernst E l st e r heraus-
gegebene Festzeitnng der Philipps-Universität
(4 RM) genannt. Sodann liegt uns vor ein sehr ge-
schmackvoll ausgeführtes Skizzenbuch„W anderungen
durch Hessenvor hundert Jahre n", gezeichnet
von dem einstigen Professor der Baukunst am Städcl-
schen Kunstinstitut in Frankfurt F. M. H e s s e m e r
(3 RM). Alten Marburger Studenten werden Theodor
B i r t s „M arburger Licht- und Schatten-
bilder" mit Beiträgen von Anna R e t t b e r g und
Zeichnungen aus dem Nachlaß von L. I u st i (76 Seiten,
4.50 RM) Freude machen, in denen der beliebte Dichter-
Professor das Marburg vor etwa 30 und 40 Jahren
feinsinnig und lustig zu schildern weiß. Zum Schluß sei
aus demselben Verlag ein vom Stadtbauamt neu auf-
gestellter Plan der Stadt Marburg 4 :7500
(0.50 'RM) erwähnt, der allen Besuchern der Jnbi-
läumsstadt gute Dienste tun wird.
Der Universität Marburg zu ihrem Jubiläum ge-
widmet ist sodann der im Verlag Joh. Braun, Eschwege,
erschienene 2. Band von Hütte roths kurhessi-
s ch e r P farrerges ch i ch t e, der Tue Pfarrer der Stadt
Marburg von der Zeit der Reformation an, z. T. noch
darüber hinaus, mit zahlreichen genealogischen Angaben
behandelt. — Auch Leo Sternbergs schönes und
reich illustriertes Heimatbuch „Land Nassa u" (Ver-
lag Brandstetter, Leipzig, 478 Seiten, geb. 40 RM),
ist der Universität Marburg gewidmet. Wir werden auf
diese Werke noch zurückkommen. II.
der bisherige Vorstand wiedergewählt und zwar Stu-
dienrat K ü r s ch n e r als Vorsitzender, Geheimrat Heer
als Rechnungsführer und Kunstmaler Giebel als
Konservator; anstelle des als Staatsarchivdirektor nach
Breslau versetzten Dr. D e r s ch wurde als Schrift-
führer und Mitglied des Redaktionsausschusses der Zeit-
schrift Staatsarchivrat Dr. G u t b i e r gewählt.
Hessischer G e b i r g s v e r e i n. Der Gesamt-
verein des Hessischen Gebirgsvereins hielt am 26. Juni
in Großalmerode seine Mitgliederversammlung ab. Der
neue erste Vorsitzende Dr. L a h m e y e r gedachte des
verstorbenen Vorsitzenden Justizrat Wenning und
entwickelte dann ein großzügiges Programm, das >veit
über das Ziel eines bloßen Wandervereins hinausging.
Planmäßige Zusammenarbeit der Zweigvereine, Ausbau
der Geschäftsstelle, Einbeziehung der Wege in die Haupt-
wanderstrecken, Förderung des Jugendherbergswerkes und
Herausgabe eines neuen Führers waren einige der
Forderungen. Die nächste Hauptversammlung findet
in Rotenburg statt. Der Nachmittag galt dem Besuch
des Bilsteins, Ivo Lehrer P e n n d o r f über die Geologie
der Heimat sprach. Der Abend vereinte die Mitglieder
im Felsenkeller zu Großalmerode.
Frankenberg, Kühn beim Finanzamt Melsungen; zum
Regierungsassessor der Gerichtsassessor Dr. v. Scheele
beim Landesfinanzamt Kassel; zum Zollamtmann der
183
Oberzollinspektor Beßler beim Landesfinanzamt Kas-
sel ; Orchestermitglied Böhme zum Kammermusiker.
Versetzt: Steueramtmann Apel an das Landes-
finanzamt Kassel, Steuerinspektor K r e i tz an das
Finanzamt Eschwege, Zollinspektor Hain m ü l l e r an
das Hauptzollamt Marburg a. d. L., die Obersteuersekre-
täre Pfeiffer an das Finanzamt Rotenburg a. F.,
Hinze an das Finanzamt Wolfhagen, H erwig
an das Finanzamt Hersfeld, H o h m a n n an das
Finanzamt Fulda, Steuersekretär W i e g a n d an das
Finanzamt Hanau, Regierungssekretär Lang als Steuer-
sekretär an das Finanzamt Gelnhausen; Gewerbeassessor
Dr. R e i t h dom Gewerbeaufsichtsamt Kassel zum Ge-
werbeaufsichtsamt Duisburg; Kreisoberinspektor Riß-
mann in Torgau an das Landratsamt Kirchhain;
Kreisinspektor Hornung an das Landratsamt in
Torgau; Oberregierungsrat Dr. K o p p e n in Kassel
an das Oberpräsidium in Charlottenburg.
I» den Ruhestand versetzt: Hegemeister Michel
in Jesberg; die Förster W edle r in Burghaun, Zel-
ler in Forsthaus Theerhütte; Landesamtmaun Holz-
hausen am Landeskrankenhause zu Kassel; Amts-
vorsteher des Postamts Hünfeld P f l e g i n g.
Wieder angestellt: Medizinalrat a. W. Dr. Mal-
c u s unter Übertragung der Kreisarztstelle für die Kreise
Hofgeismar und Wolfhagen mit dem Amtssitz in Hof-
geismar.
Übertragen: Postinspektor Joseph Kirchner in
Fulda die Amtsvorsteherstelle des Postamts Hünfeld;
dem überzähligen Förster von B e e st e n, Kloster-
Oberförsterei Wennigsen, die Försterstelle Hauswurz,
Oberförsterei Neuhof; dem Hilfsförster Bohl, Ober-
försterei Wolfgang, die zweite Forstsekretärstelle dieser
Oberförsterei; dem Oberförster Boß in Johannisburg
die Oberförfterstelle Elnhausen; dem Förster Bogt in
Henglarn die Försterstelle Auhagen.
Verliehen: die Rettungsmedaille am Bande dem
Oberarzt Dr. Eduard 5) i n z e, Kassel.
Vermählt: Aug. Ad. Taupel und Frau, Anne-
marie, geb. Hokamp (Pto. Barrauqueritta, Südamerika,
2. 5.); Georg Weintraut und Frau, Carola, geb.
König (Marburg, 21. 6.); Dr. phil. Ludwig Herboth
und Frau, Hildegard, geb. Piepenburg (Dransfeld,
28. 6.); Architekt Karl L ü d e k e und Frau, Erui,
geb. Diehl (Kassel, 26. 6.); Regierungsrat Karl Becker
und Frau, Charlotte, geb. Behn (Hanau); Dr. Fritz
Jacobsohn und Frau, Anni, geb. Rosenfelder (Ber-
lin-Wilmersdorf, 28. 6.); Opernsänger Martin K r einer
und Frau, Marie, geb. Streit (Kassel, 2. 7.).
Geboren: ein Sohn: Lehrer E. Meister und
Frau, Berta, geb. Lorenz (Hersfeld, 17. 6.); Prof.
Dr. S ch u l z - S ch a e f f e r und Frau, Gerda, geb.
Heine (Marburg, 22. 6.); Herbert Ganslandt und
Frau, Ilse, geb. Faubel (Bielefeldt, 27. 6.); Dipl.-Ing.
Lothar Benndorfs und Frau, Inge (Berlin-W.); —
eine Tochter: Kinderarzt Dr. msck. Koch und Frau,
Emma, geb. Schneider (Fulda, 18. 6.); Zahnarzt Friedr.
Karl Eckhardt und Frau, Erna (Marburg, 19. 6.);
Ernst-August E g g e m a n n und Frau, Friede!, geb.
Berneburg (Neustadt-Hardt, 22. 6.); Rechtsanwalt Dr.
Becker und Frau, Irma, geb. Braun (Hersfeld).
Gestorben: Lehrer a. D. und Fabrikant Georg
Schade, 65 I. alt (Kassel, 14. 6.); Geh. Sanitätsrat
Dr. med. Hermann K i n d, 69 I. alt (Fulda, 14. 6.);
Lehrer August Koch (Nordeck, 16. 6.); Hauptmann a. D.
Kammerherr Fritz von Goldammer, 61 I. alt
(Schloß Plaüsdorf b. Amöneburg, 17. 6.); Geh. Justiz-
rat Prof. Dr. Friedrich A u d r e, 68 I. alt (Marburg);
Witwe des Sanitätsrats Mathilde Oswald, geb.
Schliffer, 73 I. alt (Marburg, 18. 6.); Frau Ottilie
L i n z e n, geb. Erbert (Fulda, 18. 6.); Landesober-
bauinspektor Wilhelm Steffens, 55 I. alt (Mar-
burg, 20. 6.); Fabrikant Moritz L i e b e r g, 76 I. alt
(Kassel, 20. 6.); Reichsbahnobersekretär Friedrich
R a a b e, 63 I. alt (Kassel, 20. 6.); Privatmann Hein-
rich B e t t e n h a u s e n, 72 I. alt (Kassel, 20. 6.);
Geh. Oberregierungs- und Schulrat a. D. Dr. Wilhelm
Q u e h l, 75 I. alt (Harleshausen, 20. 6.); Gesang-
lehrerin Emmy R e i n e ck e (Kassel, 20. 6.); Geheimrat
Paul I l l g u e r, 61 I. alt, früher in Hünfeld (Hagen);
Privatmann Heinrich Schulz, 76 I. alt (Kassel);
Kaufmann Karl Stephani, 72 I. alt (Kassel, 21. 6.);
Amtsgerichtsrat i. R. Otto Knochen haue r, 66 I.
alt (Kassel 21. 6.); Referendar Fritz Hu et er, 24 I.
alt (Kassel, 22. 6.); Ehefrau des Oberpostsekretürs
Agnes Wiegand, geb. Brill (Marburg, 22. 6.);
Ehefrau des Rechnungsrats Minna R u g e, geb. Augs-
burg, 70 I. alt (Kassel, 22. 6.); Gesangpädagoge
Adolf Dippel aus Fulda, 64 I. alt (Frankfurt a. M.);
Ehefrau des Geh. Studienrats Maria Hafner, geb.
Vial, 71 I. alt (Hersfeld, 24. 6.); Pfarrer i. R. Fried-
rich Cornelius (Wetter, 24. 6.); Witive des Hege-
meisters Elisabeth Stecher (Wehlheiden, 24. 6.); Fräu-
lein Marie Heller, 36 I. alt (Fulda, 25. 6.);
Reichsbahnobersekretär i. R. Karl F ö r st e r, 64 I. alt
(Kassel, 25. 6.); Fräulein Lina Kann, 32 I. alt
(Wolfhagen, 25. 6.); Fräulein Elise W a ch s, 88 I.
alt (Marburg, 27. 6.); Oberin des Landeskrankenhauses
iu Fulda Schwester Georgia F u n k e, 68 I. alt (Fulda,
28. -6.); Prokurist Georg Dup p, 49 I. alt (Kassel,
30. 6.); Stadtrat Dipl.-Ing. Karl B e n e m a n n, 52 I.
alt (Kassel, 30. 6.); Kommerzienrat Moritz W e r t h e i m,
71 I. alt (Kassel, 1. 7.); Regierungsinspektor Karl
R ü h l i n g (Kassel, 1. 7.); Witwe Margarethe Hoff-
man n, geb. Gallhöfer, 80 I. alt (Kassel, 4. 7.); Frau
Elise N i e d e r e h e, geb. Briet, 87 I. alt (Marburg,
4. 7.); Reichsgerichtsrat a. D. Dr. jur. Heinrich B e r n -
h a r di (Leipzig, 11. 7.).
Bezugsbedingungen für „Hessenland": Mitglieder der unter dem Jnnentitel aufgeführten Vereine bestellen
das „Hessenland" beim Berlag (Dr. K. Braun, Eschwege, Herrengasse 10) zum Vorzugspreis von R.-M. 1.75
vierteljährlich portofrei Nichtmitglieder bestellen bei ihrer Buchhandlung oder direkt beim Verlag, bzw. beim nächsten
Postzeitungsamt zu R -M. 2.— vierteljährlich. Preis für das Ausland 3 $
Verlag: Dr. Karl Braun, Eschwege, Hcrrengasse 10.
Postscheckkonto: Frankfurt a. M. 82145, Johs. Braun, Eschwege.
Schriftleiter- Paul Heidelbach, Kassel. Druck: Friedr. Scheel. Kassel. Alle Rechte vorbehalten.
Manuskripte sind zu senden an Paul Heidelbach, Kassel, Hohenzollernstraße 15.
Für unverlangte Einsendungen keine Verbindlichkeit. Rücksendung nur, wenn das Po st geld beiliegt.
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Illustrierte Mnatsblätter für Heimatforschung, Kunst und Literatur
Schriftleiter Paul Heidelbach, Kassel. Unter Mitwirkung von Bezirkskonservator Baurat Dr.H o ltmeyer, Kassel,-
Direktor der Landesbibliothek vr. Hopf, Kassel,- LyzeallehrerKe ller, Kassel,- Staatsarchivrat vr. Knetsch, Marburg,-
Oberbibliothekar Professor vr. Losch, Steglitz,- Schriftsteller Heinrich Nuppel, Homberg,- Professor vr. Schaefer,
Kommissar für Naturdenkmalpflege im Reg.-Bez. Kassel,- Geheimrat Universitätsprofessor vr. Schröder, Göttingen,-
Universitätsprofeffor vr. Schwantke, Marburg,- vr. Werner Sunkel, Marburg,- Professor vr. Bonderau, Fulda,-
Universitätsprofessor vr. W e d e k i n d, Marburg.
———^——— 3m Einverständnis mit den Vereinen: ———————————
Verein für hessische Geschichte und Landeskunde,- Hessischer Gebkrgsverein,- Knüllgebirgsverein,- Deutscher Sprachverein,
Zweig Kassel,- Verein für Naturkunde, Kassel,- Geologischer Verein, Marburg,- Biologische Vereinigung, Marburg,-
Gesellschaft für Familienkunde in Kurhessen und Waldeck,- Hessischer Volksschullehrerveretn.
" " Bezugspreis vierteljährlich 2.— Mark
39. Jahrgang Heft 8 Kassel, August 1927
Rinteln.
Zur Jahresversammlung des Hessischen Geschichtsvereins.
Mtt 4 Abbildungen, darunter 3 aus dem Hekmatbuch »Rinteln a. d. Weser" (Verlag L. Bösendahl jun., Rinteln).
Im Rahmen der geschichtlich und kulturhistorisch
denkwürdigen Ereignisse im Wesertal hat auch Rin-
teln eine große Rolle gespielt. Die im Jahre 1098
aus dem rechten Ufer vom Bischof von Minden
errichtete Renten-Erhebestelle bildete die ersten An-
fänge des Dorfes Alt-Rinteln (Rentene). Neben
der Überfahrt über die Weser befand sich eine 913
erbaute Kapelle, die Ringelklause. Auf der rechten
Weserseite war auch ein Zisterzienser Nonnen-
kloster, das um das Jahr 1230 von dem Grafen
von Schaumburg unter dem Namen St. Jakobs-
kloster auf das linke Weserufer verlegt wurde,
„weil unter den Bewohnern von Nen-Rinteln viele
tapfere Kriegslente waren". 1238 schenkte Graf
Adolf IV. dem Kloster elf Bauernhöfe, eine Mühle
und große Waldungen. Unter dem Schutze des
Klosters siedelten sich immer mehr Bewohner in
Nen-Rinteln an, das der Gras 1239 zur Stadt
erhob und später durch eine Mauer gegen feindliche
Angriffe schützen ließ. Unter seinem Vorgänger,
Adolf III., der mit dem Sachsenherzog .Heinrich
dem Löwen in hartnäckigen Kämpfen lag, hatten
die Bewohner von Alt- und Neu-Rinteln Schweres
erdulden müssen. Eine neue Leidenszeit brach mit
dem 30 jährigen Kriege an, fast jedes Jahr wurde
die Stadt von fremden Kriegsscharen heimgesucht.
Im Jahre 1623 wurde die Stadt von Christian von
Braunschweig erobert und lange Zeit besetzt ge-
halten. Einige Jahre später hausten Tillys beute-
gierige Soldaten wie die Unmenschen im Lande,
und auch in den folgenden Jahren wurden die
Bewohner des Wesertales von Freund und Feind
bis aufs Blut ausgesaugt und drangsaliert. Am
28. Juni 1633 errangen die verbündeten evange-
lischen Truppen bei Hess. Oldendorf einen vernich-
tenden Sieg über die Kaiserlichen. Die Bedrückun-
gen und Erpressungen dauerten bis zum Ende des
Krieges fort, und auch nach dem Friedensschluß
bedurfte es langer Zeit, die Wunden des Krieges
zu heilen.
Mit dem Jahre 1621 beginnt in der Geschichte
Rintelns eine neue Epoche, die seine spätere Glanz-
zeit als Universitäts- und F e st u n g s -
st a d t einleitete. Am 17. Juli 1621 gründete
Fürst Ernst die Universität Rinteln, an der in
der Folgezeit viele gelehrte Männer wirkten, unter
ihnen auch Josua Stegmann, der Dichter des Lie-
des „Ach bleib mit deiner Gnade". Auch die
Universität Rinteln hatte unter den Wirren des
30 jährigen Krieges viel zu leiden. „Sie hat nicht,"
sagt ihr Geschichtsschreiber Piderit, „wie mehrere
ihrer Schwestern, das Glück gehabt, die Morgen-
sonne der erwachten Freiheit zu begrüßen, daß
sie, erstarkt und kräftig geworden, dem Sturme des
17. Jahrhunderts entgegentreten konnte; ihr hat
vielmehr bei der ersten Bildung die Fackel des
verwüstenden deutschen Krieges schauerlich geleuch-
tet." Die junge Universität wurde bald schwer heim-
gesucht. Kollegiengebäude und Hörsäle wurden ver-
wüstet, Professoren und Studenten beraubt und
mißhandelt. Auf Grund des Restitutionsediktes er-
schienen Benediktiner Mönche in der Stadt und
mißbrauchten ihre Gewalt gegen die wenigen in
der Stadt verbliebenen Professoren in gröblichster
Weise, bis die Schlacht bei Hess. Oldendorf Rinteln
und die Universität von ihren Peinigern befreite.
185
Blick auf Rinteln.
Aber erst am 17. Juli 1641 konnte die „Ernestina"
unter Anstellung von 13 Professoren wieder er-
öffnet werden. Dunkel lagerte auf dem damaligen
Geistesleben der Universität der Hexenwahn, die
juristischen Professoren Rintelns gelangten als
Hexenrichter zu trauriger Berühmtheit. Nachdem
aber diese Geistesseuche überwunden war, wurde die
Universität die Zierde Rintelns.
Ein Jahr vor der Wiedereröffnung der Universi-
tät, 1640, war Otto V., der letzte Gras aus dem
alten Schaumburger Geschlecht, gestorben. Es kam
zur Teilung der Grafschaft Schaumburg. Im West-
fälischen Frieden wurde der Anfall der heutigen
Grafschaft Schaumburg an den Landgrafen von
Hessen bestätigt. Rinteln wurde Hauptstadt, er-
hielt eine ständige Garnison und wurde in den
Jahren 1665 bis 1668 durch die Landgräfin Hed-
lvig Sophie zu einer Festung mit starkem Wall
und Gräben ausgebaut. Als Universitäts- . und
Festungsstadt und Sitz zahlreicher Behörden erhielt
Rinteln ein für eine Kleinstadt eigenartiges geistiges
und gesellschaftliches Gepräge, von dem noch heute
aus dem alten reformierten Friedhof viele alte
Grabsteine mit hochtönenden Namen Kunde geben.
Der Siebenjährige Krieg brachte noch einmal
feindliche Truppen in die Stadt, im übrigen hat
Rinteln als Festung keine besondere Bedeutung
mehr erlangt. 1806 wurde es ohne Gegenwehr von
den Franzosen besetzt. Im folgenden Jahre wurden
die Festungswerke geschleift und die Wälle in Gär-
ten und Anlagen verwandelt. Die Fremdherv-
schaft brachte am 10. Dezember 1809 unter dem
Regiment des „Königs Lustik" auch die Aufhe-
bung der Universität durch Napoleon. An ihrer
Stelle errichtete Kurfürst Wilhelm I. von Hessen
am 31. Oktober 1817 das noch heute bestehende
Gymnasium, das zunächst in dem alten Universitäts-
gebäude, denr ehemaligen Jakobskloster, untergebracht
ivurde. Im Jahre 1875 wurde das alte Jakobs-
kloster niedergelegt und für das Gymnasium ein
Neubau errichtet. Die Reformierte Kirche und die
Heimatmuseum mit luth. Kirche.
Kreuzgasse.
186
Das alte Unlversitätsgebäude, kurz vor dem Abbruch 1876.
Aus: A. Kcyffer, Die Iugendtage eines Kleinstädters (Verlag L. Bösendahl Zun., Rinteln).
„Eulenburg", heute Alumnat des Gymnasiums,
sowie der Blumenwall, der ehemalige botanische
Garten der Universität, sind als alleinige Zeugen
der Universitätszeit Rintelns übriggeblieben. Her-
vorragende Lehrer erivarben auch dem Gymnasium
in der wissenschaftlichen Welt bald einen hohen
Ruf. Männer, deren Namen später einen guten
Vor 120 Zähren.
Klang hatten, empfingen air ihm ihre erste Unter-
weisung in den Wissenschaften. Neben dem Dichter
Franz Dingelstedt traten am meisten hervor der
Tier- und Landschaftsmaler Christian Kröner, der
Dichter und Schriftsteller Julius Rodenberg, der
Politiker Friedrich Oetker und der Sprachforscher
und kaiserlich-russische Hofrat I)r. Georg Böhling.
Reinhold Börner.
Die französische Besetzung der hessischen Grafschaft Schaumburg. Bon Dr. Philipp Losch.
Seit dem preußischen Reichsverrat von 1795
genoß Norddeutschland die Segnungen des sog.
Baseler Friedens. Aber es war nur die Ruhe vor
dem Sturm, der sich zuerst ankündigte, als Mortier
-das Kurfürstentum Hannover besetzte. Um sein
Gebiet vor einem gleichen Schicksal zu bewahren,
verfiel der Kurfürst von Hessen ans ein eigenartiges
Mittel, worüber der Sohn des Amtmanns Merkel
von Freudenberg (das damals zu Kurhessen gehörte)
folgendes erzählt: „Mein Vater feierte seinen
größten Triumph, als er eines schönen Morgens
die sämtlichen Zugänge des weitläufigen Amtes
mit Grenzpfählen umgürten ließ, auf denen man
in glänzenden Farben den hessischen Löwen er-
blickte mir der Unterschrift: Llsetorut äs Hesse,
pays neutre! Es fand dies große Ereignis statt,
als die französischen Legionen es sich schon mehrere
Tage in unserer hannöverschen Nachbarschaft hatten
recht wohl sein lassen. Noch höre ich deutlich die
Worte, die er, als er von der Grenzbegehnng
zurückkam, lächelnd an meine Mutter richtete, so-
bald er vom Pferde gestiegen war: „Jetzt sollen
die Herren Franzosen die Nase wohl von uns lassen.
Habe keine Furcht mehr, meine Liebe, erst jetzt
soll es heißen: Respekt vor dem Kurfürsten!"
Dem großen Korsen fehlte aber dieser Respekt,
und trotz der warnenden Grenzpfähle und trotz
der (freilich nicht ganz einwandfreien) hessischen
Neutralität standen die Truppen Mortiers und
des Königs von Holland am 31. Oktober 1806
vor den Toren von Kassel, und der Kurfürst mußte
Hals über Kopf flüchten, um nicht gefangen zu werden)
187
Die Okkupation des eigentlichen Hessenlandes
ist oft erzählt worden; weniger weiß man bisher
von der Besetzung der entlegenen Landesteile, von
denen die der Grafschaft Schaumburg ein besonderes
Interesse beanspruchen darf.
Die Nachricht von dem Überfall Kurhessens kam
in die Grafschaft Schaumburg merkwürdigerweise
durch den Kurfürsten selbst, der auf seiner Flucht
nach Holstein am 3. November 1806 durch Nenn-
dorf fuhr, >vo er für die Zeit seiner Abwesenheit
eine Regentschaft einsetzte. Noch hatte kein Feind
den Boden der Grafschaft betreten. Aber ain 4. No-
vember verbreitete sich das Gerücht vom Heran-
nahen eines französisch-holländischen Korps, woraus
die Rinteler Regierung beschloß, eine Deputation
abzuordnen, um ähnlich wie im Siebenjährigen
Kriege mit dem Feinde zu verhandeln. Am 6. er-
schien ein angeblicher Sekretär des Königs Louis
von Holland Namens Defere in Rinteln, der
aber noch am selben Tage von einer preußischen
Husarenpatrouille aufgehoben und nach Hameln
gebracht wurde. Diese Festung war von einem
preußischen Korps von 9—10 000 Mann unter
dem General Lecoq besetzt. Von Berlin aus schrieb
Napoleon am selben Tage an seinen Bruder
Louis von Holland: die Festung Rinteln
scheine ihm sehr geeignet, um Hameln zu obser-
vieren; deshalb solle Louis Rinteln sofort besetzen
und gut armieren. Er erbat sich einen Plan der
lFestung, den er 10 Tage später dem General
Chasseloup zur Begutachtung sandte. Über ihre
Lage war er sich selbst nicht ganz klar, er schrieb
aber: si cette place est dans l’enclave de Hesse-
Cassel et si eile me rend maitre du Weser, je
serais assez dispose ä la garder et ä räser Nien-
burg et Hameln.
Am 7. November 1806 rückten die ersten Feinde,
13 holländische Dragoner unter dem Leutnant Ca-
sar q u e, in Rinteln ein. Ihnen folgte am näch-
sten Tage der holländische General D a e n d e l s
mit 1500 Mann. Die Besetzung war rein mili-
tärisch. Der Feind erließ keine Proklamation, aber
der Magistrat erhielt Zwangseinquartierung, um
die Proviantierung der Truppen durchzusetzen, die
zur Blockade von Hameln bestimmt waren.
Infolge der Operationen gegen Hameln hatte
namentlich die Nachbarschaft dieser Festung, der
südöstliche Teil der Grafschaft Schaumburg, zu lei-
den. Die Äbtissin von Münchhausen mußte
mit ihren Stiftsdamen ans Fischbeck nach Rinteln
flüchten. Die Waldungen des Zerser Holzes wurden
fast völlig ruiniert, während die sonstigen Forsten
wenig litten. In Oldendorf befand sich das Haupt-
quartier des holländischen Generals Dumon-
c e a ii, das des Königs Louis war in Aerzen.
Es hieß aber, der König wolle sein Hauptquartier
nach Rinteln verlegen; deshalb mußte der General
Daendels das dortige herrschaftliche Haus be-
sichtigen und den Befehl geben, es auszumöblieren.
Ta kam auf einmal am 12. November die Nachricht,
daß der König die Armee verlassen habe und nach
188
Holland abgereist sei. Zugleich verließ auch der
General D a e n d e l s Rinteln, wo am 13. der
französische General Laroche als Gouverneur ein-
zog. Zum Festungskommandanten wurde ein Oberst
d e M e l l e t ernannt. Die nächsten Tage brachten den
Durchmarsch der französischen Division Michaud
mit Einquartierung in Rodenberg und Umgegend.
Tie Franzosen zogen aber nach Hannover weiter
und überließen die Blockade von Hameln den Hol-
ländern, deren Oberkommando der französische Gene-
ral S a v a r y übernahm. Schon am 20. No-
vember übergab sich diese Festung mit dem ganzen
preußischen Korps L e c o q 1 in einer schmachvollen
Kapitulation, die Napoleon im 34. und 35. Bulletin
von Berlin aus der Welt kundgab.
Tie Kapitulation von Hameln schuf der Graf-
schaft Schaumburg eine bedeutende Erleichterung.
Laroche und de Mellet verließen nun auch
Rinteln am 26. November und ließen nur einen
holländischen Genie-Leutnant E s p e n b e ck als Kom-
mandanten mit ein paar Mann zurück.
Aber die Tage der Festung Rinteln waren ge-
zählt. Napoleon hatte sich von ihrer Wertlosigkeit
überzeugt; er gab den Befehl, die Armierung,s--
arbeiten einzustellen und die Wälle zu demolieren.
Aus dem Lippischen, Preußischen und Bückebur-
gischen wurden Arbeiter requiriert, die vier Monate
brauchten, um den Hauptwall bis zwei Fuß über
den höchsten Wasserstand der Weser zu schleifen.
Ein französischer Artillerieleutnant D e r r i o n
löste den Holländer Espenbeck ab und übernahm es,
das Zeughaus zu evakuieren, dessen Bestände vom
20. Dezember 1806 bis 16. Januar 1807 zu Schiff
und Wagen nach Hameln und Wesel transportiert
wurden. Dann hörte die militärische Besetzung von
Rinteln überhaupt aus, und man sah fremde Soldaten
nur bei den häufigen Durchmärschen, wobei haupt-
sächlich die Stadt Oldendorf und die Ämter Roden-
berg und Freudenberg mitgenommen wurden.
Inzwischen war neben der militärischen auch die
politische Besetzung durchgeführt worden. Die Fran-
zosen errichteten in Minden ein Generalgouverne-
ment für die Fürstentümer Minden, Paderborn,
Corvey und die Grafschaft Ravensberg, an dessen
Spitze der Divisionsgeneral Gobert trat. Diesem
Generalgouvernement wurde am 1. Dezember 1806
auch die Grafschaft Schaumburg angegliedert und
dabei die hessischen Regierungsbeamten zu Rinteln
der preußischen Kriegs- und Domänenkammer zu
Minden untergeordnet. Mit den französischen Be-
amten (außer dem General Gobert kam haupt-
sächlich der Intendant Sicard in Frage) stan-
den sich die Hessen ganz gut; die „Anmaßungen"
der Preußen aber führten zu vielfachen Differenzen,
da die Herren in Minden den Hessen einen möglichst
großen Teil der Besatzungs- und Verwaltungs-
kosten auferlegen wollten.
* Zu seinen Offizieren gehörte der Dichter A d e l b.
v. Ch amiss o, der seinen Grimm über die Schande
von Hameln in einem langen Brief an seinen Freund
Barnhagen v. Ense ansschüttete.
Die Rinteler Verpflegungskommission hatte die
Koster: der Besetzung vom November 1806 bis April
1807 auf 96 273 Taler 34 Groschen 3 Heller be-
rechnet, aber diese den Franzosen angegebene Summe
war absichtlich zu hoch gegriffen, um sie bei der
geforderten Kriegskontribution in Gegenrechnung
bringen zu können. In einem Bericht an den
Kurftirsten wurde der wirkliche Schaden der Graf-
schaft auf nur 54 453 Taler berechnet. Nament-
lich bei den Demolitionskosten hatte man über-
trieben und 33 521 Taler statt 1413 Taler ein-
gesetzt. Diese starke Übertreibung in den offiziellen
Schadensberechnungen hatte denn auch zur Folge,
das; die Franzosen in Betreff der von dein Inten-
danten Sicard geforderten Kriegskontribution von
333 000 Talern mit sich reden ließen. Es war dies
der auf die Grafschaft Schaumburg entfallende An-
teil der Gesamtkontribution von 6 Millionen, die
Napoleon Kurhessen auferlegt hatte. Obwohl nun
die Franzosen in den öffentlichen Kassen der Graf-
schaft nicht viel Geld gefunden hatten — nur in
der von de Mellet beschlagnahmten Universitäts-
rentereikasse war eine mäßige Summe gewesen —
so war doch angesichts der Klagen der schaum-
burgischen Regierung von einer Beitreibung der
geforderten Kontribution „vor der Hand nicht wei-
ter die Rede".
Übrigens war auch ohnedies und abgesehen von
den erwähnten Übertreibungen der durch die Okku-
pation erfolgte uraterielle Schaden recht erheblich,
und die Regierung in Rinteln sah sich genötigt, zwei
Fräuleinsteuern 2 zu 7177 Talern 12 Groschen und
eine zehnmonatige Extrakontribution von den Äm-
tern zu erheben. Die schäum burgischen Stünde be-
willigten eine Kriegssteuer von 20 000 Talern und
eine Anleihe von 4700 Talern.
In der Verwaltung hatte die Besetzung im all-
gemeinen keine großen Veränderungen zur Folge.
Alle Kassen wurden zu einer Generalkasse vereinigt,
die der Regimentsquartiermeister H a s s e n k a m p
vom Regiment v. Biesenrodt verwaltete. Die Lei-
tung der Regierung in Rinteln besorgte der Ober-
kammerrat Wilh. Schwarzenberg, dem der
Forstmeister v. Apell und der Advocatus fisci
Schräder zur Seite standen. Zur Vertretung
der schaumburgischen Interessen wurde als Re-
gierungsmitglied der Professor C h r i st i a n Wie-
de r h o l d s nach Minden abgeordnet, der sich seiner
Aufgabe mit Geschick entledigte, wobei „sein eifriges
Bestreben nur dahin gerichtet war, die bestehende
Landesverfassung und allenthalben eingeführte gute
Ordnung zu erhalten" (Bericht Schwarzenbergs an
den Kurfürsten). Die preußischen Beamten zeigten
nämlich durchaus nicht „die Humanität gegen die
hiesige Regierung und das Land, die man billig er-
warten sollte", sondern suchten möglichst Einfluß
- Ursprünglich nur eine Abgabe zur Aussteuer einer
zu verheiratenden hessischen Prinzessin, wurde diese Be-
zeichnung auch auf alle extraordinären Steuern über-
tragen.
b Der spätere kurhessische Justizminister (h 1832).
auf die hessische Verwaltung zu gewinnen und ihre
Lasten auf hessische Kosten zu erleichtern. So wur-
den die Salzwerke des Amtes Rodenberg „der hie-
sigen Administration entrissen" und der Spezial-
direktion des preußischen Kammerpräsidenten v.
Hövel übertragen. Ein preußischer Salzwerkbe-
dienter aus Berlin besichtigte die Salinen und ent-
warf einen neuen „Beitreibungsplan", der aber
nicht zur Ausführung gelangte. Mit den Bergwerken
wurde preußischerseits eine gleiche Einmischung ver-
sucht; „allein mit Hilfe der gräfl. lippischen Diener-
schaft, denen sehr daran gelegen war, die alte Ver-
fassung beizubehalten, wurde dieses hintertrieben,,
so daß das gesamte Bergwerk in völliger Activitüt
und nicht das Geringste geändert worden ist".
Ganz besonders gefährdet war das Bad Nenn-
dorf, die junge Schöpfung des vertriebenen Kur-
fürsten. Schon in den ersten Tagen der Okkupation
kamen mehrere holländische Militärärzte nach Rin-
teln und verlangten die Einrichtung eines Lazaretts
für 300—400 Mann, wozu Nenndorf das Ameu-
blement hergeben sollte. Trotz aller Gegenvor-
stellungen und Bitten mußte der Befehl gegeben
werden, das entsprechende Mobiliar nach Rinteln
zu schaffen. Am selben Tage, da diese Sachen auf
vielen Wagen verpackt ankamen, gelang es dem
Professor W i e d e r h o l d, der in dem General
Daendels einen ehemaligen juristischen Kollegen
entdeckt^ und sein Vertrauen gewonnen hatte, die-
sen zu überzeugen, daß die geplante Maßregel un-
fehlbar den völligen Ruin des Bades bedeuten
würde; denn kein Kurgast werde die in einem
Lazarett verseuchten Betten wieder benutzen wollen.
In: allerletzten Augenblick erhielt der Oberkammer-
rat Schwarzenberg von dem holländischen
General die erbetene Gegenordre. „Es war schon
Abends 8 Uhr" berichtete er später an den Kur-
fürsten, „ich eilte selbst an die Weser, wo jenseits
schon mehrere Wagen angekommen waren, ließ
keinen übersetzen und schickte sogleich mehrere Boten
aus, um den Rücktransport zu bewürken. Es war
ein finsterer mit anhaltendem Regen begleiteter
Tag und kein Ort vorhanden, die verpackten Wagen
unterzubringen. Tie Dienstwagen mußten daher die
Nacht durchfahren. Hier haben dann in eben dieser
Nacht aus der Chaussee über 100 fremde Wagen
mit Fourage und andern Erfordernissen für die
Armee gehalten, und deren Begleiter, besonders
Fremde, haben wahrscheinlich unter Begünstigung
der schlechten Witterung und der Finsterniß 5 Ma-
tratzen, 3 Unterbetten, 15 Pfühle, 23 Kissen, 20
cattunene und 63 wollene Decken entwandt, ein
nicht unbeträchtlicher Verlust für das Bad." Trotz
aller polizeilichen Recherchen und Haussuchungen
kam von den gestohlenen Sachen nichts wieder zum
Vorschein als nach mehreren Wochen ein einziges
Kissen, das der Dieb — wohl aus Furcht vor Ent-
deckung — in der Nacht heimlich vor das Badehaus
gelegt hatte.
4 Daendels war vor dem Antritt seiner politisch-
militärischen Laufbahn Advokat gewesen.
189
Eine neue drohende Gefahr für Nenndorf brachte
der schon oben erwähnte Durchmarsch des Mi-
ch au d'scheu Armeekorps. Dabei wurde ziemlich'
viel geplündert und marodiert, wobei besonders!
die Bewohner von Großen- und Klein-Nenndosrf
Schaden litten. Im Bad selbst wurde beim Apo-
theker Wolf geplündert und der Garküchenpächter
Kramer von Marodeuren grausam mißhandelt.
Die herrschaftlichen Gebäude blieben dadurch ver-
schont, daß der General Michand selbst im alten
Logierhaus bei der Aufseherin Heinrichs Quar-
tier nahm. Ihm folgte ein hoher holländischer
Offizier, auf dessen Rat die Aufseherin nach seiner
Abreise alle Türen befestigte und Schaltern vor-
legte, worauf die Marodeure die anscheinend un-
bewohnten Gebäulichkeiten verschonten.
Später machten noch einmal die Franzosen und
schließlich auch die Preußen den Versuch, sich das
Nenndorfer Mobiliar anzueignen. Die besten Stücke
sollten nach Minden gebracht werden, um das
dortige Gouvernementsgebäude auszumöblieren.
Dem geschickten Auftreten Wiederholds gelang es,
beide Projekte zu vereiteln.
Im April 1807 kam der französische Gouverneur
General G o be r t für drei Tage nach Nenndorf,
um das Bad zu besichtigen. Das Resultat dieses
Besuches war, daß das ganze Inventar neu aus-
5 Brigitte H. (f 1809) aus Rotenburg war die Gehilfin
und Nachfolgerin der Nenndorfer Burggräfin Schumann.
In ihrer Jugend war sie die Geliebte des später durch
seine Tätigkeit bei der Rettung des kurfürstl. Schatzes be-
kannten Kapitäns M e n s i n g. Ihr von dem Vater legi-
timierter Sohn Joh. Gottlieb Will). Mensing (1792
bis 1864) lebte später als Mathematiker und Gymnasial-
prosessor in Halle und Erfurt.
genommen und der Aufseherin Heinrich wieder
übergebeil wurde. Seit dieser Zeit genoß das Bad
beit besonderen Schutz der französischen Verwaltung.
Ant 9. Juni erließ Gobert ein Dekret, wodurch
Nenndorf lind Umgebung eine besondere Schutz-
garde all Gendarmen erhielt, die dafür zu sorgen
hatte, daß keinerlei militärische Truppen dort durch-
zogen oder gar requirierten. Ohne besondere Er-
laubnis des Gouverneurs durfte auch kein Soldat
irgendwelchen Grades das Bad besuchen. Der Gene-
ral versprach, im Sommer als Badegast wieder zu
kommen und veranlaßte, daß die Intendantur zum
Nenndorfer Gartenbetrieb 200 Taler, zu den not-
wendigen Bau- und Reparationskosten 2086 Taler
34 Groschen und für eine Einrichtung bei der neuen
Traiteurwirtschaft 184 Taler bewilligte und den
beiden neuen Traiteurs erlaubte, ihre Pacht erst
nach der Badezeit ihrem Verdienst entsprechend zu
entrichten. Mit Hilfe dieser reichen Zuwendungen
gelang es den Kurbetrieb wieder aufzunehmen,
was durch Inserate in den Jntelligenzblättern
und dem Reichsanzeiger der Welt bekanntgegeben
wurde. Es 'kamen auch einige Kurgäste, deren be-
scheidene Liste (28 Personen)6 man dem Kurfürsten
nach Holstein schickte.
Es war der letzte offizielle Bericht, den der
vertriebene Fürst ans der Grafschaft erhielt. Bald
darauf wurde das Ländchen mit dem neugegründeten
Königreich Westfalen vereinigt, womit die französische
Besetzung ihr Ende fand.
6 Darunter waren ein paar Studenten aus Liv-
land, eine Gräfin Schmettau aus Holstein, Kammer-
junker v. Löwensküldt aus Dänemark, ein Herr v. Boorst
aus Kassel, Major v. Klenke aus dem Hannöverschen,
mehrere Personen aus Bremen, Altona, Braunschweig
und Lüneburg sowie Frau Schaft aus Berlin.
Die Vier-hundertjahrfeier der chchilipps-IAniverfität
Strahlende Sommersonne lag über der mit Tan-
nengewinden und unzähligen Fahnen über und über
geschmückten Bergstadt an der Lahn. Und durch
die Gassen und Gäßchen wogte eine freudig be-
ivegte Menge, junge und ehemalige Studenten und
immer neue Scharen von Fremden aus Nah und
Fern.
Doch ehe die Fanfaren der Festesfrende schmet-
terten, galt es, in stiller Stunde der 587 Gefal-
lenen der Marburger Hochschule zu gedenken. In
unmittelbarer Nähe der Universität wurde das von
Bildhauer Lammert-Essen geschaffene Gefallenen-
Denkmal enthüllt.
Den Auftakt des ersten Festtages bildeten dantt
turnerische und sportliche Beranstaltungeir der Stu-
dentenschaft im Stadion. Es folgte der Begrüßungs-
abend in der Riesenfesthalle auf dem Kämpfrasen.
Gleichzeitig bewegte sich durch die von den Ufern
der Lahn bis hinauf zum Schloß unsagbar schön
illuminierte Stadt der Fackelzug von über 2000
Studenten, unter deneir sich auch viele ältere Se-
mester befanden. Festgottesdienste der drei Kon-
fessionen leiteten den zweiten Tag ein, in desseir
Mittelpunkt der Festakt in der Festhalle stand. In
feierlichem Zug betraten der Lehrkörper der Uni-
versität im Ornat sowie die Chargierten der studen-
tischen Korporationen das Zelt, in dem sich in-
zwischen die Vertreter der übrigen deutschen und
vieler ausländischer Hochschulen und der staatlichen
und kommunalen Behörden eingesunden hatten. Der
Begrüßung durch den Rektor Geheimrat Prof. vr.
Busch folgen nach den Ansprachen des preußischen
Kultusministers Dr. Becker und des Reichsjustiz-
ministers Dr. Hergt noch zahlreiche Glückwünsche,
so daß sich der von Darbietungen des Kasseler
Staatsorchesters umrahmte Festakt bis gegen 3 Uhr
hinzieht. Der Nachmittag brachte die feierliche Über-
gabe und Besichtigung des Kunstinstituts, die Ein-
weihung der Kinder- und der Ohrenklinik am Fir-
maneiplatz und die studentische Feier in der Uni-
versitätskirche, bei der Privatdozent Dr. jur. Gerber
über die Idee der Universität als wissenschaftlicher
190
Gemeinde sprach, und schließlich in den Stadtsälen
die Faustrezitation des greisen Ludwig Wüllner.
Am Abend fanden sich die geladenen Gäste zum
Festessen ein, während in den Stadtsälen das Kas-
seler Staatsorchester ein erlesenes Symphoniekon-
zert (Bach, Brahms, Bruckner) darbot. Im zweiten
Festaktus am Sonntag hielt Professor Dr. Otto
die Festrede über „Sinn und Aufgabe moderner
Universitäten". Sodann wurden durch den Rektor
die neu ernannten Ehrensenatoren, durch die De-
kane die Ehrenpromotionen verkündet, die wir an
anderer Stelle mitteilen. Der Nachmittag brachte
einen fast beängstigenden Menschenstrom nach Mar-
burg. Er galt vor allem deni historischen Festzug,
der als Einzug Landgraf Philipps in seine neue
Universität gedacht war und, zumal in dem Idyll
der mittelalterlichen Gassen Marburgs, außerordent-
lich eindrucksvoll wirkte. Daß in ihm auch die
Träger der Marburger, Schwälmer und Hinter-
länder Tracht gut zur Geltung kamen, soll noch
besonders betont werden. Das sich nun aus dem
Schloßberg entwickelnde Volksfest brachte vorüber-
gehend zuiu ersten Male ein Versagen der sonst
geradezu glänzenden Organisation; es gab erheb-
liche Stockungen beim Aufstieg. Dann aber ent-
wickelte sich ein buntbewegtes Leben im Schloßpark
und in Bückings Garten mit Trachten- und Schwert-
tänzen, Männerchören, Hans-Sachsspielen, Spinn-
stuben, Puppenspielen bis in die späten Abend-
stunden, die eine feenhafte Beleuchtung des Schlosses
und der Elisabethkirche brachten. Die letzte offizielle
Veranstaltung bildete ein Festkommers der Stu-
dentenschaft. Der gemeinsame Abschiedstrunk der
Universität und Bürgerschaft ain vierten Tag auf
dem Schloßberg hatte schon mehr privaten Charakter,
brachte aber noch einmal zum Ausdruck, was in all
diesen festlichen Tagen sich so wohltuend geltend ge-
macht hatte, die enge Verbundenheit von Bürgertum
und Universität. Auch sonst wird der Eindruck, den
dieses Fest einer vierhundertjährigen Hochschule in-
mitten eines deutschen Kleinstadtidylls hinterließ,
den meisten, die es miterleben durften, ein unaus-
löschlicher bleiben. H.
Heimatmuseum Witzenhausen
Der Wunsch nach einem Heimatmuseum, den die
700-Jahrfeier unserer Stadt auslöste, ist nunmehr seiner
Verwirklichung um einen guten Schritt näher gerückt.
Mit der Einrichtung des Museums wurde Mittelschul-
lehrer Pfalzgras beauftragt. Um das Interesse der Bür-
gerschaft zu prüfen, fand vom 6.—11. April im Sitzungs-
saale des Rathauses eine Ausstellung des Heimatmuseums
statt. Vorläufig konnten nur naturgeschichtliche Gegen-
stände gezeigt werden. Der Museumsleiter sowie einige
andere naturwissenschaftlich geschulte Herrn hatten alles,
was sich in der Stadt und deren Nachbarschaft in
Privatbesitz befand, mit unendlicher Mühe zusammen-
getragen und übersichtlich und geschmackvoll geordnet,
aber sie wurden reich belohnt durch die wider alles
Erwarten hohe Menge der Besucher (ihre Zahl mag
sich Tausend genähert haben), vor allem aber durch
die gespannte Aufmerksamkeit, womit diese den belehren-
den Erläuterungen der führenden Herrn folgten. An-
erkennung verdient auch die lobenswerte Bereitwillig-
keit der Bürgerschaft, ihre teilweise einzigartigen Samm-
lungen zur Verfügung zu stellen. Das Ganze wurde
unter verschiedenen Gesichtspunkten dargeboten: man
wollte einerseits die ungeheure Mannigfaltigkeit uni)
den großen Artenreichtum der Pflanzen- und Tierwelt
unseres herrlichen Werragaues zeigen, andererseits auch
hauptsächlich die Besonderheiten und Seltenheiten, die
man sonst kaum oder überhaupt nicht findet, vorführen
und damit Liebe zur Heimat wachrufen, aber auch
Ehrfurcht vor denjenigen Naturdenkmälern, die bereits
gesetzlichen Schutz genießen oder dessen dringend be-
dürftig sind.
Die geologische Sammlung tvar zwar klein,
enthielt jedoch manche sehr schöne Versteinerungen aus
dem Zechstein und dem Muschelkalk sowie einige hübsche
Stücke aus dem Urgestein.
Am umfangreichsten waren die b o t a n i s ch e n
Schätze, samt und sonders durch Herrn Pfalzgras ge-
sammelt. Sehr lehrreich waren die Moose, deren For-
men-, Farben- und Artenreichtum dem Beschauer Be-
wunderung einflößte. Daran schlossen sich die Farne
unserer Heimat. Recht vollständig tvar die Sammlung
der Gräser, der Enziane, der subborealen, subalpinen
und Steppenpflanzen. Auf diese sei besonders hinge-
wiesen, denn die Steppenflora, die bezüglich der mensch-
lichen Ansiedlungen wissenschaftlich hochbedeutsam ist,
Mehr als tausendjährige Eibe auf dem Badenstein bei
Witzenhausen. pho<. pfalzgraf.
191
ist hier durchaus nicht so arm, wie mitunter behauptet
wird, im Gegenteil, sehr artenreich, wie die Aus-
stellung dartat. Eifrig betrachtet wurden die Gruppen
Arzneipflanzen und Gallenbildungen. Aus den geschütz-
ten Pflanzen seien hervorgehoben: Eibe, Frauenschuh,
Bärlapp, Sumpfwurz, Türkenbund, Seidelbast usw.,
aus den schutzbcdürstigen: Wetterdistel, Trollblume,
Akelei, Gelbe Flockenblume, Waldauemone, Gelber Fin-
gerhut, Waldvöglein, Sonnentau u. a. Die Eibe kommt
übrigens hier in zwei auffallend verschiedenen Formen
vor, nämlich in der mit magern Nadeln aus dem
Zechstein und in der mit schönen, ansehnlichen Nadeln
aus Muschelkalkboden. Einen mehr als tausendjährigen
Vertreter der letzteren Form vom Badenstein bei Witzen-
hausen zeigt das Lichtbild.
Und jetzt zu den Tieren! Die Raubtiere waren
vertreten außer durch eine echte Wildkatze aus dem
Sandwalde durch die Familie der Marder, nämlich
Steinmarder, darunter ein sehr schöner Albino, Iltis,
Hermelin, Mauswiesel und Dachs. Die beiden Schlaf-
mäuse, Siebenschläfer und Haselmaus, die als Natur-
denkmäler unter gesetzlichem Schutze stehen, und das
Eichhörnchen (rote, schwarze und Übergangsform) stell-
ten die Nagetiere dar. Ferner sahen wir das Wild-
schwein (Keiler, Frischling), ein Rehkitz und einen Jung-
hasen. Sehr interessant waren die Vögel. Fast voll-
ständig war die Sammlung der Eulen: Uhu, Waldkauz,
Waldohreule, Steinkauz und Schleiereule, mannigfaltig
die Raubvögel: Fischadler, Gabelweih, Mäusebussard,
Habicht, Sperber, Wunder-, Baum- und Turmfalk.
Großes Interesse erweckten der oft gehörte, jedoch selten
gesehene Kuckuck, die Spechte (Schwarz-, Grün-, Grau-
und mittlerer Buntspecht), Tannen- und Eichelhäher,
Elster- und Nebelkrähe, ferner der Kirschkernbeißer, der
nordische Seidenschwanz sowie auch ein merkwürdiger,
schneeweißer Haussperling. Weiter sahen wir Auer-
hahn nebst Henne, ausgezeichnet präpariert, Birkhahn
und Rebhuhn, von Sumpf- und Wassergeflügel: Schnepfe,
Bekassine, Regenpfeifer, Wiesenknarrer, Kiebitz, • Grün-
fußteichhuhn, Bläßhuhn, Zwerg- und Haubentaucher oder
-steißfuß, Lachmöve, Stockente, Grau- oder Wildgans
und die beiden Nordländer Trauerente und Ringelgans.
Nicht unerwähnt dürfen bleiben des Kuckucks Küster,
der Wiedehopf, das Juwel unserer Gewässer, der leider
arg verfolgte Eisvogel, der ebenso gehaßte Wasser-
schmätzer, der exotisch anmutende Pirol und der unter
Schutz stehende Raubwürger. Vollzählig war die Samm-
lung sämtlicher hiesigen Drosseln. Die kleinen Sing-
vögel alle namhaft zu machen, würde zu weit führen.
Den Schluß bildeten eine Käfersammlung und mehrere,
teilweise sehr hübsche Schmctterlingssammlungen.
Viele der ausgestellten Dinge sind dem Heimat-
museum in dankenswerter Weise zum Geschenk gemacht
worden. Weitere Zuwendungen, vor allem kulturge-
schichtlicher Art, vorgeschichtliche Funde, Erzeugnisse
heimischer Kunst und Industrie, alte Werkzeuge, Haus-
rat und sonstige Altertümer sind herzlich willkommen;
unter Umständen ist auch käuflicher Erwerb möglich
(Anschrift: Heimatmuseum Witzenhausen.) Die Samm-
lung ist einstweilen in einem Zimmer des Rathauses
untergebracht tvorden, denn die Raumfrage ist zur Zeit
außerordentlich schwer zu lösen. Z. L.
Zweiter deutscher Naturschuhlag in Kassel. (i.~6. August.)
Angesichts der bedauerlichen Tatsache, daß in
den letzten Jahrzehnten die deutsche Fauna und
Flora dank dem glatten Nützlichkeitsstandpunkt und
dem mit der Natur getriebenen Raubbau in be-
denklichem Maße int Schwinden begriffen ist, muß
es dankbar begrüßt werden, daß der Naturschutzge-
danke seit dem Jahre 1906 von staatlicher Seite
aus eine planmäßige Förderung findet und damit
nicht nur der wissenschaftlichen Forschung, sondern
auch der Gesunderhaltung unseres Volkes gedient
wird. Die vorbildliche Pflege, die die Naturdenk-
malpflege, dank der selbstlosen Arbeit des Kommissars
für Naturschutz, Professor Dr. Bernhard Scharfer,
gerade in unsrem Regierungsbezirk findet, war
wohl mitbestimmend dafür, daß der diesjährige!
deutsche Naturschutztag nach Kassel einberufen wurde.
Ter starke Besuch aus allen Teilen Deutschlands
zeugte von dem Interesse, das sich diesen wichtigen
Bestrebungen in wachsendem Maße zuwendet.
Am Begrüßungsabend, an dem besonders auch
die staatlichen und städtischen Behörden ihre rege
Anteilnahme zum Ausdruck brachten, berichtete
Professor Schaefer über die Organisation des
Natnrdenkmalschutzes in .Hessen, die nunmehr sämt-
liche Kreise des Regierungsbezirkes umfaßt. Der
erste Verhandlungstag brachte Vorträge von Prof.
Dr. Freyer-Leipzig über „Wachstum und Werk",
Ministerialrat Dr. Schnitzler-Berlin über „Probleme
eines preußischen Naturschutzgesetzes", dem eine tief-
ethische Bedeutung zukomme. In einer Entschlie-
ßung gab die Versammlung der Erwartung Aus-
druck, daß Regierung und Landtag so schnell als
möglich die Verabschiedung des Naturschutzgesetzes
in die Wege leiten. Der Nachmittag galt der Be-
sichtigung der beiden Ausstellungen. Diejenige in
der Stadthalle zeigte an einer reichen Fülle von
Beispielen, wie „Naturschutz und Schule" in mög-
lichst enge Verbindung zu bringen sind. Sie enthielt
auch eine Kasseler Abteilung mit Arbeiten des
Botanischen Schulgartens, der Lichtbildhauptstelle
Kassel und des Schulmuseums (Direktor Schulz)
und die Ausstellung der Bezirksstelle für Natur-
denkmalpflege in Hessen und Waldeck (Prof. Dr.
S ch a e f e r). Die von Professor L u t h m e r zu-
sammengestellte Ausstellung „Naturschutz und Kunst"
in der Gemäldegalerie will zeigen, ein wie starkes
Interesse auch die Kunst an den Bestrebungen
des Naturschutzes haben muß. Eine große Zahl
sonst kaum der Öffentlichkeit zugänglicher hessischer
Landschaften soll das Landschaftsempfinden der ver-
schiedenen Zeiten zeigen. Im Mittelpunkt steht
die Willingshäuser Gruppe (Bantzer, v. Volkmann,
Ubbelohde, Baum, Mons, Fennel), eine weitere
Abteilung vereint die Maler des Reinhardswaldes
(Schirmer, Peter Paul Müller, Rocholl, Kolitz,
Olde). Die hessische Basaltlandschaft ist vor allem
durch Bilder von Bromeis und Stiegel vertreten.
Die Einstellung der Modernen zur Landschaft wird
ebenso an Beispielen gezeigt, wie das Landschafts-
empfinden der Vergangenheit. Besondere Hervor-
192
Hebung verdienen noch die prächtigen, von feinstem
künstlerischen Empfinden zeugenden photographischen
Aufnahmen, die Karl Eberth aus seinem reichen
Archiv heimatlicher Aufnahmen beisteuerte. Auch
diese Ausstellung, deren Grundidee von Professor
B a n tz e r, dem unermüdlichen Vorkämpfer der Er-
haltung Heimischer Naturschönheiten, stammt, wird
hoffentlich ihre nachhaltige Wirkung nicht verfehlt
haben. Am Abend sprach Professor Dr. Schaefer
an der Hand zahlreicher Lichtbilder über die „Na-
turdenkmäler des Hessenlands"; er zeigte nicht nur,
welche Fülle von Naturschönheiten über unserem
Hessenland ausgebreitet liegt, sondern wies auch
mit herber Kritik darauf hin, wieviel bereits un-
wiederbringlich verloren ist. Am dritten Tage
sprachen Professor Dr. Thiele-Dresden über „Hy-
giene und Naturschutz", Ministerialrat Fischer-
Berlin über „Landesplanung und Naturschutz",
Dr. Lindner-Berlin über „Stadt und Naturschutz",
Dr. Klose-Berlin über „Die sozial-pädagogische Be-
deutung des Naturschutzes". Der vierte Tag brachte
Vorträge von Hofrat Dr. Giannoni-Wien über „Berg-
bahnen und Naturschutz" und Dr. Ammann-München
über „Naturschutz und Schule". Als Niederschlag
der Verhandlungen wurden eine Reihe von Ent-
schließungen angenommen. Besonders lehrreich wa-
ren dann noch zwei gemeinsame Ansflüge. Der eine
führte zum Sababurger Urwald, wo Schriftsteller
Jde über die Geschichte des Reinhardswaldes und
der Zapfenburg sprach, worauf unter Führung von
Oberforstmeister Dörr das großartige Schutzge-
biet besichtigt wurde. Über Trendelburg und den
Schöneberg, wo Lehrer Penndorf in die Geo-
logie der hessischen Senke einführte, begab man
sich nach Wilhelmsthal, in dessen Schloß Dr. Blei-
b a u m die Führung übernahm. Der folgende Tag
galt einem Ausflug in das Gebiet der Eddertal-
sperre und des Burghasunger Berges; hier hatten
Prof. Dr. S ch a e f e r und Regierungsrat H e m p e l
die Führung übernommen. Ein hessisches Heimat-
fest in der Stadthalle, in dessen Mittelpunkt die
Aufführung von Wilhelm Jdes „Frühlingslied"
stand, bildete den festlichen Abschluß der bedeu-
tungsvollen Tagung, die hoffentlich auch in .Hessen
dem Gedanken des Naturschutzes viele neue Freunde
geworben hat.
August.
Wir sitzen gern in weißen Stühlen,
Mit Lehnen wohlig ausgeschweift,
Wenn heiß der Tag der stürmisch kühlen,
Der Wetternacht, entgegenreift.
Die ausgespannten Hände reichen
Den Händen sich zum stillen Bund,-
Wie halbertappte Diebe schleichen
Die Worte sich von Mund zu Mund.
Noch lebt der Wunsch in unsern Träumen
Und facht die zarte Flamme an,-
Ein Lüftchen säuselt in den Bäumen
Und klagt, daß es nicht sterben kann.
Kassel.
Vereint mit uns die Blumen warten,
Wie lange noch das Schweigen hält,-
Zuweilen nur im dunklen Garten
Ein Apfel leist herunterfällt.
Wir sitzen da in stummem Lauschen,
Von tiefer Finsternis bedeckt —
Da grollt es dumpf,- die Blätter rauschen,
Aus ihrem Schlafe aufgeschreckt.
Dann wühlt der Sturmwind in den Hägen
Und zeigt dem Walde seine Macht,-
Dann mit des Hammers Doppelschlägen
Der Donner schreitet durch die Nacht.
Fritz Kölner.
1)0 Jahre Kasseler Kunstakademie.
Iubilaums-Kunst-Ausstellung im Orangerieschloß 192?. Von Dr. Gustav Struck.
2. Die Akademie im Strome der Gegen-
wart.
Aufgewühlt, bunt und vielseitig bewegt bietet sich
das künstlerische Leben dar, in das die Akademie heute
richtunggebend und persönlichkeitbildend hineingestellt ist.
Wer durch die drei Abteilungen der Gegenwart wandelt,
der sieht an den auseinander strebenden Strömungen,
den verschiedenartigen Techniken, Auffassungen, Durch-
führungen und Darstellungen geschauter und erdich-
teter Farbenwirklichkeit den revolutionären Durchbruch
durch veraltete Schönheitskonvention, abgebrauchte Pose
und überlebte typische Bilderfabrikation, den bewußten
Auftrieb zu einer neuen Geistigkeit, die
unter wechselnden Hüllen und Formen allüberall ge-
sucht wird.
Fassen wir zunächst die führenden Männer der Aka-
demie von heute ins Auge. Scharf heben sich die
künstlerischen Physiognomien der drei Maler von ein-
ander ab, obschon sie alle drei Niederdeutsche sind.
Der Rheinländer Georg B u r m e st e r (* 1864), der
älteste von ihnen, kann und will seine Herkunft vom
Impressionismus nicht verleugnen, der sich in einem
Meerbild noch deutlich ausprägt, auch wenn bei ihm
die Verstärkung und Monumentalisierung des Farb-
lichen auf eine intensivere Synthese von Form und
Wirklichkeit offensichtlich hinarbeitet. Er malt gern
üppige, vollsaftige, farbensprühende Blumenstücke (Im
Gewächshaus, Amaryllis, Chrysanthemum) oder rei-
sende Pracht wie die Obstgärten in Herborn, mit denen
die nüchterne graue Schwere des Bootshafens und
die holzschnittartige Primitivität seiner Pieta eigenartig
kontrastieren. Der Schleswiger Kay H. Nebel
(* 1888), der jüngste und nördlichste, erinnert in vielem
an die kultivierte Naivität des Franzosen Henry Rous-
seau. Er verformt und verfärbt wie dieser seine Ge-
stalten (Bildnis der Frau), Tiere (braune Pferde tvie
in einen satten grünen Teppich hineingewirkt), Land-
schaften (Schwarzwald), Bäume und Blumen zu schim-
mernden Phantasiekompositionen eines großen schönen,
oft in den gleißenden samtenen Farbstufungen, ge-
193
schwungenen Linien und mystischen Beleuchtungen raffi-
niert schönen Bilderbuches für große Kinder. Die Fres-
kenzeichnungen für das Schleswiger Kreishaus, die
Momente des niederdeutschen Lebens (Kinderspiel, Stall-,
Weide- und Ernteszene, Fischfang, Bootsfahrt) heraus-
heben, überhöhen in der Wucht und Einfachheit ihres
klaren Aufbaues das Dekorative sinngemäß ins Lebens-
voll-Sinnbildliche. Der Westfale Kurt Witte (* 1882)
bekennt sich mit seinen kühlen, korrekten, objektiven
Porträts, seinen ins Modern-Kulissenhafte vernüchter-
ten Assisi-Landschaften und seinen starr in die Fläche
hineinstilisierten Drei Akten zu einer neuen Sach-
lichkeit, die jeder Stimmungs- und Gefühlsschwingung
überlegen ausweicht. Der Plastiker Alfred Bocke
(* 1886) drängt in barlachischer Richtung zu elemen-
mehr als nur zufällig-lokal bedingt ist. Man kann daher
denn auch bei ihren Vertretern mancherlei Spielarten
künstlerischen Ausdrucks beobachten, die sich durchweg
von den Übertreibungen der Moderne frei halten, ja
zum Teil sich noch recht unbekümmert im alten Geleise
bewegen. Ludwig V o ß malte seinen Studienkopf eines
Alten mit liebevoll realistischem Pinsel, Hermann Gras
trug kein Bedenken, sich bei seinem Venetiamschen
Spiegel in dekorativer Zimmerstaffage ganz altmeisterlich-
bieder zu geben. Hans K o l i tz d. I. bietet ein präch-
tiges imposantes Kriegsbild der Kathedrale von St.
Quentin und ein dunkeltoniges intimes Jnterieurstück,
die in ihrer gewissenhaften Behandlung des Stoffes
ebenfalls in die Vergangenheit weisen, auch Richard
Ebels f beschauliche Felsenlandschaft, anspruchsloser
Landschaft bei Knooke kn Flandern.
tarcr Konzentriertheit, bäuerlicher Größe und Gedrungen-
heit seiner Figuren in der bekannten Breslauer Maria
aus der Eselin, den: eindrucksvollen Frauensymbol (Mor-
gendämmerung) und dem herben Eisenrelief der Um-
armung (Nocturno), während das überladene Bochumer
Jobsbrunnenmodell sich im Gewirr der Details verliert.
Die städtebaulichen Kirchen-, Kur- und Stadthaus- und
Eigenheim-Modelle und Zeichnungen Hans S o e d e r s
(* 1891; zeigen in der jede Komplizierung vermeidenden
mathematisch geraden Raumaufteilung und der erstreb-
ten restlosen Durchdringung des praktischen und kon-
struktiven Problems die neuen Wege einer disziplinierten
und organisierten zweckerfüllten Architektur.
Der Kreis, der die hessische K u n st der Gegen-
wart umspannt, vereint 36 Persönlichkeiten von sehr
verschiedenem Gepräge mit einander, deren Zugehörig-
keit zur hessischen Kunst in den meisten Fällen kaum
Gemälde von p. Baum.
Sommertag und schreibender 'Knabe tvollen nichts an-
deres, als sich schlicht und andächtig ins Gegenständ-
liche einer bescheidenen Natur- und Menschendarstellung
vertrefen. .Caesar Philipp fesselt mit einem vor-
nehmen, frischen und natürlichen Selbstbildnis. Licht
und Atmosphäre beherrschen das freundliche Strandbild
von Anna H e i d t m a n n. Wohl abgewogene impres-
sionistische Landschaft treffen wir bei Friedrich Fen-
ne l s französischen Studien (Champagnedorf, Laon),
Joses van Brackels sonnendurchfluteter machtvoll
aufstrebender Allee, Gerhard Sys gewandtem Ahna-
talausschnitt (neben einem markanten Herrenbildnis von
ihm) und Georg Höhmanns zu farblicher Plastik
kräftig herausgearbeiteter Schafherde, Appenzell. Ein
Tannen- uno Winterbild von Rudolf Sieg mund
lassen den sicheren geschmackvollen Naturgestalter er-
kennen, seine schöngeistige, ästhetisierende Art spürt man
194
in der Frühlingsschönheit des Fuldadorfes, stärker, reifer
noch ist ein überlegen gemeistertes ruhig-abgeklärtes
Frauenbild. Mit Liebermannschem Tiefblick und Lebens-
gefühl ist die Schusterstube von Karl M o n s - Rölls-
hausen in das Fludium von Helle, Volkstum, Arbeit
und Alltag getaucht. Max Kneisel hat einen duftig
hingesetzten weiblichen Akt und ein zart getöntes Still-
leben, Lola Schwarzenberg ein etwas nüchternes,
reserviertes, gedämpftes Doppelbildnis beigesteuert. Die
fließende flimmernde Farbigkeit des Neoimpressionismus
verleiht Heinrich Schneiders weichen Blumen und
Stilleben (Tempera) einen eigenen Reiz. Bedeutsam
verraten die Bilder von Walter S ch l i e p h a ck e die
Wandlungen, die dieser Künstler durchmachte. Die la-
gernden Zigeuner lassen die Romantik ahnen, die eigent-
aus entwickelt Karl Leyhausen sein Stilleben und
Herrenbildnis. Kunstgewerblichen Einschlag haben Ar-
nold B o d e s Blumen-Arrangement und Paris-Aus-
blick mit gekünstelter Umrahmung, soziologischen Thea
F e n n e r s Schwester und Margarethe Garthe Lie-
bergs knochig-harter Schlosser. Znm Konstruktiven
hinüber streben Fritz Schneider (Stilleben mit Fisch)
und August Anhalt (Doppel- und Frauenbildnis),
auch Hermann Mollenhauer (Fabrik am Fluß),
bei dem auch eine Steigerung der Farbintensität sich
vollzreht, die sich bei Else L u t h m e r noch verstärkt
(Gardaseebilder), bei Heinrich Schäfer-Simmern
(Stilleben) und Johannes R e i n h o l d (puppenhaftes
italienisches Fest) sich effektvolle Farbübergänge schafft
und bei Clara W e i n h o l d s weiblichem Halb- und
Lagernde Zigeuner. Gemälde von Walter Schliephacke.
lich in ihm steckt, in dem saucigen Dunkel des Zwie-
gespräches nähert er sich der Einstellung des fran-
zösischen Realismus, an den späteren Thoma gemahnt
die sensible, fast märchenhaft poetisierende Zierlichkeit
des Sommertags, dazu ein fein getöntes emailleartiges
lyrisch-keusches Früchtestück und Fabriken am Wasser
in kühler sachlicher Strenge. Die zeichnerische Linie
bestimmt Ferdinand Lammeyers leicht stilisierte
Wasserkuppe. Mittelalterlich-flächig experimentiert Heinz
Lcwerenz mit seiner überschwänglichen Taormina-
Vision, skizzenhafte Theorie bleibt Ferdinand Gre-
be st e i n s Nilbild. Vollsaftige kraftvolle Corinthische
Note hat ein Porträt von Karl Schulze-Jvurg,
Temperament und Leben blitzt aus dem Selbstbildnis
von Richard Sprich im Farbenrausch glüht das
Blumenstück von Heinrich D e r s ch. Aus einer be-
stimmten altmeisterlichen farblichen Grundstimmung her-
Ganzakt (Sophie I. II.) die Zauber bengalischer neo-
impressionistischer Beleuchtung auskostet. — Einige be-
deutsame Skulpturen: ein gefälliger Porträtkopf von
Wolfgang S ch w a r tz k o p f f, zwei rhythmische Studien
von Oskar Ufert, eine zu monumentaler Gedrungen-
heit gebändigte Trauernde Hans S a u t t e r s, I.
R e i n h o l d s mehr ornamental gedachtes Mädchen mit
denl Vogel und ein altertümelndes Holzrelief von August
Anhalt (Das jüngste Gericht) sowie eine große An-
zahl interessanter Bauentwürfe, Pläne und Bilder von
Curt von Brocke, Carl F i e g e r, Paul H e m b u s,
Karl E. 5z. S ch m i e d t, Karl Hermann Sichel,
Fritz C a t t a uno Otto G r o t h, Alfons B a e ck e r
und Fritz Sirren berg und I. B r a h m und Ka -
st e l l e i n e r ergänzen geschickt nach der Seite der
Plastik und Architektur die umfangreiche Bilderfolge
der hessischen Kunst.
195
Schusterstube. Gemälde von Karl Mons.
Bei der letzten Abteilung, die einen charakteristischen
Ausschnitt aus der d e n t s ch e n K u n st der Gegen-
ivart überhaupt sich zu geben bemühte, können wir uns
kürzer fassen. Handelt es sich doch hier im Großen und
Ganzen um bekannte Meister nebst ihren Mitläufern
und Nachfolgern, die mit einem oder mehreren Bil-
dern ihren besonderen Beitrag zur künstlerischen Zeit-
geschichte dokumentieren sollten. Max Liebermann
oem nunmehr Achzigjährigen folgen der unproblematische
Gesellschaftsmaler Ferdinand Dorsch, der gröbere Max
Joseph Feldbauer, der blutvollere Julius Heß,
der bewegliche optimistische Ch. C r o d e l, der besonnene
Ulrich Hübner, der elegante Gert W o l l h e i m,
Kurt von K e u d e l l mit einer durchseelten, ent-
materialisierten Landschaft (Jsola bella), der kluge Fritz
R h e i n mit charaktervollen Porträts und Georg Walter
Rößner mit einigen zeichnerisch besonders wirksamen
mondänen Kompositionen. Lovis C o r i n t h s Ent-
wicklung umgrenzen ein Paul Baum-Bild (1908) und
Chrysanthemen (1922), Walchensee (1923), Carmencita
(1924), neben denen seine Gattin Charlotte B e r e n d
ungezwungen ihren formenfesten Naturalismus offen-
bart. Cafehaus-Milieu gruppiert kontrastreich nicht ganz
ohne Übertreibung Bernhard K r e tz s ch m a r, stilisierend
kultiviert Max llnold seine Bauern- und Erntebilder
zu Symmetrie und Dynamik. Den Farben-Asketen wie
dem resignierenden Heinrich Brüne, dem bläßlich-
verschwommenen Oskar C o e st e r, dem eigenwillig-
schweren Adolf S ch i n n e r e r von
der Münchener „Neuen Sezession"
und dem schattenhaft-ungelenken Hugo
T r o e n d l e treten die Farben-Fa-
natiker wie der pretiöse Hans
B r a s ch, die ungestüme Maria Cas -
par-Filser, der ekstatische Rein-
hold E w a l d, ein Dogmatiker wie
Rudolf Lev y, ein Genießer wie Hans
P u r r m a n n oder der vulkanische
Heinrich Nauen gegenüber. Uner-
löste Farbenschwere überlastet Walter
Jacobs Kloster. Willy Jäckel,
in der Landschaft maßvoller, über-
hitzt sich im Porträt, dessen faszinie-
rende Koloristik Conrad Felix-
müller bis an die Grenze des
Möglichen emporschraubt, wo die raf-
finierte Sinnennarkotik kaum noch das
Unnatürliche dieser phosphoreszieren-
den Menschen zu verdecken vermag.
Von den Mitgliedern der „Brücke"
sind der primitive, eckige und klobige
Karl Schmidt-Rottluff, der
exolisch-mystische Virtuose Max P e ch-
st e i n, der gelassenere Erich Hecket
vorhanden. Zu ihnen gesellen sich
der abstrakte Analytiker Karl H o -
f e r, der grausame Otto D i x, Hans
G ö t t s derb zupackende Farbenbild-
nerei, Otto Müllers brutale Na-
turvölker-Variationen und Karl C a s-
p a r s exaltiert ins Metaphysische
ausgreifende religiöse Gesichte. Wal-
ter T e u t s ch, der gotische Alter-
tümler, der kernige Niederdeutsche
Christian R o h l f s in jugendlicher
Wandlungsfähigkeit, Lyonel F ei-
nt n g e r als prominenter Kubisten-
typ und George Grosz der Viel-
seitige durften natürlich nicht fehlen. Oskar K o-
k o s ch k n s zwiespältige Sensibilität klingt in einem
eigenartigen Frühbild ans. Der radikale Konstruktivis-
mus, der schon bei den Babbergers und Oskar
M o l l merkwürdige Blüten treibt, hebt sich in Paul
Klees extremen und bizarr-spielerischen Rätselbildern
selbst auf.
Unter den ausgewählten Plastikern dieser Abteilung
finden wir als schöpferische Ausdrucksmöglichkeiten neben
den Zeugnissen eines geläuterten Klassizismus und Rea-
lismus (de F i o r i, S i n t e n i s, Kolbe, Schärfst
Claus, Koelle, Prinz zu Witgenstein-
Berleburg) eine in übermäßig gereckter Schlankheit
sich ankündigende Neugotik (A l b i k e r, S t e g e r),
neben der ekstatischen Pose (G e r st e l) und urtümelnder
Primitivität (G e i b e l, M a r ck s) die funktionelle figür-
liche Zerlegung uno Aufteilung der Gebilde frei nach
Archipenko (W a l t h e r).
Mag das Gesamturteil über die Jubiläumsausstel-
lung, insbesondere ihr Gegenwartsbild auch bereits durch
die getroffene Auswahl, die naturgemäß nicht alles er-
fassen konnte und wollte, in bestimmter Richtung beein-
flußt werden, so darf man doch aus ihr hoffnungsvoll die
Läuterung dessen, tvas man vielsagend Expressionismus
nennt und ironisch >vohl als „Kunst der Mitläufer von
Vorläufern" definierte, die langsam eingetretene Abklä-
rung, Festigung und Disziplinierung des schöpferischen
Kunstbetriebs in der Gegemvart erkennen. Für Kassels
196
Kunstleben aber bedeutet diese Gesamtschau von
470 Stücken als Spiegel von mehr als 100
Persönlichkeiten, die nur durch das weitgehende
Entgegenkommen nicht nur der Künstler und
privaten Besitzer, sondern vor allem auch
zahlreicher Museen und Kunstinstitute er-
möglicht wurde, eine verheißungsvolle Tat und
einen Markstein aus dem Wege zu eigener
Wiedergeburt und neuer Zielsetzung.
Einer Freundin.
So selten tritt in meinen stillen Kreis
Ein Herz, das mit dem gläubigsten Vertrauen
In meiner Seele sich behütet weiß,
Auch wenn um Blut und Blut Gefahren brauen.
Du aber, du, mein feines, blondes Kind,
Weil in dir selbst die tiefste Sehnsucht glühte
Nach Klängen, die uns rein und heilig sind:
Du schenktest mir der Freundschaft edle Blüte.
Kassel. Gottfried Buchmann.
Gewißheit.
Ein Wunder tst's! Ich möcht' mein schönstes Lied
Ins Herz dirjauchzen, kühn, mit trunknem Bogen,-
Wie tief und selig bin ich aufgeblüht,
Als sei ein ewiger Frühling eingezogen.
Du mußt mich lieben, anders kann's nicht sein,
Weil mich am Weg die Blumen heimlich grüßen
Und selbst die Erde unter meinen Füßen
Mir singt: Dies blonde Kind ist dein, ist dein!
Kassel. Gottfried Buchmann.
Felsenlandschaft. Gemälde von Richard Ebel f.
800-Iahrfeier in Bettenhausen.
In den Tagen vom 6. bis 8. August beging
der 1900 eingemeindete Stadtteil Bettenhansen sein
800 jähriges Bestehen. Allerdings mit einiger Ver-
spätung, denn die Urkunde, in der der ohne Zweifel
erheblich ältere Ort zuerst genannt lvird, datiert
aus dem Jahre 1226. In dieser Urkunde erläßt
der Erzbischof von Mainz dem Kloster Kaufungen
den Nellbruchzehnten aus Bettenhausen. Diese Be-
ziehungen zu Kaufungen bestehen bis über die Re-
formation hinaus. Die den Ort durchfließende und
für seine spätere industrielle Entwicklung so be-
deutungsvolle Losse wird bereits 1246, ein Gottes-
haus 1318 erwähnt. Bettenhausen war — woran
noch heute der Psaffenstieg erinnert — Filial von
Waldau, welches Filialverhältnis erst kurz vor Be-
ginn der Reformation in Hessen gelöst lvird. Von
der Burg Bettenhausen lvissen lvir kaum noch etlvas.
Das Geschlecht derer von Bettenhausen, das uns
besonders im 14. Jahrhundert als Kasseler Patri-
zierfamilie entgegentritt und das sich schon in
1318 seiner Rechte auf das Dorf entäußerte, ist,
wie Bruno Jacob in seiner verdienstvollen Mono-
graphie nachlveist, möglicherweise eines Stammes
mit dem Kasseler Patriziergeschlecht „Vor dem
Tore". Es schließt um 1400 mit einem Rudolf
von Bettenhausen, Pfarrer zu Simmershausen. Im
Verlaus des 15. Jahrhunderts hören lvir von
einigen Mühlen, so der Herwigesmühle, die wohl
197
Der Dorfplatz zu Bettenhausen ums Jahr 1800.
Nach elnem Aquarell. Aus: „Bruno Jacob, Festschrift zur Feier deS 800jährigen Bestehens des Dorfes Bettenhausen. 1126-1926."
mit der alten Drahtmühle (heute Möllersche Brot-
fabrik) identisch ist, und der Forstmühle, dem heu-
tigen Messinghof. 1585 zählt Bettenhausen 35
Haushaltungen, 1747 waren es deren schon 80.
Das Jahr 1792 bringt dem Dorf den Neubau eines
Gotteshauses auf den Fundamenten der alten Kirche.
1842 gibt Landau die Zahl der Häuser auf 117,
die der Einwohner auf 1276 an. Allezeit bestimmte
die Losse das Bild des Dorfes, die schon früh in-
dustriellen Interessen den Weg wies und in der
Neuzeit Bettenhausen, das heute über 7000 Ein-
wohner zählt, geradezu zum blühenden Industrie-
viertel Kassels umschuf.
So konnte Bettenhausen, überaus festlich ge-
schmückt, unter der lebhaftesten Teilnahme der Be-
völkerung auf eine 800 jährige Geschichte zurück-
blicken. Festkommers, Festakt, bei dem Direktor
Br euch er die Festrede hielt und Oberbürger-
meister vr. Stadler als Jubiläumsgeschenk der
Stadt die Umgestaltung des Eichwäldchens zu einem
Volksgarten des Ostens in Aussicht stellte, und
sodann ein Landwirtschaft, Handwerk und Industrie
überaus geschickt veranschaulichender Festzug mit
anschließendem Volksfest gab diesen Tagen ihr Ge-
präge und legte Zeugnis ab von der engen Ver-
bundenheit der verschiedensten Faktoren dieser in-
dustriellen Schlagader Kassels.
Alte Kunst am Mittelrhein.
Ausstellung im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt.
Seit einem Vierteljahrhundert ist der Mittelrhein
als künstlerische Provinz entdeckt. Die schwäbischen und
kölnischen Einflüsse, in die man vordem das Material
aufteilte, sind auf ihr Maß beschränkt. Ein Auf-
satz Thodes im Jahrbuch der preußischen Kunstsamm-
lungen und Backs grundlegendes Werk „Mittelrheinische
Kunst" rissen Bresche, durch die dann viele stürmten.
Heute ist mittelrheinische Kunst ein Begriff. Aber,
bei der Vielartigkeit der Erscheinungen, ein noch sehr
ungeklärter. Einer Fülle von Namen, die in den
Urkunden erhalten sind, steht eine Fülle von Kunst-
werken gegenüber, — nur ist das kunsthistorische Zu-
sammensetzspiel noch nicht so weit geglückt, daß sich
Name und Werk irgendwo deckt. Dadurch fällt es
schwer, Spuren nachzugehen. Eine Ausstellung, die die
Hauptwerke vereinigt und Anregungen zur weitern Lö-
sung der angeschnittenen Fragen gibt, war daher seit
vielen Jahren in Gelehrtenkreisen Lieblingswunsch und
seine großzügige Erfüllung wird mit aufrichtigem Dank
quittiert. Das Verdienst fällt dem neuen Direktor des
Landesmuseums, Or. A u g u st F e i g e l zu, der sich mit
nichts besser einführen konnte, als mit dieser Ausstellung.
Er befindet sich in der nicht leichten Lage, der Nach-
folger Backs zu sein, unter dessen feinsinniger Leitung
198
das Museum zu dem wurde, was es heut ist: die be- kunst, heilige Ritter, reizende Märtyrerinnen, famose
deutendste mittelrhcinische Sammlung. Die Ausstellung Drachen, — darunter eine leckre Bestie mit eingesetzten
gibt die Hoffnung, daß unter der neuen Aera auf dem Piuselborsteu als Brauen, ganz dadaistisch! — Stutzer
Messinghof (Innenaufnahme). PM- Karl Eberlh-Kaffel.
Aus! „Festschrift zur Feier des 800jährigen Bestehens des Dorfes Betienhauscn. 1126-1926."
Gebiet der alten Kunst die bisherigen Traditionen mit langen, gekräuselten Locken und Schnabelschuhen,
weitergeführt werden. koketteste Gotik, heilige Jungfrauen, die auf schlaf-
Es ist reizvoll, sich zunächst nur dem allgemeinen mützenbewehrte Satanshäupter treten, kleine Engel,
Eindruck hinzugeben, planlos zwischen den schönen Sa- überall durchkriechend und hervorlugend, mückenhaft um-
chen umherzubummeln, die doch letzten Endes zu bloßer herschwirrend und krabbelnd, und Teufel, jeder Situa-
Der Agathof zu Bettenhausen (Westansicht). Karl Strauß-Kassel.
Aus: „Festschrift zur Feier des 800jährigen Bestehens dcS Dorfes Bellenhausen. 1126-1926.
Augenweide da sind. Strenge Feierlichkeit aus hohen tion ihr Gewürz gebend, überhaupt, dieses Gekicher der
Chören geholter Kruzifixe, Madonneuholdheit in end- himmlischen und höllischen Choristen mitten in die er-
lösen Varianten, breite Würde. großer Schnitzaltäre, habensten Dinge hinein, — man ist im Mittelalter,
süße Heimlichkeiten der in Vitrinen verstauten Klein- Die Ausstellung ist im Wesentlichen auf das 15. Jahr-
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hundert konzentriert. Als einleitende Posaunenstöße
einige hochmittelalterliche Großplastik. Darunter der
schöne Jünglingskops vom ehemaligen Ostlettner des
Mainzer Doms und ein beim Dombau neu aufge-
fundener Kopf. Psalterien und Missalien mit kostbaren
Miniaturen. Dann als Frühwerk der Tafelmalerei der
große Friedberger Altar mit dem weithin klingenden
Pathos seiner tragischen Gestalten, flankiert von den
köstlichen Oberweseler Figürchen. Bon dan an geht es
dann ins 15. Jahrhundert, in die kunsthistorischen
Kampfgebiete. Da ist, erstmalig ausgestellt, der hoch-
interessante Altar aus O b e r st e i u a. d. Nahe,
der in engstem Zusammenhang mit der Kreuzigung
in St. Stephan zu Mainz steht, diesem berückend
schönen Bild, über dessen Meister man so gern etwas
wissen möchte. Eine Gruppe wird jetzt deutlich: an
die Mainzer Kreuzigung schließt sich eine Kreuzigung
des Darmstädter Museums, der Schottener Altar, die
Kreuzigung aus der Frankfurter Peterskirche. Hier
vermißt man noch den in Norddeutschland tätigen Meister
Fraucke, der aus der Jahrtausend-Ausstellung in Köln
mit dem Meister von St. Stephan mit Recht kon-
frontiert wurde. Wenn Francke sich zeitlich zuletzt dieser
Gruppe angliedert, so tritt als frühste Erscheinung der
Meister eines Tafelwerks hinzu, das nach Holland
verschlagen wurde und sich im erzbischöflichen Museum
zu Utrecht befindet. Bisher der kölnischen Schule zu-
gewiesen, gilt seine Herkunft neuerdings für Fried-
berg i. Hessen gesichert. Dieser U t r e ch t e r Altar
ist der Glanzpunkt der Ausstellung. In seinen zarten
hellen Farben, dem jauchzenden Rot der Feuerlilie,
dem frohen Rosa, heitern Blau und lichten Grün
bleibt er als ein alles überleuchtender Eindruck in der
Erinnerung. Der Meister muß ihn im Zustand der
Freude gemalt haben. Alle Szenen sind von Jubel
erfüllt. Bei der Heimsuchung Mariä wimmelt es hinter
jedem Stein von kichernden Engeln heraus, in die
feierliche Anbetung der Könige bringt der neckisch hinter
einem Vorhang lugende Joseph eine übermütige Note.
Auf der Auferstehung springt der Erlöser fast aus dem
Grab und selbst Mariens Tod ist in freudige Stim-
mung gespannt. Horch, sie kommt! scheint Christus
mit zum Ohr erhobener Hand in seinem Wolkentor zu
rufen. Wenn auch die entzückenden Figuren nicht wären,
deren feiner Linienrhythmus bezaubert, wenn es nur die
Farben wären, man müßte diese Tafeln als etwas Wunder-
volles empfinden, rein um ihres Wohlklangs willen.
Schon das Kind einer nächsten Generation ist der
berühmte Ortenberger Altar des Darmstädter
Museums, dem sich eine Neuerwerbung der Münchener
Pinakothek gesellt, eine etwas defekte, aber sonst sehr
schöne Tafel, mit Unrecht als Schulwerk bezeichnet.
Im Angesicht des Ortenburger Altar steht ihre Zu-
weisung an diesen Meister einwandfrei fest.
Sehr dankenswert ist, daß der M e i st e r der
D a r m st ä d t e r Passion (1440—50) durch die
Berliner Tafeln vertreten ist, doppelt dankenswert, da
das Kaiser-Friedrich-Museum bekanntlich seine Schütze
nur äußerst selten ausleiht. So ist endlich einmal
Gelegenheit, die Darmstädter und Berliner Tafeln neben-
einander studieren zu können. Der Meister ist eine
der wenigen interessanten Persönlichkeiten, die uns um
die Mitte des 15. Jahrhunderts, wo die große Epoche
der Witz, Lochner, Multscher fast plötzlich abflaut, be-
gegnet. Die matte Mollstimmung, in die er die Szenen
spannt, mag Reflex der Müdigkeit sein, die nicht nur das
künstlerische Leben jenes Jahrzehnts beherrscht. Man
fühlt das Zwittrige einer Übergangszeit. Charakteristisch
für den Meister ist die Gegenüberstellung eines kranken
maulbeerfarbnen Rots mit Ziegelrot, beides jedesmal
mit Grün ergänzt, woraus sich eine elegische Stimmung
ergibt. Die Darmstädter Tafeln sind im Kolorit kräf-
tiger. Manche Akzente wirken fanatisch.
Schließlich schien es auch an der Zeit die etwas
eingeschlafene, einst so üppig wuchernde Hausbuch-
meistcrfrage wieder einmal aufzurollen. Eine Reihe
der wichtigsten Werke kam zusammen, darunter als
Neuling die neuerworbene reizende kleine Madonna
der Münchener Pinakothek. Des weitern Miniatur-
werke, während auf das reiche Holzschnittmaterial ver-
zichtet wurde.
Zwischen den Werken der Malerei und in einer Reihe
von Kabinetten kommt die P l a st i k zu Wort, begin-
nend mit dem stattlichen Aufmarsch der rheingauischen
und rheinhessischen Madonnen, die für die Entwicklung
der Gotik führende Beispiele sind. Hier kaun sich der
Liebhaber in das schöne, Jahrhunderte währende Spiel
der Röhren- und Schlüsselsalten, der Gewandbüschelungen
und Saumspiele und Stoffkaskaden vertiefen, und in
die reizenden Profile der rheinischen Römerinnen. Es
scheint, daß wohl Mainz der Sitz einer durch Tradi-
tionen gefestigten Künstlerkolonie war; denn sichtlich
läuft seit dem 13. Jahrhundert eine Linie. Neben
der „Madonna mit dem Kind" interessiert die „Pietä",
von der die mittelrheinische Kunst die schönsten Bei-
spiele aufweist. Erfreulicherweise gelang es, die Pieta
aus Unna zu gewinnen, die feierlich in Altgold und Blut
leuchtet. Ferner die in ihrem krassen Realismus er-
schütternde Pietä aus Bonn und die vornehme Keine
Lorcher Alabaster-Beweinung, glückhafte Erwerbung des
Wiesbadener Museums. Besondere Freude gewährt die
reich vertretene Touplastik, die einst ein blühender Zweig
der mittelrheinischen Kunst ivar. Sie leitet ins Kunst-
gewerbe über, von dem schöne Goldschmied- und Email-
kunst und hervorragende Textilien, besonders aus Main-
zer Kirchenbesitz, zu sehen sind.
Mela Escherich.
Erlebnisse eines Handwerksburschen in Marburg 1806.
(Schluß.)
Wir pflückten nun einen Korb Kirschen zusammen
und dabei erzählte mir Marie, wie toll der Meister
es triebe und das Geld hinauswürfe, als würde
das große Vermögen im Leben nicht alle. Ich
fragte sie nun nach der jungen Posamentiersfran
in der Beletage aus, deren Schönheit mir auf-
gefallen war. „Sie ist eine Sattlerstochter und
hat einen recht guten fleißigen Mann gekriegt,
wenn unser Meister nur halb so wäre! — Aus
ihrer Schwester, der schtvarzen Karoline, machen die
Studenten ein Wunder; aber sie gibt sich zuviel
damit ab und läßt nicht davon, ihr alter Vater
mag sagen, was er will."
„Sie sagt ,die schwarze Karoline', und soll doch
schön sein?" — „Ja, schwarz, kohlhagelrabenschwarz
sind die Locken, die ihr vom Kopfe bammeln; aber
200
ihr Gesicht ist nicht schwarz. Augen hat sie im
Kopfe wie eine Zigeunerhexe, ist flink aus den
Beinen und mit der Zunge. Auch boshaft kann
sie tun wie eine böse Katze und fluchen wie ein
Mannskerl." — „Das Wunderding möchte ich ein-
mal sehen, Marie, sag Sie mir's doch, wenn die
Karoline mal oben ist bei ihrer Schwester. Ist der
Vater ein reicher Mann?" — „I Gott bewahre!
Was der verdient, da schafft sie Staat für an und
dann gibt's immer Zank. Der Alte kann schrecklich
böse werden und hat einmal einen Studenten mit
dem Knüppel vor den Kopf geschlagen, daß der
Mensch wie tot dagelegen hat. Hat auch vierzehn
Tage dafür sitzen müssen, der Alte."
Nicht viele Tage darauf sah ich die Frau Po-
samentier, die schwanger war, einen Wannkorb
Holz die Treppe hinauftragen. Ich schaffte das
ganze Holz allein hinauf; ihr Mann wollte mir
ein Geldbeutelchen aufnötigen, was ich nicht an-
nahm. Da ich aber nun alle Tage Wasser hinauf-
trug und ihr, wo ich konnte, behilflich war, so
bekam ich bei meinem Abgang von Marburg von
ihr einen schönen Tabaksbeutel zum Andenken.
Tie beiden nannten mich ,Herr Nachbar' und auch
ich sprach sie als Nachbarn an. —
Einige Tage nach meiner ersten Hilfeleistung,
es war Sonntag und ich im Begriff auszugehen,
stiebt auf einmal ein Frauenzimmer zur Haustüre
hinein, blitzt mich mit zwei Feuerkugeln an, ver-
neigt sich ein wenig und setzt im Galopp die Treppe
hinauf. Alle Teufel, das muß sie sein, dacht' ich,
ihr Sekundenblick war mir bis in die Leber ge-
drungen. Ich überlegte einen Augenblick und
schob die Treppe hinauf hinterher zu Posamentiers
Wohnstube hinein. „Diener, Herr Nachbar, wollen
Sie mit ins Schützenhaus? — aber ich sehe, Sie
haben Besuch." — „Kein Besuch, 's ist ja meine
Schwester, Herr Nachbar," sagte Madame. Ich
blickte die Schwarze kräftig an. „Ich habe noch
nicht die Ehre gehabt, Sie zu sehen." — Rupp!
war sie in die Höh. „Die Ehre ist für mich, mein
Herr! und >venn ich fragen darf, wie nah ist denn
die Nachbarschaft?" „Siehste, Karoline," sagte der
Posamentier, „das ist meiner Frau ihr Liebling,
der trägt ihr Wasser und Holz." — „Er läßt es>
sich nicht wehren," behauptete Madame und gab
ihrem Mann eine kleine Schelle, wofür sie einen
Kuß bekam. „Na, na," meinte der Ehemann,
„ich brauche ihn nur an die Karline zu rekomman-
dieren, dann bist du ihn gleich los." — Die Schwarze
zog ein höhnisches Schnäuzchen und drehte sich;
aber ich rückte an. „Entschuldigen Sie, schönes
Fräulein, ich bin Ihnen noch die Antwort schuldig"
— sie schickte mir ihre zwei Feueraugen so ernsthaft
ins Gesicht, daß ich beinahe das Konzept verloren
hätte. Wir kamen aber doch in eine hübsche Unter-
haltung, in der sie sich gewandt und witzig zeigte.
Sie neckte mich auch mit meiner Schulmeisterei;
in dem Heft eines der kleinen Mädchen hatte sie
meinen vorgeschriebenen Satz gelesen: ,Wenn dich
die bösen Buberr locken, so folge ihnen nicht.' „Ich
nehme also an, daß Sie selbst kein böser Bube sind,
und da Ihnen meine Schwester gewogen ist, muß
ich,'s wohl auch sein," meinte sie. Ich wollte
antworten. — „Alle Donnerwetter, da schlägt'ä
Viere, da muß ich fort" — fuhr sie heraus. Sie
reichte mir die Hand; ich drücke sie — sie sah mich
an. „Ein guter Bube soll nicht so drücken! Adieu,
adieu, Herr — Herr Wilhelm!" — sie lachte bis
die Treppe hinunter.
„'s ist ein wildes Mädchen," sagte die Frau,
„wenn sie sich dadurch nur nicht um ihre Zukunft
bringt. Sie soll nicht hingehen, wo die Studenten
tanzen, aber läßt sie's denn? Und Studenten, das
weiß man doch, denken nicht ans Heiraten." — „Aber
sie schickt alle Geschenke zurück, die ihr zufliegen,"
warf ihr Mann ein, „weil sie sich nicht verbindlich
machen will. Sie hätte sonst wohl vor mehrere
hundert Taler am Wert liegen. Vorigen Winter
hat sie einem Professorensohn eine solche Schelle
gegeben, daß der Kerl drei Tage lang nicht hat
ausgehen können."
Unterwegs erzählte mir der Posamentier noch
einige Stückchen von der schwarzen Karoline, die
ihr eben nicht zum Tadel gereichten; ihr Schwager
war aber doch der Meinung, daß ihr Vater nicht
stark genug sei, sie zu beaufsichtigen. —
„Höre, Wilhelm, mach dich fertig, wir müssen
drei Stunden weit von hier mahlen," sagte der
Meister. Nach Tisch fuhr ein Wagen voll Getreide
zum Tore hinaus nach Gießen zu und richtig in
dieselbe Mühle, in der ich, statt Brückengeld zu
bezahlen, ein Musbrot bekommen hatte. Der Mei-
ster half mit arbeiten; es ging mit drei Gängen
und fleckte gut; aber als der Abend herankam,
war mein Schlingloff verschwunden. Ich mußte
laufen von einem Gange zum andern und konnte es
kaum erzwingen. Da ging ich hinaus aufs Wasser-
bett, setzte einen Gang zu und arbeitete nun mit
zwei Gängen eine Stunde fort. Jetzt stellte sich
Hunger bei mir ein; ich setzte noch einen Gang
zu. Niemand ließ sich hören und sehen. Da setzte
ich auch den letzten Gang zu; es wurde stockstille
und hätte eigentlich nun in der Mühle alles auf-
wachen müssen, weil der gewohnte Lärm ausblieb.
Ich ging in die Stube, da saß der alte Müller
im Sorgenstuhl und schnarchte ein Solo.
Nun machte ich die Haustüre auf — aber was
sah ich da?! Links drüben im Gasthof war alles
erleuchtet und ich hörte Musik. Aha! dacht' ich,
dort drin ist dein Meisterlein. Ich stäubte mir
das Mehl ein wenig ab und ging hinüber. Schon
im Parterre war es gedrängt voll und ich erfuhr,
daß hier Gießener und Marburger Studenten-Aus-
bruch, mit Bauernmädchen und Nachzüglerinnen
aus beiden Städten schwiemelten. Na, dacht' ich,
wenn da die Karoline auch drunter ist, da taugt
sie gar nichts. Sie war aber nicht da.
Ich drängte mich in meinen Mehlsachen durch
bis an die Tanzenden, was weiter nicht auffiel
— richtig, mein Meister schwenkte ein dickes Bauern-
mädel. Als es zum Stillstand kam, war ich hinter
201
ihm. „Meister, ich habe Hunger und habe drüben
alles zugesetzt; die Mühle steht stille."
„Das hast du recht gemacht! geh nunter und laß
dir auf meine Rechnung Essen, Bier und Schnaps
geben. Wenn du satt bist, komm herauf; viel?-
leicht geh ich mit nüber" — er tanzte wieder los.
Nach einer guten Stunde stieg ich, gesättigt
und ziemlich lustig, wieder auf den Tanzboden.
Sogleich engagierte mich ein fideler Student:
„Allons, Camerad! changeons de jupe — er zog
seinen Frack aus und ich meine Mehljacke; mein
weißes Vortuch band er um, schlüpfte in meine
Jacke und ich in den Frack. „Vorwärts! tanz,
guter Junge, tanz!" sagte er und schob mir ein
Gießener Mädchen zu. Wir packten uns sogleich
und würgten einen grausenhaften Lünderschen her-
um. „Der Frack steht Ihnen gut, Mosje!" — Für
dies Kompliment gab ich ihr einen derben Kuß,
den sie kraftvoll erwiderte — ein Manoevre, wel-
ches bei jedem Stillstehen wiederholt wurde. Das
schien auf diesem Tauzboden so der Brauch zu
sein, denn es klatschte immer in allen Ecken von
Küssen.
Mein Meister hatte eine gewaltige Freude, als
er mich bemerkte, befahl mir aber doch nach einer
halben Stunde, meine Kleider wieder auszutauschen
und in der Mühle mit einem Gang zu mahlen,
bis er käme. — Jetzt war die Frau in der Mühle
und räsonnierte gewaltig, daß wir das Wasser ver-
geblich vorbeilaufen ließen. „Na, Muttchen," sagte
ich, „Sie waren doch damals so gut mit mir, als
Sie mir das Musbrot über die Türe herausreichten."
— „Ach, Sie also sind der Windbeutel, der meinem
Mann vorgeschwatzt, der Brückenkreuzer wäre schon
bezahlt!" — „Nein, liebes Mütterchen, ganz so
war's nicht. Der Herr Müller waren fest über-
zeugt, daß ich den Kreuzer bezahlt habe und mach-
ten schnell die Türe auf. So mußte ich doch wohl
hinüber." — „Na, bringen Sie jetzt nur die Mühle
wieder in Gang, dann soll's gut sein."
Ich ließ gleich zwei Gänge laufen und arbeitete
bis drei Uhr; dann kam mein sauberer Meister
ziemlich benebelt und tat, als wollte er Berge um-
reißen; er lag aber bald auf einem Sacke und
schlief wie ein Ratz. Den andern Abend, ziemlich
bei Nacht, kamen wir wieder nach Hause. —
Ich hatte mir ein französisches Lehrbuch ge«
kauft und bei einem verdorbenen Studenten Unter-
richt genommen, doch gab es immer zu viel Ab-
haltung vom Lernen. Bald kam mein Nachbar
Buchhändlerlehrling und brachte mir alte verlegene
Rittergeschichten und Romane; dann putzte und
fütterte ich das Pferd und ritt es spazieren, dann
traten meine jungen Schreibschülerinnen an, dann
hatte der Student mir was zu erzählen. „Passen
Sie auf, Wilhelm," sagte er einmal, „heute abend
gibt's Skandal. Es ist uns.bei Strafe verboten
worden, truppweise auszugehen, weil das ziwiel
Lärm verursache auf den Gassen; es dürfen nur
je zwei noch zusammengehen. Nun hält jeder von
uns einen eisenbeschlagenen Stock bereit, wir wer-
den paarweis in kleinen Abständen hintereinander
marschieren und tüchtig mit unsern Stöcken auf-
pochen. Wollen sehn, ob das den Prosessorsweibern,
die uns verklagt haben, besser gefällt, als wenn
unserer Zehn oder Zwanzig zusammen plaudern."
Gegen neun Uhr erhob sich ein furchtbarer Lärm.
Vier- bis fünfhundert Studenten zogen, immer
zwei und zwei durch die Wettergasse und pochten
so ungeheuer auf die Bohlen, die einen Kanal
decken, daß es polterte, als brächen Häuser zu-
sammen. So sind sie durch die ganze Stadt und
alle Gassen gegangen; da das Pochen und paarweis
Gehen nicht untersagt war, konnten sie sich im
Recht halten, bis dies Vergnügen auch verboten
wurde. Dann erdachten sie wieder was Neues und
der größte Teil der Einwohner freuete sich drüber.
An einem Sonntagabend sitze ich in der Wohn-
stube und verzehre mein Abendbrot; der Meister
geht in der Stube hin und her, er hat schon gegessen.
Da stürmt plötzlich ein bejahrter Mann mit schrecklich
boshaftem Gesichte, eine Knute in der Hand, herein,
und stottert, ganz ohne Atem heraus: „Herr
Schlinglofs, rufen Sie meinen Schwiegersohn run-
ter; er soll den Stock mitbringen; wir wollen
nach Weidenhausen und die Karoline holen, sie
tanzt dort mit den Studenten. Sie soll einmal
tüchtig vor allen Menschen ausgeprügelt werden,
sonst wird's nicht besser. Mit dem Strick hier
wird sie gebunden; ich habe die Rompel^ bestellt,
die soll sie abpatschen mit der Hand ins Gesicht,
daß sie im nächsten halben Jahr nicht wieder in
den Spiegel guckt. Kreuzdounerhagelwetter! —
Lassen Sie's nur meine Tochter oben nicht hören."
— Schlinglofs ging hinauf. Mir war der Bissen
im Munde steckengeblieben; der alte Sattler saß,
den Kopf in beide Hände gelegt, im Sorgenstuhl
und fluchte in sich hinein. Ich schlich mich leise
zur Stubentür hinaus, zog meinen Rock an und,
haste nicht gesehn, da sollste noch sehn, ging's
nach Weidenhausen. In zwölf Minuten stand ich
auf dem Tanzplatz, einem Anger, und suchte die
schöne Karoline. Sie tanzte gerade mit einem
langen Studenten. Ich machte mich auf die andere
Seite und flüsterte ihr zu: „Um Gotteswillen,
Karlinchen, geschwind von hier fort! Ihr Vater
kömmt mit einem Strick und einer Knute; Sie
sollen öffentlich gebunden und geschlagen werden."
Sie ließ sich ihr Tuch geben und lief, ich!
hinterher. Kaum hatte ich sie angefaßt, als ich
drei Hiebe auf den Rücken bekam. „Verfluchter!
Bengel! willst uns die Mädchen hier wegholen?"
Ich wollte auf den Angreifer los. „Ach, lieber
Gott! Wilhelm, kommen Sie, wir müssen laufen.
Was wollen Sie auch gegen all die Studenten
ausrichten?"
Es war sehr dunkel; Karoline führte mich einen
andern Weg. Nach fünfhundert Schritten verschnauf-
ten wir und ich mußte nun alles erzählen, was
1 Ein boshaftes Weib aus der Nachbarschaft, die ihren
armen Mann oft prügelte.
202
ich gehört. „Ach, wie kann ich Ihnen vergelten,
was Sie da an mir getan haben," seufzte Karlin-
chen. „Ich fühle mich überschwenglich glücklich,
daß ich Sie retten durfte." — „Und die Hiebe?
— Der niederträchtige lange Hund! Tut es denn
weh, Herr Wilhelm?" — „Heute darf ich wohl
annehmen, daß ich Ihnen,lieb' bin — also, wenn
Sie das vor meinen Namen setzen wollten —"
„O, o, Sie holen es aus dem Herzen heraus,
Sie Erzhalunke, Sie —" und dann kriegte ich
den ersten Kuß von diesem Wundermädchen.
Wir trafen uns nun öfter und gingen zusammen
spazieren. Der Posamentier und seine Frau wuß-
ten um unsere Freundschaft. Auch bei dem alten
Sattler war ich bald Hahn im Korbe und ging im
Hause ein und aus. Er hörte mich gerne erzählen
und ließ mich auch manchmal ruhig mit der Karoline
allein. Einmal, als wir aus einem schönen Prome-
nadenweg auf einer Ruhebank saßen, fragte ich:
„Liebes Karolinchen, wenn doch Ihr Vater und
Ihre Schwester so sehr dagegen sind, warum gehen
Sie immer wieder zu den Studenten?" — „Sie
sagen ,immer' — wie lange bin ich nun schon nicht
mehr dagewesen! Wenn ich mich aber einmal amü-
sieren will, wo soll ich sonst hingehen? Mit diesen
flotten Kerlen kann man sich doch unterhalten.
Da haben sie nun einen dummen Schuster auf
mich gehetzt, einen einzigen Sohn mit einem eigenen
Haus, den soll ich heiraten. Nun bitte ich Sie
ums Himmels willen, lieber Wilhelm, wenn dies
Geschöpf ins Haus kömmt, wird mir übel und wenn
er zu sprechen anfängt, möchte ich ihn maulschel-
lieren und hinauswerfen."
So plauderten wir und gingen mit dem Ver-
sprechen, uns bald wiederzusehen, auseinander. Ich
setzte mich noch in ein Bierhaus und war froh,
keine Bekannten zu treffen — war ich nun in
dies sonderbare Mädchen verliebt oder nicht? Ein-
mal dachte ich: sie hat mehr Bildung als andere
ihres Standes und hat feste Grundsätze, die sie
schützen, dabei ist sie schön und klug und wenn sie
lacht, dringt es durch Mark und Bein. Dann
überlegte ich wieder: sie hat schon zuviel erfahren
und ist fast zehn Jahre zu alt für dich. Das
Resultat war: ei, was zerbrichst du dir den Kopf!
Sie ist doch ein äußerst interessantes Geschöpf
Gottes und du wirst dich nicht so stark in sie ver-
lieben, wie Ernst Nentz in seine Jeannette. Und
so wurde es.
Was mich dann so schnell von Marburg fort-
trieb, war, daß der Meister anfing, Bier zu brauen,
und da sollte ich so eine Art Brauknecht machen;
das gefiel mir nicht. Wir kamen aber in aller
Freundlichkeit auseinander. Die Marie versprach,
mir, mein Bündel eine halbe Stunde weit zu tragen
und die Haushälterin gab mir einen Brief mit
an ihre Schwester, die im Kloster Heine, einem
hessischen Irrenhause, Aufseherin war. Die Frau
Posamentier schenkte mir zu dem schönen Tabaks-
beutel einen schönen Abschiedskuß und die Karoline
sagte zu ihrem Schwager: „Allons, Schwager, du
gehst mit; wir wollen den Wilhelm ein Stück
begleiten; ginge ich allein mit, würde es wieder
heißen: das schickt sich nicht."
Die Marie trabte voraus mit dem Felleisen;
wir drei gingen ihr nach, ich innerlich froh, mich
von so lieben Menschen begleitet zu sehen. Eine
Viertelstunde vor der Stadt gab mir Marie mein
Bündel aus dem Tragkorb. Obgleich ich wußte,
daß sie nichts nehmen würde, reichte ich ihr, der
Schicklichkeit wegen, ein Geldstück. „Wo denken
Sie hin, Mosje Wilhelm? — ich werd' doch nicht.
— Lieber trüg' ich das Bündel wieder nach Hause,
wenn Sie bei uns bleiben wollten."
„Alle Donnerwetter," sagte da die Karoline,
„mache Sie, daß Sie fortkömmt, Marie — es ist
ja mein Schatz." — „Hahaha," lachte die Marie,
„wer von uns beiden ist wohl mehr mit ihm zu-
sammen gewesen?! Adieu, mein lieber Mosje Wil-
helm, denken Sie noch manchmal an die Marie
und die schönen Milchlaibel, die wir zusammen
gebacken haben. Adieu, adieu" — weinend ging
sie davon. Auch mir wurde es schwer, mein Tränen-
strömchen zurückzuhalten. Wir hatten über ein
Vierteljahr zusammen in der Backstube gearbeitet.
Wie oft hatte ich sie morgens aus dem Bette ge-
trommelt und zum Spaß getan, als wollte ich in
ihre Kammer treten; aber fix wurde ich hinaus-
geschubst und fünf Minuten drauf kam sie mit
freundlichem ,Gutenmorgen' herunter.
Kurz nach der Marie empfahl sich auch der
Posamentier und meinte, Karoline könnte noch ein
Stückchen mitgehen, die hätte Zeit dazu. Als wir
noch eine Strecke mitsammen gegangen waren, zog
ich einen schönen Strickbeutel heraus, den ich für
Karoline gekauft hatte, und bot ihn ihr als An-
denken. Sie nahm ihn mit großer Freude, sah
mich mit ihren Zauberaugen freundlich an, tat
ihr Tuch herunter und die schwarzen Locken baumel-
ten auf den weißen Schultern herum.
„Wünsche dir etwas von meinem Leibe, lieber
Wilhelm, ich habe weiter nichts." „Ach, liebes
Karlinchen —" „heraus mit der Sprache, mein
Wilhelm!" — „Da baumelt eine auf einem Fleck-
chen, das ich geküßt habe." — „Halt sie fest,
Wilhelm!" wie der Blitz holte sie eine Schere aus
der Tasche und so sehr ich mich sträubte, ihr diesen.
Staat zu rauben, sie tat es nicht anders, ich
mußte die Locke abschneiden. Sie legte sie künst-
lich zusammen in ein Papier, das ich in meiner
Brieftasche barg, und erst 1817 — ist diese Locke
bei einem Autodafe mit Briefen und andern Sachen
verbrannt worden.
Als ich beim Abschied die zwei merkwürdig
schönen Augen feucht sah, überkam mich eine wahre
Seligkeit. „Leb wohl! leb wohl! leb wohl!" —
und voneinander ging's und drei Tage hat mein
Herz gezittert, wenn ich an diesen eigenartigen
lieben Sonderling von Mädchen dachte.
20z
Vom Kasseler Staatstheater.
Opernschicksale 1926 27, Ara Bekker und Inlendantenwechsel im Staatstheater.
Man spricht heute oft von der Entfesselung und
Revolution des Theaters, man könnte auch von der
„A n a r ch i e der Oper" reden, denn verworren ist
ihr Spiegelbild, wie es die Bühne von heute im
Kaleidoskop der wechselnden Rampenlichtabenteuer zu-
rückwirst. Die Gesetzlosigkeit ist eine doppelte, ja drei-
fache. Die Komponisten suchen ein neues Opernideal,
sie wollen aus der Formzertrümmerung durch das Musik-
drama tvieder zu neuen musikalischen Bindungen kommen,
sie wollen ferner den Gefühls-Katzenjammer der Ro-
mantik mit der Grimasse bizarrer Groteske und eines
gesungenen Marionettentheaters überwinden, sie möch-
ten schließlich für eine schnellebige Zeit den Extrakt
eines musikalischen Theaters konzentrieren in einem
tvinzigen „Songspiel" und einer „Opern ininute", ja
sie haben den stärksten Erfolg, wo sie sich bemühen,
ihm die Beziehungen zur unmittelbaren Gegenwart
in der aufregenden Atemlosigkeit und Kolportage einer
bunten Filmopernrevue ä la. Jonny zu geben. Hinter
dieser Experimentierlust der Schaffenden ivollen natür-
lich die Nachschaffenden, die spekulativen Köpfe der
Intendanten und Regisseure, nicht zurückbleiben. So
gestalten sie ihre Spielpläne um, bis diesen allmählich
jedes feste Rückgrat fehlt, suchen ihre Ur- und Erst-
aufführungen zu großen Sensationen aufzubauschen, über
die man in allen hauptstädtischen Blättern Kritisches
lesen kann, und wollen mit jeder Neueinstudierung die
vorangehende in der Eigenart des Stiles ihrer Wieder-
gabe oder der Originalität der szenischen Aufmachung
möglichst noch überbieten. Diese Allerwelts-Betriebsam-
keit hat man sich früher in den großen Zentren der
Zivilisation mir den reichen Mitteln, die schon einmal
verschwendet werden durften, gefallen lassen. Das Un-
glück ist, daß man heute in der Provinz, wo man sich
gern hervortun möchte, dieses gefährliche Beispiel nach-
ahmt ohne Rücksicht auf die eigene Tradition, die be-
sondere Umwelt und ein überall verschieden geartetes
und zusammengesetztes Publikum.
Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die zweijährige
Opern-Aera des Intendanten Paul Bekker am
Kasseler Staatstheater zu verstehen, die weder als
Aufschwung noch als innere Bereicherung, sondern nur
als eine im ganzen problematische, manchmal
krisenhafte, gewiß äußerlich interessante, aber hinsicht-
lich der aufgewandten Kraftleistung und der erreichten
Publikumswirkung mehr als kostspielige Episode be-
trachtet werden kann. Schon die Spielzeit 1925—26
war in dieser Hinsicht lehrreich (vgl. Jg. 38, Heft 8,
S. 170 ff.). Je deutlicher sich die Bekkerschen Absichten
in die Praxis umsetzten, umso unverhüllter war zu
erkennen, daß hier nicht in der Konzentration der vor-
handenen Kräfte, Mittel, Überlieferungen und Bestände
aus ihnen heraus organisch ein neues geläutertes
und gereinigtes Opernerlebnis entwickelt werden
sollte, sondern daß ihnen rücksichtslos ein neues zeit-
bedingtes eng umgrenztes Opernideal aufgezwungen
wurde. Aller Absolutismus, auch der ästhetische, ist
vom Übel, zumal wenn er so selbstherrlich und einseitig
sein Ziel verfolgt wie hier. Denn es ist doch wohl
kein Zufall, daß Bekker hier ein Werk von Ernst
Krenek, seinem künstlerischen Beirat, uraufführte und
einen Schreker einstudierte und bald nach seiner Über-
siedelung in die neue Wiesbadener Stelle der erstaunten
Welt zu ihrer nicht geringen Überraschung verkündet,
daß er auch dort nichts Besseres tun könne, als neben
204
einem Delius und Schönberg einen Krenek uraufführen
und einen Schreker einstudieren. Derartige Programm-
Monopolisierung kann über das Fehlen einer klaren
schöpferischen Idee, die man hinter den Zufällig-
keiten seines theatralischen Schattenspiels vergeblich sucht,
nicht hinweghelfen, auch wenn sich eine noch so raffinierte
intellektuelle Spiel g e st a l t u n g vor die Dinge schiebt,
die den peinlichen Rückgang des Spiel Plans ver-
decken soll.
Der Verfall des S p i e l p l a n s war 1926/27 ganz
offensichtlich. 1925/26 konnte Bekker mit Hilfe zahl-
reicher Einakter, kurzer Kammer- und anderer Opern
immerhin ungefähr die Werkzahl (55) seines Vor-
gängers Walter Sieg erreichen, 1926/27 blieb er aber
um ein Viertel dahinter zurück, trotzdem die Neuein-
studierungen sogar die Höhe von 13 erreichten. Sie
waren naturgemäß in ihrem Werte sehr ungleich. Wäh-
rend die Überprüfung von „Lohengrin" und „Tann-
häuser", die sich in ziemlich soliden Bahnen bewegte,
diese Opern in gereinigter Gestalt dem Spielplan neu
zuführte, auch Lortzings „Waffenschmied" als Gewinn
zu buchen war, ja „Fidelio", wenn man sich mit der
willkürlichen Umkostümierung abfand, sogar das Beet-
hoven-Gedächtnis würdig ehrte, hatte Anders „Schwarzer
Domino" ohne den rechten leichtfüßigen Esprit ge-
ringere Bedeutung, ganz zu schweigen von den wenig
gelungenen Aufführungen der „Weißen Dame" und
Puccinis „Tosca". Pfitzners „Armer Heinrich" und
Straußens „Rosenkavalier" boten nur neues Rollen-
studium. Spärlicher war dieses Mal das Kammeropern-
Dessert: Dittersdorf reizvoller „Doktor und Apotheker",
bereits 1925/26 versprochen, wurde nachgeholt, dazu
Boieldieus „Kalif von Bagdad" und Offenbachs „Herr
und Madame Denis", tvährend sein neu hergerichteter
„Orpheus in der Unterwelt" sich bedenklich dem Genre
einer modernisierten Lokalposse näherte, umso merk-
würdiger für Bekker als den Verfasser eines geistvollen
Offenbachbuches! In diesem Rahmen tvar nur noch
für drei Erstaufführungen Raum: Pergolesis ur-
altes kleines Intermezzo „Die Magd als Herrin"
aus den Anfängen der Spieloper ließ leider die Original-
Rezitative, die durch gesprochenen Dialog ersetzt waren,
vermissen. Kreneks „Orpheus und Eury-
d i k e" (nach Kokoschkas Dichtung, die den antiken Stoff
ins Pathologisch-Abstruse umbiegt) lockte zwar die pro-
minenten Kritiker nach Kassel, konnte aber doch bei aller
Mäßigung im instrumentalen Ausdruck über die emp-
findliche und schwer erträgliche Sterilität einer erfin-
dungsarmen, nur technisch-kombinatorisch arbeitenden
musikalischen Phantasie nicht hinwegtäuschen, und auch
Franz Schrekers „Gezeichnete" mit ihrem
lasterhaft-schönen Elysium werden, trotzdem der ein-
flußreiche Musikhochschuldirektor ihnen selbst in eigener
Person beiwohnte, ebenso wenig wie der neue Orpheus
im Repertoir hängen bleiben. Es mag begreiflich sein,
daß Bekker für Krenek und Schreker diese Opfer brachte,
aber wenn er statt ihrer die ebenfalls versprochenen
Debussy (Peleas und Melisande) und Janacek (Jenufa)
gewählt hätte, dann hätte er seine Rechnung erheblich
besser bilanzieren können, denn diese Werke bedeuten
doch wenigstens ein nicht zu unterschätzendes Plus in
der Operngeschichte, ja ob nicht unter dem Gesichts-
punkt des Kasseler Instituts eine vollständige szenische
und spielleiterische Erneuerung des „Ringes"
statt splendider Experimente sehr viel gewinnbringender
gewesen wäre, darüber kann man füglich streiten. Denn
der rapide Schwund des Spielplans mußte schließlich
notwendig seinen unheilvollen Einfluß auf die Stim-
mung der S t a m m b e s u ch e r und Freunde des
Theaters ausüben und sich in einer starken Abnahme der
Abonnentenzahl zeigen.
Der positive Erfolg der neuen Bekkerschen Spiel-
g e st a l t u n g, der neuen Formgewinnung in Bild,
Szene, Farbe, Linie, Rhythmus, Geste, Deklamation
und Gesangston beruhte lediglich darin, daß er zum
ersten Male alle Rundhorizont-Möglichkeiten voll aus-
nutzen konnte. Sonst mußte sein Versuch, von der
verfeinerten Darstellungsweise der Spiel- und Kammer-
oper her die allgemeine Operndarstellung zu refor-
mieren, zu einer gewaltsamen Verschmelzung aller Stile
der Vergangenheit in eine einzige S t i l f ch a b l o n e
führen, die alles zur Marionette und Maschine macht.
In der Tat offenbarten denn auch die allen Bekker-
schen Inszenierungen trotz stärkster optischer Reizmittel
anhaftende Nüchternheit und Verstaudeskühle im-
mer wieder die Grenzen der Theorie, daß sich die
elegante kultivierte virtuose und abgezirkelte Spieltechnik
eines „lebendigen musikalischen Theaters" mit seinen
Licht- und Farben-Erregungen, kunstgewerblichem Ge-
schmack, Symmetrie der Geste und Geschmeidigkeit von
Klang und Ton, kurz allen den mit klugem Hirn zu-
sammen addierten wirkungsvollen oder verblüffenden
Kombinationen der Opernszene wohl zu der sensationellen
Höhe eines experimentellen Opernthea-
t e r s, einer modischen Opern-Zivilisation aufschwingen
kann, daß ihr aber doch das Geheimnis der wahren
innerlichen E r l e b n i s - G e st a l t u n g im
Opern-Kunstwerk versagt bleibt, in der alle gemein-
schaftbildende Kraft des Theaters überhaupt ruht.
In Bckkers Nachfolger Ern st Legal, dem Darm-
städter Generalintendanten, hat Kassel wieder einen
Theaterfachmann bekommen, der einmal das schöne Wort
aussprach: „Die Zukunft des deutschen Theaters —
mag sie sich im einzelnen gestalten, wie es Zeit, Ort
und Gelegenheit heischen — wird am besten dadurch ge-
sichert, daß man die Bühnenkunst eng ans menschliche
Herz anschließt und dabei weniger an die Kunst, als
an das Leben denkt", und weiter hinzufügte: „Theater-
leiter: du mußt wieder zum Vater deiner Künstler
werden und zum Wundermann deines Publikums; du
mußt aus gütigem Herzen schenken und aus nichts
etwas machen können; du mußt nicht vor jeder Meinung
erschrecken und trotzdem den Puls deiner Zeit fühlen;
du mußt ein tapferer Mann sein und den ruhigen
Glauben an die Kraft deiner Wunderwelt haben." Von
ihm wissen wir, daß er das deutsche Theater als ein
Symbol deutscher Sehnsucht auffaßt. Von
ihm dürfen wir hoffen, daß er uns die Magie und
Unschuld eines Mysteriums, das uns in den Abstrak-
tionen einer spielerischen Ästhetik verloren zu gehen
drohte, in ihrer Schlichtheit und Durchseelung, in ihrem
überzeitlichen und wahren Ausdruck wiedergewinnen
möge. Or. Gustav Struck.
Schauspiel.
Nachdenl dem Winter eines mehr oder weniger großen
Mißvergnügens kein glorreicher Sommer gefolgt ist
und mit dem unerwarteten Abschied des Intendanten
nach Wiesbaden raschen Abschluß fand, kann auch der
rückwärts schauende Berichterstatter eine nicht allzu er-
freuliche Miene machen. Wenn zwar Berlin immer-
noch d i e Theatcrstadt ist, so herrscht doch erfreulicher-
weise auch anderswo in der sonst nur verächtlich ge-
nannten „Provinz" starkes Leben, eifriges Streben,
dramatische Höhenlage zu halten, ganz abgesehen von
dem nicht immer bedeutungsreichen Verlangen, durch
Uraufführungen der jungen Kunst zu helfen. Von diesem
heißen Kunstwillen war vom Frühjahr 1927 im Staats-
theater nicht allzuviel zu merken. Breit und anspruelM-
voll stand die Komödie im Rampenlicht. Nur zwei-
mal wurde der ehrliche Versuch gemacht, der großen
Kunst zu dienen. Es blieb leider vergebliches Bemühen
in der Wiedergabe von Rabindranath Tagores religiös-
symbolischem Königsspiel „Der König der dunk-
len Kamme r". Der tiefere Sinn der einzelnen
Züge der Handlung kann erst dem Leser der Dichtung
aufgehen, der schließlich auch in Indiens religiösen Vor-
stellungen, in seiner Literatur, in dem Krishna-Misra-
Kreise vertrauter ist. Der mittlere Theaterbesucher will
keine Rätsel lösen. Diesem Wunsche entsprach die Arr,
wie Hans Schlenck die 18 Märchenbitder in orientalisch
farbigen Rahmen gestellt hatte, wobei ihm der neu
verpflichtete Theatermaler Schönke zur Seite stand, aber
in einer Überladung des Bildhaften das Heil des Er-
folges suchte.
Der andere Versuch, der großen Kunst ein neuzeit-
liches Gewand zu geben, ging vom untauglichen Sub-
left aus: Shakespeares „W intermärche n", vom
Intendanten selbst bearbeitet, d. h. schon mehr ver-
gewaltigt. Wenn ich in meinen Theatererinnerungen
zurückwandere, die nun schon ein Menschenalter um-
fassen, an die dürftige Ausstattung der Klassiker in
der vormeiuigerschen Zeit denke, als Gustav Thies, „der
göttliche Gustav", die Welt in unserem kleinen Hos-
theater regierte, ein paar fragwürdige Kulissen links
und rechts in einen schön gemalten Himmel ragten, zwei
gegenübergestellte Stühle — es waren in allen klassi-
schen Stücken die gleichen — die Zimmerdekoration be-
deuteten: wahrhaftig, der Geist, der das Ganze trug,
er kam der Dichtung viel näher als diese protzige Aus-
machung Bekkers. Das überhelle Licht, die grellen
Linien, in denen die Gestalten wandelten, sprachen,
ihr Geschick enthüllten, nahmen ihnen viel von ihrer
Persönlichkeit, gaben ihnen etwas Kaltes, Fühlloses.
Dazu die jede Stimmung störenden buntscheckigen Ge-
wänder, um die halbseiden das Läppchen herumhing,
die seidenen Perücken, die in allen möglichen Lichtern
der J.-G.-Farbwerke glänzten; dagegen mußten wir
heiße Leidenschaft und menschliches Empfinden ver-
missen.
Als Versuche am untauglichen Objekt erwiesen sich
leider die Bemühungen der Spielleitung, die Kasseler
Theatergemeinde für das Neueste aus dem Reiche des
dramatischen Witzes der Herren Kaiser, Flamm und
Rehfisch zu gewinnen. Das technisch sabelhaft sichere,
in der Fabel stark gekünstelte „Stück" des ersten der
drei „Z w e i m a l Olive r", das überraschend schnell
nach der Uraufführung bei uns Eingang, aber wenig
Anklang fand, behandelt das alte Doppelgängermotiv,
in das elf Bilder umspannende Erlebnis eines Artisten
verflochten. Die eigene Umwelt, der wirksame Kulissen-
zauber, in dessen Getriebe uns der Dichter schauen
läßt, müssen uns über manches Zerrissene in der Hand-
lung hinwegsetzen. Tralow ließ die einzelnen Bilder
aus dem Dunkel auftauchen, verlieh ihnen das rasende
Tempo, das Kaiser und seine Geschehnisse beanspruchen.
Kreneks Musik belichtete das Dunkel der Zwischenszenen
stimmungfüllend und grotesk. Uhlig wuchs in seinem
Oliver über das Zerrbild zu eindrucksvoller Größe.
Doch ganz ohne Uraufführung sollte das Staats-
theater nicht bleiben. Erich M o s s e, sein kurzes Gast-
spiel als Regisseur am Kleinen Theater war gerade
erledigt, stellte sich unter dem Namen Peter Flamm
205
mit seiner Tragikomödie „W i n d von A l a s k a" vor.
Es war der ernst zu nehmende Versuch, Film und
Schauspiel zu verbinden. Das darf als geglückt gelten,
soweit die äußere Wirkung beabsichtigt war, der innere
Zusammenklang beider steht noch aus. Das Drum und
Dran des Kinos besticht zunächst, doch bald merkt man
die Schwäche: wenn der Dichter in seiner Kraft ver-
stummt, gibt ihm das Kino, was er nicht gestalten
kann. Ohne Filmzauber eine herzlich dünne Fabel
— die Rückkehr eines Verschollenen, der sein Weib in
den Armen eines anderen findet — eine Handlung,
die dadurch nicht an Ursprünglichkeit gewinnt, daß der
Heimkehrende eine exotische Mignon mitbringt, die dann
Trägerin des Schicksals wird. Diesem Alten vom Berge
lieh Ernst Wehlau einen Hauch von Großartigkeit, und
Paula Otte fand für die kleine Inderin ein rührendes
Bild.
Stark nach Filmzauber schmeckt auch Hans I. Reh-
fisch ' s „Duell am Lid o", eine Reihe derb hin-
gehauener Szenen, die in ihrem rasenden Tempo Dra-
matik vortäuschen. Zwischen ihnen gibt es Dialoge,
deren Zusammenhang mit den Geschehnissen — auch
vom nicht unbegabten Zuschauer — kaum verstanden
wird. Ein in allen Wassern gewaschener Hochstapler
Wedekindscher Prägung und ein malaiischer Nabob,
beide eigentlich Gegner im Punkte Liebe, machen schließ-
lich gemeinsame Sache und lassen die Frau hilflos
zurück, die aber dann doch von einer alten Exzellenz
in liebevolle Schutzhaft genommen wird. Die Hauptsache im
Stücke bleibt das fabelhaft raffiniert ausgedachte Bühnen-
bild, eine Halle mit Treppenhaus in einem Palasthotel in
Venedig, das Maschinerie-Direktor Waßmuth glänzend
gezaubert hatte.
Für den breiten Raum der Komödie darf ich mich
kürzer fassen, da hier mehr spielerische als literarische
Werte zu beurteilen sind. Bernauers und Oesterreichers
erfolgreiches Lustspiel „Der Garten Eden" blieb
auch hier nicht ohne lachende Genießer. Doch genau
besehen: wenn nicht eine lockere Chambressparoe-Szene
und eine jäh gestörte Hochzeitsfeier, bei der die Braut
in Dessous auf und davongeht, die stärkste Anziehung
der tollen Komödie wäre, könnte die Nähe der Courths-
Mahler ertötend wirken. „D i e B u m m e l st u d e n -
t e n", von demselben Herrn Bernauer im Verein mit
R. Schanzer, greifen im Geschmack eine Stufe tiefer.
Das Stück nannte sich vor vierzig Jahren „Auf eigenen
Füßen" und erfreute damals ein anspruchsloseres Ber-
liner Publikum. Es ist durch Bogumil Zepplers Brettl-
weisen, durch lokale Anspielungen und karnevalistische
Elemente nicht besser geworden. Hatte hierbei schon
Gustav Pickert manches Eigene getan, so lernten wir
ihn in seinem bescheiden genannten „heiteren Spiel":
„Lüttgewitts Hochzeit" zum anderen Male als
Autor kennen. In klingenden Reimen wird uns die
hübsch ausgedachte Geschichte eines humorvollen Fünf-
zigers aus falschen Freiersfüßen vorgespielt, den seine
Freunde und Verwandten von seiner unzeitlichen Erotik
Aus Heimat und Fremde.
5p o ch s ch ulitst ch r x cs) t e n. M a r b u r g: einläß-
lich der 400-Jahrfeier der Universität wurden ernannt:
zu Ehrensenatoren: (ehemalige Ehrenbürger) Geheim-
rat Professor Dr. 5) a e u ß e r - Höchst, der Vorsitzende
des Universitätsbundes Marburg, Dr. George 5p o r st -
Amerika, Dr. Ludwig Pfeiffer- Kassel, Sanitätsrat
Dr. S a r d e m a n n - Marburg; (neuernannt) Landes-
hauptmann L u t s ch - Wiesbaden, Landesdirektor Dr.
Schmieding-Arolsen, Amtsgerichtsrat Wald-
206
heilen und ihn ein gemäßeres Glück finden lassen.
Der Dichter zeichnete als Darsteller diesen Lebens-
künstler mit den reichen Mitteln seiner fröhlichen Laune.
Hans Sturms „Irrgarten der Liebe" blieb
die heitere Gefolgschaft nicht versagt, wenn der Schwank
auch keine neue Komödie der Irrungen wurde, dazu
wird das leicht gebaute Trugschloß des Verfassers vom
Zuschauer zu rasch erkanut. Hans Schlenck führte
noch einmal flott und liebenswürdig die Regie. Er
geht nach München, nun ein Könner geworden, der
vor Jahren bei uns „katastrophal" begann. Am wenig-
sten gefiel Sternheims ätzende und verletzende Ko-
mödie „Die K a s s e t t e". Man weiß nicht recht,
was diese Dichtung aus der ersten Schaffenszeit Stern-
heims, da ihm Verspottung und Verhöhnung der Bürger
Lebensgefühl war, noch heute soll, da sie doch wahr-
haftig keine Literatur geworden ist.
Lichtpunkte der nachwinterlichen Spielzeit waren ein
paar Gastspiele, darunter das tiefste Ereignis ein Gast-
spiel der Düsseldorfer mit Paul Raynals Drama:
„Das Grabmal des unbekannten S o l -
d a t e n". Kriegsdichtung im edelsten Sinne, zugleich
Ausdruck des geistigen Frankreich, das von einem Bar-
busse und Rolland geführt wird. Es ist das Erlebnis
eines Todgeweihten, der, um vier Tage Heimaturlaub
zu genünnen, um mit seiner heißgeliebten Aude ver-
bunden zu werden, sich freiwillig zu einem Opfergang
bereitsindet, von dem es keine Wiederkehr gibt. Es ist
das Schicksal eines Einzelnen, aber da es Tausende er-
lebt haben, da es von einem echten Dichter gestaltet
wird, erblüht hier eine Dichtung, die uns nicht ohne
Erschütterung freigibt. Daß die Aufführung auf aller-
erster Höhe stand, dafür bürgt der Name Luise D u -
m o n t, die seit zwei Jahrzehnten vorbildliche Schau-
spielkunst schafft. Vom Wiener Burgtheater
sahen wir in gleicher Vollendung ein harmloses Spiel,
eine dichterische Laune: „D er Schwa n" von Franz
Molnar. Aber gerade darin zeigte sich die Höhenlinie
der Wiener, daß sie uns mit dieser Plauderei in jeder
Szene fesselten. Und wo dem Dichter der Atem ausging,
tat diese vornehme Kultur und Kunst ihren befreienden
Zug Für die älteren Theaterbesucher war es eine
besondere Freude in der ersten Darstellerin, in Hedwig
Bleibtreu, eiue ehemalige Künstlerin des alten Hof-
theaters aus den neunziger Jahren begrüßen zu können.
Hedwig Wangels — der einst bei Brahm und Rein-
hardt gefeierten Künstlerin — Gastspiel zeigte an der
Stätte, wo sie vor Jahren ihre Laufbahn begann, als
Rosa im „Garten Eden" alle Vorzüge ihres großen,
starken Könnens. Sie kann noch alles sein, derb,
vornehm, naturalistisch und liebenswürdig; aber ihr
Auftreten im Staatstheater erweckte den Anschein, als
sei es mehr ein Vorspiel zu ihrer öffentlichen Rede
am nächsten Abend, wobei sie die Herzen für ihre
sozial-helfenden Absichten (Hedwig Wangel-Heim in
Starkow in Brandenburg) gebefreudig stimmen wollte.
A. Latwescn.
s ch m i d t - Arolsen, Präsident der Landwirtschafts-
kammer v. K e u d e l l - Kassel, Landrat T h ö n e -
Witzenhausen, Landrat I e n n e r - Weilburg, Landrat
v. Pappen heim- Kassel, der Vorsitzende des Lan-
desausschusses Hopf-Wiesbaden, Landesrat Dr.
Schellmann - Kassel, Landrat Schwebe! - Mar-
burg, Direktor der landwirtschaftlichen Hauptgenossen-
schaft Tönsmann -Corbach, Oberbürgermeister Dr.
L e h r- Düsseldorf, Oberbürgermeister Müller-Mar-
bürg, Stadtverordnetenvorsteher Justizrat R o h d e -
Marburg, Rechtsanwalt vr. Grimm- Essen, Dr. mock.
Rosenblath - Wernigerode, Richard Weber- Kas-
sel, Vorsitzender des Mitteldeutschen Zeitungsverleger-
vereins und Herausgeber der „Kasseler Post", Verlags-
buchhändler Gottlieb Braun-Marburg (Verlag N.
G. Elwert), Lehrer Kappus-Wiesbaden, Dr. Adolf
S ch ü r m a n n - Chile. Ferner zu Ehrendoktoren der
Theologischen Fakultät: Pfarrer und Kirchenrat Lic.
Wilhelm Lucken- Frankfurt a. M., Pros. vr. Anton
Fridrichsen -Oslo, Prof. vr. Jacob Wacker-
nagel- Basel, Prof. vr.
William Mitchell
R a m s a y - Edinburg,
Dr. Walter Simons,
Präsident des Reichs-
gerichts, Leipzig, Dr.
Carl Duisberg-Le-
verkusen, Studienrat
Walter Classen-Ham-
burg, Oberpräsident vr.
Rudolf Schwander-
Kassel, Landeskonser-
vator der Kunstdenk-
mäler im preußischen
Staat Robert Hiecke-
Berlin. Ehrendoktoren
der Juristischen Fakul-
tät: Geh.Ratv.Below-
Freiburg, Geh. Rat
Frank-München, Geh.
Rat Kehr, General-
direktor der Preußischen
Staatsarchive, Berlin,
Landeshauptmann von
Gehren-Kassel, Prof.
Reuterskiöld-Upsala,
Staatssekretär im preu-
ßischen Justizministe-
rium Fritze- Berlin,
Geh.Rat F.v.Müller-
München, Oberbürger-
meister Schüler-Mar-
burg. Ehrendoktoren der
medizinischen Fakultät:
Prof. Becker, Minister
für Wissenschaft, Kunst
und Volksbildung, Geh.
Rat von Goebel-
München, Prof. M e-
waldt - Königsberg,
Präsident vr. S ch r o e -
der- Kassel, Geh. Rat
Schenk-Münster, Mi-
nister S a e m i s ch -Pots-
dam, Prof. vr. Gysi-
Zürich, Geheimrat H a e u ß e r- Höchst a. M., vr. mock.
Albert von H o f m a n n - Göttingen und Prof. vr.
Gadamer - Marburg. Ehrendoktoren der Philoso-
phischen Fakultät: 1. vr. phil.: Karl Albrich, Schul-
rat, Hermannstadt, Ludwig A s ch o f f, Geheimer Rat,
Professor vr., Freiburg i. Br., Paul Bau m, Prof.,
Maler, Marburg, John Davidson B e a z l e y, M. A.,
Professor, Oxford, Oskar Beth g e, Studienrat, Pro-
fessor, Frankfurt a. M., August B i e r, Geheimer Me-
dizinalrat, Professor vr., Berlin, Benedetto C r o c e,
Senator, Neapel, D a r a b P e s h o t a n S a n j a n a,
B. A., Dastur, Schams-ul-ullema, Bombay, Mac von
Frey, Professor vr., Würzburg, Godefrey Harold
H a r d y, M. A., Professor, Oxford, Ernst H e y m a n n,
Geheimer Justizrat, Professor, vr., Berlin, Hermann
Höpker-Aschoff, Staatsminister, vr. für., Berlin,
Georg Kolbe, Professor, Bildhauer, Berlin, Ale-
xander Friedrich Landgraf von Hessen,
Königliche Hoheit, Schloß Panker, Schleswig-Holstein,
Robert Längs, Erster Kapellmeister, Kassel, Karl
Ludwig Pfeiffer, Präsident der Handelskammer,
Kasfel, Arthur Kingsley Porter, Professor,^Cam-
bridge (Mass.), Alfonfo P r u n e d a, Rektor der Staats-
univcrjität, vr. meck., Mexiko, Carl Roderbourg,
Direktor der Akkumula-
torenfabrik A.-G., Ha-
gen, Eugen Rost, Geh.
Regierungsrat, Prof,
vr.,Berlin, Max Rub-
n e r, Geh. Obermedizi-
nalrat, Professor vr,
Berlin, W. Schaefer,
Schriftsteller, Ludwigs-
hafen am Bodensee, Lu-
dolf Schilling, Ober-
forstmeister, Professor,
Eberswalde, Jac. Gould
Schurmann, Exz.,
Botschafter der Ver-
einigten Staaten von
Amerika, Berlin, Walter
Straub, Geh. Hofrat,
Professorvr, München,
Arjö W i ch m a n n, Pro-
fessor, Helsingfors,2.vr.
rsr. pol.: Gg. A N t 0 N i,
Oberbürgermeister vr.
für., Fulda, Friedrich
Schmitt-Ott, Exz.,
Präsident der Notge-
meinschaft der Deutschen
Wissenschaft, Staats-
minister vr., Berlin,
Herbert S t a d l e ^Ober-
bürgermeister, Kassel,
Wilhelm Waetzoldt,
Geheim. Regierungsrat,
Professor vr., Berlin.
Eine besondere Ehrung
wurde dem Kurator der
Universität, Geheimen
Oberregierungsrat vr.
Ernst von Hülsen,
indem ihn Philosophische
und Juristische Fakultät
gleichzeitig zum vr.pbil.
und vr. rer. pol. pro-
movierten. Außerdem
phoi. W. Mauß. wurde sowohl Geh. Rat
v.Hülsen lute der Rektor Geheimrat Prof. vr. Busch
anläßlich der Feier zu Ehrenbürgern der Stadt Mar-
burg ernannt. Weiterhin wurden ernannt zu a. o. Pro-
fessoren Lic. Dr. Theodor Siegfried, Landgerichts-
rat vr. Wilh. L u d e w i g, vr. Hans Gerber, vr.
Oskar W i e d h o p f, vr. Gerhard D e n e ck e, vr. Ma-
ximilian K r a f f t, vr. Joh. M a n n h a r d t, Musik-
direktor vr. H. S t e p h a n i, Studienrat vr. Wilh.
E n ß l i n, vr. Siegfried K a e h l e r. — Für das
Amtsjahr 1927/28 wurde Prof. D. Freiherr v. Soden
zum Rektor gewählt. Die Wahl der Dekane hatte fol-
gendes Ergebnis: Theologische Fakultät: Prof. v.
Friedrich N i e b e r g a l l, Juristische Fakultät: Prof.
Das Gefallenendenkmal der Universität Marburg.
207
Dr. M st n i q f, Medizinische Fakultät: Prof. Dr. Wal-
ther llffenorbe, Philosophische Fakultät: Prof. Dr.
Paul Jacobsthal. — Für das .Fach der Chemie
habilitierte sich Dr. Ludwig A n s ch ü tz mit einer Vor-
lesung über „Katalyse und Enzymwirkung im Haushalt
rer Technik und der Natur". — Gießen: Die juri-
stische Fakultät verlieh dem Gießer Oberbürgermeister
Keller, dessen Initiative die Universität zahlreiche
bedeutende Stiftungen durch die Stadt verdankt, die
Würde eines Ehrendoktors. — Ferner ernannte die
philosophische Fakultät Rudolf v. Ihering in St.
Paulo (Brasilien) in Anerkennung seiner Verdienste um
die Erforschung der brasilianischen Tierwelt zum Ehren-
doktor. Jhering ist ein Enkel des berühmten Rechts-
gelehrten. — Der Lektor für französische Sprache Dr.
Walter G o t t s ch a l k erhielt die venia le^encii für
das Fach der romanischen Philologie. — Der Privat-
dozcnt für Neurologie und Psychiatrie Dr. meä. Edgar
L e y s e r ist 33 jährig gestorben.
P e r s o n a l ch r o n i k. Am 2l. Juli vollendete der
Direktor der Aktien-Gesellschaft für Druck und Ver-
lag (vorm. Gebrüder Gotthelst) Richard G o t t h e l f t
in Kassel in außerordentlicher Arbeitsfrische sein 70.
Lebensjahr und erfuhr vielfache Ehrungen. Als her-
vorragender Fachmann hat er das von ihm geleitete
Unternehmen zu hoher Blüte gebracht. Er ist Vor-
standsmitglied der Deutschen Buchdruckcr-Berufs-Ge-
nossenschaft und hat sich um den Zusammenschluß der
Buchdrucker unserer engeren Heimat verdi.ent gemacht.
Seines liebenswürdigen Charakters und seines feinen
Humors wegen genießt er in weiten Kreisen die
größte Wertschätzung. — Die Tochter des letzten kur-
hessischen Kriegsministers Friedrich von Meyerfeld, Frau
Regierungsrat Marie Keppel in Marburg, beging
am 11. August in geistiger Rüstigkeit und Frische ihren
92. Geburtstag. — Am 9. August beging der im ganz
Fuldaer Land bekannte Geistliche Rat und Pfarrer in
Dipperz v. d. Rhön Joseph N e y, ein geborener Ful-
daer, seinen 80. Geburtstag. Er war Pfarrer in
Hanau, Domkaplan in Fulda und wirkt seit 1886
als Pfarrer in Dipperz. Er ist ein reger Förderer der
Raiffeisenorganisation und hat nach dem großen Brand
in Dipperz mit Umsicht den Wiederaufbau des Dorfes
und der Kirche geleitet. — Gleichfalls 80 jährig wurde
am 22. August der in Schlierbach geborene Lehrer a. D.
August Lohrmann in Hersfelo, ein Schüler Dr.
Wilhelm Volckmars auf dem Homberger Seminar. In
Hersfeld war er 38 Jahre an den Städtischen Schulen
tätig und hat nicht nur als Komponist, sondern auch.
als Leiter des Hersfelder Quartett- und des Musik-
vereins das Hersfelder Musikleben in reichem Maße
gefördert. — Der seitherige Vizepräsident des Kasseler
Provinzialschulkollegiums Dr. B o r b e i n tritt am
1. Oktober in den Ruhestand. Sein Nachfolger wird
der bisherige Hilfsarbeiter im Ministerium Oberschulrat
Dr. Sondag, ein geborener Rheinländer. — Der
hessische Staatspräsident Ullrich hat dem Dichter Kasimir
E d s ch m i d t den hessischen Staatspreis für Literatur
(Georg Büchner-Preis) verliehen.
Todesfälle. Am 21. Juli verstarb in seiner
Vaterstadt Darmstadt der hessische Staatsminister des
Innern und der Justiz Otto von Brentano. 1855
geboren, wirkte er seit 1891 als Rechtsanwalt in Offen-
bach, wurde 1897 Landtagsabgeordneter im Großherzog-
tum Hessen und übernahm als solcher die Führung
der Zentrumsfraktion. 1919 wurde er in die National-
versammlung gewühlt und übernahm im gleichen Jahr
das hessische Justizministerium, wozu er später das
Innenministerium hinzunahm. — In Gießen verschied
208
der seit etwa 30 Jahren in Oberhessen als Obstbau-
fachmann tvirkende Obstbauinspektor Friedrich W i e ß -
n e r im Alter von 70 Jahren. Seit 1920 stand er
im Dienst der Landwirtschaftskammer. Zahlreiche Kir-
schenpflanzungen in Oberhessen, besonders im Vogels-
berg, sind sein Werk. — Am 5. August entschlief zu
Marburg unerwartet der Pfarrer an der lutherischen
Pfarrkirche Friedrich H e e r m a n n, nachdem er noch
wenige Stunden zuvor bei einer Beerdigung amtiert
hatte. In der Grafschaft Schaumburg am 16. Juli
1859 geboren, kam er als junger Student nach Mar-
burg, wurde ordiniert 1882, war dann Pfarrgehilfe in Goß-
felden und Marburg, kam als Pfarrer nach Frankenberg
und kehrte 1893 nach Marburg zurück. Der beliebte
Geistliche hat fast vier Jahrzehnte seines Lebens seine
seelsorgerische Tätigkeit in Marburg ausgeübt. Mit
ihm sinkt ein Stück Marburger Pfarrgeschichte ins
Grab. — Im Alter von 82 Jahren verstarb in Kassel
der Ehrenöbermeister der Kasseler Fleischerinnung Hein-
rich S t ö h r. In Rosenthal geboren, siedelte er früh
nach Kassel über, wo er sich 1871 selbständig machte.
Im Rahmen des Deutschen Fleischerverbandes gründete
er den Bezirksverein „Beide Hessen und Nassau".
Stöhr war Ehrenmitglied der Kasseler Turngemeinde 44
und der Kasseler Liedertafel. — Am 13. August erlag
erst 57 jährig in Kassel der Präsident des evangelischen
Kirchenamtes D. Karl Stamm einer Herzlähmung.
Am 17. September 1870 in Borken geboren, wurde er
nach Besuch des Marburger Gymnasiums und der
Universitäten Würzburg, Berlin und Marburg Justitiar
am Konsistorium in Kassel, war dann längere Zeit
Amtsrichter in Borken, wurde 1908 Konsistorialrat in
Kassel und 1924 Präsident des Landeskirchenamts.
Stamm wirkte hervorragend mit an der Ausarbeitung
der neuen Kirchenverfassung der evangelischen Landes-
kirche in Hessen-Kassel und ertvarb sich bedeutende Ver-
dienste um das Kirchenbauwesen, die innere Mission
und die Kirchenmusik. Die Universität Marburg verlieh
ihm 1926 den theologischen Doktorgrad. — In Hanau
starb im Alter von 66 Jahren der Gründer und In-
haber der Platinschmelze G. Siebert G. m. b. H. Dr.
Wilhelm S i e b e r t. Wegen seiner bedeutenden Ver-
dienste auf dem Gebiet der Platin-Metallurgie- wurde
er 1922 von der Technischen Hochschule in Stuttgart
durch Verleihung des Dr.-Jng. ehrenhalber ausgezeichnet.
Am 12 5. Geburtstag des letzten hessi-
schen K u r f ü r st e n war dessen Grab am Kasseler
Lutherplatz wieder von treuen Hessenhänden reich mit
Kränzen, rotweißen Schleifen und Blumen geschmückt.
Oberstadtsekretär a. D. A l d a g, der in rührender Pflege
jahraus, jahrein die Ruhestätte seines einstigen Herrn
betreut, hatte im angrenzenden Mausoleum der Kur-
fürstin Karoline eine althessische Sammlung veran-
staltet, die stark besucht wurde.
Der Nachlaß Maltvida von Meysen-
b u g s. Der Handschriften-Abteilung der Weimarer
Landesbibliothek ist durch Vermittlung von Fräulein
Berta Schleicher in München der Nachlaß Malwida von
Meysenbugs zugekommen. Die Hinterlassenschaft der
Verfasserin der „Memoiren einer Jdealistin", der Freun-
din Mazzinis und Herzens, Richard Wagners und
Nietzsches, besteht aus 164 Briefen, 826 Blatt Manu-
skripte und 8 Photographien.
Heimatmuseen. Nachdem die verschiedenen
Grenzorte des Bogelberges, wie Alsfeld, Friedberg und
Schlitz, schon ein eigenes Heimatmuseum errichtet haben,
suchte man bisher im Kern des Vogelsberges vergeblich
nach einer solchen Stätte. Mn hat der Gemeinde-
rat von Schotten den Saal des Schottener Rat-
Hauses für solche Zwecke zur Verfügung gestellt. Das
Schottener Rathaus stellt einen der schönsten Fachwerk-
bauten des Vogelsberges dar. — Jetzt hat auch die
Stadtverwaltung in Großalmerode die Gründung
eines Heimatmuseums beschlossen und die Einwohner
aufgefordert, passende Gegenstände zur Verfügung zu
stellen. Hier wird vor allem die Jahrhunderte alte
weltberühmte Tonindustrie berücksichtigt werden müssen.
Die Hauptversammlung des Provin-
zial st ädtetages für Hessen-Nassau und
Waldeck findet am 15. bis 17. September in Eschwege
statt.
Monumenta Germaniae Historie a. Die
von Ernst Hehmann geleitete Abteilung für Gesetze
geht an die Herausgabe der späteren Rechtsbücher. Für
die Ausgabe des Frankenspiegels wurde Privatdozent
Dr. Eckhardt-Göttingen, ein geborener Witzenhäuser, ge-
wonnen.
Ter kurhessische L a n d e s a u s s ch u ß ge-
währte u. a. Beihilfen zum Ausbau des Ludwigstein,
zur weiteren Ausgestaltung der zu Ehren der Gefallenen
errichteten Kriegerehrung in der Bellevue zu Kassel
und zur Wiederherstellung des Rathauses zu Zieren-
berg, das wie das Frankenberger Rathaus für die
Zeit der Gotik besonders charakteristisch ist. Bekannt-
lich liegen auch die beiden einzigen Rathäuser Deutsch-
lands, die noch der romanischen Stilepoche entstammen,
nämlich das in Gelnhausen und Fritzlar, gleichfalls
in Hessen.
Marburg. Vor etwa zwei Jahren wurden im
Walde unmittelbar oberhalb des Elisabethbrunnens bei
dem Dorfe Schröck die Grundmauern der alten Elisabeth-
kapelle durch Zufall entdeckt. Dank der Bereitstellung
von Geldmitteln durch die Staatsregierung können jetzt
die Ausgrabungen fortgesetzt werden. Die Arbeiten
stehen unter der Aufsicht des Staatsarchivdirektors Geh-
Rat Dr. Kü ch.
Eschwege. Die historische Glocke der Alt-
städter Kirche ist auf dem Nicolaiturm angebracht wor-
den. Die Glocke ist 1686 in Eschwege selbst gegossen
worden. Ihres historischen Wertes wegen -steht sie
unter Denkmalsschutz. — Eine besondere feierliche Note
erhielt diesmal das Johannisfest durch die Einweihung
des neu auf dem Schloßturm aufgestellten Dietemanns,
die sich zu einer denkwürdigen Feier gestaltete.
Zur Geschichte des Klosters Fulda. Pro-
fessor Paul Lehmann-München entdeckte in Oxford eine
aus Würzburg stammende Kopie des berühmten und
viel erörterten Schreibens Karls des Großen an den
Abt Bangulf von Fulda über Bildung der Kloster-
geistlichkeil und die Notwendigkeit des Studiums. Ferner
konnten durch die Forschungen Professor Lehmanns dem
mit 361 Bildern geschmückten Kodex des Rhabanus
Maurus aus Monte Cassino von 1023 zum ersten
Male zwei andere illustrierte Handschriften desselben
Werkes aus der Vatikanischen Bibliothek angeschlossen
werden. Besonders wertvoll ist ein 1425 in Deutsch-
land abgeschlossener Band, der einst dem Pfälzer Kur-
fürsten von Heidelberg gehört hat.
H e r s f e l d. Die 1200-Jahrfeier der Stadt Hers-
seld wird in verschiedenen Zeitungen schon als in
allernächster Zukunft bevorstehend bezeichnet. Eine
1200-Jahrfeier kommt aber frühestens für das Jahr
1936 in Frage, wenn man die Entstehung Hersfelds
von der ersten Siedlung durch Sturm an rechnet —
Die Vereinigung ehemaliger Klosterschüler, die jetzt
1200 Mitglieder zählt, veranstaltet in Hersfeld am
16. Oktober ein Treffen der alten Semester. Es werden
alle ehemaligen Schüler der über 350 Jahre alten, in
ganz Hessen und Thüringen bekannten Klosterschule
aufgerufen, die 1896 und früher die Schule verlassen
haben. Die Veranstaltung ist die erste große Zu-
sammenkunft, die seit Gründung der Vereinigung 1922
getroffen wird.
Spangenberg. In dem vom Kreise Melsungen
erworbenen von Müldenerschen Lehensgut in Elbers-
dorf fand man beim Loslösen vergilbter, überein-
ander geklebter Tapeten prachtvoll erhaltene Ölgemälde
aus dem 17. Jahrhundert. Das etwa 5 m lange und
3 m hohe Hauptbild stellt eine morgenländische Königin
dar, die den Tribut der ihr untergebenen Fürsten ent-
gegennimmt. Ein anderes Bild zeigt ein Schäfer-
stündchen zweier Liebenden im Walde.
Oberkaufungen. Eines der ältesten Wahr-
zeichen unseres Ortes, die vor dem Stiftstor auf Ge-
meindeeigentum stehende Stiftslinde, fiel bei einem
nächtlichen Gewittersturm über die Mauer des alten
Friedhofes. Die 1924 unter Naturschutz gestellte Linde
hatte ein Alter von etwa 500 Jahren.
F r i e d b e r g. In der alten Burg Assenheim wur-
den unter Leitung von Prof. Dr. Blecker vom Fried-
berger Geschichts- und Altertumsverein die Fundamente
alter römischer Bauten freigelegt, daneben aber auch
Siedlungen aus der jüngeren Steinzeit. Damit wurde
auch hier der Beweis erbracht, daß römische Sied-
lungen mit Vorliebe auf älteren Siedlungen aufgebaut
wurden. Die Ausgrabungen werden fortgesetzt.
W i tz e n h a u s e n. Spier wurde, wie zuerst vor
70 Jahren, in der festlich geschmückten Stadt wieder
das Erntedankfest mit Fackelzug, Kommers, Festpredigt,
Festzug und Illumination begangen.
E s ch e n st r u t h. Genau wie Bettenhausen wird
auch Eschenstruth im Jahre 1126 zuerst urkundlich ge-
nannt. Aus diesem Anlaß soll am 3., 4. und 5. Sep-
tember eine Jubiläumsfeier stattfinden.
G r o ß b u r s ch l a. In der Kirche zu Großburschla
wurden Reste aus romanischer Zeit entdeckt. Sie zei-
gen Beziehung zur Hirsauer Bauschule, deren Einfluß
in dieser Gegend bisher unbekannt war.
Treihausen (Kr. Marburg). In einem hiesigen
Basaltwerk wurden bei Abräumungsarbeiten eine Anzahl
Silbermünzen aus der Zeit des 30 jährigen Krieges
gefunden.
Aus dem Wettert al. Die Reste eines früheren
Gradierbaues hat man in dem Dorfe Wisselsheim,
Kreis Friedberg, aufgefunden, auch entdeckte man Dorn-
stein. Hier hat um das Jahr 1600 eine alte Saline
gestanden, die 1830 eingegangen ist. Darauf ist auch
das Vorkommen seltener Salzpflanzen zurückzuführen.
Wetter. Bei der Weiterlegung der Wasserleitung
an der Burgruine Mellnau stießen die Arbeiter auf
ein altes, treppenartiges Kellergewölbe, in dem Menschen-
und Pferdeknochen sowie irdene Geschirre usw. gefunden
wurden. Es sind Bestrebungen im Gange, die aus der
Mitte des 13. Jahrhunderts stammende Burg, von
der man einen prachtvollen Blick über die Gegend des
Christenbergs und des Wetschaftstals hat, nicht ganz
verfallen zu lassen.
Vom L u d w i g st e i n. Im Anschluß an unsere
kürzlichen Mitteilungen über die Lotterie zu Gunsten
der Jugendburg Ludwigstein können wir heute mit-
teilen, daß der Ziehungstermin von der Aufsichtsbe-
hörde auf den 12. Januar 1928 festgesetzt wurde. Der
Losabsatz ist jedoch so günstig, daß die Ausspielung
vermutlich wesentlich früher erfolgen wird. Es sind
in 10 Wochen 220 000 Lose abgesetzt worden. Das ist
bei dem so überaus reichhaltig ausgestatteten Gewinn-
plan auch kein Wunder, da ja bei 700 000 Losen
209
354 205 Gewinne mit RM 340 640.— Gesamtwert zur
Ausspielung kommen. Hauptgewinn ist bekanntlich ein
völlig möbliertes Landhaus mit 6 Zimmern, Winter-
garten, Bad u. a. Nebengelaß. Sämtliche Gewinne
sind von vereidigten Sachverständigen abgeschätzt, so
das; eine Schädigung der Gewinner völlig ausgeschlossen
ist. Lospreis 50 Rpf. Der Reinertrag ist für den
Ausbau der Jugendburg Ludwigstein bestimmt, die das
Denkmal der im Weltkriege gefallenen deutschen Jugend
darstellt. Pflicht eines jeden Jugendfreundes ist es, die
Bestrebungen der Bereinigung durch Kauf einiger Lose
zu unterstützen. Lose sind zu haben in allen Jugend-
bünden und bei der Geschäftsstelle der Ludwigstein-
lotterie, Berlin SW 61, Belle-Alliance-Str. 6, Post-
scheck: 23 856. — Am 20. und 21. August wurde das
erste der Ludwigsteiner Burgfestspiele, ein Schauspiel
Georg M o h r s „Die Hexe vom Ludwigstein" (ein
Stück Ludwigsteiner Geschichte aus dem Jahr 1573),
aufgeführt.
G u d e n s b e r g. Die Gudensberger Schützengilde
beging vom 30. Juli bis 1. August die Feier ihres
300 jährigen Bestehens. Ihr Schützenbanner trägt neben
dem Namenszug des Stifters, Landgraf Wilhelms V.,
die Jahreszahl 1627. Die Schützengilde selbst wird
aber wohl erheblich älter sein.
Auf dem Knüll fand am 14. August die Auf-
führung des „Tellspiels der Schweizer Bauern", das
Franz Johannes Weinrich neu bearbeitete, statt.
5 0 Jahre Fernsprecher. Der bekanntlich
von dem hessischen Lehrer Philipp Reis erfundene Fern-
sprecher, ohne den heute unser gesamtes modernes Wirt-
schaftsleben nicht denkbar wäre, gelaugte 1877 — also
vor 50 Jahren — bei der Deutschen Reichspost unter
dem Generalpostmeister Stephan zur Einführung.
Bon der Wartburg. Der Ausschuß der Wart-
burgstiftung beschäftigte sich erneut mit den zu ergrei-
fenden Maßnahmen zur Erhaltung der berühmten
Schwindfresken aus der Wartburg. Bon der Einrich-
tung einer elektrischen Heizungsanlage, die von Sach-
verständigen zum Schutze dieser Gemälde vorgeschlagen
worden war, wurde nochmals Abstand genommen, da
erst noch weitere Gutachten eingezogen werden sollen.
Inzwischen soll während des Winters noch einmal
mit der provisorischen elektrischen .Heizung versucht
werden, ob sich die Erhaltung der Fresken auf diese
Weise ermöglichen läßt. Die Nnrichtung der elektrischen
Heizungsanlage würde sich auf 35 000 RM belaufen.
Friedrichs hausen, bei Frankenberg. Unsere
Kolonie beging ihr 150 jähriges Bestehen durch ein
wohlgelungenes Heimatfest.
Karlshafen. Die Fischreiher sind in diesem
Jahre wieder sehr stark in der Hulunecke bei Herstelle
an der Kassel-Pyrmonter Straße vertreten. Man zählt
zuweilen Schwärme bis zu dreißig Stück. Schätzungs-
weise sind in der ganzen Siedlung etwa 80—100
Pärchen. Im ganzen Wesertale gibt es nur noch wenige
Horste und zwar bei Herstelle, Bursfelde und in der
Nähe von Holzminden. Die Tiere sind sehr zahm, und
es ist ein interessantes Schauspiel für Fahrgäste der Per-
Bücherschau.
Adolf K e y s s e r, Die Jugendtage eines Kleinstädters.
Allerlei aus dem alten Rinteln a. d. W. Mit 6 Ab-
bildungen. Ein Heimatbuch. Rinteln, Bösendahl
1927. 139 Seiten. Preis 3 M.
Der seir 1915 im Ruhestand zu Hiddesen bei Det-
mold lebende ehemalige Direktor der Kölner Stadt-
210
sonendampfer, das Treiben der Reiher an der Weser zu
beobachten, wo sie den Dampfern oft mehrere hundert
Meter stromauf- und stromabwärts folgen. Vielen Frem-
den ist die Siedlung der Fischreiher ein gern besuchter
Ausflugsort, zumal das Vogeldorf von der Straße
leicht zu erreichen ist; es liegt nur zwei bis bad
Minuten abseits.
Wolfhagen. Aus Anlaß des 700 jährigen Be-
stehens der Stadt wird im Laufe dieses Jahres eine
neue Stadtgeschichte, bearbeitet von Obertelegraphen-
iuspektor Siegel in Kassel, herausgegeben. Die von
Lynker bearbeitete Geschichte ist im Buchhandel nicht mehr
zu haben. Bon einer besonderen Feier des Jubiläums
will man auch in diesem Jahre absehen.
Mansbach. Vorbildliche V o g e l p f l e g e.
In bezug auf tatkräftigen Vogelschutz ist Mansbach,
insbesondere das hiesige Union-Gestüt manchen anderen
Orten voraus. Das Gestüt hat die im Kriege nieder-
gefällten Wälder wieder umfangreich aufforsten lassen.
Ter neue Aufwuchs wird den heimatlos gewordenen
Vögeln einen sicheren Zufluchtsort bieten. Aus den
Wurzeln der gefüllten mächtigen Baumriesen ist ein
dichtes Gesträuch erwachsen, das der Vogelwelt ein
sicheres Schutzgehölz schafft. Tie natürlichen Zäune, die
zur Einfriedigung der Pferde-Koppeln dienen, werden
alljährlich unter fachkundiger Leitung des dazu be-
rufenen Gestütsgärtners beschnitten. Der Zweck dieser
Sache ist, daß sich dadurch die Hecke stark verzweigt
und noch wichtiger: stark vergabelt. Den Heckenbrütern
wiro dann selbstverständlich eine gute Schutz- und Nist-
gelegenheit geboten. Um die Not der Vögel im Winter
zu lindern, sorgt in anzuerkennender Weise das Union-
Gestüt für regelmäßige Fütterung. Für die Brut sind
zahlreiche Nistkästen, namentlich für Star und Meise
aufgehängt. Dem Gute, insbesondere seinem Gärtner
Schwabe, ist auf dem Gebiete des Vogelschutzes ein
großes Verdienst zuzuschreiben.
Gemeindeob st erlös in Kurhessen. Die
Landwirtschaftskammer veröffentlicht eine Zusammenstel-
lung der Einnahmen, die den Gemeindekassen des Re-
gierungsbezirks Kassel durch den Verkauf des im Jahre
1926 geernteten Obstes zugeflossen sind. (Die einge-
klammerten Zahlen sind die Obsterlöse des Jahres 1925.):
Kassel-Land 35 431.29 RM (24 960.25 NM), Eschwege
40 310.70 RM (33 342.20 RM), Frankenberg 100 344.29
RM (19 951.05 RM), Gelnhausen 7 153.26 RM
(22 182.72 RM), Gersfeld 765.50 RM (651.50 RM),
Hanau-Land 6696.05 RM (9682.66 RM), Hersfeld
8439.61 RM (10 427.05 RM), Hofgeismar 66160.08
RM (73 941.35 RM), Homberg 27 147.40 RM
(34 327.50 RM), Hünfeld 5065.20 RM (549.20 RM),
Kirchhain 22 991.30 RM (30 892.75 RM), Marburg
19 086.34 RM (35 940.46 RM), Melsungen 39 738.05
RM (24 279.60 RM), Rinteln 5594.60 RM (15 189.55
RM), Rotenburg 12 195.75 RM (11 437 RM), Schlüch-
tern 5062.80 RM (10 018.30 RM), Schmalkalden
6524.55 RM (3236.80 RM), Witzenhausen 31 743.51
RM (32 123 RM), Wolfhagen 21085.50 RM (24 702.10
RM), Ziegenhain 16 410.05 RM (15 019.15 RM), zu-
sammen 430 539.78 RM (467 803.14).
bibliothet Keysser hat in seinem schönen Zweibuchen-
hause am Fuße des Hermannsdenkmals ein Heimatbuch
geschrieben, das allen seinen Landsleuten im Schaum-
burgischen und im Hessischen nicht warm genug emp-
fohlen werden kann. Es ist ein tief empfundenes, treff-
lich gezeichnetes Kulturbild, ähnlich dem Bähr'schen
Buch über Kassel (das jetzt auch im Neudruck erschienen
ist), nur reicher an persönlichen und biographischen Mit-
teilungen, wodurch es auch für den Familrensorfcher
eine wertvolle Quelle bilden wird.
Ph. L.
Jacob, Bruno. Geschichte des Dorfes (und
Stadtteiles von Kassel) Bettenhausen. 1126—1926.
Zugleich Geschichte seiner näheren Umgebung. Mit
22 Bildertafeln. Festschrift zur Feier des 800jährigen
Bestehens des Dorfes. Hrsgeg. vom Bürgerverein
Kassel-Bettenhausen. V, 120 Seiten. Preis 0,40 Rm.
Ortsjubiläen haben meist das Gute an sich, daß man
sich bei ihnen auf die Vergangenheit besinnt. So hat
denn auch das Zentrum der Kasseler Industrie, der Stadt-
teil Bettenhausen, an seinem 800. Geburtstag in Bruno
Jacob, dem trefflichen Kenner seiner Geschichte, seinen
Biographen gefunden. Er zeigt uns, auf eine wie reiche
Geschichte dieses kleine, im Schatten der Landeshauptstadt
aufblühende einstige Dorf zurückblicken kann, seitdem es
1126 in einer Urkunde des Erzbischofs von Mainz zuerst
genannt wird. An der Hand reichen urkundlichen Materials
läßt Jacob Wesen und Werden des Ortes vor uns er-
stehen seit den Tagen, da er als Tochter des nahen Klosters
Kaufungen in enger Beziehung zu diesem sich entwickelte
bis in die jüngste Gegenwart mit ihrer ungeahnten in-
dustriellen Entwickelung hinein. Daneben belehren uns
besondere Kapitel über die kirchlichen Verhältnisse, über
Eichwald und Fischhaus, Charite, israelitisches Hospital
mit Friedhof, über Forst und Siechenhof. So haben wir
denn jetzt eine erste brauchbare, sehr viel Neues bringende
Geschichte Bettenhausens, und zu bedauern bleibt nur,
daß es die Kürze der dem Verfasser zur Verfügung ge-
stellten Zeit diesem nicht ermöglichte, das archivalische
Material des Marburger Staatsarchivs eingehender zu
benutzen, was er sich hoffentlich für eine spätere Zeit
vorbehält. Aber auch so ist das gründliche Werkchen, dem
Vereinsnachrichten.
Die diesjährige Mitgliederversammlung
des Vereins für hessische Geschichte und
Landeskunde in Rinteln nimmt folgenden Ver-
lauf: Freitag, den 9. September 1927, nachm. 3 Uhr:
Sitzung des Gesamtvorstandes in der „Bünte". Für
die übrigen Mitglieder 5 Uhr Besuch des Museums.
Abends 1/z 9 Uhr: Vortrag Dr. B l e i b a u m: „Über
Schaumburger Baudenkmäler". Sonnabend, den 10.
September 1927, vormittags 1/2 9 Uhr: Vorträge:
1. Geh. Rat Professor Dr. Schröder: „Zur Ge-
schichte der Universität Rinteln". 2. Staatsarchivrat
I)r. Gutbier: „Zur hessischen Musikgeschichte". Vor-
mittags 11 Uhr Mitgliederversammlung, anschließend
Besichtigung der Stadt. Nachmittags 1 Uhr: Gemein-
sames Essen. Nachmittags 3 Uhr: Fahrt nach Fischbeck.
Abends: Kirchenkonzert in Rinteln. Sonntag, den 11.
September 1927, vormittags 9 Uhr: Fahrt nach Möl-
lenbeck (kurze Ansprache in der Stiftskirche), Weiter-
fahrt über Ahrensburg (Imbiß), Deckbergen, Hatten-
dorf, Apelern (Besichtigung der Kirchen), über Roden-
berg (Besichtigung der Stadt) nach Nenndors (Trachten-
fest und Besichtigung der Kuranlagen, Abendessen).
Abends 9 Uhr: Rückfahrt nach Rinteln. Die Mit-
glieder werden um zahlreiche Beteiligung ersucht. Auch
Nichtmitglieder, die den Bestrebungen des Vereins nahe
stehen, sind willkommen. — Der Kasseler Verein
unternahm am 20. August einen Ausflug nach Greben-
stein. Nachdem man den Burgberg mit seiner präch-
tigen Aussicht auf das türm- und giebelreiche Städt-
chen erstiegen hatte, hielt Lehrer H ü h n e - Grebenstein
ein reicher Bildschmuck beigegeben ist, eine höchst will-
kommene Festgabe, deren geringer Preis jedermann die
Anschaffung ermöglicht. Hbach.
K u r h e s s i s ch e P f a r r e r g e s ch i ch t e. 2. Band.
Die Stadt Marburg. Zum 400 jährigen
Universitätsjubiläum 1927 bearbeitet von Oskar
H ü t t e r 0 t h, Pfarrer in Treysa. Eschwege (Johs.
Braun), 1927. 8, 150 Seiten.
Ter 2. Band der Pfarrergeschichte enthält, entsprechend
seiner Bestimmung als Jubiläumsgabe für die Uni-
versität Marburg, die Geschichte der Pfarrgeistlichkeit
der Stadt Marburg. Der Inhalt des Buches ist des-
halb besonders wertvoll und belangreich, einmal wegen
der vielfachen Berührungspunkte mit der theologischen
Fakultät der Universität und ferner wegen des gerade
in Marburg besonders starken Hervortretens der kirch-
lichen Bewegungen (Reformation, Einführung der Ver-
besserungspunkte, Wechsel zwischen reformierter und
lutherischer Landesherrschaft). Sehr reich sind auch in
diesem Bande die gelegentlichen Angaben zur Bau-
und Kunstgeschichte, Schulgeschichte, Militär- und Kriegs-
geschichte, Ortsgeschichte. Nicht unerwähnt möge bleiben,
daß auch die katholische Geistlichkeit der vorreforma-
torischen, wie auch der neueren Zeit Berücksichtigung
gefunden hat. Eine ganz besonders reiche Fundgrube
ist dieser 2. Band aber wieder für den Familienforscher.
Wenn der Verfasser auch die Familiengeschichte der
einzelnen Pfarrer nicht so weit verfolgt hat, wie in
seinem 1. Bande, so bietet er doch auch hier einen
ganz außerordentlich reichen Stoff zur Geschichte der
bürgerlichen Familien unseres Hessenlandes. Möge das
vorzügliche Buch eine recht weite Verbreitung finden
und dadurch dem Verfasser die aufgewendete große
Mühe lohnen!
Woringer.
einen formvollendeten Vortrag über die wechselreiche
Geschichte von Burg und Stadt Grebenstein, von der
Herrschaft der Konradiner an bis zur Erbauung der
Burg Grevenstein durch Ludwig von Dassel 1272, die
1297 dann an Hessen fällt. Am Fuße dieses starken
Bollwerkes entsteht dann die Siedlung, die 1324 Stadt-
recht erhält und durch eine auftallend starke Wehr-
anlage geschützt wird, von der noch heute fünf hohe
Türme zeugen. Auch die weitere wechselvolle Geschichte
der Stadt findet eine anschauliche Schilderung. Dem
Vortrag schloß sich ein Rundgang durch Burg und Stadt
sowie eine Besichtigung des Rathauses und der Kirche
an. Bibliotheksdirektor Dr. Hopf brachte den Dank
des Vereins für die genußreichen Stunden zum Aus-
druck. (Bericht: Kasseler Post 23. 8.). — Aus der
letzten Vorstandssitzung des Hersfelder Geschichts-
vereins sei mitgeteilt, daß der Verein mit Stadt und
Kreis zusammen die Druckstockkosten der Dissertation von
Dr. Wenzel- Magdeburg über den „Wehrbau vom
Ringwall bis zur Festung" trägt. Die Grabsteine der
Stiftsruine sollen im nächsten Jahr gesichert aufge-
stellt werden. Auf der Tagung des Gesamtvereins in
Speyer wird der Verein durch den Vorsitzenden, Stu-
diendirektor Dr. Schoos, vertreten sein. Ferner wer-
den Ausgrabungen an den vorgeschichtlichen und ge-
schichtlichen Siedlungen auf dem Landecker und dem
Dreienberg unter Leitung von Dr. Langsdorf-Kassel
in Aussicht genommen. Zum Schluß las Kreispfarrer
C l e r m 0 n t - Eschwege die beiden ersten Akte seines
Hersfelder Heimatspiels „Tie Vitalisnacht", das 1928
211
zur Aufführung gelangen foll. (Bericht: Hersfelder
Zeitung 20. 8.)
Der Verband der Hessischen G e s ch i ch t s -
und A l t e r t u m s v e r e i n e, in dem eine ganze
Reihe geschichtlicher Vereinigungen aus Oberhessen, Star-
kenburg und Rheinhessen zusammengeschlossen sind, hielt
am 20. und 21. August in Büdingen unter Vor-
sitz des Verbandspräsidenten, Oberstudiendirektors Dr.
Faber (Friedberg), seine diesjährige Jahreshauptver-
sammlung ab. Ihr Auftakt war ein Begrüßungsabend
im „Fürstenhof", bei dem die einheimischen Gesang-
vereine mitwirkten und Prof. Friedr. Müller die
Willkommensworte sprach. Im Verlaufe des Abends
ergriff u. a. Bürgermeister H i l d e n e r (Büdingen)
das Wort und sicherte die baldige Schaffung eines
eigenen Heimatmuseums für Büdingen zu; den Haupt-
teil der abendlichen Festfolge trug Studienassessor Dr.
Lade (Büdingen) mit einem Vortrag über die Ent-
Personalien.
Vermählt: Studienrat Dr.A.W Köhler und Frau,
Karola, geb. Berger (Kassel, 6. 7.); Rechtsanwalt Dr. .für.
Karlfred Winter und Frau, Annelies, geb. Adam (Mainz-
Fulda) ; Dr. inecl. Joseph K a s ch m a n n und Frau, Trude,
geb. Fackenheim (Kassel, 10.7.); Großkaufmann Heinrich
Ritter und Frau, Alice Tanner-Wünsch (Kassel, 16.7.);
Studienassessor Dr. Karl Kraut und Frau, Hedwig, geb.
Landgrebe (Kassel, 23.7.); Dr. Ferd. B u r ch a r d und Frau,
Maria Flora, geb. Kreß (Fulda); Gewerbeassessor Dr. phil.
Wilhelm Reith und Frau, Lilly, geb. Köster (Duisburg-
Kassel); Rechtsanwalt Dr. Pape und Frau, Erna, geb.
Wiese (Marburg, 30. 7.); Dipl.-Kaufmann Dr. Georg
Raßner und Frau, Liselotte, geb Schaumlöffel (Köln-
Sülz); Hans Diebel und Frau Else, geb. Lamm (Kapel,
6. 8.); Gerichtsassessor Dr. Karl Quint und Frau, Jutta,
geb. Stölzel (Kassel, 10.8); Ingenieur Ernst Kötschau
und Frau, Liesel, geb. Schott (Mihla-Fulda); Walther
Freiherr Scheuck zu Schweinsberg und Freifrau
Ursula, geb Vermehren (Schweinsberg, 15. 8.); Rechts-
anwalt Dr. jur., Dr. rer. pol. Hans Weidemann und
Frau, Dr. rer. pol. Margarete, geb. Hildebrand (Kassel,
15. 8.).
Geboren: ein Sohn: Studienrat Gut und Frau,
Sophie, geb. Duntze (Montabaur, 22. 7.); Postmeister
W. Albonesy und Frau, Marie, geb. Lingemann
(Veckerhagen, 30.7.); Fritz Krahl und Frau, Hertha,
geb- Müller (Bremen, 1.8.); Franz Richterund Frau,
Anna, geb. Heller (Swakopmund, 5. 8.); Zahnarzt Dr.
Kr afft und Frau, Berthi, geb- Hogrebe (Kassel, 15.8.);
Apotheker Edmund Groll und Frau, Irmgard, geb.
Hambach (Kassel, 17.8.); — eine Tochter: FritzCoester
und Frau, Käte, geb. Habich (Oppeln, 17. 7.); Lehrer
Heinrich K e s p e r und Frau, Lore, geb- Rümmel (Mönche-
hof, 18. 7.); Prof. Dr. v. Bruch hausen und Frau,
Marianne, geb. Bersch (Münster, 21. 7.); Studienassessor
Friedrich G ä d e k e und Frau, Eleonore, geb. Gleim (Kassel,
22. 7.); Pastor A Schumacher und Frau, Ilse, geb-
Wicklung der Büdinger Stadtbefestigungen, den er auf
Grund 0er Ergebnisse seiner mit Gewerbelehrer Nies
getätigten Nachgrabungen hielt. Der Vortrag fand
reichen Beifall. Am Sonntagmorgen fand im Büdinger
Rathaussaale eine Vertreterversammlung statt, in der
u. a. über die Schaffung einer hauptamtlichen Denkmals-
pflege in Hessen wie auch über die Drucklegung der
„Beiträge zur geschichtlichen Heimatforschung" beraten
wurde. Als Ort für die nächste, gleichfalls zweitägige
Tagung wurde Offenbach a. M. gewählt. Nach der
Versammlung vereinte ein gemeinsames Mahl im
„Fürstenhof" die Tagungsgäste; ihm ging ein pracht-
voller, wissenschaftlicher Vortrag mit Lichtbildern, ge-
halten von Universitäts-Professor Dr. A u b i n (Gießen),
über „die historisch-geographischen Grundlagen der hes-
sischen Geschichte" voraus. Den Beschluß der Tagung
bildete ein gemeinsamer Rundgang der Teilnehmer durch
die Stadt und das Schloß Büdingen.
Bensch (Mörs-Schwafheim, 26.7); Lehrer Wilh. Becker
und Frau, Maria, geb. Rump (Fulda, 27. 7.); Oberleut-
nant Hans Wilhelm von Stockhausen und Frau,
Gerda, geb. Braun (Hofgeismar, 29. 7.); Apotheker Georg
Pape und Frau, Agnes, geb. Becker (Kassel!; Georg
Rosenkranz und Frau, Else, geb. Raabe (Kassel, 31. 7.).
Gestorben: Schauspielerin a. D. Emma Griebe,
78 I. alt; Bürgermeister S ch l i t t, 61 I. alt (Angenrod);
Geh. Baurat Dr.-Ing. h. c. Sigmund Bergmann,
75 I. alt (Kassel, 7. 7.); Justizsekretär i. R. Rudolph
Sommerfeld, 72 I. alt (Kassel, 7. 7.); Großkaufmann
Philipp Stock, 68 I. alt (Gelnhausen); Frau Dorette
Klaue, geb. Hochhuth (Kassel, 12. 7 ); Pfarrer Damm
(Lohne); Ehefrau des Fleischermeisters Mimi Spohr,
geb. Noll (Kassel, 17. 7.); Hess. Staatsminister des Innern
und der Justiz von Brentano, 72 I alt (Darmstadt,
21.7.); Witwe des Rechnungsrats Jlla Hurtlig, geh.
Weber (Kassel, 22.7.); Hauptlehrer Wilhelm Schöne-
wald, 59 I. alt (Waldau, 22. 7.); Ehefrau des Drogerie-
besitzers Jenny S eitz, geb. Escherich, 50 I. alt (Kassel,
24 7.); Amtsgerichtsrat Adam St atz (Bonn, 26. 7);
Obstbauinspektor Friedrich W i e ß n e r, 70 I. alt (Gießen);
Staatl. Hegemeister a. D. Wilhelm Hie ge, 62 I. alt
(Rotenburg, 28.7.); Buchdrucker Wilhelm Cr oft, 80 I.
alt (Fulda, 29. 7.); Kürschnermeister und Präparator
Theodor Richter, 50 I. alt (Marburg, 30. 7.); Ober-
zahlmeister i. R. Rechnungsrat Karl Herbst, 75 I alt
(Friedrichroda,31. 7.); Großkaufmann Edmund Dietrich,
58 I. alt (Fritzlar, 31. 7.); Privatmann Georg Eckhardt,
85 I. alt (Kassel, 2. 8.); Innungs-Obermeister Fleischer-
meister Karl Brauer (Marburg, 2. 8.); Regierungs-und
Baurat a. D, Geh. Baurat Mund, 71 I. alt (Kassel,
5.8.); Pfarrer Friedrich H e e r m a n n, 68 I. alt (Marburg,
5.8); Privatmann, fr. Fleischermeister Heinrich Stöhr
(Kassel, 6.8.); Witwe des Lehrers Sophie Weber, geb.
Schultheis (Neuhof, 6. 8.); Witwe des Lehrers Christine
Sührer, geb. Jacob, 88 I alt (Kassel, 7.8).
Bezugsbedingungen für „Hessenland": Mitglieder der unter dem Jnnentitel aufgeführten Vereine bestellen
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212
Illustrierte Monatsblätter für Heimatsorschung, Kunst und Literatur
Schriftletter Paul Heidelbach, Kassel. Unter Mitwirkung von Bezirkskonservator Baurat Dr.H o l tmeyer, Kassel,-
Direktor der Landesbibliothekvr. Hopf, Kassel,-LyzeallehrerKeller,Kassel,-Staatsarchivrat vr. Knetsch,Marburg,-
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Kommissar für Naturdenkmalpflege im Reg.-Bez. Kassel,- Geheimrat Universitätsprofessor vr. Schröder, Götttngen,-
Universitätsprofeffor vr. Schwantke, Marburg,- vr. Werner Sunkel, Marburg,- Professor vr. Bonderau, Fulda,-
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Verein für hessische Geschichte und Landeskunde,- Hessischer Gebirgsverein,- Knüllgebkrgsverein,- Deutscher Sprachverein,
Zweig Kassel,- Verein für Naturkunde, Kassel,- Geologischer Verein, Marburg,- Biologische Vereinigung, Marburg,-
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-> Bezugspreis vierteljährlich 2.— Mark —......-
39. Jahrgang Heft 9/10 Kassel, September Oktober 1927
Die Abgrenzung der Gaugrafschaft Hessen
gegen Thüringen und Engern. Ein Vortrag von Karl August Eckhardt.
Die Abgrenzung der Gaugrasschaft Hessen gegen
das östlich anstoßende Thüringerland und das nörd-
lich vorgelagerte sächsische Engern ist seit alters
streitig. Aber die sichere Festlegung des Grenz-
verlaufs ist nicht nur für uns Niederhessen wichtig,
die wir aus Heimatliebe Heimatgeschichte treiben.
Wir rühren vielmehr mit dieser Frage zugleich an
zwei zentrale Probleme der deutschen Verfassungs-
geschichte. Einmal hat man gerade auf den Hes-
sengau hingewiesen, um darzutun, daß die so-
genannten Gaue überhaupt keine festabgegrenzten
Territorien, sondern nur geographische Begriffe
schwankenden Umfangs und Inhalts seien: Siegfried
Rietschel hat sich zum Beweis dieser seiner These
in erster Linie auch darauf berufen, daß die Gaue
selbst vor den Stammesgrenzen nicht haltmachten,
daß z. B. durch den Hessengau die alte fränkisch-
sächsische Grenze hindurchgehe. * Und zweitens
dient der Hessengau als Musterbeispiel für die
berühmte Streitfrage, ob im Frühmittelalter die
weltlichen und die geistlichen Bezirke regelmäßig
zusammenfielen oder nicht. Die Gestaltung der
hessischen Grenzen, wie sie zuletzt Professor Karl
Wenck in so scharfsinniger Weise zu begründen ver-
sucht hat1 2, ist auch merkwürdig genug. Im Werra-
tale soll die hessische Gaugrasschaft die Dekanate
Allendors und Witzenhausen umfaßt haben, die
kirchlich zum eichsfeldischen Archidiakonat Heiligen-
stadt, deni Stamme nach zum Thüringerland gehört
haben; bis zum heutigen Tage hat die jahrhnn-
1 Hoops, Reallexikon der germanischen Altertums-
kunde, Bd. 2 (1913/15), S. 125.
2 ZHG., Bd. 36, S. 227 ff.
dertelange Verbindung des Werratals mit der hes-
sischen Landgrafschaft die sprachliche Verwandtschaft
mit den angrenzenden Thüringer Dialekten nicht
völlig verwischen können. Wenden wir uns dann
in die nächste Nachbarschaft, so finden wir ein
Übergreifen des Hessengaues tief in das sächsische
Sprachgebiet hinein, und dieses sogenannte säch-
sische Hessen gehört nicht, wie das hessische Kern-
land zum Archidiakonat Fritzlar, sondern teils zur
Diözese Mainz, teils zur Diözese Paderborn. Ja
sogar hinsichtlich der hessischen Südwestgrenze mehren
sich die Stimmen, die ein Übergreifen der Hessen-
grafschaft über die Fritzlarer Archidiakonatsgrenze
und die Einbeziehung von Teilen des Oberlahn-
gaus und des Arfeldgans annehmen zu müssen
glauben. So in neuester Zeit das wertvolle Buch
Günther Wredes über die Territorialgeschichte der
Grafschaft Wittgenstein. 3
Treffen denn aber die Wenck'schen Ergebnisse
wirklich zu? Sollte nicht vielmehr die Ausdehnung
der hessischen Grafschaft über die Stammes- und
Archidiakonatsgrenzen hinaus eine jüngere Ent-
wicklung darstellen? Daß die hessische Grenze alles
andere als stabil war, hat Professor Stengel ja
in seinem Gelnhäuser Vortrag über die politi-
schen Wellenbewegungen inr hessisch-niedersächsischen
Grenzgebiet gezeigt. Der Frage, ob eine spätere
Ausdehnung des Hessengaus über seine anfänglichen
Grenzen urkundlich zu erweisen ist, soll mein heu-
tiges Referat gelten. Es kommt — das sei gleich
3 Marburger Studien, I, 3 (1927). Bergt, dazu
meine Besprechung in den Göttingischen gelehrten An-
zeigen (1927). S. 215 fs.
213
voi^veHgeschsckt — zu wesentlich anderen Ergebnissen,
als sie^kwr einem Vierteljahrhundert Wenck ver-
jra±^*Xrf'i möchte jedoch nicht verfehlen darauf
hinzuweisen, daß ohne Wencks ausgezeichnete Vor-
arbeit die ganzen neueren Forschungen über den
Hessengau und auch meine heutigen Ausführungen
nicht denkbar sind. Ihm wird stets das hohe Ver-
dienst bleiben, daß er die hessische Gauforschung
auf einwandfreie kritische Unterlagen gestellt hat.
Und daß wir in Einzelheiten über ihn hinaus-
gekommen zu sein glauben, — das ist das Schicksal
einer jeden historischen Arbeit, auch der besten.
Wenden wir uns zuerst zur hessisch-thüringischen
Grenze. Daß das untere Werratal, die Orte Ullen-
dorf und Witzenhausen mit ihrem Hinterland, ein-
stens thüringisch und nicht hessisch gewesen sei,
war bis vor kurzem unbestritten. Erst in letzter Zeit
ist eine abweichende Meinung laut geworden. Sie
gründet sich einzig und allein auf eine wieder-
aufgefundene Urkunde, die angeblich aus der Zeit
eines Frankenkönigs Ludwig, d. h. aus dem 9.
oder dem Anfang des 10. Jahrhunderts stammt
und uns Nachricht gibt von einem „placitum in
pago qui dicitur Hassim, in villa W izzanhuson“,
zu deutsch: einem Gerichtstag im .Hessengan, im
Dorfe Witzenhausen. Damit schien die Zugehörig-
keit Witzenhausens zum Hessengau außer Zweifel
gestellt, und Edward Schröder und Karl Wenck
haben denn auch keinen Augenblick geschwankt, die
untere Werralandschaft dem Hessengan zuzurechnen.
Aber diese an sich vollberechtigte Ansicht ist nicht
haltbar. Tenn die Urkunde, auf die allein sie sich
stützt, ist eine moderne Fälschung. ' Sie ist von
einem quellenkundigen Mann unter Benutzung
echter Vorlagen fabriziert, um genealogischen Ma-
chenschaften zu dienen. Das hat der Darmstädter
Staatsarchivdirektor Julius Reinhard Dieterich
überzeugend nachgewiesen. Seine Beweisführung,
die leider unveröffentlicht ist, gipfelt in folgen-
den Punkten. Die Urkunde, die nur in Abschriften
des 17. Jahrhunderts, also außerordentlich schlecht
überliefert ist — sie findet sich lediglich in Hoff-
manns Ehrenkleinod des durchlauchtigen Hauses
Braunschweig-Lüneburg, das vor 1680 niederge-
schrieben wurde, und hier ist als Quelle angegeben
„Charta vetusta monasterii in Chouphingen“, d. h.
eine alte Urkunde des Klosters Kaufungen — diese
Urkunde aljo gibt sich als Aufzeichnung über die
Verhandlung eines Gaugerichts aus. Ein Vogt
Meginfried erklärt aus Grund des Zeugnisses der
exleges terrae et primores, daß die Grafen Ama-
lung und Wichmann, Söhne eines Bennuth, er-
erbte Rechte an der Kirche zu Kaufungen hätten.
Die als Zeugen auftretenden exleges terrae et
primores sollen offenbar die Großen des Landes
sein. Aber was sich der Fälscher der Urkunde
eigentlich unter dem Worte exleges gedacht hat,
lvird wohl ewig dunkel bleiben. Exlex, Plural
exleges, bedeutet nämlich die außerhalb des Ge-
setzes Stehenden, die Geächteten. Es liegt also
ein krasses Mißverständnis des Herstellers der Ur-
kunde vor. Auch sonst entspricht diese keineswegs
den Urkundenformen der Frankenzeit. Es fehlt,
was unerläßlich ist, die Person des Gerichtsvor-
sitzenden, des Gaugrafen; denn ein Vogt als Gau-
vorsteher ist in der angeblichen Entstehungszeit
der Urkunde völlig undenkbar. Nehmen wir die
außerordentlich mangelhafte Datierung hinzu, die
lediglich zu vermelden weiß, daß der Gerichtstag
„snh donmo Hluduvico rege“, unter König Lud-
wigs Regierung, stattgefunden habe, so kann die
Unechtheit kaum noch einem Zweifel unterliegen.
Ja, Dieterich hat sogar die Vorlage des Fälschers
nachzuweisen vermocht. Er hat eine 1606 durch
Goldast veröffentlichte Urkunde für das Kloster St.
Gallen vom Jahre 889 benutzt, und aus ihr alles
das, was echt in seiner Urkunde anmutet, wort-
wörtlich übernommen. Nur die eben gerügten son-
derbaren Fehler hat er hineinkorrigiert, und außer-
dem hat er die Personennamen und die Orts- und
Gaubezeichnung seinen Zwecken entsprechend abgeän-
dert. Diese Zwecke, die ihn zu seiner Fälschung bewo-
gen, liegen aber klar auf der Hand. In dieser und einer
zweiten, angeblich ebenfalls noch im 9. Jahrhundert
entstandenen Urkunde, die ein noch schlechteres
Machwerk ist, hat der Fälscher nicht welliger als
vier Generationen einer sächsischen Grafensamilie
untergebracht, um dadurch die Abstammung der
Billunger von den alten Sachsenherzögen nach-
zulveisen. Hermann Billung, der Stamnrvater der
Billunger, taucht plötzlich als Beamter Ottos des
Großen auf, ohne daß man trotz sorgfältigen Nach-
forschens irgend etwas über seine Herkunft hätte
feststellen können. Wenige Menschenalter früher
hatten sich aber zwei edle Sachsengrafen Amalung
und Hiddi getreu ihrem Eide dem Sachsenbezwinger
Karl dem Großen als Geisel gestellt, und eine
rechtshistorisch berühmte Urkunde von 811 berichtet
uns, wie Bennit, der Sohn Amalnngs, sich südlich
Mündens niedergelassen und dort das Dorf Bente-
rode gegründet hat, das nach ihm den Namen trägt.
Auf diesen Grafen Bennit, Amalnngs Sohn, wollte
der Fälscher die Billunger zurückführeil. Und so
erscheineil denn in der ersten der beiden Fälschungen,
eben unserer Witzenhüuser Urkunde, Graf Bennuths
Söhne Amalung und Wichmann; und in der zweiten
des ebengeirannten Wichmann Sohn Athelbert und
dessen Sohn Billunc. Die Brücke war geschlagen.
Fürwahr ein feines Gewebe! Aber wem verdanken
ivir diese fragwürdige Vermehrung unseres Ur-
kundenschatzes? Dieterich hat den bekannten Viel-
schreiber Letzner, der schon mehr Unglück angerichtet
hat, dafür verantwortlich machen wollen. Aber
ich glaube, darin hat er Unrecht. Denn als 1722
Rehtmeier seine Braunschtveig-Lüneburgische Chro-
nica unter Benutzung von Letzners Nachlaß heraus-
brachte, da schrieb er (Bd. I, S. 270):
„Es ist zwar oben im 12. Capitel bey dein
Kaiser Ottone I. etwas von Hermann Billing
erwehnet, wie derselbe vom gedachten Kaiser
in seinem Abwesen zum Herzoge in Nieder-
sachsen über das Lüneburger Land verordnet;
214
allein ob wol unser Leznerus nichts davon bey-
gebracht, so wird doch nöthig seyn, damit nichts
merckwürdiges ausgelassen werde, von dessen Ge-
schlecht alhier ein eigen Capitel zu machen, und
einige verbesserte Nachricht mitzutheilen."
Letzner scheidet also wohl als Fälscher aus. Er
hat die beiden Urkunden offenbar nicht gekannt.
Auch Rehtmeier weiß in seiner „verbesserten Nach-
richt" über die Herkunft Hermann Billungs nichts
von ihnen. So bleibt der Makel wohl auf Hofsmann,
dem Verfasser des Ehrenkleinods, haften, der, wie
vorher schon erwähnt, seine Abschriften aus eine
„Charta vetusta“ stützt; er behauptet also, diese
nichtexistierenden Urkunden gesehen zu haben! Da-
durch richtet er sich.
Wir aber können nunmehr, unbeirrt durch diese
Fälschungell, die Grenze des Hessengaus gegen Thü-
ringen bestimmen. Und da müssen wir zu dem
Ergebnis kommen, das bis zum Auftauchen dieser
Urkunden als völlig gesichert galt und gelten mußte.
Der Kamm des Kaufunger Waldes, die Wasserscheide
zwischen Fulda und Werra, trennt auch die Stämme:
das gesamte untere Werratal hat niemals zum
Hessengau, sondern stets zu Thüringen, bzw. zu
Sachsen gehört. Die Fuldaer Traditionen, die Ab-
terode, Westari (Allendorf-Soodelr), Werleshausen
und das flußabwärts Witzenhausens liegende Erm-
schwerd zil Thüringen rechnen, reden eine völlig
eindeutige Sprache. Der Dialekt des unteren Werrw-
tales deutet auf das gleiche Ergebnis, solveit wir
aus den heutigeil Überresten thüringischer Mundart
Rückschlüsse ziehen können; freilich sind, wie die
Forschung am Sprachatlas gelehrt hat, solche Rück-
schlüsse nur bedingt zulässig. Aber wenn die staat-
liche Zugehörigkeit der Gegend zu Hessen, die doch
seit 1264 ununterbrochen bestanden hat, es nicht
vermocht hat, die hessische Mundart zur allein
herrschenden zil machen, so dürfte der Schluß nicht
unberechtigt sein, daß die Hinneigung zum Thü-
ringischen altes Erbgut, nicht jimge Grenzbeein-
flussung ist. Die kirchliche Einteilung bestätigt diese
Ergebnisse in vortrefflicher Weise. Alle die Orte,
die lvir zu Thüringen rechnen mußteil, unterstehen
dem thüringischen Archidiakonat Heiligenstadt; west-
lich des Kaufunger Waldes beginnt alsbald das
hessische Archidiakonat Fritzlar. Die Archidiakonats-
einteiluilg dürfte es denn auch ermöglichen, die
Grenzziehung im einzelnen zu bestimmen, und Dorf
für Dorf festzustellen, ob wir uils auf althessischem
oder altthüringischem Boden befinden. Hier kanll
diese Aufgabe nicht iläher verfolgt werden; Georg
Landau, der verdiente hessische Geschichtsforscher,
hat sie in seinem Buch über den Hessengau im
einzelnen behandelt.
Ein paar Worte noch zum Übergang der Werra-
landschaft an Hessen! In meiner Witzenhäuser Fest-
schrift habe ich gezeigt, daß der überwiegende Teil
des Grund ulld Bodens dem Kloster Fulda ge-
hörte, dessen Territorium, wohl nach der Ver-
waltungszentrale Westari (Allendorf-Sooden), den
Namen Westeramark führte. Diese Westeramark er-
hielten 1212 die thüringischen Landgrafen voll Fulda
zu Lehen. Als sie 1247 mit Heinrich Raspe aus-
starben, machte die Werralandschaft wechselnde
Schicksale durch, bis sie schließlich 1264 endgültig
an Hessen fiel. Aber auch jetzt noch blieb das.
Werratal selbständige Verwaltungseinheit. Noch
1506 wird die Landschaft all der Werra als thürin-
gisch von dem Lande zu Hessen unterschieden. 4
Als oberster Verwaltungsbeamter aber fungierte
der Landvogt ail der Werra, der seinen Amtssitz
in Eschwege hatte. Doch wir müssen hier ein-
halten und unseren Blick auf den weiteren Grenz-
verlauf, die Abgrenzung Hessens gegen das sächsische
Engern richten.
Wenn wir die Werra flußabwärts verfolgen,
so finden wir an ihrem rechten Ufer bald keine
Thüringer mehr, sondern Niedersachsen; und zwar
gehören sie dem mittelsten der drei großen säch-
sischen Unterstämme (Westfalen, Engern und Ost-
falen), den Engern nämlich, an. Sind noch Unter-
rieden und Bischhausen, der Stammsitz der Herrn
von Bischoffshausen, als thüringisch anzusehen, so
stehen wir in Gertenbach, Hedemünden und Hüben-
thal bereits auf sächsischem Boden, fülden wir
hier als Verlvaltungseinheit den Leinegau, als
kirchliche das Archidiakonat Nörten. Über die
Werra dürfte jedoch das sächsische Stammesgebiet
ursprünglich nicht hinausgegriffen haben, finden
wir doch das unmittelbar im Flußdreieck liegende
Münden als fränkische Siedelung, als zum Archi-
diakonat Fritzlar gehörig. Diese Zugehörigkeit Mün-
dens und des sich südlich anschließenden,'Waldgebietes
zu Hessen ist in der gleichen Zeit gelöst worden,
als das Werratal um Witzenhausen und Allendorf
an Hessen kam. 1247, unmittelbar nach dem Aus-
sterben des thüringischen Landgrafenhauses hat sich
Herzog Otto das Kind von Braunschweig-Lüneburg
in den Besitz Mündens zu setzen verstanden und
er hat diesen für ihn wichtigen Besitz gegen alle
späteren hessischen Angriffe erfolgreich zu vertei-
digen gewußt.
Liegen bisher keine besonderen Schwierigkeiten
vor, so wird das anders, wenn wir uns dem so-
genannten sächsischen Hessen, dem „pagu8 Hesse-
saxonicus", wie man es vor Wencks Feststellungen
nannte, zutuenden. Wenn wir Kassel m nördlicher
oder nordwestlicher Richtung verlassen, so über-
schreiten wir nach nicht allzulanger Zeit die Sprach-
grenze zwischen den mittel- und den niederdeutschen
Mundarten. Auch sie ist selbstverständlich nicht
unveränderlich geblieben. Um das Jahr 811 wohn-
ten z. B. in Wolfsanger noch Sachsen und Franken
nebeneinander, während heute unzweifelhaft das
sächsische Sprachgebiet in nördlicher Richtung zu-
rückgedrängt ist. Und nicht nur die Sprachgrenze
überschreiten wir, sondern bald nach ihr auch die
Fritzlarer Ärchidiakonatsgrenze; wir befinden uns
dem Stamme, wie der kirchlichen Zugehörigkeit
nach außerhalb des Frankenlandes. Und doch be-
4 Dobenecker, Kegesta Thuringiae, Bd. I, S. VIII.
215
richten uns die Urkunden, daß der Hessengau er-
heblich über diese Stammes- und Archidiakouats-
grenze hinausgereicht habe, noch weiter sogar, als
heutzutage die Provinzgrenze von Hessen-Nassau
sich vorschiebt. Wie ist das zu erklären? Die
verschiedensten Deutungen für diese sonderbaren
Verhältnisse sind laut geworden. Bald hat man
ein Eindringen der Sachsen in ehemalig chattisches
Gebiet, bald umgekehrt ein solches der Hessen ins
Sachsenland angenommen. Die letztere Meinung ist
heute die herrschende und zwar dürfte 4>ie vor:
Wenck begründete Ansicht, es handele sich um eine
von Karl dem Großen während der Sachsenkriege
vorgeschobene Grenzmark, am meisten Anhänger
haben. Erwähnt mag aber auch sein, daß Karl
Heinrich Schäfer mit großem Eifer und um so
schwächeren Gründen behauptet hat, schon Karl
Martell habe den Sachsen dieses Grenzland ab-
genommen und es dem Hessengan angegliedert. Doch
soll uns diese ans der: Fingern gesogene Eroberung
Karl Martells hier nicht weiter beunruhigen.
Sollen wir aber darum Wenck zustimmen, der
im sächsischen Hessen eine karolingische Grenzmark
sieht? Er selbst hat zugegeben, daß - ich zitiere
wörtlich — daß ,,die Annahme einer sächsischen
Mark an der hessischen Grenze an einem unleug-
baren Mangel an Beweismaterial krankt", und
erklärt, er wolle sie gern zugunsten einer besser
begründeten Ansicht fallen lassen. Hinzukommt,
daß die Ergebnisse des Dortmunder Archivars
Rübel über die Sachsenzüge Karls des Großen,
auf die sich Wenck zur Stützung seiner These be-
ruft, von der Fachwissenschaft, und zwar sowohl
von der historischen, Jute von der rechtsgeschichtlichen,
einhellig abgelehnt worden sind, so daß sich auf
ihnen ohne gründliche erneute Überprüfung kaum
weiterarbeiten lassen wird. Denkbar ist Wencks
Theorie an sich durchaus; aber vorläufig ist sie
noch unbeweisbar. Mag sein, daß ihm die archäo-
logische Forschung einmal Recht gibt. Vorläufig
aber muß es gestattet sein, an Hand des von
Wenck zusammengetragenen Urkundenmaterials eine
abweichende, und >vie ich glaube besser zu begrün-
dende Anschauung zu verfechten. Und zwar glaube
ich nachweisen zu können, daß die Angliederung
des sächsischen Gebietes an Hessen erst ein volles
Jahrhundert später erfolgt ist. Dahin leitet fol-
gender Gedankengang.
Seit 779 ist der pagus Hessen oder auch pagus
Hassorum in einer Reihe von Urkunden nachweis-
bar. Wiederholt werden fränkische Orte als in
ihm gelegen erwähnt. Vor 942 findet sich aber
kein einziger sächsischer Ort als mit Sicherheit zum
Hessengau gehörig bezeugt. Von den ivenigen Ur-
kunden, die Wenck dafür nanthaft machen will,
ist Nr. 10 gefälscht; es ist die schon oben behandelte
Parallelfälschung zu der Witzenhäuser Urkunde, die
ztveisellos erst im 17. Jahrhundert fabriziert wor-
den ist; selbstverständlich hat sie völlig auszu-
scheiden. Nr. 1l aber ist ztvar eine echte Urkunde;
sie berichtet jedoch nur, daß Karl III. dein Kloster
Neu-Corvei 5 Hufen „in Hession" geschenkt habe;
damit können wir natürlich nicht viel anfangen.
Die Nummern 46—49 schließlich sind keine Ori-
ginalurkunden, sondern Urkundenauszüge im Cor-
veier Traditionsregister. Es muß zweifelhaft blei-
berr, ob die Gnubezeichnungen bereits in den Ur-
kunden selbst gestanden haben, oder ob sie erst von
dem Schreiber des Traditionsregisters hinzugefügt
sind. Jedenfalls bleibt die Möglichkeit durchaus
offen, daß das sogenannte sächsische Hessen erst
um 900 mit dem Hessengau vereinigt wurde, daß
es sich also nicht um eine kriegerische Angliede-
rung in irgendwelchen Sachsenkämpfen, sondern um
eine im Verwaltungswege vorgenommene Bezirks-
zusammenlegnng handelt. Und daß es tatsächlich so
liegt, scheint sich aus eiiter zwar schon längst be-
kanjlten, aber noch nicht genügend ausgeschöpften
Kaiserurkunde vom Jahre 897 zu ergeben. Diese
Urkunde ist allerdings nicht im Original, sondern
nur in einer alten Abschrift Eberhards von Fulda
erhalten. Doch liegen, wie mir Professor Stengel
freundlichst mitteilte, gegen ihre Echtheit keine Be-
denken vor. Diese interessante Urkunde hat nun
folgenden Inhalt:
Kaiser Arnulf (von Kärnten), bekanntlich einer
der letzten Karolinger, genehmigt am 28. Januar
897 zu Regensburg einen Gütertausch zwischen
dem Kloster Fulda und dem Graser: Konrad von
Franker:, dem Vater König Konrads I. (941—918).
Hierbei erhält Fulda die Güter Konrads im Eichs-
feldgau; Konrad aber den Fuldischen Hof Rösebeck
(nordwestlich Liebenau, im Kreise Marburg) mit
allen feinen Pertinenzen. Diese Pertinenzen, d. h.
die Orte, die dem Salhof, der eurtis Rösebeck an-
gegliedert waren und mit ihm zugleich vergeben
wurden, lagen, wie wir aus einer jüngeren Kaiser-
urkunde von 965 wissen, teils im sogenannten
sächsischen Hessen und zwar meist in der Umgegend
Hofgeismars, teils aber auch im eigentlichen frän-
kischen Hessen, so Oberelsungen im Kreise Wols-
hagen, so Heckershausen im Landkreis Kassel. Wenn
Wenck nrit seiner Ansicht Recht hätte, daß das
sogenannte sächsische .Hessen seit Karl dem Großen
ein unnnterschiedener Teil des Hessengaues ge-
worden sei, so müßten diese sämtlichen Orte schlecht-
weg als zum Hessengau gehörig bezeichnet sein. In
der eben schor: erwähnten Urkunde von 965 ist
das auch tatsächlich der Fall. In ihr werden
Rösebeck und seine Pertinenzen in den „pagus
Hassonum", die Grafschaft des Grasen Elli ver-
legt. Irr der uns hier vor allem interessierenden
Urkunde von 897 aber heißt es, daß diese Güter
gelegen seien in Konrads Grafschaften En-
gern und .Hessen, oder wie es lateinisch aus-
gedrückt ist, „in snis comitatibus, id est Angaria
et Hessa". Daraus ergibt sich nun als über-
raschender Schluß: Im Jahre 897 umfaßte der
Hessengau das sogenannte sächsische Hessen rrvch
nicht, sondern dieses bildete eine besondere Gau-
grafschaft: Engern! Ja, wir haben von dieser Gau-
grafschaft Engern sogar noch rveitere urkundliche
216
Spuren: 998 und 1000 wird das Kloster Helmars-
hausen an der Weser, im äußersten Nordzipsel des
sächsischen Hessen, gerechnet zum „pagus Angira“
(zum Gau Engern also) und zur Grafschaft des
Grafen Dodico.5 Eben dieser Graf Dodico ist
uns aber auch mehrfach als Graf „in pago Hassia“
bezeugt.6 Also noch um das Jahr 1000 schwanken
die Urkundenschreiber, ob sie das sächsische Hessen
als Hessengau oder als Eugerngau bezeichnen sol-
len. Daß die bisherige Forschung an diesen beiden
Helmarshäuser Urkunden so achtlos vorübergegan-
gen ist, erklärt sich daraus, daß man dachte, es
sei hier von der großen Provinz Engern, der
Teilvölkerschaft des Sachsenstammes die Rede. Aber
Provinznamen kommen auch sonst gleichzeitig als
Gaunamen vor; so finden wir z. B. innerhalb der
großen provincia Westfalen einen kleinen pagus
Westfalen7, innerhalb der provincia Ostfalen den
pagus Astlala. 8 Und daß hier in unseren Urkunden
wirklich nur von einem Grasschastsgau, nicht aber
von der Provinz, der Völkerschaft Engern die Rede
sein kann, ergibt sich unzweideutig daraus, daß
die Haupturkunde von 897 von Engern und Hessen,
den Grafschaften des Grafen Konrad, spricht. Gras
Konrad, der Franke, kann aber unmöglich das
ganze große Engern besessen haben. Dort lag die
Macht vielmehr in der Hand seiner gefährlichsten
Gegner, der Liudolfinger, die bald genug die Kon-
radiner endgültig überflügelten und vom deutschen
Königsthron verdrängten.
Unbemerkt sind wir mit diesen Worten schon zu
der letzten großen Frage vorgeschritten, die uns
heute beschäftigen soll, der nämlich: Wie ist es
möglich, daß der Name Hessengau aus die stamm-
fremde Gaugrafschaft Engern übergegriffen hat?
Die Lösung ist nicht mehr schwierig. Ich erwähnte
eben schon, daß 897 Graf Konrad die beiden Graf-
schaften Engern und Hessen in seiner Hand ver-
einigte. Die Vermutung liegt nahe, daß die domi-
nierende Stellung des hessischen Teils dieses ent-
stehenden Herzogtums die Ausdehnung des Namens
auch auf die anderen Teile zur Folge gehabt hat.
Es ist aber auch sehr wohl möglich, daß sogar eine
formelle Verschmelzung der beider: Grafschaften zu
einer erfolgt ist, die dann den Namen Hessen
erhielt. Solche Zusammenlegungen mehrerer Graf-
5 Bergt. Wenck, Hessische Landesgeschichte, Bd. 2
Urkundenbuch, S. 38 und 40; und Landau, Beschrei-
bung des Hessengaues, 2. Ausg., S. 25, Anm. 2.
6 Wenck, Hessengau, ZHG., Bd. 36, Nr. 24, 28,
31, 34 usw.
7 Vergl. Aloys Meister, Deutsche Verfassnngsge-
schichte, 3. Ausl., S. 53.
8 Vergl. Lotte Hüttebräuker, Das Erbe Heinrichs
des Löwen (1927), S. 46.
Herbstwald.
Herbstwald, du Meer
Von Farben im hellen Oktoberlicht...
Herbstwald, wie sehr
Segnest du mein beglücktes Gesicht!
Kassel.
schäften kommen häufiger vor und spielen im Spät-
mittelalter eine immer erheblichere Rolle.9 Die
Verschmelzung hätte noch unter Konrad selbst, d. h.
also zwischen 897 und 906, seinem Todesjahr,
erfolgt sein köirnen. Möglicherweise hat sie auch
sein gleichnamiger Sohn Konrad, der spätere König,
erreicht, der ztvischen 906 und 911 Gras von
Hessen war. Das Wahrscheinlichste aber ist, daß
Konrad erst während der kurzen Zeit seiner Königs-
herrschaft (911—918) diesen Schritt zur Stärkung
der konradinischen Hausmacht vollzogen und die
jetzt unter der Verwaltung seines Bruders Eber-
hard stehenden beiden Grafschaften verschmolzen hat.
Die Vereinigung Engerns mit Hessen war nicht
von langer Dauer. 939 verlor Graf Eberhard im
Kampfe mit Kaiser Otto dem Großen Sieg und
Leben. Und der Sachsenkaiser sah in der Zer-
trümmerung der konradinischen Hausmacht den ein-
zigen Weg, die Königsherrschast seines Hauses zu
sichern. So hat er denn, vielleicht schon 939,
vielleicht erst 953 10 die in der Hand der Konradiner
vereinigten Grafschaften wieder getrennt und au
verschiedene Personen vergeben. Das sächsische Hes-
sei: erhielt wieder einen eigenen Grasen und ver-
lor die Verbindung mit der hessischen Grafschaft,
der Grafschaft Maden, wie sie in der Folgezeir
gelegentlich genannt wird. Erst in jahrhunderte-
lange!: zähen Kämpfen ist es den hessischen Land-
grafen gelui:gen, das für sie so wichtige Nachbar-
gebiet Stück für Stück zurückzuerwerben, so daß
schließlich der größte Teil von ihm wieder hessisch
geworden und bis zur Gegewvart geblieben ist.
Doch darüber ist hier nicht zu hai:deln.
Ich fasse zusammen. Das Hinübergreifen des
Hessenlandes über die thüringischen und sächsischen
Grenzen, über den Sprengel des Archidiakonats
Fritzlar ist mit großer Sicherheit als ein Ergebnis
jüngerer Entwicklung nachzuweisen. Die sächsischen
Teile sind erst um 900, das thüringische Werratal
sogar erst Ende des 13. Jahrhunderts in Hessen
einbezogei: worden. Damit entfallen aber alle die
Folgerungen, die man aus dieser scheinbaren Un-
abhängigkeit der Gaugrenzen von den Stammes-
und kirchlichen Grenzen gezogen hat. Die Ver-
fassungsgeschichte wird gut tun, die angeregten
Fragenkomplexe einer erneuten Untersuchung zu
würdigen. Es liegt mir fern, meine Ergebnisse
als abschließend zu betrachten. Hoffen wir, daß
das große Werk des geschichtlichen Atlasses für
Hessen und Waldeck, dessen Förderung ich nicht
dringlich genug ans Herz legen kann, dereinst die
endgültige Klärung aller dieser Fragen bringt.
9 Bergt. Aloys Meister, a. a. O., S. 121.
10 Bergt. Brunner, Gudensberg, S. 18 ff.
Herbftwald, goldkühl...
Lichttrunken taumelt ein Falter dahin ...
Herbftwald, ich fühlst
Daß ich der taumelnde Falter bin ...
Heinrich Ruppel.
217
Jahresversammlung des Hessischen Geschichtsvereins in Rinteln.
Mit 5 Abbildungen aus dem Helmatbuch „Rinteln
47 Jahre waren verflossen, seit der Verein für
hessische Geschichte und Landeskunde seine letzte und
bisher einzige Mitgliederversammlung in Rinteln ab-
gehalten hatte. Da war es gewiß an der Zeit, wieder
einmal die schöne, seit 1648 mit Hessen-Kassel dauernd
verbundene Grafschaft Schaumburg zu besuchen. Bür-
germeister vr. Ritter in Rodenberg gab zuerst diesem
Gedanken Ausdruck, der alsbald vom Vorstand des Ge-
schichtsvereins freudig aufgenommen wurde. Freilich
war es immerhin ein Wagnis, den Mitgliedern eine
so weite Reise, wie sie die Entfernung Rintelns vom
hessischen Hauptlande erforderte, zuzumuten. Aber auch
hier kam es wieder einmal anders, als man dachte.
Die Tagung ivar aus allen Teilen Nieder- und Ober-
hessens sehr gut besucht.
Wohl keiner der Festteilnehmer hat die Grafschaft
unbefriedigt verlassen. Das war den eifrigen Bemü-
hungen der Stadt Rinteln und des Kreises Grafschaft
Schaumburg zu verdanken, vor allen Dingen aber den
beiden Leitern dieser Gemeinwesen, den Herren Bür-
germeister Or. Wachsmuth und Landrat Or. Moewes, die
mit einer einzig dastehenden Liebenswürdigkeit die
schwere Mühe der Vorbereitung des Festes auf sich
nahmen und sich dann bei dem Feste selbst, der eine
Herr in der Stadt, der andere im Kreise, der Führung
der Teilnehmer und der Leitung der zahlreichen Dar-
bietungen in hervorragender Weise unterzogen.
Die Tagung begann Freitag (9. 9.) in üblicher Weise
mit einer Sitzung des Gesamtvorstandes, in der trotz
der Dauer von 5 Stunden nur die wichtigsten Gegen-
stände der Tagesordnung erledigt werden konnten, weil
zahlreiche Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung
zur Beratung standen. Die bereits erschienenen Mit-
glieder besuchten unterdessen das Museum der Stadt
Rinteln. Abends i/29 Uhr versammelten sich dann die
Festteilnehmer im Saale des Ratskellers, wo nach den
üblichen Begrüßungsreden eine junge Dame ein Be-
grüßungsgedicht unserer Heimatdichterin Helene Brehm
vortrug uno mehrere Rinteler Damen die Anwesenden
durch schöne Tanzdarbietungen erfreuten. Dann hielt
Bezirkskonservator Or. Bleibaum einen sehr belehrenden
Bortrag mit Lichtbildern über die Bau- und Knust-
denkmäler des Kreises Grafschaft Schanmburg, durch
den man auf die Führung der folgenden Tage vor-
bereitet wurde. Danach blieb man bei Freibier, das
eine Rinteler Brauerei spendete, noch einige Zeit bei-
sammen. In froher Stimmung wurden alle Freunde
begrüßt, neue Bekanntschaften gemacht und alte er-
neuert.
Am Sonnabend (10. 9.) mußte man sich schon um
i/29 Uhr zur Sitzung in der Aula des Gymnasiums ein-
finden. Nach kurzen Eröffnungsworten des Vorsitzenden,
Bibliotheksdirektors Or. .Hopf, sprach Geheimrat Prof.
Di-. Edward Schröder aus Göttingen über die Uni-
versität Rinteln. In vorzüglicher Darstellung berich-
tete der Redner über die Entstehung der vom Grafen
Ernst von Schaumburg aus dem Stadthagener Gymna-
siura illustre geschaffenen kleinen Universität, über ihre
Schicksale, ihr inneres Leben, ihre Professoren und ihre
Studenten und schließlich über ihr klangloses Ende
unter der westfälischen Fremdherrschaft. Reicher Bei-
fall lohnte den beliebten Redner. Da die für den
nächsten Vortrag unentbehrliche Eilsener Kurkapelle noch
nicht eingetroffen ivar, ivurde nun bereits die erst für
später vorgesehene Mitgliederversammlung abgehalten und
218
a. d. Weser" (Verlag C. Bösendahl )un., Rlnteln).
vom Vorsitzenden mit einigen Worten eröffnet. Land-
rat Or. Moewes begrüßte sodann die Versammlung im
Namen des Herrn Oberpräsidenten und des Herrn
Regierungspräsidenten, die beide zu ihrem Bedauern
am Erscheinen verhindert waren, und brachte ferner
die Grüße und Glückwünsche des Kreises Grafschaft
Schaumburg und des Schaumburger Heimatbundes. In
gleichem Sinne sprachen dann Landesrat Schellmann
für den Herrn Landeshauptmann, Bürgermeister Or.
Wachsmuth für die Stadt Rinteln, Oberstudiendirektor vr.
Hörnecke für das Rinteler Gymnasium und Pfarrer
Weber von Apelern für die Gesellschaft für Familien-
knnde in Kurhessen und Waldeck. Der Vorsitzende,
Bibliotheksdirektor Or. Hopf, dankte den Rednern für
die überbrachten Grüße lind Glückwünsche, lvie auch
den anwesenden Mitgliedern und Gästen für ihr Er-
scheinen und erteilte dann dem Schriftführer, Biblio-
theksrat vr. Israel, das Wort für den Jahresbericht.
Aus diesem war zu entnehmen, daß der Verein im
abgelaufenen Berichtsjahre seine satzungsgemäßen Auf-
gaben in vollem Umfange hat erfüllen können. Die
Mitglicderzähl belief sich am Jahresschlüsse auf rund
1800. In Gelnhausen hat sich eine neue Ortsgruppe
gebildet. Band 56 der Zeitschrift ivurde vorbereitet
und ist mittleriveile zur Ausgabe gelangt, wie auch
Markt mit Rathaus und St. Rikolaiktrche.
Der Münchhausenhof.
nach längerer Pause ein Heft der Mitteilungen. Ter
Austausch von Vortragsrednern zwischen den einzelnen
Zweigvereinen hat sich wiederum bewährt. Auf der
Sibnrg bei Carlshasen wurden Ausgrabungen an den
dort vorhandenen frühgeschichtlichen Wällen vorgenom-
men. Die Flurnamensammlung tvurde fortgesetzt. Am
Schlüsse des Berichts gedachte der Schriftführer der
ini Berichtsjahre verstorbenen Mitglieder des Vereins,
zu deren Ehren die Anwesenden sich von ihren Sitzen
erhoben. — Der Konservator der Marburger Vereins-
sammlungen, Kunstmaler und Universitätszeichenlchrer
Giebel, berichtete sodann über diese Sammlungen, die
zwecks Überführung in das neue Kunstinstitut der llni-
versität einer sorgfältigen Prüfung und, soweit er-
forderlich, einer Reinigung unterworfen wurden. Zahl-
reiche Neuerwerbungen wurden mitgeteilt. — Bürger-
meister Dr. Wachsmuth gab hieraus bekannt, das; die
Prüfung der Jahresrechnung von zwei Rinteler Herren
vorgenommen worden war und zu wesentlichen Be-
anstandungen nicht geführt hatte. Dem Kassenführer,
Bankdirektor Boppenhausen, wurde einstimmig Entla-
stung erteilt. Ter Mitgliedsbeitrag für das laufende
Jahr wurde wieder auf 4 RM festgesetzt. Als Ort
der nächstjährigen Tagung wurde Witzenhausen ange-
nommen; für das folgende Jahr lag bereits eine Ein-
ladung nach Schmalkalden vor, der voraussichtlich ent-
sprochen werden wird. Nachdem dann der bisherige
Vorstand den Saal verlassen und der Vorsitzende des
Marburger Zweigvereins, Professor Kürschner, die Lei-
tung der Versammlung übernommen hatte, schritt man
zur Wahl des Vorstandes. Auf Antrag des zu solchem
Vorschlage satzungsmäßig berechtigten Zweigvereins Kassel
wurde der bisherige Vorstand, Bibliotheksdirektor Dr.
Hopf als Vorsitzender, Zolldirektor i. R. Woringer als
stellvertretender Vorsitzender, Bibliotheksrat Dr. Israel
als Schriftführer, einstimmig iviedergewählt. Zurückge-
kehrt, nahmen diese die Wahl an. Der Vorsitzende teilte
dann noch mit, daß der Gesamtvorstand in seiner
Sitzung vom vorhergehenden Tage die Herren Biblio-
theksrat i. R. Professor Dr. Lange in Kassel und Staats-
archivdirektor Dr. Dersch in Breslau zu Ehrenmitgliedern
des Vereins ernannt habe, was allgemeinen Beifall
fand. Damit hatte die Mitgliederversammlung ihr Ende
erreicht und Staatsarchivrat Dr. Gutbier ergriff das
Wort zu seinem Vortrag über die hessen-kasselische
Militärmusik. Auf Grund eingehender archivalischer Stu-
dien schilderte der Vortragende, wie die Militärmusik
allmählich aus den nur zu Signalzwecken bestimmten
Trommlern und Trompetern entstanden ist, wie sie
sich dann durch Hinzufügen anderer Instrumente immer
weiter entwickelte und schließlich in dem Musikkorps des
kurhessischen Leibgarderegiments unter Kapellmeister
Bochmanns Leitung einen hohen Grad musikalischer
Ausbildung und Leistung erreichte. Nach Beendigung
seiner Ausführungen ließ der Redner unter eigener
Mitwirkung alte hessische Militärmärsche von der Eil-
sener Kurkapelle vortragen, die mit den einfachsten
Trommelmärschen begannen und mit dem schönen Bock>-
mannschen Parademarsch des Leibgarderegiments schlos-
sen. Reicher Beifall zeigte, daß die Zuhörer dem Redner
sowohl für seinen Vortrag, als für die musikalischen
Darbietungen dankbar waren. Am meisten waren das
die zwei alten Kasselaner, die noch als Jungen dem
kurhessischen Zapfenstreich nachgelaufen waren und der
Gardemusik bei der Parademusik am Autore die Noten
gehalten hatten, was damals ein beliebtes Vergnügen
der kasseläner Jungen war.
Tie Sitzung hatte damit ein Ende erreicht, und man
nahm nun einen Gang durch die Straßen der ^>tadt
vor, wobei man eine große Anzahl schöner alter Holz-
häuser besichtigte. Konservator Dr. Bleibaum von Kassel
und Justizrat Eckhardt von Witzenhausen führten dabei.
Ter Rundgang endete am Ratskeller, in dessen Saale
man sich zum Festessen vereinigte, das in froher Stim-
mung zu allseitiger Zufriedenheit verlief. Direktor Dr.
Die Eulcnburg.
219
Hopf brachte ein Hoch auf das deutsche und hessische
Vaterland aus. Nicht unerwähnt möge bleiben, das;
der Magistrat der Stadt Rinteln die Teilnehmer am
Mahle mit der Stiftung des Tischweins, des Schaum-
weins und von 3 Zigarren für jeden Herrn erfreute.
Alsbald nach dem Festessen wurden mehrere große
Postautos bestiegen, die zunächst nach Großen-Wieden
fuhren, wo die sehenswerte alte Kirche besichtigt wurde.
Herr Pfarrer Ebel machte besonders auf das neuent-
deckte Deckengemälde von 1487 aufmerksam. Dann ging's
weiter über das Schlachtfeld von 1633 nach Hessen-
Oldendorf, wo man sich am Anblick zweier wunderschöner
alter Holzhäuser erfreute. Hierauf erreichte man Fisch-
beck, wo die schöne Stiftskirche gezeigt wurde. Daran
schloß sich ein halbstündiger Aufenthalt in einem Fisch-
becker Gasthaus, bei dem der Kreis Kaffee, Kuchen
und Butterbrot stiftete. Als man von dort nach Rinteln
zurückgekehrt war, blieb nur wenig Zeit für die Ein-
nahme des Abendessens. Denn um Uhr fand in
der reformierten Kirche ein Kirchenkonzert statt. Die
künstlerischen Darbietungen der Herren Kammervirtuos
v. Fossard (Violine), Fr. Krüger (Celloß Kammer-
musiker Hünigen (Orgel), sämtlich aus Bückeburg, und
des Rinteler Kirchenchors unter Leitung seines Diri-
genten Fr. Schneider waren vorzüglich und riefen in
der schönen Kirche eine weihevolle Stimmung hervor.
Sears) Beendigung des Konzerts nahmen die schönen
Räume des Ratskellers die Festteilnehmer tviederum
auf. Bei der großen Zahl der Teilnehmer saß man
zwar etwas eng, aber um so gemütlicher. Nach den
doch nicht unbedeutenden Anstrengungen des Tages tat
ein gutes Glas Bier bei freundschaftlicher Unterhal-
tuito recht wohl.
Am dritten Tage, Sonntag (11. 9.), wurden wie-
derum schon um 1/29 Uhr die Autoomnibusse bestiegen
zu einer wunderschönen Fahrt durch den ganzen Kreis
Grafschaft Schaumburg. Kleine Regenschauer, ohne die
es ja in diesem Jahre nicht abgeht, störten die frohe
Amtsgericht.
Stimmung nicht, zumal sie von der Festleitung so ge-
schickt angebracht waren, daß sie allemal dann auf-
traten, wenn man hübsch trocken im Auto saß. Die
Fülle des Gesehenen und die Zahl der durchfahrenen
Orte war so groß, daß ich mich hier auf eine kurze
Aufzählung beschränken muß. Die Fahrt ging zuerst
nach Möllenbeck, wo in der großen und schönen Stifts-
kirche Pfarrer Sinning aus Rinteln, ein geborener
Kasselaner, eine kurze und zu Herzen gehende geistliche
Ansprache hielt. Dann wurde unter Landeskonservator
vr. Bleibaums Führung die Kirche besichtigt. Und
nun ging es aus der äußersten Südwcstecke des Kreises
zur äußersten Nordwestgrenze, nämlich wieder durch
Rinteln zurück und weiter über die Grenze von Schaum-
burg-LiPPe, durch den schönen Luftkurort Steinbergen
nach Obernkirchen, wo der Verein, vom Stiftsamtmann
empfangen, wiederum die Stiftskirche besichtigte. Dann
wurden die Teilnehmer zu einem ganz besonders wert-
vollen alten Hause, einer wahren Perle der Holzbau-
kunst, geführt, das die Stadtverwaltung abbrechen und
durch einen Neubau ersetzen will. Hoffentlich ist der
vom Verein dagegen erhobene Einspruch von Erfolg.
Nun hieß es wieder die Autos besteigen, zurück bis
vor Steinbergen und seitwärts zur Arensburg, einem
schönen, alten, schaumburg-lippischen Schlosse mit präch-
tigen Parkanlagen. Hier wurde zu Mittag gespeist.
Dann ging's weiter quer durch den Kreis, dessen Grenze
balö wieder erreicht wurde, in seine äußerste Nordostecke.
Hattendorf mit seiner alten Kirche, in der hochbedentende
alte Wandmalereien in der Aufdeckung begriffen sind,
die uns, ebenso wie ein kunstgeschichtlich wertvolles altes
Kruzifix, von Herrn Pfarrer Sommerlath gezeigt wur-
den, Apelern, in dessen Kirche sich das Erbbegräbnis des
Geschlechtes v. Münchhausen befindet, und in der Pfarrer
Weber den freundlichen Führer abgab, wurden besucht.
Tie Weiterfahrt durch das sonnenbeschienene Auctal mit
dein Blick auf die kleine Residenz Bückeburg und den
belvaldeten Bückeberg war herrlich. In Rodenberg emp-
fing Bürgermeister Or. Ritter den Verein, führte ihn
in den Rest der alten, durch Brand zerstörten Wasserburg
und zeigte einige dort gefundene Altertümer. Von
einem schönen alten Zinnbecher, einem „Willkömmen"
aus dem Jahre 1743, machte er praktischen Gebrauch,
indem er darin den 3 Vorstandsmitgliedern einen vor-
züglichen Trunk Oberingelheimers, des Gewächses seiner
Vaterstadt, kredenzte. Aber der Landrat, der am ganzen
Tage wieder den liebenswürdigen Führer abgab, drängte
zur Weiterfahrt. Nach wenigen Minuten war der Kur-
park von Nenndorf erreicht, wo man bereits erwartet
wurde. Kaum hatte man Aufstellung genommen, so
erschien auch schon die Spitze des vom Heimatbunde
veranlaßten Festzuges. Zwei Reiter in der schaum-
burger Tracht, in weißen Röcken und hellblauen Zipfel-
mützen, auf herrlichen Pferden eröffneten den Zug,
dann folgte eine Schule kleiner Mädchen in der Landes-
tracht, jedes mit einer gleichgekleideten Puppe, eine
Schar Bergleute mit ihren Beamten in reicher Berg-
mannsuniform und mit der Barsinghäuser Bergkapelle,
zahlreiche Gruppen von Landleuten in den verschiedenen
Arten der Volkstracht (Taufe, Abendmahl, Hochzeit,
Trauer usw.), und zuletzt ein prächtiger Hochzeits-
wagen. Hell leuchteten die roten langen Röcke der
Mädchen und noch heller ihre fröhlichen Gesichter,
bunt glitzerten die reichgestickten breiten Bänder und die
Perlen an den hohen Aufsätzen der Braut und der
Brautjungfern. Lustig lachten und jauchzten Burschen
unv Mädchen in die sonnige Landschaft hinaus. Zwei-
mal zog der Zug an den Festteilnehmern vorbei; wenn
er etwas auseinander kam, stellten die berittenen Bur-
220
scheu, in vollem Galopp mit ihren prächtigen Pferden
hin und her jagend, die Verbindung her. Es war ein
bezaubernd schönes Bild!
Als der Zug zum zweiten Male vorbei gezogen
war, begab man sich in das Kurhaus, wo im großen
Festsaal die Teilnehmer des Zuges nun ihre Tänze
vorführten, mit dem „Achttourigen" beginnend. Außer-
ordentlich graziös bewegten sich die schlanken Schanm-
burger Landmädchen ans ihren kleinen Füßen im Tanze
uno ließen sich von ihren Tänzern durch die Luft
schwenken, daß sie völlig wagerecht in der Luft schwebten.
Lautes Jauchzen der Tänzer und Tänzerinnen lockte
auch die nmsitzenden älteren Bauernfrauen, mit zu
jubeln, und man bekam wirklich Lust, auch mitzutun!
Eine auf der Bühne des Saales dargestellte Spinn-
stube erfreute durch den Gesang von Volksliedern. Schließ-
lich tanzte auch noch der Bayernverein aus Hannover
einen Schuhplattler.
Landrat Br. Moewes und Bibliotheksdirektor Br.
Hopf sprachen den Mitgliedern des Heimatbuudes für
ihre Darbietungen den herzlichsten Tank des Geschichts-
vereins aus. Dann ging's zum Kaffee in einem Neben-
saale des Kurhauses, nach dem ein Spaziergang mit
dem schönen Nenndorfer Kurpark bekannt machte. Und
nun ging's zum Ende, Noch einmal vereinigte ein
fröhliches Abendessen die Festteilnehmer, immer noch
63 an der Zahl, obwohl schon zahlreiche auswärtige
Gäste die Rückreise hatteu antreten müssen. Justizrat
Eckhardt aus Witzenhausen sprach noch einmal den
Herrn Landrat Br. Moewes und Bürgermeister Br.
Wachsmuth, aber auch den drei Vorstandsmitgliedern des
Vereins den Dank der Festteilnehmer aus; dann ver-
abschiedeten sich die erstgenannten beiden Herren, die
noch in der Nacht zur Tagung des Weserbundes nach
Bremerhafen fahren mußten. Mittlerweile hatte eine
glänzende Beleuchtung des Kurparkes begonnen. Tau-
sende von bunten Papierlaternen und helleuchtenden
bunten Glasbechern boten ein prächtiges Bild. Bei
den Klängen der Kurmusik wanderte man noch einmal
durch die Anlagen. Dann wurden die Autos bestiegen
und in wehmütig-froher Fahrt ging's im hellen Mondew
schein zurück nach Rinteln, wo man 11 Uhr nachts
wieder eintraf.
Die Bäckerstraße.
Am anderen Morgen führte die Eisenbahn die Fest-
teilnehmer nach allen Richtungen von dannen. Keiner
von allen wird aber woht diese so hervorragend schöne
Tagung vergessen und vor allem auch die beiden Herren
in dankbarer Erinnerung behalten, durch deren so außer-
ordentlich liebenswürdiges Auftreten das Fest eine ganz
besondere Note erhielt, die Herren Landrat Br. Moewes
und Bürgermeister Br. Wachsmuth.
Woringer.
Ich rief dich nicht.
Ich rief dich nicht —, du bist zu mir gekommen!
Ein helles Feuer war so bald entglommen,
Von uns mit frohen Händen angefacht.
Wie Kinder schürten wir die Loderflammen.
Wir trugen emsig Reis um Reis zusammen
lind warfeiTs in die Gluten, unbedacht.
Das gab ein Leuchten, gab ein Funkensprühen,
Als wollten unsre Flammen nie verglühen,
lind doch sank mählich unsres Feuers Brand.
Mit stillen Augen sakßn wir es verschwelen:
Es fanden sich im Lohen unsre Seelen.
Nun stehen wir, wie Kinder, Hand in Hand.
Rinteln. Helene Brehm.
Sturm.
Und über die Wasser, die tiefen,
Geht unser Rusen zur Nacht,-
Ob wir auch träumten, schliefen,
Wir sind vom Sturm erwacht.
Der nahnüs auf seine Schwingen,
Nun weint es weh ums Haus,
Und in das Brausen, Klingen
Horcht unser Herz hinaus.
Und sucht des Andren Seele
Im dunklen Leid der Nacht,-
Der Schmerz schnürt mir die Kehle!
Hast du an mich gedacht?
Gießen. Sophie Nebel von Türkheim.
221
Die Ehrenpromotionen beim Marburger Universitäts-
jubiläum vom s)ahre 182?. Von Karl Heldmann-Halle.
Im Heft 7 des „Hessenland" (S. 152) berichtet
Herr Geheimrat Pros. Dr. Edward Schröder über
die erste Ehrenpromotion einer deutschen Frau, die
von der Universität Marburg bei ihrem 300jährigen
Jubiläum am 29. Juli 1827 durch die Verleihung
des philosophischen Doktortitels an Frau Jeanne
Wyttenbach geb. Gallien vollzogen worden sei. Diese
sehr interessante Angabe bedarf einer kleinen Er-
gänzung. Das in meinem Besitz wenigstens befind-
liche Exemplar der Tabula invitatoria der
Universität zu den damaligen Ehrenpromotionen ent-
hält nämlich den Namen dieser gelehrten Dame nicht.
Vielleicht ist es aber nicht ohne Interesse, daraus
zu erfahren, wem damals überhaupt die Ehre der
akademischen Graduierung zu teil werden sollte und
also auch zu teil geworden ist. Ich lasse deswegen
den Wortlaut dieser feierlichen Tabula academica,
soweit er von Bedeutung ist, folgen und gebe nur
die Namen der Promovenden deutsch wieder:
„Quod Deus propitius in salutem civitatis et
in reipublicae literariae honorem atque dignitatem
vertat.
Auctoritate ac sub auspiciis augustissimi ac
potentissimi principis ac domini, domini Gui-
lielmi II., Electoris et landgravii Hassiae, magni
ducis Fuldae, principis Hersfeldiae, Hanoviae,
Frideslariae, Ysenburgi, comitis Cattimeliboci,
Diciae, Ziegenhainae, Niddae, Schaumburgi rel,
Academiae nutritoris elementissimi,
Prorectore Dieterico Guilielmo Henrico
Busch, medicinae doctore eiusque et artis ob-
stetriciae professore publico ordinario, xenodochii
obstetricii directore rel.,
Procancellario Georgio Friderico Carolo
Robert, ordinis leonis aurei Hassiaci equite,
augustissimo ac potentissimo principi electori ab
intimis in regimine consiliis, iurisscientiae doctore
et professore publico ordinario,
Nomine et assensu totius senatus aeademici ex
singularum facultatum decreto trabeutae et pro-
motores rite constituti: ex ordine theologorum
Carolus Guilielmus Justi..., ex ordine
iui'econsultorum EduardusPlatner...,ex ordine
medicorum Christophorus Ullmann...,ex
ordine philosophorum Joannes Fridericus
Christianus Hessel...
Viris ingenio et doctrina eximiis, qui vel de
civitate et ecclesia vel de literis et institutione
publica vel de sanitate et naturae scrutatione
praeclare meruerunt, iura et honores
I. A. Theologiae doctoris:
1. Johann Philipp Benkard, Kirchenrat und Pastor
prim, an S. Peter zu Frankfurt a. M.,
2. Karl Christian Sigismund Bernhardi aus Ottrau
in Hessen, Dr. phil., Art. lib. Magister, akademischer
Bibliothekar an der Universität Löwen,
3. Karl August Friedrich Fritzsche aus Steinbach
in Sachsen, Dr. phih, A. 1. M., ord. Professor der
Theologie an der Universität Rostock,
4. Gottlob Heinrich Ludwig Fuldner aus Spring-
stille in Hessen, Dr. phil., A. 1. M., Konrektor des
Gymnasiums zu Rinteln,
5. Friedrich Josias Geiße, Dr.phil., A.l. M., Pastor
prim, der Kirche zu Homberg, Metropolitan der Klasse
(dioeceseos praesuli),
6. Martin Heinemann, Konsistorialrat, Pfarrer
an U. L. Fr. zu Hanau,
7. Johann Peter Hufnagel, Konsistorialrat,Pastor
prim, an U. L. Fr. zu Hanau, Inspektor der Diözese,
8. Abel Theodor Wilhelm Maeder aus Hanau,
Pfarrer der Kirche zu Markirch im Elsaß, Präsident
des Konsistoriums zu Mülhausen,
9. August Jakob Rambach, Pastor prim, an
S. Michaelis zu Hamburg und Scholarch,
10. Johann Friedrich Heinrich Schwabe, Dr. phil.,
A. 1. M., großherzogl. sächs. Oberkirchenrat und Hos-
prediger zu Weimar,
11. Christian Wilhelm Spieker, Dr.phil., A.l.M.,
vormals Professor der Theologie an der Academia
Viadrina (Frankfurt a O.), jetzt Superintendent und
Pastor prim, ebenda, Ritter des Eisernen Kreuzes;
B. Theologiae licentiati:
1. Johann Ludwig Hyneck, Dr. phih, A. 1. M.,
Pfarrer(sacrorum antistiti) undPrediger des Klosters
Fischbeck,
2. Georg Christian Rudolf Matthäi aus Hameln,
Dr. phil., A. 1. M., Privatdozent der Theologie an der
Academia Georgia Augusta (Göttingen),
3. Heinrich Schönfeld, Pastor der Kirche von Reel-
kirchen im Fürstentum Lippe;
II. Jurisprudentiae doctoris:
1. Wilhelm Gotthels Engelhard, kursürstl. Ober-
gerichtsrat in Kassel,
2. Lothar Herquet, Regierungsdirektor a. D. zu
Fulda,
3. Elard Johann Kulenkamp, kursürstl. Ober-
appellationsgerichtsrat in Kassel,
4. Georg Moeller, herzogl. nassauischer Staatsrat
und Vizepräsident der Regierung zu Wiesbaden,
222
5. Wilhelm von der Nahmer, Advokat und Pro-
kurator an den nassauischen Obertribunalen,
6. Christian Hartmann Pfeiffer, kursürstl. Kammer-
rat,
7. Johann Conrad Theiß, Lic. beider Rechte,
kursürstl. Rat und Justizamtmann zu Wetter,
8. Johann Georg Wagner, Gerichtsaktuar zu Netra;
III. Nedicinae doctoris:
1. Johann Baehr, Ober-Wundarzt (protochirur-
gus) des hessischen Heeres und Wundarzt (medico-
chirurgus) des kurfürstlichen ersten (Leib-Garde-)
Regiments,
2. Rudolf Brandes, Dr. phil., A. 1. M., fürstlich
waldeckischer Hofrat, Direktor der pharmazeutischen
Gesellschaft für Norddeutschland, Mitdirektor der
Indischen Gesellschaft zur Ausbreitung der Natur-
wissenschaften, Mitglied mehrerer anderer wissen-
schaftlichen Gesellschaften,
3. August Friedrich Wiegmann, vormals Apo-
theker in Braunschweig, Mitglied mehrerer gelehrten
Gesellschaften;
B. Pharmaciae doctoris:
1. Johann Heinrich Cassebeer, Apotheker und Rats-
herr zu Gelnhausen, Mitglied mehrerer gelehrten
Gesellschaften,
2. Johann Rudolf Wild, Apotheker zu Kassel und
Assessor des hessischen Obermedizinalkollegs, Mitglied
mehrerer gelehrten Gesellschaften;
0. Nedicinae veterinariae doctoris:
Bernhard Anton Greve, herzogl. holstein-olden-
burgischer Obertierarzt, Assessor des Medizinal-
kollegiums zu Oldenburg;
IV. A. Philosophiae doctoris et artium
liberalium Magistri:
1. Ludwig Boclo, Rektor prim, des Gymnasiums
zu Rinteln,
2. Karl Eduard Brauns, Kollaborator am Lyzeum
zu Kassel,
3. August Breithaupt, Professor prim, der Minera-
logie an der Bergakademie Freiberg, Mitglied meh-
rerer gelehrten Gesellschaften,
4. Karl Daub, B. theol. und ord. Professor an der
Universität Heidelberg, großherzogl. badischer Geh.
Kirchenrat,
5. Wilhelm Faber, Rektor des Gymnasiums zu
Hersfeld,
6. Karl Wilhelm Ferdinand von Funk, kgl. sächs.
Oberst usw.,
7. Johann Reinhard Haefner, Pfarrer zu Barchfeld,
8. Heinrich Wilhelm Kraushaar, Konrektor des
Gymnasiums zu Hersfeld,
9. Bernhard Freiherr von Lindenau, kgl. sächs.
Minister und Gesandter beim Bundestag (folgen seine
sämtlichen Orden),
10. Gustav Matthias, Konrektor des Lyzeums zu
Kassel,
11. Wilhelm Münscher, Rektor des Gymnasiums
zu Hanau,
12. Friedrich Karl von Savigny, Br. beider Rechte
und ord. Professor an der Universität Berlin, Mitglied
der kgl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, kgl.
preuß. Geh. Regierungs- und Staatsrat, Assessor des
Appellationsgerichts, Ritter des Eisernen Kreuzes,
Mitglied mehrerer gelehrten Gesellschaften,
13. Friedrich Heinrich Christian Schwarz, I). theol.
und ord. Professor an der Universität Heidelberg,
Direktor des pädagogischen Seminars, großherzogl.
badischer Geh. Kirchenrat,
14. Adolf Wagner, Privatgelehrter zu Leipzig;
B. Musices doctoris:
Ludwig Spohr, Hoskapellmeister (Concentus aulici
Moderatori)
hoc ipso die XXIX. m. Julii secrmdo festi academiae
trisaecularis hora XI. in aula maiori tribuent. Ad
quae acta illustriora academica rite et solemniter
peragenda omnes dignitatum et ordinum proceres
divinarum et humanarum scientiarnm fautores
cultores cum maxime cives nostri academici nt sint
testes, spectatores et auscultatores perofficiose in-
yitantur. — P[ublicatum] P[ublice] in Universitate
Marburgensi die XXIX. m. Julii, Secundo Festi
Trisaecularis sub sigillo academiae maiore. (L. S.)
Wie man sieht, befindet sich Frau Jeanne Wytten-
bach geb. Gallien nicht unter diesen Persönlichkeiten,
zu deren um 11 Uhr stattfindender Ehrenpromotion
durch vorstehendes, wenige Stunden zuvor publiziertes
Schriftstück eingeladen worden ist. Hat sie also den-
noch den philosophischen Doktorhut erhalten, so kann
das nur in der Form einer ganz besonderen Über-
raschung ohne vorherige Bekanntmachung geschehen
sein.*) Bei den in der Tabula angekündigten Ehren-
promotionen erscheinen als am meisten bemerkenswert
die damals jedenfalls auch zum erstenmal verliehenen
akademischen Grade des Br. pharm., Br. med. vet.
und Br. mus.: letzterer eigens für Ludwig Spohr
geschaffen. An fortschrittlichem Geist hat es, wie man
sieht, auch der kleinen Universität Marburg von 1827
schon nicht gefehlt.
*) Nach H. Hermelink und S. A. Kaehler, Die Philipps-
Universität zu Marburg, 1527-1927, Seite 536, An-
merkung 29 enthält ein Sammelband der Universitäts-
Bibliothek — VIIIA 1184 b —, der alle auf das Säkularfest
sich beziehenden Erscheinungen vereinigt, neben dem ge-
meinsamen Diplom der Ehrenpromotionen in der Tat
gesondert auch das Diplom für Johanna Wyttenbach, geb.
Gallien. Die Schriftleitung.
223
Landesgeschichte, Mundartenforschung und Volkskunde
von Hessen und Nassau. Eine neue Marburger Forschungsgemeinschaft.
Die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert
hatte den Begriff „Volk" in beit Gesichtskreis des
allgemeinen Interesses gerückt. Tie Wende zum
20. Jahrhundert brachte den Begriff „Heimat".
Die Schule knüpft an die Heimat an, um von ihr
znm Ganzen des Vaterlandes zu führen. Die For-
schung Ivendet sich den Fragen und Aufgaben der
Heimatkunde, der Landes- und Volksforschung zu,
um von ihr neue Aufschlüsse für den Gesamtbau!
der Wissenschaft zu erhalten. Und sie sucht diese
ihre Ergebnisse auf dem festen Boden geschichtlicher
Betrachtung: sie ist ein Stück historischer Wissen-
schaft. Dabei steckt sie, mehr als es früher üblich
mar, ihre Arbeitsgebiete räumlich ab, sich aus
heimatliche Landschaften beschränkend; denn nur so
kann sie hoffen, die Fülle und die Mannigfaltigkeit
der Erscheinungen zu meistern.
Gerade das genaue Studium räumlich begrenzter
Erscheinungen lehrt freilich, wie unvermeidlich es
ist, die einzelnen Zweige des geschichtlichen Lebens,
die so eng in einander greisen, zunächst nicht einer
und derselben wissenschaftlichen Disziplin auszulie-
fern, sondern sie vorerst der Obhut der für sie zu-
ständigen Sonderdisziplin zu überlassen. Aber als-
dann kommt alles darauf an, diese wiederum zu
gemeinsamer, kombinierter Arbeit zusammen zu
führen.
Den Aufgaben, die hier warten, ist die Arbeits-
kraft und die Lebensdauer des Einzelnen nicht ge-
wachsen. So treibt die Entwicklung zu einer Kon-
zentration der Forschungen in fachwissenschastliche
Institute, die ebenso den Untersuchungsstoff ver-
einigen, wie die Möglichkeit zum Austausch und
zur wechselseitigen Befruchtung der Einzelwissen-
schaften bieten. Das Rheinland besitzt ein solches
Institut für geschichtliche Landeskunde seit über
5 Jahren an der Universität Bonn, und auch an
anderen Stellen in Deutschland regen sich die Kräfte.
In der Kurhessen (mit Waldeck), Oberhessen und
Nassau umfassenden Landschaft zwischen Rhein,
Main und Weser ist schon seit langem von mehreren
Seiten aus dieses Ziel hingearbeitet worden. Als
eine besonders wirksame Sammelstätte der For-
schungstätigkeit hat sich hier neuerdings der „Ge-
schichtliche Atlas von .Hessen undNas -
sän" erwiesen, der 1920 neu gegründet wurde und
sich an die „Historischen Kommissionen" für Hessen
und Waldeck und für Nassau anlehnt. Diese Unter-
nehmung ist schon sehr bald nach ihrer Entstehung
über den ursprünglichen Sinn ihres Namens hinaus-
gewachsen. Sie dient nicht nur dem Zweck, einen
„historischen Atlas" ihres Arbeitsgebietes zu schaf-
fen, sondern sie ist Stätte und Mittelpunkt landes-
geschichtlicher Forschung überhaupt geworden, so
zwar, daß die geographische Karte das eigentliche
-Mittel bleibt, mit 'dem sie die von ihr unter-
suchten landesgeschichtlichen Prozesse veranschaulicht
224
und verarbeitet. Vor etwa einem Jahre ist auch
die äußere Folgerung aus dieser Tatsache gezogen
worden: da der Atlas in dem Marburger histo-
rischen Seminar Unterkunft gesunden hatte, wurde
dicsenl nun eine Nebenabteilung „für geschichtliche
Landeskunde" eingegliedert und damit unter staat-
lichen Schutz genommen; seitdem besteht in Mar-
burg ein Institut für geschichtliche Lan-
deskunde von Hessen und Nassau, das,
amtlich unterstützt von den Bezirksausschüssen aller
Landesteile, hoffen darf, alte und neue Aufgaben
in steigendem Maße zu erfüllen.
Ihre Aufgabe haben Atlas und Institut von
vornherein darin gesehen, politische und kulturelle
Erscheinungen der heimatlichen Geschichte aufzu-
hellen. Voran stand dabei zunächst die p o l i t i s ch e
Territorialgeschichte, die von der neueren
Forschung bekanntlich als Hauptträger und „Raster"
der Kulturentwicklnngen erkannt ist; eine stattliche
Zahl teils vollendeter, teils weit vorgeschrittener
Monographien aus allen Teilen des Arbeitsgebietes
legt Zeugnis ab von dieser Tätigkeit. Die dem-
nächst erscheinende farbige Prachtausgabe von Wil-
helm Tilichs „Landtaseln" bringt einen eindrucks-
vollen Beitrag zur Geschichte der hessischen Karto-
graphie um 1600. Die Atlas-Arbeit hat sich
aber auch den großen Kulturproblemen
längst zugewandt. Sie behandelt deren Wechsel-
ivirkung mit den Wellenbewegungen der politischen
Kräfte an der Grenze zwischen Hessen und Westfalen.
Auf Schritt und Tritt läßt sie sich von den Pro-
blemen der Siedlungsgeschichte begleiten.
Eine ihrer nächsten Sorgen ist eine alte Karte der
Landgrafschaft Hessen, die, zugerichtet und in das
moderne Kartenbild übersetzt, vor allem auch für die
Straßen- und V e r k e h r s f o r s ch u n g be-
deutungsvoll sein wird. Von anderen Untersuchun-
gen, die weit gediehen sind, darf ein genaues und
übersichtliches Bild der kirchlichen Organi-
sation erwartet werden.
Das alles genügt wohl, ohne daß von weiteren
Plänen die Rede zu sein braucht, um darzutun, daß
hier das ernste Bestreben herrscht, nach und nach
die verschiedensten Seiten des geschichtlichen Le-
bens in Hessen und in Nassau historisch-geographi-
scher Betrachtung zu unterziehen. Freilich nicht
alles kann und darf der eine Kreis allein tun
wollen. Ter „Geschichtliche Atlas" hat längst be-
gonnen, sich nach Bundesgenossen umzusehen, die
mit ihnr an gleichem Strange ziehen.
Mannigfach berühren sich mit ihm ja die viel
älteren Bestrebungen und Forschungen unserer
großen H i st o r i s ch e n Kommt ssione n, deren
Geschöpf oder Schützling er ist, und der heimischen
Ges ch i ch t s v e r e i n e in ihren Verzweigungen.
Reiche Anregung bietet aus Schritt und Tritt
die geschichtliche Heimatkunde, die seit
Jahren in einem neuen, wissenschaftlichen Sinne
Lehrgegenstand an der Marbnrger Hochschule ge-
worden, allgemeingeschichtliche Erscheinungen aller
Art, aus Kunst, Kultur, Brauch, Recht usw., in
der Heimatlandschaft an konkreten Einzelobjekten
studiert und erläutert.
Ter Anschluß an die Prä Historie und die
R e ch t s h i st o r i e ist längst gesunden und gesichert,
während die zu der geographische n und der
geologischen Wissenschaft hinführenden Verbin-
dungsfäden erst noch fester gesponnen werden müssen.
Besondere Bedeutung haben die Beziehungen zur
Mnndartenforschung und Dialektgeo-
graphie. Ist diese doch in Marburg die ältere
und erfahrenere Schwester des „Geschichtlichen
Atlas", der ja schon bei seiner Entstehung für Rich-
tung, Methode und praktische Ausführung den ent-
scheidenden Anstoß empfing durch die sprachgeo-
graphischen Untersuchungen, die aus der Mar-
bnrger „Zentralstelle für den Sprach-
a t l a s d e s D e u t s ch e n R e i ch s" hervorgingen.
Große Teile Niederhessens mit Waldeck, Teile von
Oberhessen und von Nassau (Westerwald, Rheingau)
umreit schon damals in diesem führenden For-
schungsinstitut verarbeitet. Immer mehr schließen
sich die Einzelbausteine nun zusammen zu einem
Ganzen, das das Fundament einer Geschichte
der Dialekte in Hessen und Nassau
sein ivird. Diesem Gesamtziel dient auch ein Werk,
das vor Jahren auf Veranlassung der Berliner
Akademie als ein Denkmal eben dieser Landschaft
begonnen wurde und dessen l. Lieferung beim
Marbnrger Universitätsjubiläum erschienen ist, das
.Hessen- Na s s a n i s ch e Volkswörterbn ch,
das mit seinen Sammlungen die älteren Arbeiten
Vilmars, Kehreins und anderer weiterführt, in
bewußt kulturgeschichtlicher Einstel-
lung, aber auch gerade den Blick auf die Gesamt-
probleme des erfaßten Gebietes lenkt und durch die
Beigabe zahlreicher Wortkarten — etwas ganz
Neues in solchem Rahmen! — sich zu der geo-
graphisch-historischen Methode bekennt, die alle
diese Studien mit einander verbindet.
Zu ihnen gehört endlich noch, als unablösbares,
ja zwischen den Bereichen des Historikers und
des Mundartenforschers vermittelndes Glied, die
Volkskunde, der in unserer Zeit eine beson-
ders dringliche Aufgabe zufällt, gilt es doch, einen
ungeschriebenen Schatz der Überlieferungen, wie er
in gleicher Fülle nur noch an wenigen Stellen in
Deutschland zu finden ist, rechtzeitig zu bergen,
ehe die umstürzenden Einflüsse der Kriegs- und
Nachkriegszeit sich ganz auswirken. Die Univer-
sität Marburg, durch die Brüder G r i nt m
„Wiege der Volkskunde", hat die Traditionen dieser
genialen Bahnbrecher gewahrt, wie neben älteren
besonders die Namen F. I u st i (Trachtenbuch)
und O. B ö ck e l (Volkslieder) erweisen. In neuerer
Zeit hat Marburg als eine der ersten Universitäten
die Volkskunde gleich der bereits erwähnten Hei-
matkunde in ihren Lehrplan aufgenommen. Von
hier sind die ersten Anregungen zu einer geogra-
phisch-historischen Volkskunde ausgegangen, die die
Brücke schlägt zur Sprachgeographie einerseits, zur
politisch-kulturgeschichtlichen Forschung andererseits.
Die Schätze der schon bestehenden Sammlungen
bieten mit ihren Grundlagen zu neuer gedeih-
licher Arbeit die Gewähr, daß die Saat aus den
Aufnahmen und Forschungen so vieler verdienter
Männer unseres Arbeitsgebietes nicht umsonst in
den Boden gesenkt wurde. Diese älteren Samm-
lungen nach modernen Grundsätzen fortzuführen,
wird die nächste und dringlichste Aufgabe sein. Der
Erfolg hängt ab von der freudigen Mitwirkung
zahlloser Helfer, auf die das Unternehmen im
ganzen Lande, besonders in der Lehrerschaft, mit
Zuversicht rechnen darf. Gerade in diesem Punkte
wird deutlich, wie sehr Marburg sein gegebener
Mittelpunkt ist. Steht ihm hier doch jener erprobte
Stamm von Gewährsleuten zur Verfügung, der
mit seinem Bienenfleiß die nunmehr im „Hessen-
Nassauischen Volkswörterbuch" zur Auswertung ge-
langende riesige Zettelsammlung der Mundarten
ermöglicht hat. Er wird — daran ist kein Zweifel -
auch der neuen Aufgabe, die ihm von der alten
Forschungsstätte aus dargeboten und gestellt wird,
mit Feuereifer dienen.
So sind denn mehrere wissenschaftliche For-
schungszweige, ältere und junge, am Werke, in
eine m Rahmen und Raume nach und nach alle
geschichtlich bedingten Erscheinungen, vergangenes,
gewordenes, werdendes Leben, zu erkunden. Sie
werden zum Teil, wie bisher, getrennt marschieren;
aber sie werden Fühlung halten und sie werden
vor allem vereint schlagen. Alle arbeiten sie an
dem einen großen, soziologischen Problem, wie das
Volkstum unter dem Einfluß politischer Kräfte
und der Kräfte des Verkehrs sich im Raum bewegt
und verwandelt. Und sie arbeiten an ihm mit der
gleichen Methode, mit der geographischen Karte,
die allein diese sich ini Raume entwickelnden sozio-
logischen Lebensformen einfach und deutlich dar-
zustellen gestattet. Einfach und deutlich. Denn
darauf kommt alles an, daß solche Forschungen
nicht nur der reinen Wissenschaft dienen, sondern
daß sie auch für die breitesten Kreise und die
S ch u l e fruchtbar werden. Daß das möglich ist,
hat vor kurzem der „Geschichtliche Handatlas der
Rheinprovinz" erwiesen, der für unser westliches
Nachbargebiet die Entwicklnngslinien des Gewor-
denen aufdeckt und so das Heute verstehen lehrt
aus den Geschicken einer reichen Vergangenheit.
Ein solcher Atlas, der die verschiedensten Formen
des Kulturlebens, der Besiedelungs- und der poli-
tischen Geschichte, der Rechts- und der Wirtschaftsge-
schichte, der Sprache in ihrem Werdegänge, der
mannigfachen volkskundlichen Erscheinungen dar-
zustellen hätte, ist auch für die Landschaft zwischen
Rhein, Main und Weser ein Bedürfnis und das
gemeinsame Ziel aller Forschungsrichtungen, die
sich in Marburg zu einer Arbeitsgemeinschaft ver-
einigt haben.
225
Beziehungen der Brüder Grimm
zur Familie von Schwerhell. Von Dr. Wilhelm Schoof (Hersfeld).
1. B r i e f w e ch s e l von W i l h e l m Grimm
ii n b Karoline v o n S ch w e r tz e l l.
Zu den Jugendfreunden der Brüder Grimm
gehörte von ihrer Kasseler Schulzeit her neben
Ernst von der Malsburg, August Trott zu Solz,
Joh. Georg Neuber, Paul Wigand u. a. auch
Friedrich von Schwertzell. Er war 1784 in Willings-
hausen geboren, trat 1801 in die II II des U^eenm
Fridericianum zu Kassel ein, wo er ein Klassen-
kamerad von Wilhelm wurde, und ging Ostern
1803 1 von 0 II zusammen mit Wilhelm Grimm
und Paul Wigand nach Marburg, wo Jacob
Grimm und Malsburg schon seit Ostern 1802
studierten. In seinen Denkwürdigkeiten1 2 3 schildert
Paul Wigand anschaulich einen Ausflug, den die
Freunde kurz nach der begonnenen akademischen
Tätigkeit zusammen mit Friedrich von Schwertzell
in sechsstündiger Wanderung nach seinem väterlichen
Gut in Willingshausen unternahmen, wo sie in
Abwesenheit der Eltern wundervolle Stunden ver-
lebten. Während Jacob Grimm besonders unter
den Teilnehmern erwähnt wird, wissen wir von
Wilhelm nicht, ob er sich an der Wanderung be-
teiligt hat. Vermutlich durfte er sich eine 6-stündige
Fußwanderung nicht zumuten, da er an Asthma
litt und sich ein halbes Jahr lang hatte schonen
müssen, s
Wilhelm Grimm ist aber später öfter in Willings-
hausen zu Besuch bei seinem Jugendfreund gewesen.
So schreibt er am 18. August 1819 an Achim von
Arnim:4 „Ich war zwei Tage auf dem Schwertzell-
schen Gute bei Ziegenhain, wo es gar hübsch ist,
das ist meine einzige Ausflucht in diesem Jahre
gewesen." Ebenso ist Wilhelm Grimm ein Jahr
vorher in Willingshausen gewesen. Im Fremden-
buch der Familie von Schwertzell in Willings-
hausen findet sich ein Eintrag vom 17. September
1818, der lautet:
„Die Bäume, die im Garten stehn,
die Menschen, die darunter gehn,
wolle Gott behüten,
daß sie stehn und gehn in Frieden."
Willingshausen, am 17. September 1818.
Wilhelm Carl Grimm.
Und am 27. Juli 1820 schreibt die Schwester
seines Jugendfreundes, Karoline von Schtvertzell,
aus Willingshausen an ihn: „Kommen Sie denn
nicht einmal hierher zu uns, damit ich Ihnen
auch zeigen könnte lute prachtvoll sich das herr-
liche Flacon auf der kleinen Kommode unter dem
Spiegel in unserm Stübchen ausnimmt. Thun
1 Groß, Gymnas.-Progr. von 1879.
2 Stengel, Briefe der Brüder Grimm an Paul Wi-
gand (Marburg 1910) S. 327 sf.
3 Kleine Schriften, I, 4.
4 Steig: Achim von Armin und Jakob und Wil-
helm Grimni (Stuttgart 1904) S. 447.
226
Sie es doch ja bald, Sie wissen, daß Sie uns
Alle recht damit erfreuen würden." Am Christ-
sonnabend 1821 schreibt Wilhelm Grimm an die
inzwischen verheiratete Karoline von Verschuer,
Gattin des Rittmeisters Freiherrn von Verschuer:
„Heute Morgen, wie ich die Stadt umher gieng
einiges von den Lustbarkeiten der Welt für meine
Geschwister zu kaufen, so habe ich so viel an Ma-
thilde 5, an die Kinderchen und nach Willingshausen
gedacht, daß mein Verlangen nicht besser als durch
Ihre Einladung hat erfüllt werden können." Karo-
line von Schtvertzell hatte sich 1821 verheiratet
und lebte anfänglich mit ihrem Gatten in Kassel,
dann in Fritzlar und zuletzt in Solz bei Bebra.
Friedrich von Schwertzell besaß ans seiner Ehe
mit Mathilde von Boyneburg 6 Kinder, 3 Mäi>-
chen und 3 Söhne. Bei dem am 30. Oktober
1820 geborenen Sohn Georg von Schwertzell stand
Wilhelm Grimm Pate. Die Taufe fand am
10. November 1820 in Kassel statt. Der Auszug
aus dem Taufbuch lautet:
„In der Hofgemeinde wurde getauft am 10. No-
vember 1820 der am 30. Oktober 1820 geborene
Junker Friedrich Karl Ludwig Wilhelm August
Christian Gerhard von Schwertzell, Sohn des
Forstmeisters und Kammerherrn Georg Ludwig
von Schwertzell und dessen Ehefrau Mathilde
Auguste von Boyneburg.
Gevattern: Landmarschall George von Dörnberg
zu Hausen
Oberst Karl von Baumbach, Cassel
Rittmeister Wilhelm von Verschuer
Bibliothekar Wilhelm Grimm
Oberstleutnant Gerhard von Reutern,
in Livland in russischen Diensten."
Durch die Übernahme der Patenschaft, die zwei-
fellos eine besondere Auszeichnung für Wilhelm
Grimm bedeutete, gestaltete sich das Verhältnis
zur Familie von Schwertzell noch herzlicher
wie bisher, und es scheint, daß Wilhelm öfter
im Spätsommer einen Teil seines Urlaubs in
Willingshausen zugebracht hat und dort auch
mit Karoline von Verschuer zusammengekommen
ist. Denn am 28. Juli 1823 schreibt sie von
Fritzlar aus an Grimm: „Ich gedenke in diesen
Tagen nun endlich nach Willingshausen zu
reisen, wohin mich vielleicht mein guter Mann
begleitet . . . Richten Sie es doch so ein, lieber
Grimm! daß Sie auch bald nach Willingshausen
kommen, Mathildchen 6 mit den Kindern ist schon
0 Mathilde von Boyneburg-Stedtfeld, mit der Fried-
rich von Schwertzell seit 1813 verheiratet tvar.
6 Die Familie von Schtvertzell wohnte nur den
Sommer über in Willingshausen. Im Winter lebte
sie abwechselnd in Kassel und Fulda, Frankfurt und
Wiesbaden.
seit 8 Tagen dort, es würde uns Allen so lieb
sein, wenn Sie kämen!" Am 12.Mai 1824 teilt
Karoline Verschuer Wilhelm Grimm mit, daß sie
und ihr Mann nach Willingshausen reisen werden,
uni) daß auch Frau von Malsburg 7 8 9 dorthin kommen
wird. Sie fährt dann fort: „Wie wäre es, lieber
guter Grimm! wenn Sie sie hierher zu uns be-
gleiteten und unsern Wunsch, Sie einmal wied-er-
zusehn, auf diese Art erfüllten? Wie herzlich will-
kommen Sie uns sein würden, brauche ich Ihnen
gewiß nicht zu wiederholen! . . . Wie gern redete
ich einmal wieder über Vieles mit Ihnen, was
ich so nicht alles schreiben kann." In diesem
Jahre scheint Wilhelm Grimm nicht nach Willings-
hausen gekommen zu sein, denn am 27. September
schreibt er an Karoline: . . . „Dann will ich mich
herzlich über das Glück freuen, das Ihnen bevor-
steht, die gute Lottchen^ wieder zu sehen. Wie
belebt wird es dann wieder im Garten werden,
wenn die guten Kinderchen darin herumspringen,
ich kann es mir lebhaft vorstellen, und thue es
weil ich doch nicht weiß, ob ich es mit Augen
werde ansehen können." Am 3. Oktober anttvortet
Karoline aus Willingshausen: „Ihr allerliebstes
angenehmes Geschenk fand mich schon im Kreiß
unsrer lieben. erwarteten Geschwister, als >vir des
Abends Alle um beit großen grünen Tisch in der
Eßstube saßen, jedes von uns ein Kind auf dem
Schooß haltend, und ich hätte nur gewünscht Sie
selbst wären aus dem Kästchen herausgestiegen als
ich den Deckel öffnete, damit ich Ihnen meinen
herzlichen Dank für Ihr freundliches Andenken
mündlich hätte sagen können und hauptsächlich auch
deshalb, daß wir Sie einmal wieder hier unter
uns hätten, und Sie sehen könnten wie es uns
allen geht, denn das schreiben ist wohl recht gut,
aber wenn man sich sieht das ist doch noch weit
besser."
Auch in den nächsten Jahren scheint Wilhelm
Grimm nicht nach Willingshausen gekommen zu
sein. Tenn am 13. Juni 1826 schreibt Wilhelm
von Verschuer, der Gemahl Karolinens, an ihn:
„Es 'ist nun schon recht lange, daß ich Sie nicht
gesehen habe und ich wünschte gar herzlich Sie
einmal wieder zu sehen. Hassenpflug o hat Ihnen
gesagt, daß ich ihn neulich ganz unvermuthet in
Willingshausen getroffen, einige Tage später hat-
ten wir die Freude ihn hier bei uns (in Fritzlar)
zu sehen und heute siud wir wieder in der freu-
digen Erwartung ihn mit Ihrer guten Schwester
und den Kinderchen bei uns ankommen zu sehen."
Auch Ludwig Grimm, der Maler und Radierer,
" Karoline, die Gattin des Oberhofmarschalls v.
d. Malsburg (aus der Eichenbergschen Linie), die in
ihrem Salon die ersten Künstler der Kasseler Bühne
vereinigte und im Mittelpunkt des Musiklebens stand.
8 Charlotte von Schwertzell, die jüngere Schwester,
die seit 1820 mit Gerhard von Reutern in Livland
verheiratet war.
9 Der Schwager der Brüder Grimm, der seit 1822
mit Lotte Grimm verheiratet war.
war den Sommer 1826 über in Willingshausen,
um gemeinsam mit Gerhard von Reutern10, dem
Schwager Karolinens, dort zu malen. Wie aus
dem eben erwähnten Brief hervorgeht, muß er
auf der Rückreise auch in Fritzlar bei Familie
Verschuer zu Besuch gewesen sein, denn es heißt am
Schluß dieses Briefes: „Wir hoffen Ihren Bruder
Louis bei uns zu sehen, wenn er nach Kassel zu-
rückgereist ist, ob dies in Kürze geschieht, wissen
wir nicht." Dagegen ist Wilhelm Grimm im Som-
mer 1826 in Fritzlar bei Familie Verschller zu
Besuch gewesen, wie aus einem Brief Wilhelms
an Frau von Verschuer vom 24. Juli und aus
einem Brief Karolinens vom 30. Juli hervorgeht.
Sie schreibt dort: „Aber noch eine herzliche Freude
haben Sie mir dadurch gemacht, daß Sie mir sagten
es habe Ihnen gut bei uns in Fritzlar gefallen,
und Sie dächten gern daran zurück. Für uns
war es eine wahre Erholung und ich wünschte nur
wir könnten öfters die Freude haben."
Am 30. Juli 1828 schreibt Karoline an Wilhelm
Grimm: „Wie angenehm wäre es für uns wenn
Sie lieber Grimm! uns einmal ivieder besuchten,
wir möchten Sie so gern einmal wiedersehen, kom-
men Sie dieses Jahr denn nicht nach Möllrich?
Richten Sie es doch wieder so hübsch ein, daß
Sie von dort dann die größte Zeit bei uns sind,
und bedenken Sie was Sie uns für eine Freude
damit machen würden." Wilhelm Grimm muß
auch im Spätsommer 1827 in Fritzlar gewesen sein,
denn Herr v. Verschuer schreibt am 1. August
1828 an Wilhelm: „Es ist nun fast ein Jahr,
daß lütr uns nicht gesehen haben; wir denken
noch immer mit Freude an den Tag zurück, den
Sie vorigen Sommer bei uns zubrachten, und
haben dabei den lebhaften Wunsch Sie auch in
diesem Sommer wieder hier bei uns zu sehen!"
Den übernächsten Sommer verlebte Familie von
Verschuer auf ihrem Stammgut in Solz bei Bebra.
Von hier aus schreibt Karoline von Verschuer am
14. März 1829 an Grimm: „Es wird Sie gewiß
freuen zu hören wie friedlich und still wir hier
leben . . . machen Sie uns doch ja auch einmal
diese Freude und kommen Sie mit Ihrer guten
Dortchen11 und dem lieben Jüngelchen diesen Som-
mer hübsch zu uns, es soll Ihnen in dem nahen
Garten unter den vielen Obstbänmen schon gefallen,
und wie wollte ich mich freuen Ihnen die Kinder
einmal wieder zeigen zu können, die Sie nun so
lange schon nicht gesehn." Auch aus dieser Reise
scheint nichts geworden zu sein. Denn in einem
Brief Wilhelm Grimms an Karoline von Verschuer
vom 21. April 1829 schreibt er nur: „Wie würde
ich mich freuen, Ihre lieben Kinder einmal wieder
10 Bergt, darüber Otto Berlit: Gerhard von Reu-
tern, der erste Willingshäuser Maler („Hessenkunst"
1919, S. 26 ff.). Derselbe: Zur 100 jährigen Ge-
schichte der Willingshäuser Malerkolonie (Ebenda S.
42 ff.).
" Dorothea Wild, die am 15. Mai 1825 sich mit
Wilhelm Grimm verheiratete.
227
zu sehen, das muntere LottchenM steht mir nach
auf das lebhafteste vor Augen und wie es ein
wenig fror und von dem Vater in den Rock ge-
wickelt wurde, als er mich nach Möllrich zurück-
brachte." Ob Wilhelm in den nächsten Jahren noch
einmal nach Willingshausen gekommen ist, muß
bezweifelt werden. Er schreibt am 24. Juli 1829
an Karoline von Verschuer: „Ich hatte gehofft
Sie in diesem Sommer in Willingshausen zu sehen,
Umhin zu reisen ich mir fest vorgenommen, aber
aus mancherlei Gründen bin ich hier festgehalten
und ich muß mir die Freude versagen, dagegen
denke ich auch int Herbst frei zu sein."
Wir kennen die mancherlei Gründe, die Wil-
helm Grimm in Kassel festhielten. Er schreibt
einmal, daß er, seitdem Völkel (der Oberbiblio-
thekar) nicht mehr zur Bibliothek komme, nur sehr
schwer abkömmlich sei. Am 31. Januar 1829 starb
Völkel, und nun begann für die Brüder eine sehr
schwere Zeit. Sie rückten wider Erwarten nicht
ans, sondern Archivdirektor Rommel wurde ihnen
vorgezogen. Unter dem drückenden Gefühl der Zu-
rücksetzung entschlossen sie sich gegen Ende des
Jahres, die durch Prof. Benneckes Vermittlung
ihnen angebotene Berufung nach Göttingen an-
zunehmen. Am 13. Dezember 1829 schreibt Herr
v. Verschuer auf die Nachricht von ihrem Weg-
gang an Wilhelm Grimm aus Solz: „Wir haben
früher als Gerücht und später durch Ihren Brief
an Minchen13 mit Gewißheit erfahren, daß Sie
und Ihre Brüder nach Göttingen ziehen werden.
Wenn ich auch mit Sicherheit voraussetzen kann,
daß Sie auch ohne meine direkte Versicherung
überzeugt sind, welchen herzlichen Antheil wir an
allem nehmen was Ihnen begegnet, so kann ich es
doch nicht unterlassen Ihnen bei dieser für Sie
in jeder Hinsicht wichtigen Gelegenheit unsere
wärmste Teilnahme und unsere Gefühle darüber
mit einigen herzlichen Worten auszudrücken usw."
Und Karoline von Verschuer schreibt gleichzeitig:
„Astch ich muß es gegen Sie aussprechen lieber
Grimm! wie sehr uns die Nachricht, daß Sie
Cassel nun wirklich verlassen, im ersten Augenblick
erschreckt und geschmerzt hat, und tute lebhaft wir
Ihre Gefühle dabei nachempfinden können. Möchte
unser herzlicher Wunsch in Erfüllung gehn und
Sie bei dieser Veränderung recht viel Ursache zur
Zufriedenheit gewinnen! Obgleich Sie nun etwas
entfernter von uns leben werden, so hoffen wir
dennoch nicht gang abgeschnitten von aller Nach-
richt von Ihnen zu sein, und bitten Sie gar sehr
uns von Zeit zu Zeit von Ihrem Ergehen zu.
unterrichten. Wie sehr es uns freuen würde Sie
mit Ihrer lieben Frau und dem kleinen Jüngel-
chen einmal hier bei uns zu sehn, brauche ich
12 -Aus der Ehe von Karoline und Wilhelm v.
Verschuer entstammten zwei Kinder: Lotte und Fritz
(später Hofmarschall).
13 Wilhelmine von Schwertzell, die ältere Schwester
von Karoline (geb. 2. August 1790, f unverheiratet
20. November 1849).
Ihnen wohl nicht erst zu versichern. Erhalten
Sie uns Ihre Freundschaft, ttttb leben Sie recht recht
wohl. Ihre treue Freundin Caroline von Ver-
schuer." Das ist wahrscheinlich der letzte Brief,
den Karoline von Verschuer an Grimm geschrieben
hat.
Noch einmal hat Wilhelm Grimm seiner Freundin
zil ihrem 35. Geburtstag (26. Juli) einen Glück-
wunsch gesandt und seinen Besuch in Solz für
September in Aussicht gestellt, ob es indessen da-
zu gekommen ist, tvisserr wir nicht. Er schreibt
am 23. Juli 1830 von Göttingen ans: „Beinahe
hätte ich die Freude gehabt, liebes Carvlinchen,
Ihnen zu Ihrem Geburtstag die herzlichsten Glück-
wünsche in Person zu überbringen, allein ich mußte
meine Reise nach Frankfurt, auf welcher ich diesmal
Cassel nicht zu berühren gedachte, noch aufschieben,
ich sende sie also wieder schriftlich, aber gewiß
mit denl lebhaftesten Gefühl treuer, unveränderter
Freundschaft. Im September aber hoffe ich meinen
Plan noch auszuführen und dann richte ich es
so ein, daß ich einen Tag bei Ihnen zubringen
kann. Wie will ich mich dann an so manche
Erinnerung aus alter Zeit freuen; oft kommt es
mir jetzt vor, als lebte ich in einem Traum,
tvenn ich die fremden Menschen, die fremde Stadt
und Gegend ansehe. Ohngeachtet mancher wider-
wärtigen Erinnerung aus Cassel empfinde ich dann
doch eine Sehnsucht dahin und wenn ich Abends
durch die Straßen von dem Spaziergange zurück-
gehe, denke ich müßte vor dem Gasthaus mein
Wagen stehen und mich wieder nach Hans fahren.
. . . Wie will ich ntich freuen Ihre lieben Kinder
wieder einmal zu sehen. Leben Sie bis dahin wohl,
liebste Freunde und behalten Sie ntich lieb."
Gehen wir den Gründen nach, die den Abbruch
dieser Freundesbriefe verursacht haben mögen, so
liegen sie ohne Zweifel in den völlig veränderten
Verhältnissen. „Mehr Dienst, mehr Verkehr mit
Menschen, mehr Ablenkung von der Arbeit, mehr
Verflechtung in allgemeine Dinge, und daraus
fließend die Katastrophe der Sieben, der Rückgang
nach Kassel, die Bürde des deutschen Wörterbuches
und die letzte Verpflanzung nach Berlin: all das
hemmte, ja vernichtete allmählich die fröhliche und
in edlem Sinne rücksichtslose Schaffenskraft der
Kasseler Zeit. Jacob und Wilhelm Grimm wußten,
was sie niit Hessen neben allem, was sonst ihnen
teuer war, auch geistig aufgaben", sagt Rein-
hold Steig14 15 sehr treffend von dieser Änderung
der persönlichen Verhältnisse.
Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Grimm und
Karoline von Verschuer umfaßt die Zeit von 1819
bis 1830. Insgesamt sind es 40 Briefe, die ich
im Zusammenhang mit dem bereits früher von
mir veröffentlichten Brieftvechsel der Brüder Grimm
mit Ernst v. d. Malsburg demnächst veröffentlichen
14 Achim von Arnim und Jakob uno Wilhelm
Grimm (Stuttgart 1904), S. 591.
15 Zeitschrift für deutsche Philologie XXXVI, Heft 2
(1904).
228
werde, und zwar 20 von Wilhelm Grimm, 14 von
Karoline von Verschuer, 1 Kinderbrief von Lotte von
Verschner, 5 von Wilhelm bzw. Wilhelm und Karo-
line von Verschuer. Neben den üblichen Geburts-
tagswünschen erhalten wir interessante Aufschlüsse
über Wilhelm Grimms und Karoline von Ver-
schuers Familienleben, über die Familie. von
Schwertzell, über Ludwig Emil Grimm, Hassen-
pslug usw. Die Briefe bringen uns Wilhelm
Grimm in seinem Privatleben menschlich näher
durch die Offenbarung seines tiefen Gemütes und
mancher herzgewinnender Charakterzüge. Daneben
bilden die Briefe durch Anspielung ans gewisse Per-
sönlichkeiten wichtige Dokumente für die Kasseler
Verhältnisse der 20 er Jahre des vorigen Jahr-
hunderts und entbehren in dieser Hinsicht nicht
eines gewissen knltur- und familiengeschichtlichen
Wertes.
Außerdem besitzen wir noch über 100 Briefe
von Mitgliedern der Familie von Schwertzell, n. a.
von Wilhelmine von Schwertzell, Mathilde von
Boyneburg-Stedtfeld und Gerhard von Reutern,
die leider noch immer der Veröffentlichung harren,
weil die Gegenbriefe Wilhelm Grimms, die früher im
Besitz des Kammerherrn Georg von Schwertzell in
Willingshausen waren, zur Zeit int dortigen Fami-
lienarchiv nicht auffindbar sind. Die weitaus meisten
und zugleich interessantesten Briefe stammen von
Wilhelmine von Schwertzell, die eine der eifrigsten
Sammlerinnen und Geivahrsleute der Grimmschen
Märchen gewesen ist.16 Gelingt es, die angeblich
nicht Auffindbaren Gegenbriefe Wilhelm Grimms
aufzufinden, so erhalten wir mit der Veröffent-
lichung des gesamten Brießvechsels eine äußerst
wertvolle Bereicherung unserer Grimmliteratnr,
die über Hessen hinaus Bedeutung hat.
16 Bergt, dazu I. Botte im 4. Band seiner Neu-
bearbeitung der „Märchenanmerkuugen" (1920).
Vogelforscher-Erlelmisse am hessischen Rheim
Von Ol-. Werner Sunkel, Marburg (Hessen).
Als mir vor Jahren ein Freund, mit dem mich
die gleichen vogelknndlichen Interessen verbinden,
von einer vogelreichen Gegend am hessischen Ober-
rhein schrieb, die er „Kühkopf" nannte, suchte ich
vergeblich in Atlanten und geographischen Büchern
nach diesem Fleck Erde: „Kühkopf". In der Tat,
die geographische Schulweisheit kennt den Kühkopf
nicht. Aber der Freund nahm mich von Frankfurt
aus mit hin, und seitdem weiß ich, daß das Alt-
rheingebiet bei Stockstadt-Erfelden der Kühkopf ist
und wegen seines Reichtums an seltenen Arten
und der dort zu beobachtenden Vogelsülle seines-
gleichen in unserem Hessenlande, vielleicht in ganz
West- und Süddeutschland sucht. Früher soll der
Kühkopf dem Vogelforscher noch viel mehr geboten
haben, etwa vor einem Menschenalter war er auch
noch viel unzugänglicher als jetzt, wo durch den
Paddelbootverkehr auch die stillsten Altrheinwinkel
(wenigstens zu gewisselt Zeiten) durch lärmende
Menschen entweiht werden. Sonst aber, vor allem
bei sogenanntem „schlechten Wetter" und zur Zeit
der Stechmücken, ist es aus dem Kühkopf noch still
und ruhig; dann kann der Vogelsorscher hier die
schönsten Beobachtungen machen, und diese Gelegen-
heit habe ich im letzten Jahre reichlich ausgekostet,
als ich in den Sommer- und Herbstferien dort meine
„Vogelknndlichen Ferienkurse" abhielt und die (meist
jugendlichen) Kursteilnehmer einführte in die Kennt-
nis der heimischen Vogelwelt und ihres anziehenden
Lebens. Auch 1927 sollen wie zu Ostern, so auch
im Herbst dort solche vogelknndlichen Lehrgänge
Freunden der Natur Gelegenheit geben, sich mit
den gefiederten Bewohnern unserer schönen Heimat
vertraut zu machen.1
1 Da die Teilnehmerzahl beschränkt ist, empfehle ich
denen, die sich gern beteiligen wollen, baldigste Vor-
merkung; Bewerbungen um Zulassung sino mit kurzem
Wer sich an den blauen Vergißmeinnicht freuen
will, sinder dazu nirgends bessere Gelegenheit als
ans dem Kühkopf. Hat uns der Fährmanir von
Erfelden über den Altrhein gesetzt, so schlagen wir
uns sofort rechts seitwärts in den alten Kopf-
weidenbestand. Ist es Vergißmeinnichtzeit, so schim-
mert der feuchte elastische Boden unter bett dick-
köpfigen Weidengestalten blau von den Millionen
von Blütchen, die in der Farbe der Treue blühen.
Das Auge schwelgt in dem sanften Blau, oas zu
dieser Zeit dieses Stück Erde so sehr beherrscht,
daß alle anderen Farbeir zur Wirkungslosigkeit
verurteilt erscheinen. Selbst der Vogelforscher ver-
gißt dann wohl eine Weile seine eigentliche Aufgabe,
pflückt einen Strauß Vergißmeinnicht, ohne zu be-
denken, daß er sich den Ballast eines Blumenstraußes
zu Beginn seiner Exkursion ebensowenig erlauben
darf wie oen mit dem Pflücken verbundenen Zeit-
verlust, wenn er nicht seine eigentlichen Aufgaben,
die ihn aus den Kühkopf führten, vernachlässigen
will. Aus dem geradezu unbewußt erfolgenden
Blnmenpflücken weckt ihn aus der heiser klingende
Lockruf eines kleinen Vogels, der im dichten Geäst
der Weiden umherschlüpst ... der Strauß Ver-
gißmeinnicht entgleitet seiner Hand (die Blumen
werden nicht welken, sondern im feuchten Boden
neue Wurzeln treiben) . . . sein Blick erkennt des
kleinen Rufers mattschwarze Kopsplatte, den stufi-
gen Schwanz des grauen Vögelchens, und er freut
sich, hier gleich bei Beginn seines Ausfluges mit
der „Weidenmeise" zusammengetroffen zu sein, die
einst hier von dem hessischen Ornithologen Otto«
Kleinschmidt nach langem Verschollensein wieder
entdeckt wurde. Ist doch der Kühkopf das klassische
Lebenslaus an mich zu richten. Alles Nähere (Zeit,
Kosten, Ausrüstung usw.) durch mich zu erfragen.
Or. W. Sunkel, Marburg, Frankfurter Str. 55.
229
Gebiet der Weidenmeise, die sich von der allerorts
häufigen Sumpfmeise durch die mattschwarze Kopf-
färbung, die Ruf- und Nistweise unterscheidet und
bei uns außerhalb des Rheingebietes kaum vor-
kommt. Der Vogel, der auch den Namen Erlkönigs-
meise trägt, hat des Ornithologen Blick nun wieder
geschärft; mit gespannten Sinnen nimmt er das
ganze Bild der Landschaft aus, dessen Seele für
ihn die Weidenmeise ist: die grauen Weiden, an
denen gleich Bärten die Wurzeln in Strängen her-
unterhängen, die auf den Köpfen dieser Bäume
wachsenden Büsche und andere Pflanzen, die ra-
schelnden Schilfhalme, in deren flüsterndem Dickicht
die Teichrohrsänger singen, das Ufergebüsch, in dem
neben dem Blaukehlchen mehrere Nachtigallen schla-
gen, die auf dem Kühkopf zu den häufigsten Vögeln
gehören. Mehr aus der Ferne find zu hören die
Rufe der Wasservögel, die sich unseren Blicken,
wenn auch manchmal nur recht flüchtig, zeigen,
wenn wir aus dem Kopfweidenbestand heraustreten
und die weite seenartige Fläche des Altrheins vor
uns ausgebreitet sehen.
Im Sommer 1926 hatte ich meine jungen Kurs-
teilnehmer nicht auf den Kleinen Kühkopf führen
können, weil der hohe Wasserstand des Altrheins
dessen Begehen unmöglich machte; wir hatten uns
darauf beschränken müssen, von unserem Badeplatz
an der anderen Altrhein-Seite aus hinüberzublicken
nach diesem zwischen mehreren Armen liegenden
Kleinen Kühkopf, der samt seiner Vergißmeinnicht-
Herrlichkeit und allem, was sonst im Kopfweiden-
bestand wuchs, unter Wasser lag. Um so eifriger
beobachteten wir dort in den Herbstferien, begünstigt
durch den niedrigen Wasserstand und die hier zahl-
reich sich aufhaltenden Wasser- und Strandvögel.
Hinter Schilf und Kopfweiden versteckt belauschten
wir aus nächster Nähe Hunderte von Wildenten,
Lachmöven, Kiebitzen, die am und im Wasser ihr
Leben trieben. Neben Bachstelzen trippelten Ufer-
und Strandläufer, darunter die hochnordischen
Zwergstrandläufer, und Regenpfeifer auf dem schlicki-
gen Ufer umher; darüber schwebten in der Luft
Am Joggelibrunnen.
Man war sich im Dorfe einig, der neue Schul-
lehrer wäre ein närrischer Kauz. Erstens, weil
er nicht ins Wirtshaus geht, auch Sonntags nicht,
ivo es der Bauern wegen sein müßte, und zweitens
und überhaupt. Freilich, wenn ein Fremder ge-
legentlich fragte, wie es denn in der Schule stünde,
dann ja: da steht er seinen Mann, da lernen die
Kinder etwas. Aber es bleibt dabei: mit dem
Kantor ist nichts los. Drüben hinterm Knick, die
haben den rechten: der schenkt Kirmesbier mit
aus, wobei er die Jacke an den Nagel hängt und
zwischendurch immer mal einen Korzen trinkt. Aber
solche versonnenen Naturen, wie dieser, die halten
nichts vom Kirsch. So einer meint, daß ein Trunk
aus dem Joggelibrunnen köstlicher sei; er meint's
230
Krähen, Turmfalken und Milane, ließen sich ge-
legentlich auch durch einen aufgestellten Uhu-Balg
zum Herunterstoßen veranlassen; auch Fischadler
und Wanderfalk zeigten sich bisweilen. Die schlan-
ken Gestalten der Fischreiher standen in philosophi-
scher Gelassenheit, wenige Meter von uns entfernt
am Ufer, bis ein Geräusch sie veranlaßte, sich mit
wuchtigen Flügelschlägen zu erheben und damit auch
den anderen gefiederten Scharen das Signal zu
allgemeinem Aufbruch zu geben. An einem Oktober-
tag fielen uns unter den Lauten, die aus einem
großen Vogelschwarm (meist Entenarten) kamen,
merkwürdige Vogelrufe auf, die ich erst richtig deuten
konnte, als die Vogelgesellschaft sich auflöste und
nach Arten geordnet über uns in geringer Höhe
hinflog: ein Trupp von 11 Ringelgänsen zeigte
sich unseren erstaunten Blicken, und diesem Vogel zu
Ehren nannten wir die stille Bucht am Kleinen
Kühkopf, die uns so herrliche Beobachtungsgelegen-
heit bot, „Bernikla-Bucht".
Ter vogelkundliche Glanzpunkt des Kühkopf ist
der Reiherwald. Aber nicht brüten die Tiere
hier so dicht bei einander wie die Saatkrähen,
die am Neurhein auf den Pappeln horsten und bis-
weilen ein Dutzend und mehr Nester auf einem
Baum errichten, nein, eine Eigentümlichkeit der
Kühkopf-Fischreiher ist das mehr isolierte Brüten
in einem größeren Hochwaldbezirk. Am leichtesten
fanden wir die Nester auf den kahlen Bäumen im
Spätherbst, im Sommer sucht man meist vergeblich
danach, aber im Frühjahr, wenn Jungreiher darin
sitzen, fressen und verdauen, sieht man an den weit
umhergespritzten Folgen dieser ihrer Tätigkeit un-
schwer den Standort der Horste, und wenn man
Glück hat, beobachtet man auch den Alt-Reiher
auf dem Horst beim Abflug und in seltenen Fällen
und bei großer Vorsicht gewinnt man Einblicke in
das Familienleben des herrlichen seltengewordenen
Vogels, dessen anmutiges Flugbild hoffentlich noch
viele Jahre den Naturfreund und Vogelforscher er-
freut, der den Kühkopf, das Vogelparadies des
hessischen Oberrheins, aufsucht!
Von Hermann Gersch.
nur, sagt's aber nicht, weil's die anderen ja doch
nicht glauben. Mein Gott, wenn er's doch einmal
sagen würde, dann könnte man wenigstens mit ihm
streiten! Das wär schon was. Ob er hochmütig ist?
Dann tät er aber nicht in die Ställe gehen, um
mit Knecht und Magd manch gut Wörtlein zu
plaudern. Aus dem werd einer klug.
Darüber konnte man ja mit dem neuen Kantor
einig sein, daß der Joggelibrunnen wirklich ein
Lebenswasser sei. Nur schade, daß er so weit vom
Torf entfernt ist, eine Viertelstunde. Aber der
verquere Kantor meinte tvieder, daß das nicht
schade sei, weil gerade diese leidige Viertelstunde,
hin und wieder her, die die Bauern immer nach
getanem Tagwerk dransetzen müßten, um mit ihren
Wagenfässern Wasser zn holen, den Brunnen erst
so recht in den Wert wachsen ließen: d. h. er meinte
das so, sagte es aber nicht. Wozu auch? Es
gab Wichtigeres zu sagen, z. B. dies: eine halbe
Stunde Fahrt, eine halbe Verzug am Brunnen,
macht eine ganze Stunde. Fünfzig Bauern, bringt
ein halbes hundert Stunden, in sechs Tagen also
dreihundert und in fünfzig Wochen funszehntau-
send Arbeitsstunden. Der Meißner mit seinem
guten Wasser ist zwei Stunden weit. Ein Mann
mit dreißigtausend Arbeitsstunden, dazu die Röhren
und die Anschlußstellen mit Zapfhähnen, umge-
rechnet in ein solches Arbeitsjahr, im ganzen also
zwei Jahre und ein viertel für die Gemeinde,
damit wär's getan.
Als der Lehrer das in der Gemeinde-Versamm-
lung vorgetragen hatte, dazu mit Unterlagen, die
von den geübtesten Erdarbeitern als richtig be-
gutachtet wurden, da war man verblüfft, und es
gab nur eine Stimme: zwei Jahr lang nicht zum
Brunnen fahren, das sei leicht getan, und das
wird gemacht. Nur als das Ganze in Geld um-
gerechnet wurde und es möglich lvurde, diese ge-
tvaltig scheinende Summe mit dem Maßstab der
verhaßten Steuern abzumessen, da sank manchem
der Mut, und das Urteil war fertig: es lvird
nicht gemacht. Nun aber lvar es ausgemacht, jetzt
erst recht: der Kantor ist ein närrischer Kauz!
Kantor: man hatte sich schon vom ersten Tage her
gewöhnt, den „neuen" so zu nennen. Die Re-
gierung kam zwar hinterher. Ihr war vlötzlich
die Erleuchtung gekommen, diese Amtsbezeichnung
erst nach einer gewissen Zeit der Bewährung als
eine Art Titulatur zu verleihen. Aber die roch
etwas kirchenmodrig und trug daher nichts von
neuer Würde hinzu. Die Erleuchtung war zu grell
gewesen, wie bei Paulus auf dem Wege nach
Damaskus, und geblendet vom neuen Licht war
die Königliche Regierung an dem Allereinfachsten
vorbeigetappt, an dem aus der Sache geborenen und
daher natürlich gewachsenen Amtstitel, in den der
kleine Mann in Stadt und Land schon längst die
höchste Würde hineinlegt, an dem „Herr Lehrer".
Nun saß der Herr Lehrer am Joggelibrunnen,
seinem Lieblingsplätzchen, aus das Jmmengesumm
der alten Linde lauschend, die an der Mauerecke
stand. Ter Junge, der ihm das amtliche Schreiben
überbracht hatte, das durch die Hand des geist-
lichen Herrn gegangen lvar, hatte keine Verände- -
rung in des Lehrers Antlitz bemerkt, in dein
er zu lesen gewohnt war. Die Sache, an sich
belanglos, war auch gerade in eine geistige Ge-
burtsstunde hineingeraten. Unterrichtsgedanken wa-
ren dem Sinnenden aus dem Brunnen herauf-
gestiegen. Ja der Brunnen! Seit unvordenklichen
Zeiten holen die Geschlechter, eines nach dem andern,
allabendlich hier ihr Wasser. Noch keinem ist es
beigekommen, sich und den Nachfahren diese Fronde
vom Halse zu schaffen, was mit verhältnismäßig
leichten Opfern möglich wäre. Der junge Kantor
war keiner von denen, die nun fcEjneU mit dem
Urteil bei der Hand sind, dem an sich richtigen
Urteil: der Stirnbogen des Menschen ist auch schon
sein Horizont! Nein, er schaute nur etwas be-
lustigt in das Treiben dieser närrischen Tierlein
hinein, tiefer in ihre Naturgeschichte eindringend.
Und dann war es auch etwas Wundervolles um
dieses abendliche Treiben. Man denke sich eine
altväterliche Sitte, seit einem Jahrtausend geübt,
durch das nackteste Bedürfnis nach dem für alle
unentbehrlichen Wasser einen jeden in seinen Bann
ziehend. Da werden Blicke aus schönen Augen
nicht vergeblich geivorsen, da wird besprochen, was
tagsüber ruhen mußte. Und dazu das frohe Rufen
der mitschasfenden Kinder, das Scharren der un-
geduldigen Pferde, der Anblick der Wagenburg mit
all den Fässern, das Ganze ein friedliches Kriegs-
lager.
Ter Sinnende war sich bewußt, daß sein eigner
Fuß Sonderwege suchte. Schon daß er Sonn-
tags nicht in die Wirtschaft ging, war eine Ab-
irrung von der gewohnten Landstraße. Bedeutete
das einen Fortschritt gegen früher, oder war's
Eigenbrödelei? Er, der dem Fortschritt huldigte,
tvußte nur zu gut, daß in manchen Verhältnissen
der Fortschritt lebenshemmend wirken kann. Bei
Bauern war Vorsicht geboten. Aber doch! Seine
Wirtshausscheu war ja nicht aus Nachdenken und
Erwägen geboren. Es war dem Lehrer gar nicht
eingefallen, zu überlegen, ob das recht oder uw-
recht sei. Er mußte seiner Natur leben, mit der-
selben Notwendigkeit, mit der die Linde am Joggeli-
brunnen ihre mächtige, immendurchsummte Krone
vollaubig in den abendlichen Junihimmel hinaus-
schob, gut und normal. Mit derselben Notwendig-
keit aber auch, mit der der herrliche Baum, jedem
sonstigen Lindewvuchs zuwider, einen ganz närri-
schen Ast getrieben hatte: in guter Reichhöhe zu-
erst ivagerecht abgespreizt, dann zu eineni Sitz
vertieft und plötzlich als natürlichste Rückenlehne
schräg aufwärts. Dieser einladende Sitz wurde denn
auch allabendlich von den Jungen abwechselnd er-
stiegen, und die Rinde war hier immer blank ge-
scheuert. Der Einsame dachte daran, lvie selbst das
sogenannte Anormale noch Gutes stiften kann, auch
sein eigner abgespreizter, dem Wirtshausleben ab-
gewandter Ast. War es ihm doch schon gelungen,
den Rainbauern hier zum Niedersitzen zu bringen,
den alten Trunkenbold, der nie in die Kirche, aber
immer viel ins Wirtshauus gegangen war. Nicht
bloß zum Niedersitzen, auch zum Hinausschlvingen
hatte er ihn gebracht, vor allem zum Hinauf-
schwingen über sich selbst, über seinen alten Adam.
Das Orgelspiel des Lehrers, das chatte ihn, so
im Vorbeigehen, zum Stillstehen und Lauschen und
dann zum Eintreten veranlaßt. Das Orgelspiel und
der reine Gesang der Kinder war dem vom Raine
allsonntäglich eine Lust geworden, und daneben
der gemeinsame Sonntagsnachmittag-Spaziergang
mit den philosophischen Gesprächen des Lehrers.
Der Pfarrer war ganz stolz geworden über diesen
Erfolg, den er als das schwache Werkzeug Gottes!
231
schließlich betn Wort als beut Brunnquell alles
Guten zuschrieb. Wenn er, was er immer wieder
tat, bem Lehrer davon begeistert erzählte, bann
nickte ber nur frohgemut, sich mit bem geistlichen
Herrn über bas wiebergefunbene Schäslein sreuenb.
Aber später hatte bie Freube bes Lehrers immer
mehr stiics) bie schöne Annemarie mit umfaßt, ber
er den Vater gerettet hatte. Unb als er eines
Abenbs spät nach bem Abzug bes letzten Wagens
bas liebe Mäbchen am Joggelibrunnen auch in
anberem Sinne hatte umfassen bürfen, ba ivar
feine gute Tat ihm aufs schönste gelohnt. Der
Brunnen mit ber Linbe würbe ihm nun eine
heilige Stätte, unb biesen Sommer burch klang
bas sonntägliche Orgelspiel noch strahlenber in ben
heiligen Raum unb burch Türen unb Mauern hin-
durch in bie geweihte Gottesnatur hinaus.
Einen Sommer lang. Im Herbst hatte man
Annemarie auf bem Friedhof gebettet. Sie ruhte
neben der Mutter, bie ihr schon lange vorange-
gangen war. Der vereinsamte Vater war nun
wieber bein Trunk verfallen und nach kurzer Zeit
bann ber Hippe bes Knochenmannes.
Die brei Gräber würben vom Lehrer betreut.
Er sah es gern, wenn ihm bie Schulkinber babei
zur Hanb gingen. Tie Mäbchen pflanzten imb
pflegten, unb bie Jungen trugen Wasser herzu.
Dann ivar aus deut Unterricht, als ber Lehrer
einmal bie Religionsstunde mit ber ergreifenden
Geschichte vom barmherzigen Samariter in der
stillen Friedhofsecke mit ben brei Franzosengrübern
von 1870 abgehalten hatte, der Wunsch hervor-
gewachsen, auch diese Grabstätten in Stand zu
bringen. Der Lehrer hatte ein Fläschchen Gold-
bronze aus der Stadt mitgebracht, und die Gast-
wirtsleute hatten nichts dagegen gehabt, daß ihr
Ältester den versunkenen Stein gehoben unb bie
dar aufstehenden Namen schön aufgefrischt hatte:
Pierre Monnet, Jean Roquelau und Guillanme .. .
da hatte eine Ecke des Epitaphs gefehlt und war nicht
aufzufinden gewesen. Gemeinschaftsgeist in der
Dorfschule, wonach die Stadtschule vergeblich ringt.
Wer aber pflegte denn Annemaries Ruhestätte
mit den blauen Lobelien im Sommer und den er-
lesenen Herbstastern? Den Gottesdienst in diesem
Heiligtum hatte einzig und allein der Lehrer. Aus
dem dunkeln Grund dieser Stätte blühten nicht
allein die Blumen besonders schön hervor, sondern
auch die Erinnerungen. Wie war es doch gewesen,
einmal, als das schöne Mädchen mit zagender Hand
den Geliebten zum erstenmal im väterlichen Haus
bewirtet hatte? Ja, die Zuckerdose. Sie ivar ja
seit der Mutter Tagen nie mehr auf den Tisch
gekommen. Als der Gast den Deckel abgehoben
hatte, ivar kein Zucker darin geivesen. Er hatte
sie tvieder zugedeckt und dann — ein Psychologe
auch der Liebe — seinen Kaffee umgerührt. Ihr
fragt, ob Annemarie das je erfahren hat? Gewiß
hat sie's erfahren, eines Abends unter der Linde,
und mit jähem Schreck hat sie sich dann aus den
Armen des Geliebten losgerissen. Und lute es
bei Liebenden einmal ist: sie schaffen sich eine
eigene Sprache, lute Kinder es auch tun. Alle
Abend, vorm letzten Kuß, da hatte es nun immer
geheißen: Vergiß den Zucker nicht!
Das ist verklungen, und auch das Wunderblüm-
lein Erinnern ist verblichen.
Annemaries Grab steht tief im Kraut. Der alte
Mann, der allabendlich zur Linde pilgert, das ist
der Lehrer. Sein Wort leitet nicht mehr die neu
aufwachsende Jugend; aber die Wasserleitung, die
die Geschlechter erquickt, ist sein Werk. Er weiß
es selber nicht mehr. Der Joggelibrunnen ist ver-
einsamt, wie der Greis, der jeden Abend hier
auf dem Lindenast sitzt und flötet. Ja er flötet, auf
einer kleinen Flöte, die er aus Kindertagen, wo
er mit den Trommlern der Turnjugend immer
vorangezogen war, hervorgeholt hat.
Unten rauscht der Brunnen wie ehedem, oben im
Gezweig wispern die Vöglein, die zur Ruh gehen
wollen, und mit Brunnen und Vöglein im Verein
singt der Greis sein mageres Flötenlieb.
Der Joggelibrunnen, einst der Lebenspender des
Dorfes, fließt dahinten, weit dahinten; keiner achtet
seiner mehr. Ja, der Brunnen ist vereinsamt, wie
der Greis, und ivie das Grab — so tief, so tief
im Kraut. Was die Flöte tönt, ist nicht Anne-
marie, es sind Jugendlieder, Fetzen nur von Tur-
nermärschen.
Dort ruht sie im tiefen Kämmerlein,
Verweht sind die Rosen, die Lieder--------
3m Brückengeldhaus zu Ossenöach am Main. (1861-1878.)
Familienerinnerungen von Hermann Hollender.
1. An der Schiffbrücke.
„— — Trat man ant Morgen in aller Frühe
aus dem Hause, so fand man sich in der freiesten
Lust, aber nicht eigentlich auf dem Lande. An-
sehnliche Gebäude, die zu jener Zeit einer Stadt
Ehre gemacht hätten, Gärten, Parterreartig über-
sehbar, mit flachen Blumen- und sonstigen Prunk-
beeten, freier Übersicht über den Fluß bis ans
jenseitige User, oft schon früh eine tätige Schiff-
fahrt von Flößen und gelenken Werftschiffen und
Kähnen — eine sanft hingleitende lebendige Welt,
mit liebevollen zarten Empfindungen im Ein-
klang — —"
So schildert Goethe im 17. Buche von „Wahr-
heit und Dichtung" aus der Erinnerung einen Ort,
in dem er einen seiner ersten und nachhaltigst
wirkenden Herzensromane erlebte: es war Offen-
bach am Main, wie es, noch klein, im Sommer
1775 aussah, als Goethe häufiger dort zu Be-
such im Kreise der Familien d'Orville, Ber-
232
narb ititb Andre meiste, als Liebhaber und
schließlich als Verlobter der schönen L i l i S ch ö n e?
mann (deren Mutter eine geborene d'Orville war).
Ähnlich ist die Darstellung in dem „Briefwechsel
Goethes mit einem Kinde" von 1835, -dessen Ver-
fasserin Bettina Brentano, mehrere Jahre
ihrer Kindheit (1800—07) bei ihrer Großmutter
Sophie La Roche, der Freundin und einstigen
Verlobten Wielands, in der Domstraße zn Offen-
baeh verlebte:
„Tn wirst Dich der heiteren Aussichten, des
wimmelnden Lebens auf dem Fluß am Tag, seiner
ruheflüsternden Sehilfgestade in warmen Sommer-
nächten und seiner ringsum blühenden Gärten,
zwischen denen sich die reinlichen Straßen ver-
teilen, noch gar wohl erinnern nnd auch seiner Be-
quemheit für Deine Liebesangelegenheiten — —"
Dieser so idyllisch geschilderte, damals kaum be-
kannte kleine Ort wurde nach Verlauf weniger Jahr-
zehnte zu einer großen, lebhaften Industriestadt und
hat als solche Weltrnf erhalten.
Auch gerade sein vorstehend beschriebener „klas-
sischer" Teil, die Gegend am Main (Linsenberg,
Herrn-, Domstraße, Schloßgasse) erfuhr manche Ver-
änderung. So wnrde vor allem 1819 eine große
ständige Schiffbrücke über den Fluß ge-
baut, die den Verkehr zwischen O f s e n b a ch, das
seit 1816 groß herzoglich hessisch war, und
Fechenheim, das noch zuKurhessen gehörte,
vermittelte und Leben in diese stille Gegend der
Stadt brachte. In älterer Zeit war der Main bei
Offenbach im Schmalkaldischen Krieg (Juli 1552)
überbrückt worden. Diese durch die verbündeten
.Hessen und Sachsen beim Vordringen gegen die
Kaiserlichen in Frankfurt und Sachsenhausen vom
rechten nach dem linken Ufer geschlagene Kriegs-
brücke hatte nur wenige Wochen bestanden: am
10. August war sie von den Kaiserlichen genommen
nnd beseitigt worden.
Die 1819 gebaute Schiffbrücke blieb dagegen
bis znm Jahre 1887 in Benutzung; dann wnrde sie
durch eine feststehende Brücke aus Eisen ersetzt.
Die Schiffbrücke bestand aus 8 Jochen zn je
zwei Kähnen. Sie war ein gemeinschaftliches Unter-
nehmen der beiden beteiligten Staaten. Ihre Direk-
tion befand sich in Hanau, also in Kurhessen. Das
Betriebspersonal, ein Oberbrückenwärter mit 3—4
Brückenwärtern und ein Brückengelderheber, wurde
abwechselnd von beiden Staaten gestellt und hatte'
seinen Sitz im Brückenhaus zu Osfenbach, also auf
der großherzoglich hessischen Seite. —
Am 18. April 1861 war der Feldwebel im
2. kurhessischen Jnfanteris-Regt. Landgraf Wilhelm
in Hanau, Adam Friedrich R. nach 22 Jahren
3 Monaten Dienstzeit „behufs Anstellung in der
Zivilverwaltung" ans dem Militärverhältnis ent-
lassen und als Brückengelderheber bei der gemein-
schaftlichen Mainschissbrücke zn Offenbach „provi-
sorisch" angestellt worden (mit 400 Gulden Jahres-
gehalt und einem Anteil von 12/z»/o an den Erheb-
gebühren).
Der bisherige großherzoglich hessische Stellen?-
inhaber Sebastian Spieler war gestorben,
nnd sein Sohn .Heinrich hatte eine Zeit lang den
Dienst versehen. Am 26. April 1861 trat R. seine
Stellung in Offenbach an. Sein Dienst bestand in
der Einziehung des Brückengeldes für Fußgänger,
Vieh und Wagen beim Übergang und für Schiffe
bei der Durchfahrt durch die Brücke, die hierzu jedes-
mal durch .Herausfahren eines Joches mit Kähnen
geöffnet werden mußte. Der Dienst war sehr an-
strengend und aufreibend dadurch, daß dauerndes
Aufpassen und Bereitsein vom frühesten Morgen
bis späten Abend, oft sogar auch nachts, erforder-
lich war. R. konnte sich vielfach nicht anders helfen,
als daß er auch seine Frau Anna Margarethe ver-
tretungsweise die Tätigkeit am Schaltersenster mit
ausüben lassen mußte.
Die zugewiesene Dienstwohnung war für die aus
zwei Erwachsenen und fünf Kindern (vier Mädchen,
ein Junge, letzterer erst 2 jährig) bestehende Familie
ziemlich knapp. Sie lag in zwei Gebäuden, in beut
kleinen Erheberhäuschen und dem großen „Brücken-
haus", und bestaub aus 2 Zimmern, 2 Kammern
(Mansarde), Küche in ersterem, zwei „Gewölbe-
Zimmern" (ein „grünes" und ein „blaues") mit
Vorplatz sowie Keller in letzterem. Von den bei-
den Zimmern im Erheberhaus war das eine das
„Amtslokal", das andere daneben das Schlafzimmer
von R. und seiner Frau. Die Mädchen und der
Junge schliefen in den beiden Mansardenstübchen.
Neben dem Schlafraum der Eltern lag die Wachstube
für die ständige militärische Brückenwache, die aus
einem Korporal oder Gefreiten und sechs Mann
bestand und einen zweistündlich abzulösenden Posten
beim Brückeneingang, wo ein Schilderhaus am
Schloß stand, zu stellen hatte. Neben der Wach-
stube lag, nur durch diese erreichbar, ein kleines
Zimmerchen als Arbeitszimmer des Oberbrücken-
wärters (Heiles hieß er damals). Küche und
Speisekammer des Erhebers lagen hinter diesen
beiden Räumen nach dem kleinen .Hof zu.
Dieses kleine einstöckige Erheberhans mit vier
Fenstern Front war ein Vorbau des großen massigen
Brückenhauses, dessen gewölbtes Erdgeschoß noch
aus uralter Zeit stammte und zuletzt als Salz?-
magazin gedient hatte. Das Brückenhaus war mit
feinem unteren Teil der Rest eines Nebengebäudes
des gegenüber gelegenen fürstlich Psenburgischen
Schlosses gewesen und mit diesem einst durch eine
feste Mauer, die die ganze Stadt umschloß, ver-
bunden. Jetzt war zwischen dem Schloß und ihm
der am erhöhten User gelegene Zugang zur Schiff-
brücke, die Verlängerung der Schloßstraße.
So eng und bescheiden auch diese ganze Unter-
kunft war, die R'sche Familie mußte sich damit
abfinden. Der Hauptmangel mar, daß sie wegen
der dichten Lage am Fluß feucht und ungesund mar.
Trotzdem fühlten sich besonders die Kinder hier
wohl und glücklich. Dauernd gab es hier etwas
zu sehen durch den Verkehr über die Brücke und
die Schiffahrt ans dem Fluß, sowie durch das
233
Aufziehen und Ablösen der Wache; dann konnten
sie hier am Ufer so schön im Sande spielen,
Schnecken und Steine sammeln (besonders dem
Jüngsten, Fritz, gefiel das) und auf dem hier bei
dem „Oktroi" aufgestapelten Holz herumklettern.
Auch hatte man öfters Gelegenheit, aus dem Fluß
Kahn zu fahren. Der eine Brückenwärter namens
Rummel und seine drei Söhne, die alle vier
richtige Wasserratten waren und den Verkauf von
Fischen und Flußsand betrieben, nahmen hin und
wieder die Kinder im Bot mit sich; das war
dann besonders schön und.stimmungsvoll an Som-
merabenden, trenn vom User her aus Schlossers * 1
Garten die Musik des Gartenkonzerts herüber-
schallte.
Wie aufregend und sehenswert war im Winter
der Eisgang auf dem Main, bei dem die Brücke
abgefahren und aus das Ufer in Sicherheit gesetzt
wurde, und welch eindrucksvolles Erlebnis für die
Kinder war dann auch das öfters eintretende Hoch-
wasser, das bis in die Keller, ja sogar auch bis
in die Räume im Erdgeschoß eindrang!
2. Das alte Schloß.
Ein sehr beliebter Tummelplatz der R'schen Kin-
der war das alte Isenburgische Schloß. Dieser
herrliche im Jahre 1570/72 an Stelle eines 1564
abgebrannten errichtete Frührenaissance-Bau übte
besonders durch seine auf der Rückfront, also auf
der dem Main abgewendeten Seite befindlichen zwei
offenen Galerien, die über der Säulenhalle (Arkade)
des Erdgeschosses am ersten und zweiten Stockwerk
entlang liefen, eine große Anziehungskraft auf die
Kinder aus. Mit übermütigem Eifer stürmten sie
oft die Wendeltreppe:: in den beiden Seitentürmen
hinauf, liefen über die eine Galerie in den anderen
Turm hinüber und dort zur zweiten Galerie hinauf,
die wieder überquert wurde, worauf es die erste
Turmtreppe wieder hinabging. Diese Tour konnte
aus die verschiedenste Art abwechselnd gestaltet
werden und machte der Kinderschar einen riesigen
Spaß.
An der wilden Jagd waren außer den R's meist
auch die Kinder des hier in der einen .Hälfte des
zweiten Stockwerks neben seinen Eltern wohnen-
den Genre- und Historien-Malers LeopoldBode
beteiligt. Dieser, in Offenbach am 11. März 1831
(im Ludwig Andrs'schen Hause im „Kleinen Bier-
grund") als Sohn eines Malers geboren, wohnte
seit früher Knabenzeit im Isenburgischen Schlosse,
das an Privatpersonen vermietet war, und hatte
drei Söhne sowie eine Tochter — Antonie, welch
letztere mit den R'schen Mädchen auf die Schule
1 1817 von Joh. Heinrich Schlosser, Bruder des
bekannten Geschichtsschreibers Friedr. Christoph Schloß er,
vom Fürsten von Isenburg gepachteter Schloßgarten,
als erste Gartenwirtschaft in Offenbach eingerichtet.
1826 kam das Schauspielhaus hinzu, 1843 kaufte
der Sohn Schlossers das ganze Grundstück. Am
1. 5. 1866 verkaufte er es an eine Aktiengesellschaft
aus Bürgern.
234
ging. Der Bruder von Leopold Bode, namens
Karl, war Zeichenlehrer an dieser Schule. Therese
R. genoß den Unterricht bei ihm. Der Verkehr
mit den Bodeschen Kindern hatte für die R's
durch die nahe:: Beziehungen der ersteren zur Küust-
lerwelt und durch die Romantik des Schauplatzes
einen besonderen Reiz. Man hörte und bisweilen
sah man etwas von Gemälden, auch erzählte man
sich, auf den Treppenstufen sitzend, manches aus
der Geschichte und Sage des Schlosses, wie es be-
sonders die älterm Bodeschen Söhne in der Familie
oder Schule erfahren oder auch gelesen hatten.
So sollte in den gewaltig dicken Steinwänden
des Schlosses irgendwo eine goldene Spindel ein-
mauert sein, die dem Finder Glück und Reichtum
bringen würde. Wie eifrig klopfte man daraufhin
überall die Mauern ab, ob sie nicht irgendwo
einen Hohlraum erkenne:: ließen als Versteck für
die sagenhafte Spindel! Man malte sich auch
deutlich aus, ivie der Schwedcnkönig Gustav Adolf
am 15. November 1631 nach der Schlacht bei
Breitenfeld durch Thüringen von Hanau her auf
Osfenbach vorrückte und mit seiner Gattin, der
schönen Königin Maria Eleonore hier in: Schloß
zwei Nächte Quartier nah:::. Die Kinder führten
sogar die Szene dramatisch auf, wie Gustav Adolf
hier im Schloß des Grafen Wolfgang Heinrich von
Isenburg die abgesandten Ratsherrn der Stadt
Frankfurt empfing, die gegen eine von: König au:
16. November bereits eingeleitete Besetzung ihrer
Stadt sowie des Vorortes Sachsenhausen unter Be-
rufung auf ihre „Neutralität" Einspruch erhoben.
Den Schwedenkönig stellte Wilhelm Bode, der Vater
des Planes, dar: er setzte dazu einen großen Schlapp-
hut auf, an den eine Feder gesteckt wurde, und
band einen bunten Shawl als Schärpe um. Das
Schwert mußten die R's besorgen: den Feldwebel-
degen ihres Vaters. Schnurr- und Kinnbart wur-
den mit einem am Licht geschwärzten Korken ge-
malt. Nun fehlten aber noch die nach Wilhelms
Meinung und Kenntnis unentbehrlichen großen
schwedischen Reiterstiefel, die er im Städtischen
Museum zu Frankfurt a. M. gesehen hatte, wohin
sie, angeblich nach der Abreise Gustav Adolfs 1631
in Offenbach gefunden, von einem Herrn W. Speyer
geschenkt waren. Therese R. wußte Rat und erbot
sich, solche Stiesel aufzutreiben: der Brückenwärter
Rummel habe solche Wasserstiefel; vielleicht würde
er sie ihnen einmal borgen. Gesagt, getan. Sie
rannte nach der Brückenwärter-Wachstube im Erd-
geschoß des großen Brückenhauses, doch weder Rum-
mel noch seine Kollegen Klaus und S i e b e r t
waren da. Der jüngste Sohn Rummels, der nach
seinem Paten, einem reichen jüdischen Händler in
Frankfurt, Jonas 2 genannt war und den sie
gerade traf, meinte, daß der Vater wohl wieder
mit den anderen im „Tannenbaum" bei seinem
Schoppen „Äppelwoi" säße. Da Therese aber nicht
- Jonas Rummel wurde Matrose und ging als
solcher mit dem Schiff unter („Groß. Kurfürst").
dorthin gehen wollte, eilte sie nach dem Schloß
zurück. Man kam aus den Ausweg, aus Packpapier
große Stieselschäfte zu schneiden und Wilhelms
Beine bis ans Knie damit einzuhüllen. So ging
es auch. Als Königin wählte sich Wilhelm die
schönste der drei R'schen Mädchen, die blondlockige
Elisabeth aus, während ihre tiefbrünetten, eben-
falls hübschen Schwestern Therese und Lydia ohne
besondere Verkleidung Hofdamen darstellen mußten.
Für Elisabeth wurde ein kleines Diadem aus Gold-
papier geschnitten und ihr ein Schleier, aus einem
Stück alter Gardine bestehend, sowie eine rote
Tischdecke malerisch umgehängt. Ähnlich, nur ohne
Krone, putzte sich Antonie Bode als Fürstin von
Psenburg heraus, deren Gemahl, wie es auch ge-
schichtlich war, vom Fürstentag in Regensburg des
Landfriedensbruchs für schuldig erklärt, nach Frank-
furt a. M. geflüchtet war. Ihre beiden anderen
Brüder hatten die Ratsherren darzustellen. Sie
mußten umgewendete Mäntel als Talare anziehen,
das schwarze Futter nach außen und bis oben zu-
geknöpft; dann erhielten sie aus Papier geschnittene
breite, weiße, vorn tief herunterreichende Amts-
kragen und statt der langen Allongeperücken je
einen Kranz von gekräuselten weißen Papierschnitzeln
auf den Kopf gesetzt. Der kleine Fritz R. mußte ohne
besondere Verkleidung die Rolle eines Pagen der
Königin übernehmen. Nun sonnte die Vorführung
beginnen. König und Königin setzten sich auf die
Thronsessel, die beiden .Hofdamen und der Page
standen hinter ihnen. Die Ratsherrn traten ein und
begrüßten mit tiefen Bücklingen den gefürchteten
Königshelden aus Schweden. Auf die Frage uach
ihrem Begehr baten sie ihn, er möchte ihre Stadt
als „neutral" betrachten, ihre Rechte als freie
Stadt achten und insbesondere ihre berühmte Messe
nicht gefährden. Daraus stand Gustav Adolf er-
zürnt auf und gab die ungnädige Antwort: „Das
Wort ,Neutral' hat in meinen Ohren einen schlechten
Klang, Ihr Herrn! Ich muß mich sehr wundern,
daß Frankfurt bei so großen weltgeschichtlichen Vor-
gängen nur Sinn für seine Messe und Geschäfte
hat. Ihr seid keine Weltbürger und Christen, son-
dern eigennützige Krämer", und hier fügte der
Pseudo-Schwedenkönig die ihm geläufige, landes-
übliche Redensart hinzu: „daß Ihr die Kränke
kriegt — Ihr Frankfurter! Vom Norden bis zum
Süden habe ich die Schlüssel zu allen Festungen
gefunden, ich werde sie auch zu Frankfurts Toren
erhalten!" Jetzt mußten die Gesandten einwenden,
daß sie doch erst den Kurfürsten von Mainz um
Rat fragen wollten und dazu eine Frist erbäten.
Darauf erwiderte der König in gebieterischem Tone:
„Der geht Euch gar nichts an, das iveiß ich ebenso
gut wie Ihr selbst, Ihr verschlagenen Krämer! Im
übrigen bin ich Herr von dessen Residenz Aschaffeir-
burg und daher so gut wie selber Kurfürst von
Mainz. Wenn Euch an dessen Rat so viel liegt,
sage ich Euch als solcher, daß Ihr mir Eure Tore
öffnet und 600 Mann Besatzung in Sachsenhausen
ins Quartier nehmt! Also aus Wiedersehen morgen
in Frankfurt!" 3 Damit bot er der Königin den
Arnr und schritt mit ihr, gefolgt von den Hof-
damen und dem Pagen, unter den tiefen Ver-
neigungen der bestürzten Ratsherrm hinaus.
„Bravo!" rief es da aus einem der geöffneten
Fenster, die auf der Galerie, den Schauplatz des
historischen Vorgangs hinausgingen. „Das tvar
ja ein Bild zum Malen für mich!" Es tvar der
Pater Bode, der die Szene von der Tiefe des
Zimmers aus unbemerkt beobachtet hatte. Wer
weiß, ob nicht dieser Eindruck es war, der ihn
mehrere Jahre später veranlaßte, eines Tages im
Erheberhaus zu erscheinen und dem „Herrn Nach-
bar" die Bitte vorzutragen, er möchte ihm doch
erlauben, seine Tochter Elisabeth zu malen, denn
er wüßte keine nach Gestalt und Gesicht geeignetere
Person als Vorwurf für die „Königstochter" in
einem von ihm geplanten Märchen- oder Sagen-
bild. Adam Friedrich R. tvollte jedoch nichts
davon wissen, wenn er sich auch als Vater ge-
schmeichelt fühlte. Es widerstrebte ihm, seine Toch-
ter im Bilde öffentlich im Städelschen Institut
oder sonst in einer Galerie ausgestellt zu sehen.
Er schlug es daher ab. Ob das geplante Bild daher
unterblieb, ist nicht bekannt. Vielleicht aber fand
Bode ein anderes Modell. Jedenfalls malte er
die Sage von „Pipin und der Königstochter Bertha"
(Galerie v. Schack, München). Vorgänge aus der
Offenbacher Geschichte hat Bode, der wie sein Lehrer
E d. S t e i n l e (geb. 2. Juli 1810 Wien, gest.
18. September 1886 Frankfurt a. M.), lieber reli-
giöse Motive wählte (Altarbilder), nicht darge-
stellt, obwohl ihm durch seine Wohnung im Schloß
doch täglich die Anregung dazu gegeben wurde,
und auch sein Schulfreund Emil Pirazzi* 4,
wie diejer in den „Bildern aus Osfenbachs Ver-
gangenheit" (Offenbach 1879) erwähnt, ihn auch
durch einen Brief vom April 1867 daraus hinwies.
„Wäre ich Fürst von Psenburg", so schrieb er
an Bode, „oder auch nur ein reicher Kaufherr von
Offenbach, ich würde Dir die Ausgabe stellen, in
die Loggien und Arkaden des Schlosses, Deiner
fürstlichen Residenz, eine Reihe von Fresken aus
Osfenbachs Vergangenheit zu malen, z. B. „Die
Karolinger jagend im Reichsforst von Dreieich bei
Ovenbach", „Das Schöffengericht unter der Linde
am Tor zu Bebra", „Gras Reinhard von Psenburg
erbaut das Schloß zu Offenbach" (1556), „Gustav
Adolf empfängt allda die Gesandtschaft des Frank-
furter Rats" (1631), und dann vielleicht auch:
„Der Polenhof zu Offenbach"5, jedenfalls aber die
s Gustav Adolf rückte tatsächlich am 17. Februar
1631 vor Sachsenhausen, das ihm die Tore öffnete, und
zog von da über die alte Brücke mit großem Prunk
in Frankfurt ein, wo er mit seiner Gattin im „Braun-
fels" Quartier nahm.
4 Geb. 3. August 1832 Offenbach, politisch-religiöser
Schriftsteller und Agitator, gest. 8. Januar 1898 ebenda.
Er gehörte zu den Gästen Eschebergs.
5 S. später unter „Walthersches und Androsches
Haus".
235
Dichteridylle „Goethe und Lili im Maingarten von
Bernard" (1775) oder „Lili entzückt im Hache
Johann Andres 6 den 26 jährigen Goethe durch
ihr Klavierspiel". Pirazzi hätte als Vorwurf eines
b Herrnstraße Nr. 54.
Das Gewitter.
Es war ein heißer Sommertag. Die Gluten
der Sonne lagen sengend über der Erde. Die Fluren
dürsteten, und doch sandte Gott keinen Regen.
Und waren auch die Bitten um Erquickung, tausend-
fach, kein Gebet drang bis zu dem Ohr des All-
mächtigen empor.
Das blaue Blümchen am Hange der Wiese ließ
seine Blätter hängen, und die Würzelchen streckten
sich suchend irr der trockenen Erdrinde; aber sein
Verlangen war dennoch verworren und drang nicht
hoch über die blaue Blüte hinaus, die buhlerisch
nickend mit einem schelmisch summenden Hummel
koste.
Auch den großen Lindenbaum am Wege dürstete,
und der Staub der Straße lag grau auf den matten
Blättern. Wie gern hätten sie sich nach erquickendem
Regen frischgrün und froh sanft im säuselnden
Winde gewiegt. Hin und wieder ging jetzt nur
ein Flüstern durch die obersten Zweige der Krone,
hoch oben wie ein kurzes Gebet, ein Gebet der
Lippen, das nicht aus dem Innern, der tieferen,
starken Äste drang. Mittagsmüde, den summenden
Bienen lauschend träumte die Linde von letzten,
mondhellen, lauen Frühlingsnächten, da ihre Knos-
pen sprangen.
Am nahen Acker ging mürrisch mit schwerem
Schritt ein Bauer. Sorgenvoll blickte sein Auge
über die verdorrten Halme und das wachsende Un-
kraut. Er schritt am Rande seines Feldes entlang,
bis zunr Kreuziveg hinüber, dort wo das Mutter-
gottesbild stand mit dem verwelkten Blumenstrauß
davor. Er warf einen flüchtigen Blick hinüber,
er griff nach seiner dicken Mütze, aber er schob
sie nur ein wenig beiseite, aufs rechte Ohr; während
seine Lippen ein kurzes Stoßgebet hastig sprachen,
berechnete er den Schaden der kommenden Ernte.
Zu dieser Stunde saß Gott droben im schim-
mernden Saal, sinnend saß er aus seinem goldenen
Thron. Da trat ein Engel schweigend zu ihm
heran. Seine Flügel standen hoch lute strahlende
Wände, neuer leuchtender Glanz lag auf ihnen,
und Gott erkannte, daß der Engel vor ihm singen
wollte. Da winkte Gott, und der Engel begann.
Und mit seinem Liede stiegen frühe Bilder herauf,
und vor des Schöpfers Auge trat die Zeit seiner
Schöpfung. Alles stand so nahe, als habe er eben
erst seine Hände zur Ruhe gelegt. Und als er vor
Freude zu seinem Werke hinab sah, bemerkte er
drunten einen Mann, der aus einem Walde her-
vortrat. Barhäuptig, sinnend, den Blick zu Boden
gerichtet, ging er dahin, bald langsam, bald mit
'eiligem Schritt. „Wer ist dieser?" sagte Gott
236
historischen Bildes der Vollständigkeit halber noch
den Fürstenkongreß im Schloß zu Offenbach (1741)
erwähnen sollen.7 (Fortsetzung folgt.)
7 Zur Vorbereitung der Kaiserwahl, tagte vom April
ab, doch . ohne Erfolg.
Von Berthold Leinweber.
erstaunt zu sich selbst, „alle Menschen schuf ich
nach meinem Bilde, aber sie Haben es mir ent-
stellt, dieser aber dort ist, als sei er eben aus
meinen Händen hervorgegangen." — Und Gott
legte zum Schutz gegen die Sonne die rechte Hand
über sein Auge, um besser in die Tiefe schauen
zu können; mit der linken aber winkte er dem
Engel, der vor ihm sang, daß er schweige. Da hörte
Gott, wie es in der Seele des Mannes drunten
wundersam erklang, liebliche Weisen, dem Liede
der Nachtigall gleich, dann froher und heiterer wie
Lerchenlaut im Strahle der steigenden Sonne, dann
dunkler und tiefer wie murmelnder Quellenmund,
wie Tannenrauschen; und Gott sah, wie die Hände
des Mannes sich leise im Takte bewegten, fast
den schwingenden Rhythmen gleich, die auf den
Flügeln des singenden Engels sich eben noch leuch-
tend gespiegelt.
Dann aber blieb plötzlich der Wanderer stehen,
seine Hände hingen herab, als ruhten sie aus;
jetzt fingen sie an, sich wieder leise zu bewegen,
unmerklich noch, sanft wie der Spiegel eines Sees
sich kräuselt, dann erregter, und Gott lauschte,
immer dunkler wurde sein Lied, immer schwerer
tropften die Töne in seiner Brust; jetzt schritt
er weiter, hastiger wurde sein Gang, gewaltig hol-
ten seine Arme aus, fuhren hernieder wie ein
Strahl, fuhren aus, so wie der Sturm in die
Wolken fährt; und wie rollender Donner dröhnten
brausende Akkorde... Da brach es ab! Ganz
plötzlich, unvermittelt verstummte das Lied. Ver-
wundert lehnte sich Gott tiefer hinab. Er bemerkte,
wie die Augen des Mannes sich schlossen. Ein
Schatten der Unzufriedenheit zog über das Ant-
litz und lag wie Zorn zwischen den dunklen Brauen.
Aber Gott sah, daß es die Unzufriedenheit eines
sehnenden Herzens war, aus dem Großes erwächst.
Schon erhellte sich wieder das Gesicht des Wan-
derers; ein lichter Glanz lag auf seiner Stirn,
als von neuem das Lied in seiner Brust ertönte:
wie Lerchenlaut und wie Tannenrauschen, wie säu-
selnder Wind, dann wie Sturm, wie Blitz und
wie rollender Donner. ... Da! zum zweiten
Male verklang unvollendet das Lied- Das Haupt
des Mannes sank auf die Brust. Ballten sich
seine Hände zur Faust? Eine kurze Weile nur, dann
aber richteten sich zwei Augen zum Himmel empor,
und eine Sehnsucht, die ihre Arme bis zu dem
Throne Gottes reckte, rührte bittend an des All-
mächtigen Hand. Und Gott verstand, er fühlte,
daß diese Sehnsucht wie seine eigene war in den
Tagen der Schöpfung.
Er winkte einem Engel, mtb schon geschah es,
daß sich eine dunkle Wetterwand am Horizonte
emporschob. Der Wind erhob sich, fuhr durch die
Wipfel der Bäume, wirbelte den Staub auf der
Straße ans, jagte über die Felder zu dem dichten
Tann hinüber, und als die Sonne sich verdunkelte,
donnerte es zum ersten Male in der Ferne.
Da blühte das Gesicht des Wanderers aus, seine
bleichen Wangen glühten vor Begeisterung, und
abermals begann er sein Lied. Wie Lerchensang
im Glanze der steigenden Sonne, wie Tannen-
rauschen klang es, wie murmelnder Quellenmund,
dann aber schwoll es an und wuchs mächtig empor,
und als Gott wieder die vollen, brausenden Akkorde
hörte, als er die Arme des Mannes sah, die ge-
tvaltig sich auswärts zum Himmel reckten, als er
sah, wie sein Körper erbebte, als sei er eilt Saiten-
spiel zum Preise der Schöpfung, da griff er ein,
ivarf mit eigener Hand die strahlenden Blitze durch
die dunklen Wolken, jagte den Sturm über die
Wälder, daß der Donner wie Meerestosen ans
seinen Fittichen schwoll.
Mein Paradies.
In einem hannoverschen Grenzdorfe, auf der
Wasserscheide zwischen Leine und Werra, steht heute
noch die Hessenschenke. Wie kommt die Hessenschenke
in dies hannoversche Dorf? Die Großmutter er-
zählt: Als noch der König von Hannover und der
Kurfürst von Hessen regierten, stand in diesem
Hause der Grenzstein mitten in der Küche. Die
eine Wirtsstnbe lag auf hannoverschem, die andere
auf hessischem Gebiete. Wollten nun die hessischen
Gendarmen am Sonnabend Abend die Nacht-
schwärmer aus der hessischen Stube vertreiben, dann
saßen alle in der hannoverschen und lachten den
Hüter der Ordnung an: „He hewwet je nits tau
seggen". Kamen aber die hannoverschen, so siedelte
man in die hessische Stube über. Solche unhalt-
baren Zustände wurden noch in der königlich-kur-
fürstlichen Zeit bereinigt.
Diese Wasserscheide muß auch einst die Grenze
zwischen Niedersachsen und Franken gewesen sein,
denn dem Dorfe sind in seiner östlichen Verlänge-
rung die „Lampferthöfe" vorgelagert. Einer von
diesen Landwehrhöfen gehörte dem alten Bökert-
henne, meinem Großvater. Er war ein kleiner'
Bauer mit zwei Pferden und hatte in seiner Jugend
das' Böttcherhandwerk erlernt. Nebenbei betätigte
er sich auch in der Tierheilkunde. Wenn seine
Dorfgenossen mit der Bitte zu ihm kamen: „Bökert-
henne, min Veih", dann antwortete er nur: „Eh
kome all!", und wenn es in der heißesten Ernte-
arbeit ivar, oft zum Verdruß seiner eigenen
erwachsenen Kinder. Aber bei den Gemeinde-
gliedern stand er seiner Selbstlosigkeit wegen in
hohem Ansehen. Als ihn einmal ein Neidling bei
dem zuständigen Tierarzt Ivegen seines Kurpfuscher-
tums verklagen wollte, schickte ihn dieser heim:
Und als der Regen herniederströmte, schüttelte
sich neubelebt der alte Lindenbaum am Wege;
das blaue Blümchen streckte seine Blätter in dem
dampfenden Grase am -Hang; der Landmann stand
an seinem Fenster und dachte: wenn es nur an-
hält !
Aber die Sonne drang bald wieder durch die
Wolken und verklärte die Fluren, vergoldete den
Saum des Waldes, und immer seiner, lute zitternde
Silberfäden, rieselte der Sonnenregen hernieder,
und wie silberne Sonnenfäden schwangen auch hell
und zart die letzten Töne in des Wanderers Brust.
Er stand unter einem Eichbaum trunken vor Selig-
keit. Seine Lippen waren still, aber seine Augen
sprachen leuchtende Worte, an denen noch die letz-
ten schwingenden Töne hingen, perlend wie Tau:
das letzte leise Berklingen seines vollendeten
Liedes.
klnd Gott hob es zu sich empor und brachte es
an den Ort, dort, wo die Schätze der Ewigkeit
liegen.
Von Otto Kleim.
„Bestellen Sie dem Bökerthenne einen schönen
Gruß, er solle ruhig so weiter machen."
Was war ich stolz, wenn ich als Vierjähriger
die kleinen gelben Gösseln mit einer großen Peitsche
in der Hand in den Garten treiben durfte. Hätte
ich die Peitsche nur gegen den bösen „Gante"
gebraucht, so wäre ja alles gut gegangen. Aber
ich hieb auch aus die zierlichen Gösseln, ohne ihnen
weh tun zu wollen. Da wickelte sich die Schnur
um den kleinen Hals, und schon hing eins der
niedlichen Dinger an der Peitschenschnur. Schnell
suchte ich es zu befreien. Aber es war zu spät.
Meine Tränen konnten den Liebling nicht wieder
lebendig machen. Wenn die Gössel heranwuchsen,
wurde scharf beobachtet, wann sich die Flügel aus
dem Rücken kreuzten. Wer diese Tatsache zuerst
berichten konnte, wurde von den andern beneidet.
Der Garten war mein Paradies. Im Sommer
wurden schon die Süßäpfel reif. Waren sie noch
gar zu hart, dann wurden sie durch Klopsen „mör"
gemacht. Dann kamen die kleinen Rustefileken und
die großen Katzenköpfe, ans denen Mus bereitet
wurde. Die grünen Pozbirnen schmeckten erst um
Weihnachten. Die feinste Birne ivar aber die Pon-
kerdine. Schade, daß nur immer so wenig daraus
hingen. Prinzenäpfel und Renetten schätzten wir
gering, weil sie erst im Nachwinter gegessen wer-
den konnten. Diese Obstherrlichkeit hätte ja schon
genügt, mir den Lampferthof als Paradies er-
scheinen zu lassen. Aber er wurde es auch noch
im andern Sinne.
Als der Lehrer zuerst die Geschichten von Adam
und Eva erzählte, sah ich beide im Garten sitzen.
Mitten durch den Garten zog sich ein Graben.
Daß ein Graben auf einer Höhe nichts Natürliches
237
sein konnte, daß er von Menschenhänden angelegt
sein mußte, störte mich damals wenig. Hier hatte
Adam gesessen, als ihm Eva die gefährliche Frucht
reichte. In meinem Paradiese war die Frucht auf
einem Birnbaum gewachsen, denn nur der große
Pozbirnbaum hatte so weit herabhängende Äste,
daß sie mit der Hand zu greifen waren. Um den
Ast des Baumes hatte sich die Schlange gewickelt.
Als der Tag kühl geworden war, verkrochen sich
beide ausgerechnet in einem Gestrüpp, das aus
Brennesseln und Kälberkropf bestand. Der liebe
Gott holte sie aber hervor , und führte sie aus dem
Tore hinaus. An dem jungen Nußbaum stand der
Erzengel, daß sie nicht wieder zurückkonnten. Nun
'mußten sie „up'n Roh" schwer arbeiten. Hier
zündeten Kain und Abel ihre Opserfeuer an. Hier
erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und
schlug ihn tot. Hier steckte ich auch meine Kartoffel-
feuer an und sprang durch den dichten Qualm.
Im Herbst wurden die Gänse „up'n Roh" gehütet.
Waren sie satt, daun setzte sich der „Gante" an die
Spitze, dann folgten die beiden alten Gänse und
die jungen genau nach der Größe. Das Nesthäkchen
bildete den Schluß.
Hier hütete ich auch noch im Spätherbst das
Rindvieh. Gegen die Unbilden des Wetters schützte
mich ein Rock der hannoverschen Kürassiere. Dieses
Galaregiment gab den ausgedienten Bauernjungen
oft sechs feine Röcke mit. Manchmal war der
Novembersturm so arg aus der Höhe, daß ich im
nahen Walde Schutz suchte. „Do het de Vos dat
Feuer anuebot."^ Oft baute ich mir auch aus
den Platten Kalksteinen eine Schutzmauer gegen
den Sturm. In den Kalksteinen waren oft kleine
merkivürdige Walzen, die uns Kindern zu denken
gaben. Vom Großvater hatte einer gehört, das
seien die „Tränen des Dreißigjährigen Krieges".
Bei meinen Wanderungen in Hessen fand ich diese
„Tränen" bei Witzenhausen als Wichtelmänner,
bei Spangenberg als Spangensteine, bei Fulda als
Peterspsennige, in der Wissenschaft als Encrinus
liliiformis wieder.
Aber wie groß war erst meine Freude, als ich
in der Kasseler Landesbibliothek einen Aufsatz in
einer Vereinszeitschrift niedersächsischer Altertums-
freunde fand, der mich auch über den Graben auf
dem Kalkrücken in meines Großvaters Garten auf-
klärte, über den Lampferthof. Durch den Garten zog
sich die alte Stammesgrenze zwischen Niedersachsen
und Franken. Diese Gräben auf der Höhe sind
von der Landesverteidigung ausgeworfen, es sind
alte Schützengräben. Und aus dem ursprünglichen
Landwehrhof ist im Laufe der Zeiten der „Lamp-
ferthof" geworden.
st Da hat der Fuchs das Feuer angesteckt.
Das Heböel-Museum in Wesselöuren und seine hessischen
Beziehungen.
Ein Dichterbesuch im Dithmarscher Lande führte
mich zu dem größten unter seinen Denkern, zu
Friedrich Hebbel von Wesselburen. Der Ort hat
seinen dörflichen Charakter längst verloren, seine
Einwohnerzahl hat sich seit den Jugendtagen Hebbels
verdoppelt, die Industrie ist auch dort heimisch
geworden. Verschwunden ist das kleine Geburts-
haus des Dichters in der Norderstraße, die Klipp-
schule der Jungfer Susanne, der Garten mit dem
berühmten Brunnen, (Frau Amme, Frau Amme,
das Kind ist erwacht), die alte Schule, wo sein
erster Lehrer, Rektor Dethleffen, ihm treue Wei-
sung zur Dichtung gab. Aber der alte Gasthof
„Stadt Hamburg" besteht wenigstens dem Namen
nach noch. Hier hat der Kirchspielschreiber Hebbel
vergnügte Stunden verlebt, und in dem Stalle
nebenan war die Liebhaberbühne, wo der junge
Dichter die Regie führte. Gleich beim Eintritt in
den Ort grüßt uns fein Denkmal, das zur Jahr-
hundertfeier enthüllt wurde, und das der Heider
Künstler Nikolaus Bachmann schuf. Es steht im
Vorgarten des Hauses, das bestimmt ist, geistiges
Sammelbecken für Hebbelverehrung und Hebbelfor-
schung zu werden: das Hebbel-Museum. Seine Ent-
stehung und erste Einrichtung verdanken wir einem
«Bürger Wesselburens, Engelhard Herwig, der
sich neben seinem eigentlichen Berufe eines Be-
238
zirks-Schornsteinfegermeisters und Lehmsteinfabri-
kanten nicht nur ein begeisterungsfrohes Herz für
die Dichtung bewahrt hat, sondern auch gründliche
Vertiefung in Hebbel und seine dichterischen Pro-
bleme bekundete und eine genaue, sichere Kenntnis
der Welt um Hebbel hat. Der stattliche, aufrechte
Sechziger mit wohlgepslegtem, weißen Mosesbart
— hinter den großen Brillengläsern lachten jugend-
liche Augen —, nahm sich unser — ein befreundeter
Landsmann begleitete mich — als der einzigen
Besucher des Museums an und begrüßte uns um so
freudiger, als er hörte, daß wir Kasseler waren.
Denn dieser Herwig gehört zu der sehr großen
Familie der Herwige im Hessenlande. Aein Vater
war Hersfelder, seine Mutter stammte aus Esch-
Wege, und mit innerlicher Wärme sprach er von
den Schönheiten des Werra- und des Fuldatales,
seiner eigentlichen Heimat. Seine Liebe zu ihr
schien nicht erloschen und sprach stark und echt zu
uns. Von ihm erfuhren wir, wie all das Schöne,
das hier unter Glas liegt, an Handschriften, Brie-
fen, Erstdrucken, was hier an den Wänden hängt
an Bildern und Gemälden, zum größeren Teile
aus seiner Privatsammlung stammt. Seine lang-
jährige, selbstlose Arbeit fand durch den Bau des
Hebbelhauses Anerkennung und festeres Gefüge:
Wesselburen rettete sich seinen Hebbel. Der Senat
der Stadt Hamburg gab eine bedeutende Spende,
vom Kultusministerium wird ein Zuschuß bewilligt.
So ist es, wenn auch zunächst in bescheidenen
Grenzen, möglich geworden, die geistige Umwelt
Hebbels in der Wesselburener uud Hamburger Zeit
darzustellen. Dem entsprechen die beiden großen
Zimmer des Museums, während ein dritter Raum
einen Teil von den reichen Schätzen noch ungeordnet
vereint, was für die spätere Entwicklung des Dich>-
ters, für seine Wanderzeit von München über
Kopenhagen, Paris nach Wien von Bedeutung ist.
Die Zukunft wird dem Ausbau des Hebbelmuseums
Aus Heimat und Fremde.
Hochschulnachrichten. Marburg: Geh. Rat
Pros. Dr. I. G a d a m e r, Direktor des pharmazeutisch-
chemischen Instituts, wurde von der medizinischen Fa-
kultät der Universität Breslau wegen seiner hervor-
ragenden Verdienste um die Alkaloidchemie und die
gerichtliche Chemie und wegen seiner erfolgreichen Ar-
beiten zur Mehrung des Ärzneischatzes zum Dr. raed.
h. c. promoviert. — An Stelle von Pros. K. Stargard
wurde der a. o. Professor Wilhelm G r ü t e r in Bonn
aus den hiesigen Lehrstuhl der Augenheilkunde berufen.
Prof. Grüter, der Entdecker des Herpesvirus das mit
dem Erreger der Schlafgrippe identisch sein soll, wurde
1882 in Essen geboren und wirkte bereits früher an
der hiesigen Augenklinik. — Für das Fach der Kinder-
heilkunde habilitierte sich Dr. inod. Joachim Brock,
Oberarzt in der Kinderklinik. — Der Geh. Medizinalrat
Dr. Koppen in Heiligenstadt, dem die Marburger
medizinische Fakultät 1907 anläßlich seines 50 jährigen
Doktorjubiläums das Diplom erneuerte, beging am
5. September sein 70 jähriges Doktorjubiläum. Dr. Kop-
pen ist in Walburg geboren und steht jetzt im 94.
Lebensjahr. — Die philosophische Fakultät erneuerte
dem in Hamburg lebenden früheren Direktor des Gym-
nasiums in Doberan, Dr. Wilhelm Kühne, anläßlich
seines 50 jährigen Doktorjubiläums das Diplom. Nach-
dem Dr. Kühne in Marburg Theologie und Philologie
studiert, siedelte er nach kurzer Tätigkeit in seiner Ge-
burtsstadt Hersfeld nach Mecklenburg über, wo er 1881
an das neugegründete Gymnasium in Doberan als
Direktor berufen wurde. Nach 40 jähriger Tätigkeit
trat er in den Ruhestand, übte aber während der Kriegs-
zeit noch einmal als Siebzigjähriger in Rostock und
an der Oberrealschule auf der Uhlenhorst seine Lehr-
tätigkeit aus. Vielen Besuchern der Doberaner Kirche
ist er bekannt als Entzifferer der dort so zahlreichen
Grabinschriften. — Berlin: Das wissenschaftliche Mit-
glied der Preußischen Landesanstalt für Wasser-, Boden-
und Lufthygiene in Berlin-Dahlem, Prof. Dr. Julius
W i l h e l m i (geborener Marburger), wurde zum Ho-
norarprofessor in der Fakultät für Bauwesen der Tech-
nischen Hochschule ernannt.
P e r s o n a l ch r o n i k. Am 11. September feierte
Professor William U n g e r in Innsbruck seinen 90.
Geburtstag. Die Bedeutung dieses aus Hannover ge-
bürtigen Künstlers liegt in der Wiedererweckung der
Radierkunst. Sein bekanntes, 1869—70 entstandenes
Werk „Die Kasseler Galerie" zeigte seine Reproduktions-
kunst bereits in voller Ausprägung seiner individuellen
Befähigung. — Am 29. August beging Oberlandesge-
richtsrat a. D. Geh. Justizrat August Schwarz in
Kassel seinen 70. Geburtstag. Schwarz ist seit langen
Jahren in der kirchlichen Verwaltung tätig; die Grün-
noch mancherlei Aufgabelt bringen. Geplant ist
auch der Ankauf des Hauses, das auf den Gruud--
mauern des Geburtshauses des Dichters errichtet
ist, um hier mit den noch vorhandenen Gerätelt
jener Zeit ein eillheitliches Bild zu schassen. Die
kleine „Hebbel-Gemeinde" wird die Kosteir für Er-
weiterung kaum aufbringen können. Und doch wäre
es ein erstrebenswertes Ziel, denn „die Stätte, die
ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht", wieviel
mehr gilt das von einem Lebeuskämpser, dem das
R fugen zu den Sternen ein „heiliger Krieg" war.
A. Latwesen.
düng des Gesamtverbandes der evangelischen Gemeinden
in Kassel ist wesentlich auf sein Wirken zurückzuführen.
— Am 15. September feierte Professor Otto Hebel
seinen 70. Geburtstag. In Kassel als Sohn des
Lehrers am reformierten Waisenhaus geboren, wurde
er 1897 von Korbach aus an das Friedrichsgymnasium
seiner Vaterstadt berufen, wo er 25 Jahre hindurch
erfolgreich als Mathematiker und Naturwissenschaftler
wirkte. Lange Jahre lvar er Vorsitzender des national-
liberalen Wahlvereins. 1919 wurde er in das Stadt-
parlament gewählt und 1924 als Spitzenkandidat der
volksparteilichen Liste als Stadtrat in den Magistrat
entsandt. — Gleichfalls seinen 70. Geburtstag beging
am 20. September Geheimrat Dr. Adolf Lange. In
Kassel als Sohn eines Mittelschullehrers geboren, war
er 1879—80 am Kasseler Friedrichsgymnasium, seit
1885 als Professor, tätig, wirkte später am Gymnasium
zu Marburg und wurde 1893 Direktor des Gymnasiums
mit Realschule in Höchst. 1904 übernahm er die Leitung
des Gymnasiums mit Oberrealschule in Solingen, trat
1922 als Oberstudiendirektor in den Ruhestand und
siedelte dann wieder in seine Vaterstadt über. — Zum
1. Oktober 1927 wurde Landgerichtsdirektor Dr. Karl
Bähr als Nachfolger Stamms zum Präsidenten des
Landeskirchenamts der evangelischen Landeskirche in
Hessen-Kassel ernannt. Der neue Präsident ist am
30. Mai 1880 in Kassel geboren: seine Vorfahren waren
väterlicherseits die Gründer der Buntpapierfabrik Lud-
wig Bähr in Bettenhausen, sein Großvater mütterlicher-
seits war der letzte Kommandeur des Kurhessischen
Kadettenhauses, Oberst Matthias. Bähr wurde 1901
Referendar, 1906 Gerichtsassessor in Kassel, 1910 Staats-
anwalt in Koblenz, machte den Weltkrieg als Offizier
mit, wurde 1919 als Landrichter nach Kassel versetzt
und hier 1922 Landgerichtsdirektor. — Der langjährige
Leiter des Gießer Stadttheaters Intendant Hofrat
Steingoetter trat in den Ruhestand. — Der neue
Generalintendant des Hessischen Landcstheaters in Darm- »
stadt Karl Ebert wurde Ende August in sein Amt
eingeführt. — Der Direktor der Fuldaer Ständischen
Landesbibliothek Prof. Dr. Karl S ch e r e r trar nach
Erreichung der Altersgrenze in den Ruhestand. Er
hat sich um die Fuldaer Landesbibliothek große Ver-
dienste erworben und sich mit Erfolg bemüht, die Früchte
der Wissenschaft breiteren Kreisen zugänglich zu machen.
— Sein Nachfolger wurde der bisherige Bibliothekar
an der Universitäts- und Stadtbibliothek zu Köln Dr.
Joseph Theele. Dr. Theele stammt aus Halle a.
Saale, wo er am 3. April 1889 als Sohn eines
Lehrers und Organisten geboren wurde, besuchte dort
die Volksschule und die Latina der Franckeschen Stif-
tungen, zuletzt das Gymnasium zu Steele (Ruhr), das
239
er Ostern 1909 mit dem Zeugnis der Reife verließ.
Dann studierte er in seiner Heimatstadt Halle Ge-
schichte, Philologie und Kunstgeschichte. Als Student
bereits gab er in der Klassiker-Auslese „Aus Welt und
Leben", herausgegeben von Joh. Mumbauer, den No-
valis-Band „Die blaue Blume" (Saarlouis 1912) her-
aus. Im Jahr 1916 promovierte er mit einer von
seinem Lehrer Professor Dr. Heldmann angeregten Ar-
beil „Die Handschriften des Benediktinerklosters St.
Petn zu Erfurt", die in den „Studien und Mitteilungen
zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige"
N. F„ Jahrgang 6, Heft 3 und 4 erschien und d«nn
unter gleichem Titel zu einem bibliotheksgeschichtlichen
Rekonstruktionsversuch der ehemaligen Bibliothek des
1803 säkularisierten Petersklosters erweitert wurde (Bei-
heft 48 zum Zentralblatt für Bibliothekswesen, Leipzig
1920), zum Dr. phil. Von 1918—20 wurde er an
der Hallischen Universitätsbibliothek ausgebildet, um dann
in Köln seine erste Anstellung zu finden. Hier ent-
standen seine Arbeiten „Köln als Stätte der Bildung",
„Der Kölner Dom in der deutschen Dichtung", „Rhei-
nische Buchkunst im Wandel der Zeit" u. a. Forschungen
zur Bibliotheks- und Buchgeschichte des Rheinlandes.
Todesfälle. In Regensburg, wo er seinen Le-
bensabend verbrachte, verstarb der bekannte Fuldaer
Historiker Geh. Archivrat a. D. Dr. Joseph R ü b s a m.
Schon als Lehramtskandidat am Gymnasium zu Fulda
gab er 1879 sein erstes Werk „Kirchen- und staats-
rechtliche Stellung der exempten und reichsunmittel-
baren Abtei Fulda" heraus. Andere Arbeiten behan-
delten u. a. „Heinrich II. von Weilnau, Fürstabt von
Fulda (1288—1313),, und „Die Chronik des Apollo von
Vilbel". Im Kirchenlexikou von Wetzer und Welte
schrieb er den Abschnitt „Hessen", der auch die Fuldaische
Geschichte näher berührt. Als Vorstand der Thurn-
und Taxisschen Hofbibliothek in Regensburg schrieb er
verschiedene Abhandlungen auf postalischem Gebiete. Mit
seiner Heimatstadt Fulda ist er immer in enger Ver-
bindung geblieben. — Am 19. August verschied zu
Leipzig der Konrektor der Thomasschule i. R. Ober-
studienrat Professor Dr. Paul Weinmeister ctm
Herzschlag, nachdem er noch wenige Wochen zuvor seine
Vaterstadt Marburg im Festglanz der Jubeltage gesehen
hatte. Als Sohn eines kurhessischen Beamten 1856
geboren, besuchte er das Marburger Gymnasium Philip-
pinum und trat nach vollendetem Studium 1877 sein
Lehramt an der Thomasschule (Humanist. Gymnasium)
in Leipzig an, das er 431/2 Jahre ausübte. Wein-
meister war ein treuer Sohn seiner hessischen Heimat
und in den nahezu vier Jahrzehnten einer der treuesten
Freunde unserer Zeitschrift, in der er, der Numis-
matiker von Ruf, zahlreiche Beiträge zur hessischen
Münzkunde schrieb. Groß ist auch die Zahl seiner
mathematischen und historischen Arbeiten. Seine „Mar-
borger Geschichtercher" erschienen 1884 in 2. Auflage.
Wir werden des trefflichen Mannes noch in einem be-
sonderen Aufsatz gedenken.
Gräfin Luise v. d. G r o e b e n. Am 17. Sep-
tember d. I. feierte die Gräfin Luise v. d. Groeben zu
Berlin in beneidenswerter körperlicher und geistiger
Frische ihren 80. Geburtstag, eine Kurhessin von altem
Schrot und Korn, die ihre Eigenart sich treu bewahrt
hat, obwohl das Schicksal sie verhältnismäßig früh von
der Heimat trennte. Geboren 1847 zu Kassel als ein-
ziges Kind des Oberstallmeisters Herrn, v. Eschwege
itnd seiner Gemahlin Luise v. Heathcote, verlebte sie
ihre Jugend in unmittelbarer Nähe des kurfürstlichen
Hofes, au dem ihr Vater als erklärter Liebling des
Kurfürsten eine bevorzugte Stellung einnahm. In den
240
kritischen Tagen des Jahres 1866 verlobte sie sich
mit einem Flügeladjutanten des Königs Georg V.
von Hannover, dem Grafen Erhard v. Wedel, heiratete
ihn 1867 und wurde die Mutter und Schwiegermutter
der beiden Grafen Georg und Botho v. Wedel, die
später im diplomatischen Dienste des Deutschen Reiches
hervorragende Posten bekleideten. Nach dem Tode ihres
ersten Gemahls (1885) vermählte sie sich in zweiter
Ehe mit dem Grafen Günther v. d. Groeben und lebt
seit bessern Tod als Witwe in dem schönen Heim in
der Nachbarschaft des Reichstags, das durch sie zu
einem Mittelpunkt der Berliner Gesellschaft und der
Aristokratie des Geistes und der Künste geworden ist.
Die Gräfin ist auch selbst mehrfach schriftstellerisch her-
vorgetreten. In ihrem bedeutendsten Werk „Ralph
Heathcote. Detters of a yonng diplomatist“ (London
1907) schilderte sie das Leben ihres Großvaters, der
als englischer Legationssekretär in Kassel unter Napoleon
die sog. Affäre Taylor miterlebte, 1806 aus Kassel
Vertrieben wurde, aber später wieder dorthin zurück-
kehrte und ein Fräulein v. Trott heiratete. Das Buch
enthält eine Fülle von interessanten Nachrichten aus
der Napoleonischen Zeit uno ist in Hessen leider noch
viel zu wenig bekannt geworden.
An drei grundverschiedenen Fürstenhöfen lebend hat
Gräfin Groeben ihre alte Heimat nie verleugnet und
r'st eine Hessin geblieben, die auch den alten Spruch
„Des Eschwege sont beaux “ noch immer verkörpert.
In einer ihrer kleinen Skizzen erzählt sie in rührender
Weise, wie sie in einem zufällig benutzten Drvschken-
wagen ein altes väterliches Coupe wiederfindet, das
durch Zufall nach Berlin geraten ist. Schade, daß
ihre nur für die Familie bestimmten Lebenserinnerungen
mir einer Fülle von Details aus alter hessischer Zeit
nicht einem weiteren Leserkreis zugänglich sind.
Rh. D.
Das neue Wappen des Bezirksverban-
des. Das preußische Staatsministerium hat den Be-
schluß des Kommunallandtages genehmigt und gestattet,
daß der Bezirksverband für den Regierungsbezirk Kassel
ein neues Wappen und Dienstsiegel führt. Als Wappen-
bild dient der rot und wieiß gestreifte schreitende Löwe
auf blauem Grund mit einem Schwanz und mit der
Volkskrone, wie er im Jahre 1308 auf dem Toten-
schilde von Heinrich dem Kinde in der Elisabethkirche
zu Marburg zur Darstellung gekommen ist. Tie erste
farbige Darstellung gleicher Art befindet sich in der
Willehalm-Handschrift der Kasseler Landesbibliothek. Sie
zeigt das Wappentier achtmal rot und weiß gestreift auf
blauem Grunde. Im neuen Wappen dagegen sind nicht
acht, sondern neun Streifen angenommen. Die Ab-
weichung von der Urform, die der Kunstmaler Professor
Otto Hupp in Schleißheim, der auch den Wappenfries
des hiesigen Landesmuseums geschaffen hat, aus künst-
lerischen Gründen vorgenommen hat, ist nach dem
Gutachten des Bezirkskonservators heraldisch belanglos.
Die Zahl der Streifen, die vermutlich als Tuchstreifen
aufzufassen sind, hat denn auch in den folgenden Jahr-
hunderten zwischen sieben und neun geschtvankt.
M a r b u r g. Die Marburger Bäckerinnung beging
ihr 500 jähriges Zunft- und '60 jähriges Jnnungsjubi-
läum.
Das Marburg-Lied. Der Marburger Ma-
gistrat hatte bekanntlich einen Preis für das beste Mar-
burglied ausgeschrieben. Es sind 345 Einsendungen er-
folgt. Das Preisgericht hat seine Tätigkeit nunmehr
beendet. Den Anforderungen, die es stellte, hat keines
der Lieder voll entsprochen. Dem Preisausschreiben
zufolge mußten die drei besten Lieder prämiiert werden,
bereit Autoren Nniversitätsprofessor Dr. I anson -
Köln, Hans Ludwig L i n k e u b ä ch - Mainz und Paul
Warnte- Neu-Babelsberg sind.
8 0 0 Jahre Eschen st r u t h. Das an der Wald-
kappeler Bahn gelegene Torf Eschenstruth beging am
4. September festlich sein 800 jähriges Bestehen.
H a n a u. Das zum Familienfideikommis; ber Phi-
lippsthaler Linien bes hessischen Fürstenhauses gehöreube,
1880 von ber Stabt Hanau für 323 000 M. an-
gekaufte Altstäbter Schloß (Marstall) sollte zu einer
Stadthalle umgebaut werben. Inzwischen hat ber Tenk-
malpfleger in Kassel Einspruch gegen ben geplanten
Umbau bes unter Denkmalschutz stehenben Marstall-
gebäubes erhoben, so baß die Umbaupläne nochmals
durchgearbeitet werben sollen.
„R i n t e l n." Im Heft 8 S. 187 heißt es im
letzten Satz bes Aufsatzes von Reinhold Börner, in
betn von später berühmt geivorbenen Schülern bes
Mnteler Gymnasiums bie Rebe ist: „Neben betn
Dichter Franz Dingelstebt traten am meisten hervor
ber Tier- und Landschaftsmaler Christian Kröner, der
Dichter und Schriftsteller Julius Robenberg, der Poli-
tiker Friedrich Oetker und der Sprachforscher Georg
Böhling." Hierher gehören aber ohne Zweifel auch
der Marburger Professor der Mineralogie Dr. W. Tun-
ker wegen seiner Verdienste auf dem Gebiete der Palä-
ontologie und der Geologie der hessischen Heimat.
Ebenso auch die Brüder Volckmar, von denen der ältere
Dr. Gustav Volckmar, Professor der Theologie in Zürich,
sich als Bibelforscher und Schriftsteller (Reihenfolge
der Evangelien, das Leben Jesu u. a.) bekannt gemacht
hat, während der jüngere Bruder Pros. Dr. Wilhelm
Volckmar, Musikdirektor am Seminar in Homberg (Bez.
Kassel), als Komponist, namentlich auf dem Gebiete
der Kirchenmusik (Choralbuch, Orgelalbum, Orgelschule,
Sonaten, Lieder u. a.) und als Orgelvirtuose weit
über die Grenzen des Vaterlandes hinaus bekannt ist.
E. V.
Melsungen. Endlich hat man eine Erneuerung
des Rathauses in Angriff genommen. Ter graue Mörtel-
putz wird abgeklopft. Bei den ersten Abklopfarbeiten
zeigte es sich, daß die Balken noch sehr gut erhalten
sind. Über die ursprüngliche Gestalt des Rathauses
liegt vom Architekten A. Tauber nach örtlichen Auf-
nahmen ein Plan vor. Nach diesem wäre eine pracht-
volle Wiederherstellung möglich, wofür allerdings mehr
als 100 000 Mark nötig sein würden.
Fritzlar. Dem ältesten Fachtverkhaus unserer
Stadt, das aus der Zeit um 1470 stammt, drohte ernst-
lich der Verfall, da sich die Südseite des Hauses er->
heblich gesenkl hatte. Zur Erhaltung dieses Holzhauses,
das neben dem am Marktplatz gelegenen Kaufhause ein
Zeugnis hessischer Holzbaukunst darstellt, haben sich nun-
mehr die Gemeinde und der Staat entschlossen, um-
fangreiche Renovierungsarbeiten vornehmen zu lassen.
— Bei Renovierungsarbeiten in der früheren Mino-
riten-, jetzigen evangelischen Kirche am Werkeltore ist
kürzlich der Johannes-Nepomuk-Altar, der unter Denk-
malschutz stand, wieder aufgefunden worden. Nach einer
gründlichen und fachmännischen Instandsetzung wiro seine
Wieverausstellung im Gotteshaus erfolgen.
Schlüchtern. Im Rechtsstreit des Rittergutsbe-
sitzers Graf Bogdan von Hutten-Czapski gegen Freifrau
Ludotvika von Stumm zu Schloß Ramholz auf Nichtig-
keitserklärung des Verkaufs der Herrschaft Nomsthal
an letztere hat das preußische Landesgesundheitsamt sein
erstattetes Gutachten, wonach am Tage des Verkaufs-
schlusses beim Grafen Hutten-Czapski eine krankhafte
Störung seiner Geistestätigkeit bestanden habe, in allen
Punkten bestätigt, das Obergutachten also aufrecht er-
halten. Der Ausgang des Rechtsstreites dürste also nicht
mehr zweifelhaft sein. Falls der Besitz an den Grafen
Hutten zurückfällt, hat dieser durch Erbvertrag bereits
Bestimmungen darüber getroffen. Romsthal soll hier-
nach größtenteils dem Kreise Schlüchtern zufallen.
H o m b e r g. Nach dem Vorgang anderer hessischer
Städte geht die Homberger Stadtverwaltung mit dem
Plan um, ein Heimatmuseum zu gründen, das vor-
erst im Rathaus untergebracht werden soll, und bittet
die Stadtbewohner, geeignete Stücke zu stiften oder als
Leihgaben zur Verfügung zu stellen.
N e u st a d t. Bei Anlage eines Entwässerungskanals
von dem Marktplatze durch den alten Kirchhof nach der
Nitterstraße wurden eine Anzahl Gräber freigelegt, in
denen noch gut erhaltene Skelette vorgefunden wurden.
Freigelegt wurden auch die Fundamente der ersten
Kirche, die nach Gründung unserer Stadt durch den
Grafen Ludwig von Ziegenhain 1270, wahrscheinlich
Ende des 13. Jahrhunderts erbaut worden ist. Tie alte,
dem Täufer Johannes geweihte Kirche wurde 1502
unter der Pfandherrschast des Junkers Hans von Dörn-
berg durch die jetzige, spätgotische zweischiffige Hallen-
kirche mit.achteckigem Chor ersetzt und am 8. September
1504 der hl. Dreifaltigkeit geweiht. Nur der Turm
mit seinem hohen Zeltdach ist erhalten geblieben und
als ältestes Bauwerk unserer Stadt anzusehen. Da sein
Helm bis in das Kirchendach hineinragt, war eine
Erhöhung um 5 m wiederholt vorgesehen, doch scheiterte
die Ausführung an der Kostenfrage und an der Trag-
fähigkeit des alten Turmes, der an der Westseite durch
eine breite abgeböschte Strebemauer bereits gestützt wird.
S p a n g e n b e r g. Auch dieses Jahr hat sich wie-
der, wie schon seit Jahrhunderten, der seltsame Ameisen-
schwarm pünktlich eingestellt. Die geflügelten Ameisen
umschwärmleu nachmittags zunächst die Turmspitze und
sanken dann langsam auf das Pflaster zwischen Zug-
brückentor und Haupttor nieder, nachdem der Hochzeits-
slug beendet war.
Treffurt. Die Frage der Erhaltung des Nor-
mannsteins ist jetzt geklärt lvorden. Die Burg soll
auch tveiter der Allgemeinheit zugänglich bleiben. Ter
runde Turm soll zu einem Aussichtsturm ausgebaut
werden, so daß die Burg als Ausflugsziel immer mehr
gewinnen wird.
M e ck l a r. Vor einigen Tagen wurde das Halseisen
von Mecklar dem Hersfelder Museum überliefert. Es
ist das einzige Halseisen im Kreise, das der Nachwelt
erhalten geblieben ist. Jahrelang hing es am Spritzen-
haus. Als es wiederholt abgerissen wurde, nahm es
die Schule in Aufbetvahrung und benutzte es als An-
schauungsobjekt, um den Kindern die Gerichtsverhältnisse
des Mittelalters klar zu machen. Da im Museum zu
Hersfeld gar keine Foltertverkzeuge zu sehen sind, so
bildet das Eisen ein interessantes Stück aus dem
Mittelalter.
G e r s f e l d. Schwinden der R h ö n t r a ch t.
Ein Stück .Heimatgeschichte verbarg sich in der alten,
schmucken Rhöntracht, die besonders ja bei der weib-
lichen Jugend und den Frauen so kleidsam ist. Lange
hat sie sich in der Rhön erhalten, und unsere Alten
wachten mit Eifer auf ihre fernere Erhaltung. Leider
hat die Erschließung der Rhön und der moderne Ge-
schmack einen Wandel gebracht, der besorgen läßt, daß
die Rhöner Volkstracht bald gänzlich verschwindet und
die hübschen Volkstrachten nur noch in den Museen
zu finden sind. In letzter Zeit sinc> Heimatfreunde und
Vereine aller Art, darunter besonders die Rhönklub-
Zweigvereine, darauf bedacht, der jetzt bevorzugten „ver-
241
feinerten" Tracht dadurch zu begegnen, daß sie an-
ordnen, daß bei den meisten festlichen Veranstaltungen
nur die alte Rhöntracht getragen werden darf.
B a r ch f e l d. Die alte 145 jährige Feuerspritze, die
jetzt ausgedient hat, ist wegen ihrer reichen Verzie-
rung und kunstvollen Herstellung dem Henueberger Hei-
matmuseum in Schmalkalden überwiesen worden.
Die Schulen in Hessen-Nassau. In Hes-
sen-Nassau gab es bei der Zählung vom November 1926
2219 (2297) öffentliche Volksschulen. Davon evange-
lische: 1188 (1064), katholische: 304 (222), jüdische:
38 (69), paritätische 689 (942). An ihnen unterrich-
teten 6606 (7108) Lehrkräfte, und zwar: 5311 (5706)
männliche und 1295 (1402) weibliche. Davon waren
evangelisch: 4626 (4981), katholisch: 1917 (2045), jüdisch:
55 (79), andere oder keiner Religionsgemeinschaft ange-
hörig: 8 (3). Die Zahl der Schulkinder betrug: 247 482
(333158), und zwar: 124 152 (168 221) Knaben und
123 330 (164 937) Mädchen. Davon waren evangelisch:
170 788 (230 653), katholisch: 72 592 (97 161), jüdisch:
1709 (2278), anderen Religionsgemeinschaften oder keiner
angehörig: 2393 (3066). (In den Klammern stehen die
Ergebnisse der Zählung im Jahre 1921.)
Unter Schutz g e st e l l t wurden folgende Na -
turdenkmäler: In G r e b e n st e i n (Kr. Hof-
geismar) die alte Linde an der Friedrichsthaler Straße,
bei der Einmündung des Rietsweges, Eigentum der
Gemeinde, in N euenbrunsl a r (Kr. Melsungen)
die Ortslinde, Eigentum der Gemeinde, in Alten-
brunslar (Kr. Melsungen) die alte Dorflinde, Eigen-
tum der Gemeinde, in E r n st hausen (Kr. Kirchhain)
die Sommereiche am Südausgang des Dorfes, Eigen-
tum der Gemeinde, in H e i n e b a ch (Kr. Melsungen)
die kleinblättrige Winterlinde aus 'dem Grundstück des
Landwirts Paul Fröhlich und die kleinblättrige Winter-
linde neben dem Pfarrhaus vor dem Eingang zur Kirche
und in Schmalkalden die große Rotbuche auf dem
Grundstück des Kaufmanns Walter Gustav Werner am
Gespringweg.
Heimatkunstausstellung. In H e r b o r n
fand vom 2.—5. September der 36. Deutsche Wander-
tag statt. Mit ihm waren ein Trachtenzug und eine
.Heimatkunstausstellung verbunden. In der hellen und
für Ausstellungszwecke sehr geeigneten städtischen Turn-
halle hatte das Gießener Kunstgewerbe Keramik, Decken
und hölzernes Kleinkunstgerät ausgestellt. Mitglieder
der freien Vereinigung Darmstädter Künstler zeigten
Aquarelle, Schnitte und Radierungen. Professor Schad,
Frankfurt a. M., brachte in künstlerisch vollendeten Pho-
tos reizende Dorfwinkel, malerische Straßen nnd .Häu-
ser, Bauernköpfe und Innenaufnahmen. Die Staat-
liche Baugewerkschule Frankfurt a. M. zeigte an zeich-
nerischen Aufnahmen hervorragender Bürgerhäuser in
Herborn, Wetzlar und Montabaur die Schätze der Bau-
kunst früherer Zeiten. Gemälde mit Landschaftsbildern
aus dem Dill- und Lahntal hatten Klöckner-Dillenburg
und Bender-Herborn ausgestellt. B u r m e st er- Kassel
war mit fünf Bildern aus Herborn vertreten. Wilhelm
T h i e l m a n n, den geborenen Herborner, hatte seine
Vaterstadt durch eine kleine Ausstellung seiner be-
kanntesten Schwälmer Radierungen besonders geehrt.
— Die Ausstellung bot einen guten Überblick über die
Heimatkunst Oberhessens, Nassaus und des Westerwal-,
des im weitesten Sinne von Kunst. Vermißt wurden
gute, künstlerische Erzeugnisse des heimischen, boden-
ständigen Handwerks, denn gerade darin spiegelt sich
doch besonders ein gut Stück „Heimatkunst" wider.
8p.
Kleinenglis (Kr. Fritzlar). Bei der Wieder-
herstellung der Kleinengliser Kirche durch den Kunst-
maler Kramer wurden im Chor der Kirche gotische
Malereien freigelegt. Bis jetzt fand man Bruchstücke
von Figuren und ein Rautenmuster. Die Gemeinde will
die Darstellung wiederherstellen lassen.
Wie benennt man Stra-
ßen? Für die Benennung von
Straßen hat Geh. Baurat Dr.-Jng.
Felix Genzmer für den Sprach-
verein beherzigenswerte Richtlinien
aufgestellt. Man wähle die Na-
men nach alten Flur- und Ge-
wannbezeichnungen, den im Volks-
mund gebräuchlichen Ortsbenen-
nungen, nach geschichtlichen nnd
anderen Erinnerungen, die an die
Örtlichkeit anknüpfen, nach Namen
und allgemeinen Bezeichnungen von
Personen, die örtliche Bedeutung
haben, nach vorhandenen oder ver-
schwundenen benachbarten Bau-
werken, Naturdenkmalen und der-
gleichen. Die Benennungen sind
vorzugsweise ohne den Zusatz
Straße, Platz usw. zu fassen. Wo
ein solcher Zusatz erwünscht ist,
verwende mau aus den vielen Art-
namen einen, der der Bedeutung
und der Beschaffenheit der Straße
entspricht oder der örtlichen Er-
innerung dient. Die Namen seien
möglichst kurz und einprägsam.
Schutz den Staren. Die
Arbeitsgemeinschaft des Allge-
meinen Deutschen Jagdvereins und
der Deutschen Jagdkammer hatte
kürzlich Veranlassung, sich in
Altarstein aus der Zeit des hl. Rhabanus. Eingeweiht am 28. September 8Z8.
Aus! I. Hack, Traute Heimat meiner Lieben. Fulda (Fuldaer Actiendruckerei).
242
petersberg. Bleistiftzeichnung von Alois Hack.
Aus: 3. Hack, Traute Heimat meiner Lieben. Fulda (Fuldaer Actiendruckerei).
einer Eingabe an den preußischen Minister
für Landwirtschaft, Domänen und Forsten
gegen den Erlaß einer örtlichen Behörde
zu wenden, die zur Vernichtung der Stare
ailfforderte. Gewiß macht der Star ge-
legentlich einmal Schaden an Obstbäumen.
Doch steht der Schaden weit hinter deut
Nutzen dieses wertvollen Insekten- be-
sonders Raupenvertilgers, zurück. Regen-
würmer, kleine Schnecken, Käfer und Käfer-
larven, Puppen, Maden, Bremsen, Stech-
fliegen, Zecken, Heuschrecken, Feld- und
Maulwurfsgrillen sind seine Hauptnah-
rung, ferner sämtliche Schädlinge der Forst-
kultur. Neben dem Kuckuck ist er der
einzige Vogel, der sich von behaarten Rau-
pen nährt und damit das Hauptabwehr-
mittel gegen die unseren Wäldern so sehr
gefährliche Nonnenraupenplage. Unter den
Raupenvertilgern nimmt er die erste Stelle
ein. Mit Recht wird er daher durch das
Vogelschutzgesetz vom 30. Mai 1918 ge-
schützt. Man gönne also dem Star mal
einige Kirschen! Er wird es tausendfach
lohnen. Möge sich die Allgemeinheit vor
Augen halten, daß ohne die in der Natur
ausgeglichene Betätigung der Vogelwelt
der größte Teil des Obstes, der Gemüse
und verschiedener Feldfrüchte überhaupt
nicht gedeihen würde. Und solcher Nutzen
ist mit einigen Kirschen nicht hoch bezahlt.
Kirtorf (Oberhessen). Ein fast aus-
gestorbener Industriezweig befindet sich in
unserer Stadtwaldung, ein sogenannter
Schmeerofen, in dem aus Fichten- und
Kiefernstöcken der Wagenschmier gewonnen
wird. Wegen seiner Seltenheit hat der hessische Staat
diesen Ofen, der aus Lehm gebaut ist, unter Denkmals-
schutz gestellt. Sein Besitzer, Georg Jung, im Volksmunde
der „ Schmeerschors ch" genannt, hat den Betrieb jetzt wieder
eröffnet und den Ofen in Brand gesteckt. Dieses Er-
eignis zieht Neugierige von nah und fern herbei, dre
sich den Betrieb rm Waldesdunkel ansehen. Auch der
Schulrat des Kreises Lauterbach machte dem rußigen
Köhler seinen Besuch, um diesen seltenen Mann mit
Ofen für den Oberhessischen Heimatfilm aufzunehmen.
Vom Hohentwiel. Auf der Ruine des einst
von Konrad Widerholt verteidigten Hohentwiel iin
Hegau, des Schauplatzes von Scheffels „Ekkehard", wer-
den umfangreiche Restaurierungsarbeiten vorgenommen.
R e l i g i 0 n s st a t i st i k in Hessen-Nassau.
Die Provinz Hessen-Nassau hatte 1910 eine Einwohner-
schaft von 2 221021, 1925 aber von 2 369 871. Da-
von gehörten den evangelischen Religionsgemeinschaften
1910 an 1 527 471 — 683,73 vom Tausend, 1925 aber
1631 157 —: 680,54 vom Tausend. 1910 bekannten
Bücherschau.
Marburger Jubiläumsliteratur.
Aus der großen Reihe der anläßlich der Marburger
Jubelfeier erschienenen Festgaben, die wir z. T. schon
besprachen, z. T. im nächsten Heft noch besprechen
werden, sei diesmal vor allem die von Geheimrat
Prof. Or. Ernst Elster herausgegebene „F e st z e i -
hing Philipps - Universität Marburg
1527—1927" (Marburg, N. G. Elwert) genannt, die
für alle Teilnehmer ein prächtiges Erinnerungsblatt
bilden ivird und so inhaltreich ist, daß hier nur die
sich zur katholischen Kirche 627 258 — 282,41 vom
Tausend, 1925 aber 674 415 — 281,27 vom Tausend.
1910 gab es 4016 „andere Christen" (Sekten usw.) —
1,81 vom Tausend, 1925 aber 4271 = 1,78 vom
Tausend. 1910 betrug die Zahl der Israeliten 51 781
= 23,31 vom Tausend, 1925 aber 52 757 — 22,01
vom Tausend. 1910 hatten die „Sonstigen"
(Dissidenten usw.) einen Bestand von 10 49o —
4,73 vom Tausend, 1925 aber von 34 511 — 14,40
vom Tausend. Die Kirchenaustritte sind demnach in
der Provinz Hessen-Nassau besonders erheblich gewesen.
Für Kassel selbst ermittelten die „Mitteilungen der
Stadt Kassel" folgende Zahlen: Während tut Jahre
1900 in Kassel 9s 359 Evangelische, 9210 Katholiken,
2445 Israeliten und 1020 Anhänger sonstiger Sekten
ansässig waren, konnte man im Jahre 1910 135 689
Evangelische, 12944 Katholiken, 2675 Israeliten und 1888
Angehörige anderer Konfessionen zählen. Im Jahre 1925
war die Zahl bereits auf 144 768 Evangelische, 14 917
Katholiken, 2750 Jsrealiten und 3461 Sektierer gestiegen.
Titel der Einzelbciträge genannt werden können: Elster,
Den Gefallenen; Zimmermann, Die Gründung der
Philippsuniversität und das Wirken des Kanzlers Jo-
hann Feige; Dersch, Das Grab und die Reliquien der
hl. Elisabeth; Stengel, Helius Eobanus Hessus; Küch,
Aus dem Leben Johann Oldendorps; Fabricius, Emp-
fang des Königs von Schweden in Marburg 1731;
Merk, Die Spruchtätigkeit der Marburger Juristen-
fakultüt; Heer, Alte Promotionsgebräuche an der Uni-
versität Marburg; Fabricius, Die Deposition in Mar-
243
bürg; Edw. Schröder, Marburger Anekdoten ans dem
16. Jahrhundert; Busch, Aus einer alten Professoren-
familie; K. Justi, Die Familie Justi; Fabricius, Der
Pennalismus in Marburg; Kn et sch, Professoren und
Studenten bei einer Trauerfeier im Jahre 1667; Elster,
I. 5). Jung-Stilling; Schulze, Denis Papin; Helm,
Jacob Grimm über Marburg; W. Stoll, Fr. K. von
Savigny in Marburg; Leonhard, Die Grundlagen der
Lehren Savignys; Preitz, Cl. Brentano und Marburg;
Knetsch, Bettina Brentano und die Marburger 'Stu-
denten ; Graf von Berlepsch, Die Rettung der Uni-
versität Marburg 1809; Heer, Die Auszüge der Mar-
burger Studenten nach Gladenbach 1811 und 1815;
Die 300-Jahrfeier der Universität Marburg 1827;
Heer, Noch einiges von der 300-Jahrfeier der Uni-
versität Marburg; v. Auwers, R. W. Bunsen; Schwarz,
A. Fr. Chr. Vilmar; Gadamer, Konstantin Zwenger;
Frocb, Ernst Koch und Marburg; von Sybel, Heinr.
von Sybel; Mezger, Fr. von Liszt; Denecke, K. Fr.
von Heusinger; Denecke, W. Roser; E. W. Mannkops;
Denecke, E. von Behring; Korschell, F. March and;
Jaensch, Marburger Philosophen; Denecke, Fr. Ahl-
seld; Sattler, W. Herrmann; Hölk, Die Universität
und das Gymnasium in Marburg; Vilmar, Wirkung
des Studentenlebens auf den Marburger Gymnasiasten
in den 80 er Jahren des vergangenen Jahrhunderts;
Bantzer, Die Beziehungen der Philipps-Universität zu
den hessischen Künstlern; Heidelbach, Aus der Jugend-
zeit eines doppelten Ehrendoktors der Universität Mar-
burg; Siebert, Fr. Siebert; Ahlfeld, Wie die Mar-
burger Frauenklinik entstand; Göppert, Dre anatomische
Fakultät der Universität Marburg; Seidel, Die Ent-
wicklung des Zahnärztlichen Universitätsinstitutes Mar-
burg; Freudenberg, Die neue Kinderklinik; Ufsenorde,
Der Neubau der Universitätsklinik für Ohren-, Nasen-
und Halskrankheiten; Troeltsch, Für den Marburger
Universitätsbund; Jaeck, Der Kamps um die Existenz-
berechtigung der körperlichen Erziehung an der Philipps-
Universität von 1817 bis 1927; Mannhardt, Institut
für Grenz- und Auslandsdeutschtum an der Universität;
Fricke, Zur Frequenzstatistik der Universität Marburg;
Sikorski, Studentenheim Marburg 1920—27; Eitert,
Die Studentenschaft des . 20. Jahrhunderts; A. R.
Meyer, Der Weg nach Marburg; Bloem, Feier des
„Tausendsten". — Die mit 60 Abbildungen geschmückte,
etwa 80 Folioseiten umfassende Festschrift kostet nur
1.— RM.! — Als Festschrift zur vierten Säkular-
feier erschien, gleichfalls im Elwertschen Verlag, das
umfangreiche Werk von „H. Hermelink und S. A.
K a.e h l e r, Die Philipps-Universität zu
Marburg 1 5 2 7 — 192 7. Fünf Kapitel aus ihrer
Geschichte (1527—1866). Die Universität Marburg seit
1866 in Einzeldarstellungen." (XVI, 865 Seiten.)
Preis 30.— RM. Eine Vorarbeit hatte ja schon Franz
Gundlach in seinem Catalogus Professorum geleistet.
Eine so umfassende Darstellung der Geschichte der
Philippina konnte dadurch bewältigt werden, daß sich
in sie zwei Bearbeiter, Professor Or. Hermelink, ver
theologische Historiker, und Professor Or. Kaehler, der
politische Historiker teilten; jener behandelte die Zeiten
der Reformation und der Orthodoxie, dieser schilderte
die beiden Jahrhunderte von der Restauration der
Universität im Jahre 1653 bis zur Einverleibung Kur-
hessens in den preußischen Staat, während der Weiter-
entwicklung der Hochschule Einzeldarstellungen von sach-
kundiger Seite gewidmet sind. Hermelink zeigt zu-
nächst, wie diese erste evangelische Hochschule auch die
erste im eigentlichen Sinne landesherrliche Universität
geworden ist, wie sie, durch die aufgehobenen Kloster-
Das älteste erhaltene Bonifatiusbild, aus der Zeit 1000 —1100.
Aus : I. Hack, Traute Heimat meiner Lieben. Fulda (Fuldaer Actiendruckerei).
güter fundiert, auch in wirtschaftlicher Beziehung als
landesherrliche Schöpfung entstand. Wichtig ist, daß
der akademische Betrieb dadurch, daß er ausdrücklich
die Erziehung der dazu tüchtigen Jugend des Landes
zu Staats- und Kirchenämtern zum Ziel hat, in den
ethisch-sozialen Zusammenhang des Nutzens von Land
und Leuten gestellt lvird. Wir erleben die Anfänge des
wissenschaftlichen Lebens, die den Geist der Reformation
und des Humanismus atmen, und sehen, wie schon nach
wenigen Jahrzehnten Marburg der Mittelpunkt juri-
stischer Gelehrsamkeit in Deutschland wird. Eingehend
wird die Arbeit der einzelnen Fakultäten geschildert.
Im Zeitalter der Orthodoxie ist Marburg zunächst Samt-
universität der getrennten Hessen, dann bis 1621 refor-
mierte Universität des Hessen-Kasselschen, und bis 1615
lutherische Universität des Hessen-Darmstädtischen Für-
stentums. Nach ihrer Restaurierung (1653) erfolgt darin
im Zeichen der Aufklärung der Kampf zwischen Theologie
und Philosophie, der nach der Berufung Christian Wolffs,
des Trägers der neuen Bildung der Zeit, mit dem Sieg
der Aufklärung endet. Mit dem allgemeinen Rückgang
der Universitäten kommen auch für Marburg Jahrzehnte
der Stagnation, bis mit dem Regierungsantritt Wil-
helms IX. ein spürbarer Aufschwung durch die Be-
rufung anerkannter Männer und Errichtung der ersten
Institute erfolgt. Einen erheblichen Wandel ihrer Le-
bensbedingungen erfährt die Universität in westfälischer
Zeit durch Vermehrung der Lehrkräfte und Ausge-
staltung der Lehrmittel, wenn sie auch einige Jahre um
ihren Bestand bangen mußte. Tie Wiederherstellung des
Kurfürstentums bedeutete für sie zunächst keinen Gewinn,
doch wurden in den letzten dreißig Jahren des Kurstaates
die Lehrmittel ausgebaut, neue Institute errichtet und
bedeutende Lehrer berufen. Der zweite Teil der Fest-
fchrift gibt in zahlreichen Einzeldarstellungen ein an-
schauliches Bild von der Gesamtentwicklung der Philippina
in den letzten sechzig Jahren. Damit besitzen wir nach
der Darstellung Justis von 1827 und der Monographie
Barrentrapps von 190-1 nunmehr eine umfassende, wür-
dige, auch die Gelehrten- und Wissenschaftsgeschichte ein-
schließende Darstellung der Entwicklung unserer Landcs-
universität als eines der wichtigsten Ergebnisse ihrer
vierten Säkularfeier. H.
und seines Werkes unter gleichzeitiger Betonung der
Bedeutung für unsere Zeit. Scharf umrissen zeigt
er die für die gesamtmenschliche Erscheinung Hauffs
so wichtige Entfaltung des Individuums zur Persön-
lichkeit, verkennt keineswegs die Unbekümmertheit des
sprachlichen Formens bei diesem fabelhaft raschflüssigen
Talent, die mehr dem Literaten als dem Dichter eignende
burschikose Art der Spottlust, weist auf die Abhängig-
keit seiner Erzählungen von der Empfindungswelt gleich-
zeitiger romantischer Dichter, andrerseits aber auch auf
die Vorzüge seiner, sich in gefühlsmäßigem Gegensatz
zu norddeutscher Überheblichkeit äußernden Bodenständig-
keit hin und hebt zum Schluß die ungelvöhnliche Be-
deutung sowohl seiner Märchen, in denen sich sein
ureigenster Schöpferdrang auslebt, als seines Meister-
Heiligenberg und Ruine Felsberg. Aufnahme von E. Braun-Kassel.
Aus: M Jaedicke, Naturschuh-Brevier. (Verlag g. Neumann-Neudamm.)
Scheller, Will. Wilhelm Hauff. Monogra-
phie. Leipzig (Phil. Reclam, jun.) 1927. 63 Seiten.
0.10 RM, gebunden 0.80 RM.
Angesichts der Tatsache, daß unter den Millionen,
die das Soldatenlied „Steh ich in finster Mitternacht"
oder das für seinen Dichter prophetische „Morgenrot"
singen, oder sich für den unverwüstlichen, Altschwaben-
land verherrlichenden „Lichtenstein" begeisterten, nur
die wenigsten den Namen ihres Schöpfers, des vor
hundert Jahren früh vollendeten, hochbegabten Wilhelm
Hauff, kennen, ist es hoch erfreulich, daß dieser neuen,
von Will Scheller geschriebenen Monographie des schwä-
bischen Romantikers schon als 27. Band der Reclam-
schen Dichter-Biographien weiteste Verbreitung gesichert
ist. Scheller folgt hier keineswegs bekannten Pfaden,
sondern gibt eine durchaus selbständige Wertung vom
Standpunkt der Gegenwart aus. Er faßt das Biogra-
phische aus einigen Seiten hinreichend zusammen und
legt den Hauptwert auf die Charakteristik des Dichters
Werkes, der „Phantasien im Bremer Ratskeller", hervor.
Alles in allem ist ihm auch Hauff „ein Fähnrich
geistiger Teutschheit im Vortrupp der unsterblichen
Kämpfer für die schöne Zukunft eines größeren, eini-
geren Vaterlandes". H.
H a ck, Johannes. Traute Heimat meiner
Lieben. Heimatklänge. Fulda (Fuldaer Actien-
druckerei) 1927. Mit zahlreichen Abbildungen.
175 Seiten. Preis gebunden 3.50 RM.
Mit diesem Büchlein bringt der Verfasser eine wert-
volle Bereicherung der heimatkundlichen Literatur. Es
schildert das Fuldaer Land mit all seinen Reizen und
Sonderkeiten, plaudert über Flachsbau, Spinnstuben,
Neujahr, Fastnacht, den Hutzelsonntag, Kirmes, Volks-
aberglauben, Wetterregeln, teilt allerhand aus dem
Sprachschatz der Fuldaer Landbevölkerung mit, bringt
Geschichtliches von der Milseburg, dem Kloster Fulda,
der Probstei Petersberg, vom Leinengewebe und der
Seidenzucht im Fuldaer Land und zum Schluß Hei-
245
matsagen. Namentlich der volkskundliche Teil bringt
viel wertvolles Material. H.
Jacob, Brun o. Geschichte des Dorfes Eschenstruth.
1126—1926. Kassel (H. Kemps) 1927. Mit 4
Tafeln Abbildungen. 48 Seiten.
Nach Bettenhausen konnte auch die Schwesternge-
gemeinde Eschenstruth an der Lasse ihr 800 jähriges
Bestehen feiern, nnd wie jenes, hat auch dieses einstige
Besitzstück des Klosters Kaufungen in Bruno Jacob seinen
bewährten Historiker gefunden. Eine 1126 zuerst ge-
nannte Gründung dieses Klosters, blieb es auch nach
der Reformation „noch stiftisch", nur das Kirchenpa-
tronat wurde der Landesherrschaft überschrieben. Wenn
dem Verfasser zur Abfassung auch nur wenige Wochen
zur Verfügung standen, so ist es ihm doch gelungen,
ein abgerundetes Bild der achthundertjährigen Geschichte
dieser Dorfgemeinde zu schaffen und vor allem ihre
Besonderheiten hervorzuheben. H.
Hessische Biographien. (Arbeiten der Histo-
rischen Kommission für den Volksstaat Hessen), in
Verbindung mit Karl E s s e l b o r n und Georg
L e h n e r t, herausgegeben von H e r m a n Haupt,
Band II, Lieferung 5 (Lieferung 9 der ganzen
Folge), Tarmstadt 1927, Hessischer Staatsverlag,
502 Seiten, 8°.
Mit dieser Lieferung wird der zweite Band der ver-
dienstvollen „Hessischen Biographie" abgeschlossen. Auch
dieser Band bietet wieder eine reiche Fülle von an-
ziehendem und belangreichem Lesestoff für Forscher und
Geschichtsfreunde. An erster Stelle steht ein Gelehrter
von europäischem Rufe, der Architekt und Kunsthistoriker
5) u g o v. R i t g e n, der Wiederhersteller der Wart-
burg. Sein Leben und Wirken ist liebevoll, aber ohne
Panegyrik dargestellt von einem seiner bedeutenderen
Schüler, dem Kunstforscher Albrecht Haupt. Daneben
sei noch besonders verwiesen auf die interessanten Le-
bensbilder des Schulmanns Adalb. Becker von
Esselborn, des katholischen Geistlichen Domin. Goy
von Lenhart, des deutschamerikanischen Politikers
Klauprecht von H. Haupt, des Forstmannes Engel
v. K l i p st e i n von Eulefeld, des Theologen K ö l l -
n e r von Schian, des Malers G. L u i a s von Lade,
des Mathematikers U m p f e n b a ch von Schlesinger.
Auch der Klavierbauer und Politiker M a r g u t h (von
H. Haupt), der Philologe I. H. S. Rumps (von
Lehnert), der Verwaltungsbeamte A. H. Schleier-
macher (von Esselborn), sowie noch mancher der
behandelten 38 Männer verdient besondere Beachtung.
Das Werk muß jedem Freund der hessischen Geschickte
hochwillkommen sein. Or. August Roeschen.
Jaedicke, Marie. Naturschutz-Brevier.
Dichtungen und Aussprüche im Aufträge der Staat-
lichen Stelle für Naturdenkmalpflege in Preußen
gesammelt. Mit 24 Bildtafeln. Neudamm (I. Neu-
mann) 1927. 120 Seiten. In Leinen gebunden
3.— RM.
Der Naturschutzgedanke ist längst nicht mehr nur
eine wissenschaftliche und ästhetische, sondern auch eine
ernste ethische, soziale und nationale Angelegenheit.
Das zeigen uns nicht zuletzt die zahlreichen Schöp-
fungen, in denen unsere Dichter in Lyrik und Prosa
Personalien.
Ernannt: Pfarrer Trübestein in Heringen zum
Pfarrer in Wolfsanger, Pfarrer extr. R o t h in Nieder-
vellmar zum Pfarrer in Albungen, Pfarrer oxtr. Troll
in Oberkaufungen zum Pfarrer in Trusen, Pfarrer
extr. Hopf in Niederaula zum Pfarrer in Rocken-
246
Eiche km Naturschutzgebiet Sababurg.
Aufnahme von S. Homann-Darmstadt.
Aus: M. Jaedicke, Naturschuh-Brevier. (Verlag I. Neumann-Neudamm.)
die Ehrfurcht vor der Natur gefordert und die Marie
Jaedicke äußerst geschickt in diesem vornehm illustrierten
Band gesammelt hat. Wanderer, Jäger und alle Natur-
freunde werden das schöne Werk, dem Walther Schoe-
nichen ein Geleitwort mitgab, in ihrer Bücherei nicht
vermissen wollen. H.
L. Hör witz. DieGesetzeum die bürgerliche
Gleich st ellung der Israeliten im ehe-
nialigen Kurhessen 1816 und 183 3.
Kassel, Selbstverlag 1927. 51. S.
Der Verfasser, der schon vor 20 Jahren über „die
Verwaltung. der judenschaftlichen Angelegenheiten in
Hessen" ein Büchlein herausgegeben hat, ist einer der
besten Kenner besonders jüdischer Familiengeschichte in
Hessen. Das zeigt sich auch in der vorliegenden Schrift,
die im Anhang nicht nur sämtliche jüdische Freiheits-
kämpfer von 1814/15, sondern auch ein umfangreiches
Verzeichnis jüdischer Handwerker in Niederhessen 1824
bis 1874 bringt. Außerdem enthält sie eine kurze
Würdigung des Journalisten Or. I. Pinhas nebst
einigen Briefen und Denkschriften aus dessen Feder.
Allen Interessenten sei das Büchlein warm empfohlen.
Ph. L.
süß, Pfarrer Adolf Hofmann in Kempfenbrunn zum
Pfarrer in Homburg, Hilfspfarrer Schröder in Hers-
feld zum Pfarrer in Lohrhaupten, Pfarrer C l e r m o n t
in Eschwege zum Kreispfarrer, Pfarrer F r i s ch k o r n
in Walllroth zum Pfarrer in Bischhausen, Pfarrer
Hebel in Niedergrenzebach zum Pfarrer in Fels-
berg, Pfarrverweser Lic. Maurer in Michelbach zum
Pfarrer daselbst, Pfarrer Schlier in Hilmes zum
Pfarrer in Bettenhausen, Heusinger von W a ld -
egg in Renda zum Pfarrer in Wernswig, Pfarrer
Itter in Langenselbold zum Pfarrer in Nordshau-
fen, Pfarrer oxtr. Lampe in Dudenrode zum Pfarrer
daselbst, Pfarrer extr. Strott in Fritzlar zum
Pfarrer in Lohne; die Oberlandjägermeister Krick
in Kassel (Wilh.) und Rudolph in Hanau zu
Landjägeroberleutnants; Reichsbahninfpektor Kröcker-
Bebra zum Oberinspektor, der Obersekretär Lothar G u t-
b e r l e t in Fulda zum Reichsbahninspektor; Regie-
rungsrat Eidinger zum Mitglied des Oberversiche-
rungsamtes; Amts- und Landrichter Steinmetz zum
Amtsgerichtsrat in Neukirchen, der Gerichtsschreiber des
bisherigen Gewerbe- und Kaufmannsgerichts der Stadt
Kassel, Richard Pinkert, zum Justizobersekretär beim
Arbeitsgericht in Kassel; die Referendare Dr. Rudolf
H u h n, Dr. Friedrich R o st o s k y, Dr. Herbert
Strauß uuo Hans Döring zu Gerichtsassessoren;
der Studienrat Prof. Dr. Wilhelm E n s z l i n am
Staatlichen Gymnasium Philippinum in Marburg zum
Oberstudienrat an einer staatlichen höheren Lehranstalt;
als solcher hat er die Stelle eines Fachberaters
des Provinzialschulkollegiums in Kassel erhalten;
der Studienrat Robert Laue am Staatlichen Fried-
richs-Gymnasium in Kassel zum Oberstudienrat und
Fachberater des Provinzialschulkollegiums; zu Konrek-
torinnen : die Lehrerinnen G o t h a n in Hanau und
Margarete Boesser in Kassel; zum Hauptlehrer: der
Lehrer Wißler in Floh; zum Kreisjugendpfleger:
Lehrer Adler, Datterode; die Katasterdiätare Fehl
in Gelnhausen, F r a n ck in Homberg, P e j a s in
Fulda und Ri es er in Wächtersbach zu Kataster-
sekretären; zu Landwirtschaftsräten: die Abteilungsvor-
steher Dr. Sprenger, T e n t e r, Dr. G r e v e, Dr.
Heßling und Dr. S ch a n b und Walter, soivie
die Direktoren der landwirtschaftlichen Schulen des Be-
zirks ; Oberschulrat Dr. Karl S o n d a g im Ministerium
für Wissenschaft, Kunst und. Volksbildung zum Vize-
präsidenten des Provinzialschulkollegiums in Kassel;
Studienassessor Konrad Hugo aus Eschwege zum Stu-
dicnrat an der hiesigen August-Vilmar-Schule; Amts-
und Landrichter Steinmetz in Eiterfeld zum Amts-
gerichtsrat und au das Amtsgericht Neukirchen, Kreis
Ziegenhain, versetzt; Staatsanwaltschaftsrat Dr. S ch m i tz
in Kassel zum Ersten Staatsanwalt beim Landgericht 3
Berlin, Staatsanwalt Dr. Knögel zum Staatsanwalt-
schaftsrat in Frankfurt a. M., zum Notar: Dr. Sieg-
fried C r a m e r in Frankfurt a. M.; zu Neichsbahn-
obersekretären die Reichsbahnsekretäre Dörr in Kassel,
I m g r u n ü in Grebenstein, zum technischen Reichs-
bahnobersekretär der technische Reichsbahnsekretär G r ä tz
in Kassel, zum Reichsbahnassistent der Reichsbahnbe-
triebsassistent Wieder in Treysa; zum Konrektor:
der Lehrer Ernst B e ck e r in Eschwege; zur Konrektorin:
die Hilfsschullehrerin Klenner in Kassel; .Kataster-
obersekretär B u s s i e k in Frankenberg zum -Kataster-
inspektor ; Landgerichtsdirektor Dr. B ü h r zum Prä-
sidenten des Landeskirchenamtes der Evangelischen Lan-
deskirche in Hessen-Kassel.
Übertragen: dem Förster Püschel zu Forsthaus
Theerhütte die Forstsekretärstelle Vöhl; probeweise, dem
überzähligen Förster Wille zu Rengershausen die
Försterstelle Theerhütte; dem Kassensekretür bei der
Kreiskasse Eisleben, Steinberg, unter Ernennung
zum Rentmeister die Verwaltung der Kreiskasse Hünfeld;
dem überzähligen Förster Lehne, Oberförsterei Zeller-
feld, die Försterstelle Lohrhaupten, Oberförsterei Flörs-
bach.
Bernsen: Lehrer Wenderoth -Obernhausen, ge-
bürtig aus Malsseld, an die deutsche Auslandsschule
(Realgymnasium) Sofia-Bulgarien; Gerichtsassessor Dr.
Ko hl Hauser an das Amtsgericht Eiterfeld; Ober-
landesgerichtsrat Dr. A u s f a r t h beim Oberlandes-
gericht Kassel als Kammergerichtsrat an das Kammer-
gericht uni) als hauptamtliches Mitglied der Großen
Justiz-Prüfungs-Kommission nach Berlin.
Endgültig angestellt: die Lehrer Karl Ru hl in
Waßmuthshausen, Setzkorn in Brotterode, Bern-
hardt in Treysa, K a l t s ch n e e in Wolferborn; die
Lehrerin Gerl ach in Wickenrode; der Schulamtsbe-
werber Löser in Weidenhausen; die Schulamtsbe-
werberinnen Heinzerling in Fambach, S ch r i m m
in Fritzlar.
Einstweilig angestellt: die Schulamtsbewerber Fröh-
lich in Heyerode und Kunow in Blankenbach; die
Schulamtsbewerberinnen Lange in Rotenburg, G e r -
l a ch in Wickenrode, Jungmann in Kassel und
Mies in Hanan.
In den Ruhestand versetzt: der Rektor Lumpe
in Borken; die Konrektoren Fett in Niederzwehren,
Riedel in Kassel und Stück in Steinau; der Haupt-
lehrer Schmidt in Breitenbach; die Lehrer Völker
in Schwebda und R i e b e l i n g in Wanfried, Kramer
in Naumburg, H c y d e in Zierenberg und Hetze! in
Schenklengsfeld; Amtsgerichtsrat Scheller in Hanu.-
Münden; Reichsbahnoberinspektor a. W. Freitag in
Kassel; der Musiklehrer am Staatl. Lyzeum zu Esch-
wege Organist S ch i n d e w o l f; die Revierförster
Topp in Niederklein und Belte in Ermschwerd;
die Hegemeister Keller in Caldern und Lübeck in
Oedelsheim; die Konrektoren Baum in Schmalkalden,
S i p p e l in Niederzwehren und Mittelschulkonrektor
Otto in Witzenhausen; der Medizinalrat Dr. Rose-
lieb in Wolfhagen; Reichsbahnobersekretär G u t h in
Kassel; Amtsgerichtsrat Pitel in Homberg.
Vermählt: Gerichtsassessor August Bürde und
Frau, Lotte, geb. Lucke (Zierenberg, 18. 8.); Rechts-
anwalr Dr. jur. Werner P a u l m a n n und Frau,
Hilde, geb. Kemna (Kassel, 19. 8.); Forstmeister Otto
R u m p f und Frau, Ellinor, geb. Schröder-Rykena
(Kassel, 20. 8.); Malermeister Georg Reuter und
Frau, Jda, geb. Heuse (Kassel, 20. 8.); Apotheker-
Otto W i t k u g e l und Frau, Mia, geb. Melzer (Hoch-
dahl-Gevelsberg, 27. 8.); Pfarrer Rudolf S ch l u n ck
und Frau, Martha, geb. Neuner (Schemmern); Ge-
richtsassessor Richard D e i ß und Frau, Hanni, geb.
Vockrodt (Essen-Kassel, 27. 8.); Privatdozent Dr. nmä.
Hans N a u j o k s und Frau, Marie-Luise, geb. Nffen-
orde (Marburg, 27. 8.); Ingenieur Walter F ü l l i n g
und Frau, Magdalene, geb. Heldmann (Gispersleben-
Kassel, 31. 8.); Baumeister Hans Sander und Frau,
Grete, geb. Thiel (Kassel, 31. 8.); Dr. med. Erich
Bewersdorff und Frau, Irene, geb. Schrader
(Kassel); Ingenieur Ernst Kroh und Frau, Elisa-
beth, geb. Marth (Fulda-Horas, 2. 9.); Gerichtsassessor
Dr. jur. Hugo Utermann und Frau, Leonie, geb.
Fenner (Hannover-Kassel, 3. 9.); Werner S ch ü l e r
und Frau, Ilse, geb. Springorum (Sultanabad, Persien,
z. Zt. Oberförstern Lübbesee, 5. 9.); Ingenieur Wil-
helm F a b e r und Frau, Elsbeth, geb. Sommermeyer
(Bremen); Oberingenicur Joachim Strobel und Frau,
Thilde, geb. Hermeyer (Borken, 11. 9.); Gerichts-
assessor Dr. Ludwig Kohlhaußen und Frau, Emma,
geb. Zölzer (Corbach, 15. 9.); Dr. jur. Karl G e h n i ch
247
und Frau, Dr. jur. Ilse, geb. Marx (Düsseldorf,
17. 9.); Dr. Fritz Kaufmann und Frau, Alice,
geb. Lieberg (Kassel, 18. 9.); Regierungsassessor Fried-
rich Kraft Freiherr @ cf) e n cf z u Schweins-
b e r g und Freifrau, Ellenmarie, geb. Andreae (Erm-
schwerd, 19. 9.).
Geboren: ein Sohn: Dr. weck. vet. Max Pfau-
zell und Frau, Margarete, -geb. Wagner (Guxhagen,
28. 8.); Rechtsanwalt Dr. Schilling und Frau,
Helene, geb. Renner (Magdeburg, 6. 9.); Major a. D.
Al e r k e l und Frau, Jda, geb. Mirbt (Marburg,
8. 9.); Dr. Ludwig Kleeberg und Frau, Maria,
geb. Sundheimer (Berlin-W., 9. 9.); Martin T u ch
und Frau, Eva, geb. Habich (Gut Metzlar, 10. 9.);
Postdirektor Dr. Wilhelm Fenge und Frau, Klara,
geb. Siebert (Essen, 11. 9.); Julius Schilling
und Frau, Linchen, geb. Sinning (Osorno, Chile);
Staatsanwaltschaftsrat Grau und Frau, Ilse, geb.
Knatz (Kassel, 12. 9.); Prof. Dr. Hans Burck-
Hardt und Frau, geb. Buchholz (Marburg, 14. 9.);
Kaufmann Hugo Scheyer uno Frau, Mieze, geb.
Mandt (Kassel, 17. 9.); Regierungsinspektor Karl
Waldmann und Frau, Rosel, geb. Kander (Kassel,
17. 9.); Zahnarzt Dr. H. Gebh a r d t und Frau,
Else, geb. Hechtelbevger (Halberstadt, 18. 9.); — eine
Tochter: Prof. Dr. v. Bruch hausen und Frau,
Marianne, geb. Bersch (Münster, 21. 7.); Zahnarzt Dr.
S ch m i t t d i e l und Frau, Katharina, geb. Rieger
(Kassel, 7. 8.); Reg.-Rat Dr. Z i n ck und Frau, Dia,
geb. Döhne (Elberfeld, 8. 8.); Zahnarzt Dr. Buchholz
und Frau, Alide, geb. Schröder (Borken, 10. 8.);
Pfarrer Hermann Kohlhausen und Frau, Hanna,
geb. Fürer (Frankenau, 15. 8.); Dipl.-Jng. Gustav
ft o e ft e r und Frau, Marga, geb. Rentrop (Dort-
mund-Dorstfeld, 26. 8.); Gewerbeoberlehrer Franz
Diel und Frau, Maria, geb. Wehner (Kassel, 29. 8.);
Pros. Wilhelm W i m m e l und Frau, Annemarie, geb.
Stoeckicht (Wertheim, 11. 9.).
Gestorben: Apothekenbesitzer Wilhelm Mardorf,
57 I. alt (Kassel, 9. 8.); Witwe des Geheimrats Dr.
Helene Brandt, 71 I. alt (Marburg, 11. 8.);
Lehrer Johann Heinrich W i s k e r (Leidenhofen, 12. 8.);
Dr. phil. Franz Salzer (Marburg); Ehefrau des
Bildhauers Lilli Renz (Kassel, 12. 8.); Präsident
des Landeskirchenamtes D. Karl Stamm, 56 I. alt
(Kassel, 13. 8.); Ehefrau des Rektors i. R. Marie
Hegemann, geb. Dreyer, 74 I. alt (Kassel, 13. 8.);
Förster Karl Schäfer, 60 I. alt (Forsthaus Rilsch,
13. 8.); Fräulein Lilli von Winckler (Fulda,
13. 8.); Silberschmieo Heinrich A l t h a n s, 64 I.
alt (Kassel, 14. 8.); Witwe des Stadtsekretärs Frieda
B e y e b a ch, geb. Schulze (Hersfeld, 15. 8.); Witwe
des Rechnungsrats Walburga P a p p e r t, 73 I. alt
(Frankfurt, 15. 8.); Witwe des Rechnungssekretärs
Christiane W i e d e m a n n, geb. Berninger (Kassel,
15. 8.); Ehefrau des Hospitalbaumeifters Rose Bindet,
geb. ftempf (Kassel, 15. 8.); Sägewerkbesitzer Wilhelm
Dehler, 50 I. alt (Langenbieber, 16. 8.); Ober-
landesgerichtsrat Heinrich Götte, 59 I. alt (Kassel,
16. 8.); Pfarrer Wilhelm L ö b e r, 55 I. alt (Har-
muthsachsen, 17. 8.); Witwe des Eisenbahnobersekretärs
Charlotte Fröhlich, geb. Frese (Kassel, 18. 8.) -
Generalmajor Rudolf v. Pfister, 86 I. alt (Kassel,
18. 8.); Gewerbeoberschullehrerin Käthe Preist, 38 I.
alt (Kassel, 18. 8.); Frau Elsbeth von Hundels-
hausen, geb. Freiin von Oeynhausen, 83 I. alt
(Kassel-W., 19. 8.); Witwe des Waisenhauskassierers
Kath. Süßmann (Kassel, 20. 8.); Förster Heinz
F i e s e l e r, 38 I. alt (Wiltingen); Privatmann Hein-
rich Drude, 81 I. alt (Grebenstein, 24. 8.); Karl
August N h r h a n, 25 I. alt (Bebra, 25. 8.); Pfarrer
Paul Hart mann, 52 I. alt (Neuses, 25. 8.);
Buchdruckereibesitzer Heinrich Guntrum, 79 I. alt
(Schlitz); Justiz-Hauptkassenrendant Albrecht K o r n -
r u m p s, 72 I. alt (Kassel); Ehefrau des Bankiers
Martha Herzog, geb. Keller, 50 I. alt (Kassel);
Witwe des Steinbruchbesitzers Mathilde L a ck e m a n n,
geb. Warnecke (Carlshafen): Ehefrau des Verwaltungs-
Oberinspektor Margarethe F a b e r, geb. Bust, 51 I.
alt (Kassel); Witwe des Fleischermeisters Luise H e l -
w i g, geb. Hellwig, 72 I. alt (Kassel); Kreisbrand-
meister Simon, 69 I. alt (Hünfeld); Kaufmann
Moses Höxter, 85 I. alt (Zimmersrode, 26. 8.);
Eisenbahnobersekretär i. R. Heinrich Flamme, 60 I.
alt (Oeynhausen); Oberstudienrat Prof. Dr. Paul
Weinmeister (Leipzig, 30. 8.); Rektorswitwe He-
lene Voigt, geb. Vorstands, 81 I. alt (Marburg,
30. 8.): Mühlenbesitzer Christian Klein, 62 I. alt
(Schwelzmühle, 31. 8.); Ehefrau des Försters Aenne
Schindewolf, geb. Schindewolf, 34 I. (Friede-
Wald, 31. 8.): Lehrer a. D. Wilhelm H e e g e r, 78 I.
alt (Hersfeld, 4. 9.); Bahnhofswirt Wilhelm Echter-
meyer, 40 I. alt (Melsungen, 5. 9.); Frau Haupt-
mann Marie W a n k e l, geb. Jentsch (Fulda, 5. 9.);
Justizinspektor Heinrich Kaufeld (Kassel, 8. 9.):
Regierungsoberinspektor Karl Paulus, 64 I. alt
(Kassel, 9. 9.); Leiter des Deutschen Archäologischen
Instituts in Rom Prof. Dr. Walter A m e l u n g
(Nauheim, 12. 9.); Frau Elisabeth vonStraustund
Torney (Witzenhausen, 12. 9.); Frau Gustchen M ar-
tin ) o h n, geb. Schöppach, 28 I. alt (Kassel, 13. 9.);
Maurermeister und Ziegeleibesitzer Robert W ö l b i n g,
83 I. alt (Hersfeld, 13. 9.); Regierungslandmesser a. D.
Karl Ludwig F i s ch e r, 67 I. alt (Marburg, 14. 9.);
Volkschullehrer i. R. Heinrich Ohl, 71 I. alt (Hanau);
Frau Emilie Beyer, geb. Neu, 85 I. alt (Kassel-W.,
15. 9.); früherer Gutsbesitzer vom Rittergut Meisebach,
Franz Noll, 86 I. alt (Hersfeld, 15. 9.); Privat-
mann Heinrich Eisengarthen, 82 I. alt (Kassel,
16. 9.); Verwaltungsgerichtsdirektor i. R. Dr. zur. Jo-
hannes P i u t t i, 69 I. alt (Kassel, 20. 9.); Witwe
Elisabeth H o h m a n n (Niederhone, 20. 9.); Ober-
lehrer Hermann Walter, 62 I. alt (Kassel, 21. 9.);
Witwe des Prof. Martha S p i tz b a r t h, verw. Ruch,
geb. Kunold (Kassel, 22. 9.); Freifrau Anna R i e d -
e s e l zu E i s e n b a ch, 75 I. alt (Eisenbach).
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248
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Schriftleiter Paul Heidelbach, Kassel. Unter Mitwirkung von Bezirkskonservator Baurat vr. H o l tmeyer, Kassel,-
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Zweig Kassel,- Verein für Naturkunde, Kassel,- Geologischer Verein, Marburg,- Biologische Vereinigung, Marburg,-
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39, Jahrgang Heft 11/12 Kassel, November Dezember 1927
jpefftfcfye Beziehungen zu Erfurt. Von Bruno !Zacob.
Das 15). Jahrhundert sah in einem bis dahin
nicht gekannten Ausmaße die Weitung des hessi-
schen Einflusses ans die Territorien seiner Um-
gebung. Die Soester Fehde stellte Beziehungen
her zu den Grafen lind Herren in Westfalen und
an der mittleren Weser, Göttingen und Schwein-
filrt traten in ein Schutzverhältnis zu Hessen, und
die wetterauischen Grafen traten wie jene von
Schwarzburg irr den hessischen Lehnsverband.
Und zu diesen auswärtigen Beziehungen der
Landgrafschast kam dann auch noch eine jahre-
lange enge Verbindung mit der Stadt Erfurt.
Diese Stadt nahm damals eine eigenartige Stel-
lung ein, wie das ja im Mittelalter nicht allzu
selten war, als der Staatsbegriff sich noch nicht in
seiner Starrheit herausgebildet hatte und die Ho-
heitsrechte der Territorialfürsten sich vielfältig mit
anderen Rechten kreuzten oder verbanden. Wahr-
scheinlich sind die Erzbischöfe von Mainz
durch ottonisches Privileg die Stadtherren von
Erfurt geworden (man erinnere sich, daß der geist-
liche Besitz damals noch mehr Streubesitz ivar,
als der weltliche), aber indem der Stadtrat immer
mehr Befugnisse in seiner Hand vereinigte, ge-
wann er — wie das für eine solche Exklave nur
zu natürlich ivar — auch für die Stadt eine
freiere Stellung, als sie sonst Landstädten eignete.
Und indem die Deutschen Könige der Stadt und
ihrem Rate die Privilegien bestätigten und Kaiser
Friedrich II., der Staufer, die Stadt in seinen
besonderen Schutz nahm, war ihr Charakter dem
einer Reichsstadt ziemlich ähnlich, zumal Ru-
dolf von Habsburg der Stadt auch noch das Recht
äs non svoeunäo verlieh. Es war damit eine
Doppelstellung der Stadt geschaffen, ähnlich jener,
rvie sie auch andere Frei- und Reichsstädte be-
saßen, die sowohl einem geistlichen Herrn als auch
dem Reiche schwuren' In mehreren Anschlägen von
1431 wird Erfurt ausdrücklich unter den Frei-
und Reichsstädten genannt. Aber auch noch ein
dritter Faktor ivar bezüglich der staatsrechtlichen
Stellung Erfurts in Betracht zu ziehen. Das
Haus Wett in, das seit 1247 außer der Mark
Meißen auch die Landgrafschaft Thüringen be-
herrschte, geivann in Erfurt eine Stellung als
Schutzmacht, als Erfurt in dem Kampfe zwischen
dem Kaiser Friedrich III. und Erzbischof Dieter
von Mainz gegen ben letzteren sich stellte. Da
auch Herzog Wilhelm von Sachsen-Thüringen auf
der Seite des Kaisers stand, so war ja diese
Schutzherrnstellung die gegebene.
Aber die Stadt Erfurt suchte sich nun auch
noch selbst zu sichern. Und sie fand in dem alten
Rivalen des Mainzer Erzstuhles, in der Land-
grafschast Hessen, den geeigneten Vertragspartner.
Daneben auch fand Erfurt noch Verbündete in
den Grafen von Henneberg und Gleichen in Thü-
ringen.
Was diese Verträge besonders auch für die hes-
sische Geschichte interessant inacht, ist, daß sie die
e r st e n S ubsi di env ertrüge darstellen, die
die Landgrafschaft abschloß. Während der Bündnis-
vertrag mit Göttingen sich auf gegenseitiger Waf-
fenhitfe aufbaute, zahlte in diesem Falle die reiche
Handelsstadt Erfurt lieber ein laufendes Schutzgeld
und sicherte ferner noch für den Ernstfall den
Unterhalt der ihr zuziehenden Streitkräfte zu, ähn-
lich tvie auch im 17. Jahrhunderte noch die reiche
249
Stadtrepublik Venedig ihre Subsidienverträge mit
deutschen Fürsten abschloß, u. a. auch mit dem
Landgrafen Karl vor: Hessen.
Jene von Erfurt mit der Landgrafschast Hessen
abgeschlossenen Verträge erscheinen in den städ-
tischen Rechenbriefen unter der Bezeichnung: „die
kleine und große Vertracht".1
Die „kleine Vertracht" war ein mit beiden
Linien des Hauses Hessen abgeschlossenes Schutz-
bündnis, das zuerst am 5. August 1468 mit dem
Landgrafen Heinrich III., dem Reichen, auf 20
Jahre abgeschlossen ward. Sein Bruder, Land-
graf Ludwig II., der Freimütige, schloß einen
gleichen Vertrag im Juli 1470, und nach seinem
Tode traten seine beiden Söhne, Wilhelm I. und II.
am 23. Juni 1472 in diesen Vertrag ein,
dessen zwanzigjährige Tauer nun von diesem Ter-
mine an rechnete, und am 18. September 1491.
auf weiter zwanzig Jahre verlängert wurde. In
die Zeit seines Ablaufes fällt dann die Revolution
von 1509, die die Blüte der Stadt knickte, und
in deren Verfolg auch Erfurt zu einer Landstadt
von Kurmainz herabgedrückt ward. Datum und
Urkunde über die Verlängerung des Abkommens
mit Landgraf Heinrich kennen wir nicht, aber
Quittungen und Rechenbriefe erweisen auch diese.
Auch wissen wir nicht, wie hoch die nach btefeit
Verträgen von Hessen geforderten Leistungen waren,
jede der beiden hessischen Linien erhielt aus diesen
Verträgen jährlich die Sunime von 150 Gulden.
Besser wissen wir Bescheid über die „große Ver-
tracht". Sie war mit dem Landgrafen Heinrich III.
am 1. Juni 1479 auf neun Jahre abgeschlossen.
Erfurt hatte an den Landgrafen jährlich 1000 Gul-
den zu zahlen, wogegen sich dieser verpflichtete,
vier Wochen nach Ersuchen des Rates diesem 1000
Reisige oder auch weniger gegen jedermann, nur
Kaiser und König ausgenommen, um den Preis
von 1 Gulden für Wache und Pferd zu stellen.
Über Schaden an Pferd und Harnisch wurden die
üblichen Bedingungen ausgemacht, auch finden sich
weitere Bestimmungen über das Abschätzen der
Pferde, Kündigung usw. Sollte Erfurt aber in
große Not kommen, so ivill der Landgraf auch noch
mehr Mannschaften zu Fuß oder zu Roß stellen.
Nun liegt zwar keine aktenmäßige Darstellung
vor, ob und >vie einmal dieser Vertrag wirksam
ward. Aber eine Angabe aus dem Jahre 1480,
daß die „Bedienten" des Landgrafen 5433 Schock
(Groschen) bekamen, veranlaßte Benary, dieser
Spur nachzugehen. Er berechnet, daß die hier ge-
nannte Summe ausreichte, um 100 Reisige ein
ganzes Jahr lang zu verpflegen, und daß also
damals ein hessisches Observationskorps tatsächlich
im Felde gestanden, nimmt er infolgedessen als
sicher an. Vermutlich im kurmainzischen Eichs-
felde, und dieses hat dann wohl auch verhindert,
1 Dr. Friedrich Benary: Zur Geschichte der Stadt
und der Universität Erfurt am Ausgang des Mittel-
alters. (Gotha 1919) S. 181 f.
250
daß Erfurt damals in seinem Konflikte mit Kur-
mainz und Wettin belagert wurde.
Die „große Vertracht" ivard nach Ablauf nicht
erneuert und scheint, 1479 abgeschlossen, bestimmt
gewesen zu sein, die schon damals drohenden Ge-
fahren abzufangen. — —
Die oben skizzierte selbständige Stellung der
Stadt Erfurt brach, wie schon gesagt, das Jahr
1509, und damit auch die Außenpolitik dieses Ge-
meinwesens.
Aber neben und vor dem hier gezeichneten poli-
tischen umschlang ein anderes, geistiges Band Hessen
und Erfurt. Erfurt war, wenn man so sagen darf,
bis zur Reformation hessische Landesuniversität,
etwa vergleichbar der Stellung, die heute Göttingen
für das Land Braunschweig einnimmt.
Die Universitäten sind in ihrer Entwicklung Kin-
der der Säkularisierung der Wissenschaften-, aus
den Klosterschulen wuchsen die Wissenschaften her-
aus, indem zuerst Schulen einzelner Fakultäten,
sich entwickelten, die dann zuerst durch Zusammen-
schluß dieser aus italienischem Boden zu Univer-
sitäten wurden ihnen folgte die Pariser Sor-
bonne, die zuerst alle vier Fakultäten in sich ver-
einigte. — Nach ihrem Muster ward die erste
deutsche Universität gestiftet, jene zu Prag, durch
Kaiser Karl IV., den Luxemburger (1348),
und bald folgte auch neben anderen Städten Er-
furt mit der Eröffnung der Universität am
28. April 1392. Ihre Stiftungsbulle aus dem
Jahre 1379 hatte schon auf Ansuchen der Stadt
Papst Clemens VII. ausgestellt, für die Gründung
und die Unterhaltung des Institutes sorgte allein
der Stadtrat, und mit denr Untergänge der städti-
schen Freiheit war auch die Blüte dieser Pflanz-
stätte der Wissenschaft gebrochen. — Eine zusammen-
hängende Geschichte der Universität und auch gerade
aus ihren besten Tagen, besteht nicht. Kritisch
herangetreten an das bislang veröffentlichte Ge-
schichtsmaterial ist Benary (der viel zu früh
im Weltkriege Gefallene), um zu einem im ganzen
vernichtenden Resultate zu kommen. „Für die
Universität Erfurt vor der Reformation existiert
weder eine Verfassungsgeschichte noch eine Mate-
rialsammlung nach Keussenschem Muster. Eine Ge-
schichte dieser Hochschule bis zur Glaubensspaltung
zu schreiben ist daher vorläufig noch nicht möglich.
Eine solche Darstellung wäre aber dringend er-
wünscht, nicht nur in Hinblick auf den Entwick-
lungsgang Martin Luthers, sie wäre auch von
2 Bergt. Karl Lamprecht: Deutsche Geschichte Bd. V, 1.
S. 195 ff. (Freiburg 1904.)
3 Eines der wichtigsten Vorbilder für die deutschen
Universitäten, vornehmlich auch der ersten zu Prag,
war die i. I. 1224 durch den Staufer Fried-
rich 11. und seinen Kanzler Peter v. B i n e a ge-
gründete Universität Neapel, »vorauf Ales-
sand r o, Gras B o s d a r i in seinem Aufsätze „Aus
der Geschichte der Universität Neapel" in den „Preuß.
Jahrbüchern 1924, Bd. 198, S. 258, mit besonderem
Stolze hinweist.
nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Er-
kenntnis des deutschen Geisteslebens dieser Zeit.
Hat doch ein Kenner der mittelalterlichen Hoch-
schulge>chichte, wie Denifle, ausgesprochen, daß die
Universitäten ,damals fast noch mehr als heute,
die Brennpunkte der geistigen Tätigkeit gewesen
sind'."4
Viel Tinte und Papier ward allein verschwendet,
um Erfurt zu einem Hauptbrennpunkte des Hu-
manismus zu stempeln, so namentlich durch K a m p-
schulte5, dessen Darstellung Benary einmal 6 als
„Kampschultes Roman" abstempelt, um dann nach-
zuweisen, daß die „via antiqua" und die „via
moderna“ sich nur auf den Unterschied deduktiver
und induktiver Lehrmethoden beziehen. — Was
an Einzelheiten irr den Darlegungen Benarys sich
findet, z. B. über die „Bursen", die Konvikte der
Studenten, und die Kollegien, zu denen sie zähl-
ten 7 8, sei hier übergangen, da es uns zrr weit
abführen würde.
Aber welch lebhaftes Interesse wir Hessen haben
müssen au der Universität Erfrrrt und ihrer Ge-
schichte, erhellt anr ehesten aus der Tatsache, daß
S t ö l z e l ^ für die Zeit von 1392,—1500 die
Zahl der zu Erfurt studierenden Hessen aus rund
2000 angibt, also auf das Jahr 20. Erfurt hatte
dabei eine Höchstfrequenz von 800 Studenten, in
Deutschland bestanden damals überdies nur acht
Universitäten (Prag, Wien und Löwen einge-
rechnet).
Als mit dem ausgehenden Mittelalter die Wis-
senschaften auch „hoffähig" wurden (noch hundert
Jahre zuvor war Landgraf Herinann der Gekehrte,
„der Baccalaureus", eine seltene Ausnahme), be-
zog auch Landgraf Wilhelm der Jüngere zusammen
mit seinem Kapellan im Jahre 1493 die Uni-
versität Erfurt. Bis zum Jahre 1508 hatten zwölf
Hessen zu Erfurt die Rektorenwürde bekleidet, unter
denen besonders Dr. H e i n r i ch R u h l a n d, der
spätere Dekan des Kasseler St. Martinsstiftes
und der Vertraute Landgraf Wilhelms II., ein
Allendörser Kind, sich auszeichnete. Xlnb als im
Jahre 1501 Martin Luther sich als ,Martinas
ludlrer ex manslelt" immatrikulieren ließ, tvaren
es vier Hessen, vermutlich seine Freunde, inmitten
derer sein Name in der Matrikel erscheint.
Zu den glänzendsten hessischen Namen aber ge-
hören im Zusammenhange mit der Erfurter Uni-
versität in den Tagen des Humanismus und der
frühen Renaissance die beiden Brüder Platz
aus Melsungen, Konrad Muth aus Homberg
4 Benary a. a. O. S. 2 f. (des gesondert pagi-
nierten Abschnittes UI).
b Benary a. a. O. S. 14 (Abschnitt UI).
6 Dr. F. W. Kampschulte: Die Universität Erfurt
in ihrem Verhältnisse zu dem Humanismus und der
Reformation. (Trier 1858.)
7 Benary, a. a. O. S. 67 (Abschnitt III).
8 Dr. Ad. Stölzel: Studierende der Jahre 1368 bis
1600 aus dem Gebiete des späteren Kurfürstentums
Hessen. Zeitschrift N. F. Suppl. V. (Kassel 1875.)
a. d. Efze und E o b a n u s Koch aus Halgehausen
nahe Haina.9
Konrad Muth, latinisiert tu Mutianus Rusus,
der enge Beziehungen zu bett Erfurter Humanisten-
kreisen unterhielt, lebte als Kanoniker zu Gotha,
sein älterer Bruder, der gleich ihm zu Erfurt
studiert hatte, holte sich 1483 zu Bologna den
Doktorhut, ward 1500 hessischer Kanzler und Stif-
ter des Marburger .Hofgerichtes.
M u t i a n u s R u f u s wird ja als der Gründer
des älteren Humanistenkreises, des nach ihm ge-
nannten „mutianischen", angesprochen, und eine
neuere Untersuchung vott Paul Kal ko ff 10
schafft auch da über die Einzelheiten endlich Klar-
heit. Es kann hier nur kurz auf die Er-
gebnisse eingegangeit werden. Mutianus Rufus
ist danach auch der Lehrer Luthers gewesen,
der aber später von seinem Schüler und dessen
Lehren nichts wissen wollte. Einmal war ihm
alle Theologie fremd und er lehnte sie nach
feiner humanistischen Einstellung ivohl fast völlig
ab — trotz seines Kanonika.es —, dann aber war
er auch durch seine Pfründe so an die alte Kirche
gefesselt, daß er schon um seiner äußeren Existenz
willen kein Interesse für die geistlichen Neuerungen
haben konnte. — Nicht ohne landsmännisches In-
teresse darf man auf das Eingreifen in die Wirren
zu Erfurt zu Beginn des 16. Jahrhunderts blicken,
das sich Ulrich v. Hutten leistete, wenn auch
frühere Darsteller dessen Rolle erheblich über-
schätzt und übertrieben haben. Hutteirs Vater, der
zu dem Mainzer Hose enge Beziehungen besaß,
stand gänzlich im Lager der alten Kirche und er-
scheint hier auch vorübergehend in bcu Erfurter
Wirren. — Was diese selbst angeht, so mag gesagt
sein, daß wir in ihnen versachungsgeschichtlich
wertvolle Parallelen zu sehen haben zu den Kämp-
fen, die sich gegen Ausgang des 14. Jahrhunderts
in den hesjischen Städten abspielten: anch hier die
Landesherrschaft (Knrmainz in Erfurt) ans der
Seite der Demokratie und der niederen Zünfte gegen
das überständige und verknöcherte Patriziat, wobei
angesichts der in Erfurt sich zugleich abspielenden
religiösen Kämpfe der Geistlichkeit die Rolle als
Führerin der demokratischen Strömungen ganz von
selbst zufiel, was Kalkofs scheinbar zu sehr im
9 Ta wir hier die Kreise der Humanisten, vor-
nehmlich auch die des Reuchliu und des Erasmus streifen,
sei für die Freunde dieser geistesgeschichtlichen Epoche
aus ein neues Werk hingewiesen, das allerdings noch
nicht in deutscher Sprache vorliegt: Erasmus, door I.
Huizinga. 288 S., Haarlem, 1924, Verlag 5p. D.
Tjeenk-Willinck. Die des Holländischen nicht Kundigen
seien auf die englische Übersetzung in der Serie „wteat
Houa, vers" (London, Ch. Scribner's Sons) aufmerk-
sam gemacht, doch sagt der Verfasser mit Recht, daß
manche Feinheit des Originals in der Übertragung
verloren ging.
10 Paul Kalkoff: Humanismus und Reformation
in Erfurt (1500—1530). (Hal.e a. S., Buchyandlung
des Waisenhauses, 1926, 98 S., Preis 5— RM),
insbeionoere S. 6 ff.
251
Gesichtswinkel des Protestantismus bewertet. —
Soweit übrigens die Bürgerschaft sich dann der
Reformation zuwandte, stand sie im Bannkreise
Kursachsens, das natürlicherweise auch seine kirch-
lichen Interessen politisch auszuwerten verstand;
— der Ansatz zur Reichssreiheit, der in Erfurt
vorhanden gewesen war, beruhte auf der Herrschaft!
der Stadt über die reichsfreie Herrschaft Kapellen-!
darf: auch hier möge eine hessische Parallele noch
erwähnt werden, nämlich daß die Reichsstandschaft
der hessischen Landgrafen aus der Belehnung mit
der Reichsstadt Eschwege und der Reichsburg Boyne-
burg ursprünglich beruht hatte. ■— Erfurt hatte
alw nach dieser Analogie alle Anwartschaft aus
die Erlangung der völligen Reichsfreiheit, die jedoch
in dem Kampfe von 1492 unterging. 11
Recht reiches Material besitzen wir über den
oben zuletzt genannten Eobanus Koch, den Dichter
Hel ins Eobanus Hess ns. Dieser war am
6. Januar 1489 als Sohn des Teich- und Fisch-
meisters des Klosters Haina geboren und hatte
durch den dortigen Abt Dietmar die erste Schul-
bildung empfangen.* 12 Was allerdings in der Bio-
graphie von Krause gesagt wird über den Kamps
der Generationen au der Universität Erfurt, die
der 16 jährige Eoban bezog, muß au .Hand der
oben berührten Benary'schen Angaben revidiert
iverden.13 Die Universität hatte der Jüngling
int Jahre 1504 bezogen, aber schon im nächsten
Jahre begann ein Vorspiel des großen Aufstandes
von 1509, als das städtische Proletariat mit den
Studenten zusammenprallte. Dann trieb der Aus-
bruch der Pest die Studenten aus der Stadt aus
die Wanderschaft, die auch Eoban mit mehreren
seiner Kommilitonen und Magister bis in seine
engste Heimat, nach Frankenberg, führte.
Rach Erfurt zurückgekehrt, trat Eobanus in Be-
ziehungen zu Mutianus Rufus, der ganz im Geiste
der Renaissauee eine rationalistische Bibelkritik übte,
ivobei man an Erscheinungen unserer Tage er-
innert wird, an Lehren, die sogar die Existenz
Christi in Frage stellten. Eobanus tvar dein
älteren Mutian durch ein Gedicht näher getreten,
vermutlich 1506, und dieser dankte dem jungen
Poeten. — Ohne uns in Einzelheiten des Ver-
hältnisses beider Männer zueinander zu verlieren,
sei hier nur noch aus das eingegangen, was die
Beziehungen Eobans zu Erfurt direkt berührt. Der
arme Bauernsohn ward zuerst bei seinen Studien
durch den Abt und den Konvent zu Haina unter-
stützt, dann nahm sich seiner ein anderer hessischer
Landsmann an, vielleicht aus Empfehlung des
Hainaer Abtes. Es war Johann e s Lasst h e,
Titularbischof, Domherr und Universitätslehrer.
Sein eigentlicher Name tvar Johannes Bonemilch
(Bonaemilius) und er entstammte dein Orte Lasphe
an der oberen Lahn. Auch aus einer armen Familie
n a. a. O. 2. 1.
12 Dr. Karl Krause: Helms Eobanus Hessus. Sein
Leben uno seine Werke. 2 Bände. (Gotha 1879.)
" a. a. O. I, 2. 25.
entsprossen, war er im kurmainzischen Dienste nach
Erfurt gekommen, und dort hatte er sich durch
seine Gelehrsamkeit und Geschäststüchtigkeit empor-
gearbeitet. 1503 war er Rektor der Universität —
daß er wohlhabend getvordcu war, erkennen wir
daran, daß er im Jahre 1500 eine Seitenkapelle
der Michaelskirche aus seine Kosten erbauen ließ.
Ihm widmete nun auch Eobanus sein 1507 im
Druck erschienenes Lobgedicht aus die Universität,
das 600 Hexameter umfaßte. Und im gleichen
Jahre erlangte durch des Domherrn Vermittlung
Eoban das Rektorat der Stiftsschule zu St. Sevcri,
einer „Trivialschule", in der die grammatischen
Elemente des Lateins den Mittelpunkt des Unter-
richts bildeten. Doch schon im nächsten Jahre
wieder büßte er diese Stellung sowohl als auch
einen Freitisch bei seinem Wohltäter ein. Es scheint
die Ursache gewesen zu sein, daß die Knaben dieser
Schule unrühmlich abstachen gegen die Schule an
St. Marien, was er aus ihrer Trägheit erklärt.
Jedenfalls ward ihm die Arbeit erschwert, auch
durch den Verlust des Freitisches völlig unlohnend,
zumal dann der Bischof und Domherr im Jahre
1508 abdankte und 1510 starb. Vermuten dürfen
wir auch hier bei dein Konflikte, daß der Dichter
Eobanus manchmal mit dem Schulmeister durch-
gegangen ist.
Als daun der Dichter im Jahre 1509 die Ma-
gisterwürde ertvorben hatte und wohl auch noch,
davon den üblichen Gebrauch machend, an der
Universität gelesen, schied er im Spätherbst jenes
Jahres aus der Stadt, die mit seinem literarischen
Werden so eng verknüpft ist.
Aber ivieder kehrte er nach Erfurt zurück, um
dort, inmitten des politisch und sozial verfallen-
den Gemeinwesens eine glänzende Stellung in der
dort immer noch sich sammelnden Poetenschaft ein-
zunehmen. Dort empfing ihn 1514 sein Lands-
mann, E u r i c i u s Cordus, seit 1513 ein Ge-
nosse des mutianischen Kreises, dessen Haupt, Mu-
tianus Rufus, ihn auch wieder begeistert ivill-
kommen hieß.
Sich mit dem Schwulste jener damals vielbe-
ivunderten Dichtungen auseinanderzusetzen, hieße
den Lesern dieser Zeilen reichlich viel zumuten,
auch die Beziehungen der Erfurter Humanisten zu
Erasmus Roterdamus 9, den Eobanus besuchte, wür-
den zu weit von unserem Thema ablenken; — er-
wähnt mag nur noch iverden, daß nach der Stel-
lungnahme des Erasmus gegen Luther auch Eoba-
uus sich gegen die Erfurter Reformationspartei
ivandte. Er war, gleich seinem freidenkerischen
Lehrer und Freunde Mutianus, der am 30. März
1526 aus diesem Leben schied, angewidert durch die
oft stürmischen Begleiterscheinungen der Reforma-
tion. Die Ästheten konnten nicht begreifen, daß
sie mitten in einem welthistorischen Umwertungs-
prozesse standen, und so klammerten sie sich an
das ihnen noch scheinbar feste Alte.
Nicht allzu gut kommt Eobanus Hessus
weg in der Darstellung K a l k o f f s, der ihn als
252
„weinseligen Poeten" apostrophiert, „mit dem un-
unterbrochen strömendem Fluß seiner lateinischen
Verse, im übrigen ein spießbürgerlich schwacher
Geist, den Mutian selbst tresfend mit den Worten
kennzeichnete: egregius poeta, sed Simplex et
rerum ignarus". „Eine unselbständige Natur ohne
tiefere religiöse Einsicht", sagte er sich sogar 1523
aus Ärger über den Rückgang der Hochschule in
dem „Briese der bedrängten Kirche an Luther"
von der Reformation und deren Führer in Erfurt
los, um bald darauf reumütig zu ihm zurückzu-
kehren". "
Eobauus Hessus war nur möglich in einer pro-
testantischen Umwelt, besser präzisiert vielleicht: in
einer individualistischen Welt. Und so ging er
1526 als Lehrer wieder in eine protestantischle
Stadt, nach Nürnberg, um allerdings von dort
aus erneut nach Erfurt zu ziehen, zum dritten
Male (1533).
Aber der Freundeskreis, dessen Zentrum Mu-
tianus gewesen war, und dessen in Erfurt sicht-
bares poetisches Haupt er selbst war, war mit
dem Verfalle der Universität uud dem Rückgänge
der Stadt als politisches Einzelwesen zerstoben. Nur
wenig vermochte der Dichter dort zu schaffen, — und
so bereitete er sich zu einer Rückkehr in die Heimat
vor, die sich ihm auch mit einer Berufung an die
ncugegründete Universität Marburg öffnete. Nur
wenige Jahre noch, dann schied der mit Ehren
aufgenommene, vom Landgrafen Philipp hochge-
ehrte und mit einem Hause beschenkte, aber von
Krankheit schwer geplagte Dichter in der Nacht zum
4. Oktober 1540 aus diesem Leben.
M u t i a n u s und Hessus sind wohl die
Hessen gewesen, die zu der .Hochschule Erfurt die
innigsten Beziehungen besaßen, - durch deren Nie-
dergang und das Auskommen der Universität
M a r b u r g, die nunmehr für Hessen die Lau-
desuniversität geworden war, mußte das hessische
Interesse an der Universität Erfurt stark
zurückzutreten.
Trotzdem aber haben sich einige Beziehungen noch
aus späterer Zeit nachweisen lassen. Die Stadt
Kassel verfügte über ein Erfurter Sti-
pendium, über das sich noch einige urkundliche
Belege im Kasseler Stadtarchiv erhielten, ohne daß
damit die ganze Geschichte dieses Stipendiums auf-
gehellt wäre.
Wir hören von einem solchen Stipendium zuerst
im Jahre 1611; am 19. April dieses Jahres ver-
spricht Hieronymus Dan st adt der Stadt
Kassel für dessen Verleihung (>vohl zu Beginn des
Sommersemesters) seine besonderen Dienste.
Das nächste Zeugnis datiert vom 14. Juni
1614. An diesem Tage verspricht Johann Wil-
helm L i p s i u s zu Er f u r t, nachdem Bürger-
meister und Rat zu Kassel aus Antrag seines
Vaters, des Dr. D. Lipsius zu Erfurt, ihm ihr
dortiges Stipendium übertragen haben, daß er
" Kalkoff a. a. O. S. 12 s.
später auf Erfordern in erster Linie der Stadt
Kassel dienen werde; sollte er sich aber etwa der
genossenen Bezüge unwürdig erweisen, so werde
sein Vater diese zurückerstatten.
Der zugehörige Revers des Vaters, des Dr. phil.
et med. und gekrönten Poeten David Lipsius,
Bürgers zu Erfurt, erweist, daß das Stipendium
auf zwei Jahre dem Sohne erteilt war; er ver-
pflichtet sich, den Sohn zur strengsten Befolgung
der in der Fundation niedergelegten Bestimmungen
anzuhalten, und beruft sich im übrigen auf die
Bürgschaft des Kollektors I o h a n Rudolf s.
Er verspricht gemeinsam mit diesem wieder das
Stipendium in den früheren Stand zu bringen,
er erhofft aber dazu auch die schriftliche Unter-
stützung durch den Rat zu Kassel.
Johann R u d o l p h, wie er sich in einem
weiteren Schriftstücke vom gleichen Tage selbst nennt,
war Prokurator und Notar zu Erfurt und vom Rate
zu Kassel aus zehn Jahre zum Verwalter (Kollektor)
des erwähnten Stipendiums bestellt, das eine Fun-
dation derer v. Hundelshausen zu Harmuth-
sachsen war. Er bekennt, daß er die Einkünfte des
Stipendiums dem Justus Wilhelm Lipsius und in
dessen Abwesenheit von Erfurt dessen Substituten
Bartholomäus H u b n e r richtig zustellen
werde, auch daß er sich für die Verwaltung mit
den angewiesenen Bezügen begnügen werde. Er
seinerseits benennt wieder den schon erwähnten
Dr. David Lipsius als seinen Bürgen.
Das letzte Zeugnis über dieses v. Hundels-
hausensche Stipendium im Kasseler Stadtarchiv
datiert aus dem Jahre 1630, vom 26. März.
Wir erfahren daraus, daß wechselsweise ein v. Hun-
delshausen und ein Bürgerssohn von Kassel zum
Genusse präsentiert iverden sollten, da aber der
Aussteller des Reverses, H i e r o n y m u s R u -
d o l p h u s S ch m i d t ein Erfurter Kind war, so
erklärt er, daß daraus nicht etiva Gewohnheitsrecht
werde und ferner, das; die Zinsen (Simpeln) des
„Benefizes" in .Höhe von 20 Gulden von ihm
ordentlich und stistungsgemäß verwandt tvürden,
und daß er dem Rate zu Kassel für die Über-
weisung des Stipendiums später willig zu Diensten
stehe. Wir hören aber aus dem Aktenstücke noch
iveiter, daß nun die Verwaltung des Stipendiums
bei Magister I u st u s H e c c e l i u s von der
Juristenfakultät lag.
Wir haben in diesen Schriftstücken wohl die
letzten Zeugnisse zu sehen für die Verbindung des
Hessenlandes mit der Stadt Erfurt und der Uni-
versität dort, die erst einging (1816), nachdem die
Stadt preußisch geworden war.
War auch die politische Verbindung der Stadt
mit Hessen durch die „große" und die „kleine Ver-
kracht" nur eine Episode, so gewann die Uni-
versität Erfurt doch in der vorreforma-
torischen Zeit eine bleibende Bedeutung für das
dainalige hessische Geistesleben und sein sich schn-
lendes gelehrtes Beamtentum.
253
Salomon de Severy.
Im Jahre 1911 ist zu Lausanne ein Buch er-
schienen, das m. W. in Hessen keine Beachtung ge-
sunden hat, obwohl es schätzenswerte Beiträge zur
hessischen Geschichte des 18. Jahrhunderts enthält:
„M. et Mme- William de Severy, La vie de
societe dans le pays de Vaud ä la sin du
18. siede. Lausanne, Bridel et Cie.“ Ter erste
Band dieses großen, reich ausgestatteten Werkes
bringt u. a. das Leben des Erziehers des ersten
hessischen Kurfürsten, Salomo ndeCharriere
d e S e v e r y, aus dem ick) einiges mitteilen möchte,
zumal mir zu meinem Leidwesen dies Buch bei
meiner Bearbeitung der Biographie Kurfürst Wil-
helms I. entgangeit ist.1
Salomon de Charriere, der fid) gewöhnlich nur
nach dem Namen eine» Lehnsgutes seiner Familie
de Severy nannte, wurde am 4. Juni 1724 zu
Lausanne geboren. Früh vaterlos, wurde er von
seiner Mutter, einer geborenen Du Clere, erzogen,
kam dann nach Basel in das Hans eines Pfarrers
Merian, studierte dort und in Paris die Rechte
und wurde 1746 Jnsticier zu Lausanne und Cor-
nette in der Kompagnie der waadtländischen Va-
sallen. Aus altem edlen Geschlecht, aber ohne
größere Geldmittel, sah er sick) genötigt, im Jahre
1748 eine Stelle als Erzieher des Grafen Fried-
r i d) Wilhelm von I s e n b u r g - B i r st e i n
anzunehmen, mit dem er die damals übliche In-
formationsreise nach Frankreich, Lyon und Paris
mad)te. Jur Jahre 1750 lernte Landgraf Wil-
h e l m VIII. den jungen Schweizer in Hanau kennen
lind veranlaßte ihn, irr hessische Dienste zu treten
und die Erziehung seiner Enkel, der drei Söhne
des Erbprinzen F r i e d r i d), zu übernehmen. Am
1. Januar 1751 trat er sein neues Amt an und
erlvarb fiel) nicht nur die Liebe seiner Zöglinge,
der Prinzen W i l h e l m, Carl und Friedrich,
sondern auch besoitders das Vertrauen von deren
Mutter, der Erbprinzessin Marie, geb. Prin-
zessin von England, die den Schweizer ihren „vier-
ten Sohr: Siegfried" zu trennen pflegte. Im Fa-
milienarchiv der Severys liegen gegen 200 Briese
der Fürstin, die eine ungewöhnlich fleißige Brief-
schreiberin und hochbegabte Frau lvar, tvie die
von Erid) Meyer in seinem schönen Buche „Maria
Landgräsin voir Hessen" (Gotha 1894) veröffent-
lichten Auszüge ans dem Briefwechsel mit ihren
Söhnen dartiln. Im Jahre 1752 folgte die Mutter
Severys ihrem Sohne nad) Kassel, starb aber schon
nad) zwei Jahren und wurde in der Oberneustädter
Kirche begraben.
In seinen Briefen, die er an Lausanirer Ver-
wandte richtete, lernen wir S. als einen geistvollen,
klugen Mann kennen, der dabei leid)tlebig und
1 Ich verdanke meine Bekanntschaft mit dem Bache,
das in allen mir bekannten größeren Bibliotheken fehlt,
der Güte des Herrn vr. A. H e l b i g zu Charlotten-
burg.
Von Oi-. Philipp Losch.
verliebt das Kasseler Hofleben in vollen Zügen ge-
noß, ohne jedod) seine Pflichten als Prinzenerzieher
zu vernachlässigen. 1752 war er Zeuge der tzoch-
zeit der Prinzessin W i l h e l m i n e, Tod)ter des
Prinzen Maximilian von Hessen, die am 17. Juni
den Prinzen H e i n r i d) von Preußen, Bru-
der Friedrichs des Großen, heiratete, eine Feier,
die großen Eindruck auf ihn madjte, besonders der
Fackeltanz: „Nad) dem Souper kam eine Zeremonie,
von der wir zuhause keine Vorstellung haben. Alle
Generäle, Generalleutnants, Generalmajore und
alle vom selben Rang aber nicht darunter ergreifen
eine große bremrende Fackel und formieren unter
Vorantritt von Trompetern und Paukern einen
ganz grotesken Tanz; Sie können sich vorstellen,
was das heißt, diese alten Herrn mit ihren großen
Perücken zu sehn; ihnen folgt die Braut mit dem
stellvertretenden Bräutigam und dann die andern
Prinzen und Prinzessinnen zu zweit und alle tan-
zend; so mack)en sie eilt paar Touren durch den
Saal und danir ist die Feier zu Ende." Ans-
führlick) sckstldert er and) den tränenreichen Ab-
schied der Prinzessin von Kassel, wobei er die An-
gabe des Kasseler Metzgers Gunkel bestätigt, der
als Augenzeuge berichtet: „sie hat sehr gesd)reiet
im Durchfahren durch die Stat hüben zum Thor
heraus".
Severy verkehrte viel in der Familie des Ober-
sten R i e d e s e l, dessen Tod)ter Lore er vergeb-
lich umschwärmte. Unvergeßlid) blieben ihm auch die
kleinen Landpartien mit der Erbprinzessin, Miß
Kemp und den Prinzen, wobei es kaltes Rebhuhn
gab „avec la petite sauce faite de la belle
main de la beauty“, und als er später mit den
Prinzen nad) Göttingen übersiedeln mußte, ge-
dad)te er oft an diese Partieen, wie die Juden an
die Fleisd)töpfe Egyptens, und es sd)ien ihm, als
ob er auch schon 40 Jahre in der Wüste sei.
Dabei dauerte diese Göttinger Wüstenzeit (die
ich im zweiten Kapitel meines „Kurfürst Wil-
helm I." beschrieben habe) kaum zwei Jahre. Dann
kam der Abschied; die Prinzen gingen nad) Kopen-
hagen und Severy kehrte nad) Lausanne zurück.
Aber nicht für lange; denn nach dem Tode Land-
graf Wilhelms VIII. berief die nunmehrige Land-
gräfin Ni a r i c ihren getreuen „Siegfried" wieder
aus der Schweiz und sandte ihn ihren Söhnen
nack) Dänemark nack), um sein Erziehungswerk zu
vollenden. Mitten durck) die Schrecknisse des Sieben-
jährigen Krieges führte der Weg des Sckjweizers,
der jetzt den Titel eines Legationsrates führte.
In Kassel kam er grade in beit Tagen an, als
die Franzosen die Stadt zum vierten Male ein-
nahmen. 2 Das heißt die „Franzosen" waren eigent-
lick) Sachsen unter dem Prinzen Lader. Das Haus,
- Auszüge aus seinen damaligen Briefen aus Kassel
habe ick) in der Sonntagsbeilage zum Kasseler Tageblatt
vom 20. Februar 1927 veröffentlickst.
254
in dem S6very logierte, ivurde von mehreren Ku-
geln getroffen, von denen eine auf ein Bett neben
seiner Kammer fiel. Unter mancherlei Fährlich-
keiten gelangte er nach Celle, wo die Landgräfin
wohnte, stellte sich in Braunschweig dem Land-
grafen Friedrich II. vor und erreichte am
21. Oktober 1760 Kopenhagen, von den Prinzen
stürmisch begrüßt. Severy fand seine Zöglinge
vortrefflich entwickelt. „Sie sind gute Kinder"
schrieb er nach Hause, „der Älteste zeigt große
Anhänglichkeit an mich. Er ist immer bei mir,
wenn es seine Zeit erlaubt. Gewöhnlich weckt er
mich. Seine Freundschaft ist schmeichelhaft; denn er
ist kein Kind mehr, das sich jedermann an den
Hals wirft. Ich hoffe, daß er ein Musterfürst
werden wird; seine Ansichten und sein Urteil sind
gut; er hört gern auf die Stimme der Vernunft
und läßt sich überzeugen." Auch die Verlobung
Wilhelms mit der dänischen Königstochter
Karo l ine fand Ssverys Beifall, ebenso wie die
Braut selbst: „Sie ist sehr klein aber hübsch und
wohlgestaltet und hat angenehme Züge. Man
sagt viel Gutes über ihren Charakter, ihre Laune
und ihren Geist; alle, die sie kennen, sind ihr sehr
zugetan, also glaube ich, daß wir uns da eine
richtige Perle (un petit bijou) geholt haben. Das
Idyll ist vollständig; dem: die zukünftigen Gatten
lieben sich gegenseitig in der Unschuld und Ein-
fachheit ihrer Seelen, was nicht immer der Fall
ist bei Personen ihres Ranges; ich hoffe also, daß
diese Verbindung glücklich sein wird, für den Prin-
zen kann ich schon einstehn, daß er seiner Fraü
treu sein und ihr keinen Grund zur Eifersucht
geben wird." Ein guter Prophet ist demnach dieser
Severy nicht gewesen, und es spricht auch nicht
für seine Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe,
daß er offenbar gar nicht merkte, daß die Ehe
des Prinzen vom ersten Tage an höchstunglücklich
und ein wahres Martyrium für beide Gatten war.
Nach der Hochzeit begleitete Severy die Neu-
vermählten nach Hanau als Hofmeister der jungen
Erbprinzessin, der er sehr zugetan war, blieb jedoch
nur ein halbes Jahr in seinem Amt und kehrte
im März 1765 in seine schweizer Heimat zurück.
Hier heiratete er ein Jahr später Catherine
de Chandieu, wodurch er der Schwager des
Obersten Juste de Constant, des Vaters von Ben-
jamin Constant, wurde.3 Seine Frau gebar ihm
zwei Kinder, einen Sohn Wilhelm, bei dem
der hessische Erbprinz, und eine Tochter Angle-
t i n e, bei der der Oberjägermeister v. Berlepsch
und Frau die Patenschaft übernahmen. Im Winter
1774/75 war Severy mit seiner Familie in Hanau
und lebte als bevorzugter Gast des Erbprinzen im
Schlosse. Der Erbprinz selbst kam nicht dazu, diesen
Besuch zu erwidern, das tat aber sein Bruder
Friedrich, der im Jahre 1780 eine Reise in
3 Eine andere Schwester der Frau v. Ssvery,
Adrianne, war mit einem Grafen Ludwig Theodor von
Nassau verheiratet gewesen und lebte, von ihm ge-
schieden, mit einem Sohn ebenfalls in Lausanne.
die Schtveiz machte und in Berit und Lausatine
sehr gefeiert ivurde. „Es ist unerhört," schrieb
Severy an seine Frau aus Berm, „was für Ehren
und Höflichkeiten der Prinz hier empfängt; der
Kaiser würde nicht so gefeiert werden. Er hat die
Besuche des Offizierkorps in oorpor6 empfangen,
die ganzen Regierungsbehörden, und — was ganz
ungewöhnlich ist — der regierende Schultheiß hat
ihm seinen Besuch gemacht! Heute geben ihm die
holländischen Offiziere (Schweizer in niederländischen
Diensten) einen Ball, und für die ttächste Woche
haben die Spitzen der Behörden ihn zum Ball ge-
laden, und — was man noch nie erlebt hat —
keiner hat dagegen gestimmt! Der Saal wird auf
öffentliche Kosten dekoriert und mit seinem Wap-
pen und Namenszug geschmückt." Der Prinz war
tief gerührt über die vielen Aufmerksamkeiten und
schrieb nach seiner Heimkehr einen langen Brief
an Severy, worin er nicht Worte genug finden
konnte, um seine Dankbarkeit über den Empfang
in der gastlichen Schweiz auszudrücken. Aus Rum-
penheim schickte er Sprößlinge seines Gartens, die
zur Erinnerung an seinen Aufenthalt im Schloß-
park von Mex4 gepflanzt wurden.
Zwölf Jahre später erhielt Severy noch ein-
mal einen Besuch eines hessischen Prinzen, des
Erbprinzen Wilhelm, des Sohnes seines ehemaligen
Zöglinges. In Begleitung seines Gouverneurs von
Dörnberg und eines Herrn von Schenck war der
spätere K u r f ü r st W i l h e l m II. 1792 drei Wochen
lang in Lausanne, wo ihn die Familie Severy mit
offenen Armen empfing. Dort traf er auch eine
weitläufige Verwandte, die Herzogin Marie von
Bouillon, geborene Prinzessin von Hessen-
Rheinfels, die „aus einer Campagne wohnt und
bey ihr ein Prinz Salm, der sie auch beständig auf
ihren Reisen begleitet". Sie war eine Schwester des
Landgrafen von Rotenburg und seines verrückten
Bruders Carl Constantin, der bald darauf als
Charles .Hesse unter die Jakobiner ging. Der junge
Erbprinz schloß sich besonders an den ihm fast
gleichalterigen Wilhelm Severy an, und als im
Herbst 1792 die politischen Unruhen seine Rückkehr
nach Hessen veranlaßten, da schrieb Frau von
Severy an ihren Wilhelm: „Der Prinz und seine
Begleiter waren untröstlich, die Schweiz verlassen
zu müssen; aber die Frau Landgräsin war zu be-
sorgt. Sie liebt ihren Wilhelm zärtlich, lote man
diese Wilhelms liebt — ein bißchen zu sehr für
die Ruhe der Mütter." Denn auch sie hatte Grund,
besorgt zu sein: ihr Wilhelm war in Colmar,
in nächster Nähe der Revolution.
Im nächsten Jahre 1793 starb S a l o m o n de
Ssvery am 29. Januar nur neunundsechzig Jahre
alt in seiner Vaterstadt Lausanne und seine Witwe
folgte ihm am 17. Januar 1796. Mit ihrem Tode
hörten die Beziehungen der Familie zum hessischen
Fürstenhaus auf; denn wenn auch der letzte Kur-
4 Im Jahre 1780 erbte Severy von seinem Onkel
die Herrschaft Ssvery und die Hälfte von Mex.
255
fürst, dem Beispiele seiner Vorgänger folgend, 1822
eine Informationsreise in die Schweiz machte, so
sind doch Einzelheiten darüber nicht bekannt ge-
worden. Alles, was Ed. Rud. Grebe in seiner
Wilhelm Dilich.
In einem Vortrag, zu dem die Bundesgruppe
Marburg des Universitätsbundes Marburg und der
.Hessische Geschichtsverein in den großen Hörsaal
des Physikalischen Instituts eiu geladen hatten,
sprach am 18. November Prof. Dr. E. Stengel
über „W i l h e l m Dilich, einen hessischen Kar-
tenmaler des Frühbarock, und seine Stellung in
der Geschichte der Kartographie". .Hessen war eines
der deutschen Länder, in denen der Territorial--
staat schon in der zweiten Hülste des 16. Jahr-
hunderts begann, genauere Landkarten, ja Landes-
vermessungen zu schaffen: ein Sohn und ein Enkel
des berühmten Kartographen Gerhard Mercator sind
damals hier tätig gewesen; und Landmesser wie
Markgraf und Moers haben eine ganze Reihe von
wertvollen Kartenaufnahmen hinterlassen. Auf den
Schultern dieser Generation von Vorläufern steht
Dilich, ein Zeichner von längst bekannter und ge-
würdigter Bedeutung, ausgerüstet mit der univer-
sellen, polyhistorischen Bildung seiner Zeit, der
technisch-physikalischen und der historisch-philolo-
gischen. Anziehend sind schon die Übersichtskärtchen,
mit denen er seine verschiedenen geschichtlich-geo-
graphischen Werke, vor allem die „Hessische Chronica"
von 1605, ausgestattet hat; Originalität besitzen
sie freilich nur in der Zeichnung, sonst sind sie
abhängig von verschiedenen Vorlagen. Zu völliger
Entfaltung kam Dilichs kartographische Begabung
erst in der großen Landesaufnahme, die er 1607
im Auftrage des Landgrafen Moritz des Gelehrten
begann nach einem auf etwa 170 Blätter veran-
schlagten Plane, der allerdings so umfassend war,
daß der Meister ihn wohl kaum hätte durchführen
können, auch wenn nicht das tragische Zerwürfnis
mit seinem Landesherrn — ein höchst unerfreuliches
und für den Landgrafen nicht rühmliches Ka-
pitel — der Arbeit Dilichs 1622 ein Ziel gesetzt
hätte. Erhalten sind von seinen Aufnahmen —
außer 38 zumeist schon früher, wenn auch in recht
unvollkommener Weise, veröffentlichten Burgen-
rissen — 30 „Landtafeln" von z. T. sehr großen
Ausmaßen, die Mehrzahl in der Kasseler Landes-
bibliothek, nicht wenige int Marburger Staats-
archiv, eine im landgräflichen Archiv zu Philipps-
ruhe. Dilich begann seine Vermessungstütigkeit im
hessischen Rheinlande, d. h. in der Herrschaft Epp-
stein und in der Niedergrafschaft Katzenellenbogen
(Langenschwalbach, St. Goarshausen, St. Goar,
Rheinfels mit Pfalzfeld, Braubach mit der Marx-
burg, Rhens), setzte sie dann fort in der Grafschaft
Ziegenhain und in deren Nachbarschaft (Neukirchen,
1902 erschienenen Biographie Kurfürst Friedrich
Wilhelms I. darüber berichtet, beruht auf einer Ver-
wechselung mit der Schweizerreise Kurfürst Wil-
helms II.
Neuenstein, Wallenstein, Jesberg, Schönstein), dann
vor allem im Amte Melsungen, aus dem allein fünf
Tafeln vorliegen: er arbeitete auch im Diemel-
lande, im Kaufunger Wald, im Hünfeldischen, bei
Momberg, in und bei Marburg und Kirchhain.
Die Bedeutung dieser Karten beruht ans der Viel-
seitigkeit des Mannes, der sie schuf. Als technische
Leistungen überragen sie weit alles, was sonst die
Zeit hervorbrachte; die Vermessungssehler sind meist
erstaunlich klein. Einen starken Einschlag bilden die
geschichtlichen und archäologischen Interessen des
Meisters: Grabdenkmäler aller Zeitalter, merk-
würdige Bauwerke, wie der Königsstuhl bei Rhens,
beleben vielfach das Bild. Vor allem aber ist
Dilichs Kartographie Kunst. Davon zeugen nicht
allein die reizvollen Landschaftsansichten, die er
in die Ecken einzelner Tafeln einfügte, und die
prachtvollen Kartuschen in niederländischer Manier,
mit denen er Titel und Signaturen umkleidete.
Nein, die Karte selbst ist bei ihm, wie nie zuvor
und vielleicht nie wieder danach, im ganzen und
bis in die feinsten Einzelheiten als lebendige Land-
schaft gesehen und gestaltet und mit einem Ge-
schmack der Farbengebung durchgeführt, die jeden
Beschauer entzücken muß. Höchste Weihe aber er-
fuhr diese Kunst erst durch die Heimatliebe ihres
Schöpfers; das Preislied der Schönheit des Hessen-
landes, das er in seiner „Chronik" gesungen, klingt
auch in ihr wieder. Kein Zweifel, daß dieses Werk
Meister Dilichs, von dem der Vortragende durch
viele farbige Lichtbilder eine Vorstellung vermit-
teln konnte, alles, was zu seiner Zeit auf diesem
Gebiete künstlerischer Kartographie sonst in Deutsch-
land geleistet worden ist, in Schatten stellt. Jhnl,
dem bisher fast unbekannt Gebliebenen, zu der ihm
gebührenden Würdigung zu verhelfen, die ganze
Sammlung mit Ausnahme weniger nicht repro-
duktionsfähiger Stücke in einer farbengetrenen Wie-
dergabe zu veröffentlichen, war längst eine Pflicht
der hessischen .Heimat des Künstlers, die er so
liebevoll mit ihm geehrt. Anlaß und Möglichkeit
bot das Marburger Universitätsjubiläum dieses
Sommers. Der damals, als Festgabe des „Ge-
schichtlichen Atlas von Hessen und Nassau", über-
reichte Band, der u. a. von der Notgemeinschaft
deutscher Wissenschaft, vom Bezirksverband Hessens-
Kassel und vom Universitätsbund Marburg stark
gefördert tvorden ist, liegt nunmehr im Buchhandel
vor; der Elwertsche Verlag hat eine Subskription
eröffnet, die bis zum Ende des Jahres läuft.
256
Ein eigen- und einzigartiges Museum. V°» p. Schilling.
Mehr noch als durch ihre bedeutsamen Maschinen-
und Seifenfabriken ist Offenbach am Main, die
größte Industriestadt des jetzigen Freistaates^ Hessen,
durch ihre Kunst in der Verarbeitung von Feinleder
bekannt geworden. Dank ihrer hohen Entwicklung
geht — selbst den Kriegs- und Nachkriegsereignissen
zum Trotz — die hier angefertigte Ware noch heute
in alle Welt hinaus, wenn auch dem Absatz sich ge-
waltige, früher ganz unbekannte Hemmnisse in den
Weg gestellt haben: im Lande selbst schädigt die Luxus-
steuer' diesen wichtigen Geschäftszweig, und den Ex-
port haben Sanktionen und Reparationszölle erschwert.
Der eigentliche Schöpfer der Offenbacher Lederin-
dustrie war Fürst Karl vou Isenburg. Noch während
der napoleonischen Zeit machten sich zivei Ofsenbacher
Buchbindergeselleu, Johann Georg Klein und Jakob
Mönch, aus den Weg nach Wien, wo die edle Kunst
der Feinlederverarbeitung schon lange in Blüte stand,
um sich dort nicht nur beruflich zu vervollkommnen,
sondern auch zu lernen, wie mau Geldbörsen und
Brieftaschen herstellt. Ausgerüstet niit neuerworbenen
Kenntnissen und Fertigkeiten, kehrten die Genannten
in ihre, damals noch zu isenburgischem Besitz zählende
Vaterstadt zurück, jedoch wollte es ihnen nicht gelingen,
den neuen Industriezweig, der heute in Offenbach,
Frankfurt, Hanau und Umgegend Tausenden Brot ge-
währt, einzubürgern, da sie bei den fürstlichen Räten
durchaus kein Verständnis fanden. Klein, als der ener-
gischere von beiden, wandte sich in seiner Not direkt
an den Fürsten Karl, der ihn zivei Monate lang in.
seiner Residenz Birstein praktisch arbeiten ließ und,
nachdem er sich von der Wichtigkeit der neuen Branche
für Offenbach überzeugt hatte, ihr durch einen humor-
vollen Streich Eingang verschaffte. Der Offenbacher
Chronist erzählt darüber: „Es ivar im Jahre 1812,
uitD Weihnachten stand vor der Tür. Da veranstaltete
Fürst Karl für seine Familie und die Wächtersbacher
Herrschaften eine eigenartige Christbescherung. In Ge-
genwart verschiedener Offenbacher Beamten, die zur
Weihnachtsfeier besonders geladen waren, verteilte er
die von Klein gefertigten Papp- und Lederarbeiten.
Bei jedem Gegenstände lag ein von Lehrer Mathes in
Fischbach bei Birstein in sauberer Kanzleischrift an-
gefertigter Zettel, der die Worte trug:
Hochfürstlich Privilegierte
UortekouiUö Uubrigue
von
Isenburg, Klein u. Comp."
Der Fürst hatte sich im Scherz als Teilhaber be-
zeichnet, um den Beamten in deutlicher Weise nahezu-
legen, den Bestrebungen Kleins hinfüro nicht mehr
hinderlich iin Wege zu sein. Reichlich beschenkt, kehrte
Klein als „Hof-Kartonier und UortekeuiUosFabrikant"
in vierspännigem fürstlichem Wagen nach Offenbach
zurück und gründete hier sofort eine „Fabrik mit der
Firma I. G^ Klein sen.". — Diese besteht noch heute
gleich dem Schwesterunternehmen von Jakob Mönch.
Denn >vas ist im Laufe der Zeit aus diesen an-
fangs so kleinen Betrieben und ihrem Arbeitsgebiete
geivorden? Es gibt auf Erden sicher nur ganz wenige
Städte, die es verstanden haben, durch getrennte und
doch wieder Hand in Hand gehende Arbeit auf einem
volkswirtschaftlich hochbedeutsamen Industriegebiet sich
zu derartig straffer, umvidersprochener Geltung zu brin-
gen wie Offenbach. Veranlaßt durch das ' Bedürfnis
der immer zahlreicher werdenden Fabriken für feine
Lederwaren, die heute nach Hunderten zählen, und
deren Besitzer sich zu einem „Verbände Deutscher Leder-
Industrieller E. V." zusammengeschlossen haben, ent-
standen auch am Platze für die bei der Lederver-
arbeitung erforderlichen Gürtlerwaren Spezialunterneh-
mungen sowie Gerbereien, Schuhfabriken und eine
chemische Industrie für die Lieferung von Lederfarb-
und Ledergerbstoffen, so daß wir mit Recht Offenbach
als die „Hochburg der Lederarbeit" bezeichnen dürfen.
Somit erscheint es als ein ganz natürlicher Gedanke,
gerade in Offenbach alles zu sammeln, was irgend-
wie mit dem Leder und seiner Verarbeitung zusammen-
hängt, und es ist eigentlich erstaunlich, daß es so lange
gedauert hat, bis jemand auf ihn gekommen ist und ihn in
die Tat umzusetzen versucht hat. Erst in dem weit über
die Grenzen des Volksstaates hinaus bekannten Archi-
tekten und Direktor der Offenbacher Technischen Lehr-
anstalten, Prof. Hugo Eberhardt, erstand dieser Mann.
Das Endziel seines Planes ist, eine Sammlung zu-
sammenzutragen, die in möglichst lückenloser Darstel-
lung das Leder nach seinem Werdegang, Wesen, seiner
Verarbeitung und seinem Gebrauche bei alleu Völkern
der Vergangenheit unb Gegenwart zeigt. Fürwahr ein
hohes Ziel, das sich natürlich nur mit Unterstützung
der hessischen Lederindustrie, der deutschen Ledcrfach-
kreise, von Wissenschaftlern und Gönnern erreichen
lassen wird.
Dieses Museum ist zunächst für den Ledersachmann
bestimmt, um ihn über alles, was im Wandel der
Zeiten auf seinem Arbeitsgebiete geschaffen worden ist,
zu unterrichten. In diesem Punkte unterscheidet sich
wohl das Offenbacher Ledermuseum von den meisten
anderen Museen, da bei ihnen das fachlich Interessie-
rende gegenüber dem, was allgemein bildend wirkt,
zurücktritt. Jedoch schließt diese Absicht, wie schon
heute ein, wenn auch nur flüchtiger Gang durch die
bis jetzt zusammengetragenen Schätze beweist, nicht den
hohen Wert, den sie auch für den Kunstgewerbler über-
haupt, den Künstler, Geographen, Naturwissenschaftler
usw., mit einem Worte für jeden Gebildete'.: haben
müssen, aus. Noch etwas unterscheidet unsere Samm-
lung wesentlich von anderen. Während diese nur den
fertigen Gegenstand vor Augen stellen, sehen wir hier
auch den Arbeitsvorgang und das Arbeitsgerät.
Der Aufbau des Museums ist, wie folgt, geplant. —
Abteilung I bringt das Leder in seinem Werdegange:
Präparierte Tiergruppen, deren Felle zu Leder ver-
arbeitet werden; rohe Häute, die Rohstoffe der Ger-
berei und Lederindustrie, Gerbstoffe und Gerbstoffex-
trakte, chemische und sonstige Gerbe- und Appreturmittel,
Darstellung der verschiedenen Weifen des Gerbens, Ver-
anschaulichung des Produktionsumfanges und der wirt-
schaftlichen Bedeutung der Ledererzeuguug.
Abteilung II enthält die Lederverarbeitung: das Leder
in Handwerk, Gewerbe, Kunstgewerbe und Industrie
unter besonderer Betonung des kunstgewerblichen Ab-
schnitts, da gerade dieser sehr geeignet ist, auch das
große Publikum zu fesseln und die übrigen Museen auf
bewußtem Gebiete nur „unter anderen:" einzelne
Stücke — besonders schöne Leder-, Besteckkasten, Koffer,
Futterale usw. — zeigen. Hier hingegen soll der Be-
sucher durch die kunstgewerbliche Arbeit aller Zeit-
alter geführt werden.
Eigene Unterabteilungen sind weiter dem Leder-Buch-
einband, der Bauernkunst in der Lederware und der
Lederverarbeitung der außereuropäischen Völker zuge-
257
dacht. In diesem umfangreichen Bilde kommt selbst-
verständlich auch die Offenbacher Feinlederverarbeitung
nicht zu kurz. Eine geschichtlich-statistische Übersicht gibt
Auskunft über Geschäftsgang. Preisbewegung des Ma-
terials, Löhne, Zahl der Arbeiter und Betriebe.
Hieran schließen sich Schuh und Handschuh im Wan-
del der Tage, das Leder in Orthopädie, Industrie
(Treibriemen, an Maschinenteilen) und im Haushalt,
Lederimitationen und Verwendung von Lederabfällen.
Endlich wird eine Museumsbibliothek alle sich mit
Leder und 'Ledercnbeiten befassenden Werke aufnehmen
und eine photographische Sammlung die lückenlose Er-
gänzung der vertretenen Gegenstände nach der künst-
lerischen, aeographischen, naturwissenschaftlichen und tech-
nischen Seite hin bilden.
Der Leser hat inzwischen gemerkt, das; das „Offen-
bacher" oder rich'iger gesagt, das „Deutsche" Leder-
museum nur noch e i n Gegenstück besitzt und zwar in
dem Buch^ewerbemuseum zu Leipzig. x
Profe'sor Ebechardt begann im Jahre 1916 mit der
SammelarWit. und man muß staunen über die g'.oß-
arck^en Erfolge seiner Sammetkunst und seines Fach-
wissens. besonders darum, weil hier ein einzelner Mann
Stzlck für Stück alles durch persönliche Bitten und
Schreiben zusammengebracht und eingeordnet hat.
Das Museum selbst, das anfangs provi'orisch in
der Aula. einem Nebenraume und im Treppenhause der
Technischen Lehranstalten nntergeb acht war, wurde an-
läßlich des Remerungsjubiläums des letzten Großher-
zogs von Hessen am 11. März 1917 eröffnet. Sein
Schöpfer hat sich nicht in seiner Zuve"sicht geirrt. Der
seit jenem Tage in Verwirklichung begriffene Gedanke
fanö und findet Anklang. Reiche Stiftungen von In-
dustriellen sind dem Museum zugegangen, unter denen
an erster Stelle die außerordentlich wertvollen Zu-
wendunaen des Geheimen Kommerzienrates Ludo
Maver-Ostenbach und die der Offenbacher Schrauben-
industrie stehen. Aber auch Private und die ehemals
Großherzogliche Ze'ck aPtelle für Gewerbe wandten ibm
Beiträge zu, und so ist zu hoffen, daß die leihweisen
Überlassungen des Landesmuwums dauernd in Offen-
bach ihren Platz finden werden. Möchten aber auch
andere Museen und Familien, die irgend einen Gegen-
* Und wohl auch dem „Tapetenmuseum" in Kassel.
Die Schriftleitung.
Die kleine Stadt.
Ein Markten, Feilschen Rennen, Steigen Fal-
len, hier höchste Höhen, dort grundlose Tiefen,
hier Kunst, hier Mode^chau, bald schön, bald
häßlich, hier höchste Bildung, dort der tiefste
Schmutz.
Die Autos sausen durch die Straßen, reißen
die Menschen rasend unter ihre Räder: Ein Bild
des Lebens!
Ist denn dies das Leben?
Vor meinen Augen sehe ich ein ander' Bild.
Aus der Erinnerung steigt es auf, aus Duft und
Klang. Das ist das Bild der kleinen, alten Stadt!
Ich rieche noch den Duft der abendlichen Gärten.
Herbstnebel lagern überm kleinen Fluß. Kartoffel-
feuer brennen, und ihr Rauch zieht wie ein feiner
258
stand zu stiften vermögen, diesem nachahmenswerten
Beispiele folgen!
Durch Zuweisung einer großen schönen, der Stadt
von ihrem Besitzer vermachten Villa am Anfange der
„Straße der Republik", direkt bei der Mainbrücke
zwischen Of'enbach und Fechenh im erhielt das Museum
ein eigenes Heim. Auch hier sind bereits wieder alle
Zimmer mit Schränken usw. besetzt, und von neuem
erhebt sich die Frage: „Was nun?" Doch Offenbach
schafft großzügig, und so steht zu erwarten, daß es zu
einem Neubau im Garten des Grundsttickes nach der
angrenzenden Seitenstraße hin kommt.
Schon jetzt ist es schwer, aus der Fülle des Vor-
handenen das Schönste, bzw. Interessanteste hervorzu-
heben, besonders aber dann, wenn man wie Schreiber
dieser Zeilen an der Seite des Museumsschöpfers von
Schrank zu Schrank, von Raum zu Raum gewandert
ist und s'inen erläuternden Wo'cken gelauscht hat. Vor
allem fallen unter den Erwe-bungeu der letzten Jahre
die ledernen „Minne"- d. h. Schmuckkästchen ins Auge.
Aus dem 15. und 16. Jahrhundert stammend, sind
sie vorwiegend deutsche, französische, italienische und
portugiesische Arbeit. Ganz besonde's wertvoll ist das-
jenige der Maria von Medici, ein französisches Er-
zeugnis mit reicher Vergoldung in „Fanfarenstil".
Viel bewundert werden auch vom großen Publikum
die Arbeiten der Naturvölker. Unter ihnen nehmen die
Schurzfelle der Nege-stcimme einen großen Raum ein.
Aus schmalen Lederstreifen geknüpft, meist ungefärbt,
tragen sie als einzigen Schmuck die mit hineingeknüpfte
Kaurimuschel, das frühere Geld, den Reichtum der
Schwarzen. Unverbildete und schöne Zweckformen zeigen
gleichfalls ibre Wasfenichüden und Schilde. Größeren
Kunstsinn lassen schon die Jaadtaschen, b'e Futterale für
Rasierzeug uno die lederumstochtenen Pfeifenrohre der
Hansa, die Arbeiten der Mandingo (Senegal) und
andere erkennen.
Frankfurt, schon immer das Ziel vieler Reisenden
des In- und Auslandes, hat sich seit Einrichtung seiner
Messe eines noch größeren Fremdenzustromes zu er-
freuen, der, soweit es sich um Fachleute handelt, auch
unser Institut besucht. Möchte aber auch sonst jeder
vorübergebend in der alten Kaiserstadt Weilende den
kurzen Abstecher nach der Nachbarstadt Offenbach nicht
versäumen, denn auch sonst bietet diese mancherlei.
Verbindungsmöglichkeiten sind in Hülle und Fülle vor-
handen.
Von Franzi Fliedner.
Streifen übers Land und dringt, ein Gruß von
draußen, durch die offnen Fenster.
Und durch die kleine Stadt ziehn krumme Gassen
und heißen „Straßen" voller Größenwahn. Und
aus den Küchen duften Bratkartoffeln, und Kinder
spielen ungefährdet vor den Häusern.
Und stolze, wundervolle Giebel seh'n herab aus
vielen kleinen Fenstern auf den Markt. Und vor
dem Rathaus steht auf hohem Socket ein Dichter-
paar, zwei Brüder sind's, die Märchen sangen und
in der kleinen Stadt geboren sind. Sie schauen
auf das buntbewegte Treiben des Markttags und
es ist, als dächten sie sich neue Märchen aus, und
lächeln, gütig, wenn hie und da ein kleiner Streit
entbrennt. Und alle Menschen haben sehr viel
Zeit, und alle kennen sich und grüßen sich.
Und in den Häusern selber, welch' Behagen!
Xii steigst empor die breiten Treppenstufen alter
Patrizierhäuser, führst die Hand wie streichelnd
anfwärts über das Geländer, das, blank vom Alter,
sich dir freundlich fügt bis du zum Knauf gelangst,
der, schön gedreht, dich stark und trntzig lind voll
Würde mahnt:
Hab' Ehrfurcht vor dem Alter und vor diesem
Hans! Tu trittst in Zimmer, die in ihren Tiefen
sich kaum ergründen lassen. Kleine Tische stehn
in den Fensternischen, hier ein Nähtisch, ein Spiel-
tisch dort, und tiefe Sessel laden dich zum Sitzen.
Es grünen Pflanzen überall im Zimmer, und Blu-
men blühen vorne in der Sonne. Ein schmetternd'
Lied klingt aus dem Vogelbauer, und tauschend
stehst d» und vergißt die Zeit.
War dies das Leben? Freundliche Gestalten
aus Kinderzeit seh' ich vorübergleiten, und alle
Menschen scheinen wieder gut.
Doch auch die kleine Stadt hat jung e s Leben
und junges Blut und frischen frohen Geist. Sie
feiert Feste und sie lädt zum Tanz, und Herzen
schlagen heiß einander zn. Und Kunst und Wissen
haben manche Stätte, da man sie pflegt, und
junge, helle Köpfe schenkt auch die kleine Stadt
dem großen Leben.
Und wenn all all' den hohen, alten Giebeln
viel hundert kleine, helle Lichter brennen und Fackeln
in den alten Straßen flammen und Lieder feierlich
gen Himmel steigen, es ist, als sei die neue Zeit
versunken, lind die Vergangenheit ersteht uns wie-
der. —
Im Sommer duften alle Gärten rings, als
ivären sie eil: großer Rosenstrauch. Vom Fluß
herauf im helleil Mondenschein erklingen Lieder
zil der Ruder Schlägen, uild bald limfängt uns
eine stille Nacht.
Wohl hat die kleine Stadt auch ihre Schatten.
Dil scheust die engen Grenzen, die sie zieht. Du
scheust den Zwang, der dir gebietet: „Komm.'!",
wenn irgend jemand dich geladen hat. Du fühlst dick-
freier in dem Meer der Großstadt, in dem du un-
beachtet untertauchst.
Ja, in der deinen Stadt da b i st du was,
und in der großen Stadt bist du ein Nichts!
Tll kleine, alte Stadt, ich grüße dich! Uild
liegt der Krieg auch zwischen einst und jetzt, der
Krieg, der vieles umgewertet hat, du kleine Stadt
int grünen Hessen land, der Zauber froher Jugend-
jahre blieb!
Im Brückengeldhaus zu Offenbach am Main, (\m~\m.)
Familienerinnerungen von Hermann Hollender. (Schluß.)
3. DieSchloßkir ch e.
Ganz iil der Nähe des Psenburgischen Schlosses
lag die 1703 erbaute Schloßkirche. Sie ivar früher
mit beut Schloß durch einen gedeckten Gang ver-
bunden, dessen vermauerte Türen noch int westlichen
Ecktnrm und iil der gegenüber liegendeil Wand
der Kirche zil erkennen sind. Im Jahre 1819
wurde die Kirche renoviert und 1861 teiliveise um-
gebailt nnb erhöht. Hierbei wurde auch die unter
der Kirche befindliche Fürstengruft der Asenburger
beseitigt und ihr Inhalt nach dem Friedhof über-
führt.
Davon sprachen gerade die beiden Mädchen, die
an einem schönen Maiabend des Jahres 1861 mn
Mainuser spazieren gingen.
„Weißt du, Therese," sagte die um etwa ein
Jahr jüngere Antonie Bode, „das ist eigentlich
doch wenig schön, daß sie die alten Särge und
Knochen der Fürsten in einem Möbelwagen unb
noch dazu so ganz heimlich in aller Frühe nach
dem Friedhof überführt haben — —."
„Und vorher hat man sie eine ganze Zeit laug
in einem Gelaß des Schlosses aufbewahrt - wo,
das hat uns Pfarrer B o n h a r d nicht sagen können.
Aber, denke dir nur, bei end) int Hause war das —
so ein Haufen von 16 alten Särgen mit Knochen
und modrigen Überresten!"
„Gut, daß das schon einige Jahre her ist,
Therese — ich würde mich freuen, wenn das hellte
wäre! Aber für meine Brüder wäre das gerade
ein besonderer Spaß gewesen. Tu hättest sie mir
sehen und hören sollen, wie ich heute bei Tisch
von allem dem sprach, was euch der Pfarrer in der
Konfirmandenstnllde mitgeteilt hat, und lute Vater
da von seiner Jugend erzählte: nämlich — er und
seine Schulfreunde, wie der Herr Pirazzi —- weißt
du, der aus dem Jnstrumentensaitengeschäft in der
Schloßgrabengasse Nr. 13 mit dem rotblonden Bart
und der schwarten Sammetjacke, der schon viel
Gedichte gemacht und auch ein Theaterstück 8 9 ge-
schrieben hat — und ein anderer, der auch Leopold
hieß die haben also öfters durch die Fenster der
alten Totengrnft in der Kirche geguckt. Ta haben
die Metall- und Eisensärge gestanden; ein paar von
ihnen waren durch Hochwasser aufgerissen, man
konnte halbverweste Leichen sehen lind Knochen, die
überall hernmlageil - brrrrr! Sie ivollten so das
Gruseln lernen!"
Als die Mädchen so sich unterhaltend ail der
Gartenwirtschaft von Schlosser und an den daran
anstoßenden schönen Weingärten, ivie dem von
d'Orville mit dem noch aus der Goethezeit stam-
menden Ecktempelchen vorbeigingeil, begegneten
ihnen die beiden Brückenwärter Klaus und Sie-
bert iil stark angeheitertem Zustande.
. „Jetzt kommen sie wieder voul Apfelwein!" sagte
Therese. „Vater mag das gar nicht leiden. Be-
8 Rienzi, der Tribun (1863).
9 Leopold Sonnemann, später Redakteur (linksradikal)
in Frankfurt a. M.
259
sonders schlimm treibt's der Klaus. Nicht nur,
daß er selbst fast den ganzen Tag lang im Wirtshaus
steckt und die anderen dazu verführt, er macht
auch meinem Vater selbst dienstlich viel Schwierig-
keiten, ,5. B. ■ laßt er sich von den Schiffseigen-
tümern seine Arbeit beim Durchlässen durch die
Brücke noch besonders bezahlen oder schmuggelt Be-
kannte über die Brücke ohne Zoll oder unterläßt
Meldungen an den Vater und den Brückeninspektor.
Neulich wurden zum Durchlässen von Schissen zwei
Trefe abgefahren, ohne daß es, lvie Vorschrift ist,
von dem diensthabenden Brückemvärter —-. das war
Klaus — an unserem Schalter gemeldet wurde.
Vater stellte den Klaus darüber zur Rede. Der
entschuldigte sich aber mit einer Ausrede. Später,
als er jedoch etwas zu holen hatte, sagte er noch
Hönisch: „Nehmen Sie's nur nicht übel, Herr Er-
heber, wenn ich Ihnen das Aufmachen der Brücke
nicht gemeldet habe. Aber es wird ja wohl kein
Unglück sein — und Sie haben es ja doch auch selbst
gesehen. Übrigens — wo soll ich denn eine solche
Meldung machen, ivenn Sie nicht am .Kassenfenster
sind, wie das ja heute der Fall war?" Als Vater
ärgerlich antwortete, es iväre doch gleich, wer da
am Fenster säße; ob er oder seine Frau oder die
Emilie (die älteste, erwachsene Tochter — aus
erster Ehe der Frau), er hätte seine Meldung unter
allen Umständen an der Kasse zu machen! Klaus
aber entgegnete gereizt, das stünde nicht in seiner
Instruktion und ging schimpfend davon. — Was
sagst du dazu — unverschämt, nicht wahr? Vater
ärgert sich über so etwas immer furchtbar, er ist
noch zu sehr militärische Zucht und Unterord-
nung gewöhnt. Die anderen beiden sind ja nicht
so — der Siebert, meint Vater, wird durch seine
Frau — die war doch Kammermädchen beim Kur-
fürsten in Kassel —- immer wieder zur Raison ge-
bracht. Na, und der Rummel, der ist halt mehr
ein „Original", meint er, und ein gutmütiger
Mensch. Aber es könnte doch mit allen Dreien
noch einmal ein schlechtes Ende nehmen, sagte er!"
4. Das Waltersche und A n d r 6 s ch e
H a u s.
Am 22. Mai 1864, am zweiten Pfingsttag,
wurde Therese R. in der Schloßkirche durch Pastor
Bonhard konfirmiert. Nun war sie erwachsen und
also auch imstande, den Vater im Schalterdienst
ebenso lvie ihre 21 jährige Stiefschwester Emilie
mit zu vertreten. Allerdings hatte sie zunächst
noch wenig Zeit dazu, da sie noch bis zum Herbst
weiter in die Töchterschule ging, um sich zur
Lehrerein vorzubilden und dann das Institut von
Batz zu besuchen.
Eine Schulfreundin von ihr war Lina Wal-
ter, die schone Tochter des Hofrats Dr. Walter,
int Eckhaus der Kanal- (Kaiser-) und Großen
.Marktstraße (Judengasse). Therese kam gelegent-
lich auch in dieses Haus, was für sie einen ge-
wissen Reiz hatte: denn hier endete, wie erzählt
wurde, mit dem Tode des Fräuleins Eva von
Frank die große polnische Tragikomödie, deren
glänzende erste Akte in dem voin Fiirsten dem
Baron von Frank anfänglich vermieteten Psen-
burgischen Palais in der Kanal-(Kaiser-)Straße
gespielt hatten. Diese Eva Frank sollte eine Toch-
ter des Kaisers Alexander I. von Rußland ge-
ivesen seien, der sie auch am 5. November 1813
nach der Schlacht von Leipzig von Frankfurt a. M.
ans besuchte. Ihr vorgegebener Vater, der Baron
Jakob von Frank, hatte aus den Mitteln des
russischen Kaisers einen glänzenden Haushalt ge-
führt, bis mit seinem Tode (1791) die Herrlichkeit
mit einer Schuldenlast von 3 Billionen Gulden
zusammenbrach. Ein Sohn starb plötzlich in Offen-
bart), der andere war in die russische Armee ein-
getreten und seitdem verschwunden. Die Tochter-
Eva zog vom „Polenhof" in das Waltersche Haus,
ivo sie noch jahrelang als alterndes Fräulein bis
zu ihrein Tode (1816/17) wohnte. 'Ein Gerücht,
das Therese auch kannte, behauptet, sie wäre nicht
wirklich gestorben, sondern nur vor ihren Gläu-
bigern geflüchtet und habe statt ihrer eine Puppe
begraben lassen. Jedenfalls hatte die Verstorbene
im Sarg ein verhülltes Gesicht und wrirde dann
auch Nachts bei Fackelschein begraben. Nach Eva
Franks Tode kaufte ein Prinz Viktor von Psen-
bnrg das Haus, richtete es neu her und baute noch
ein Stockwerk daraus. Als er starb, erwarb es
ein .Hofrat Marschall und nach diesem Hofrat Wal-
ter. Therese mußte lebhaft an die romantische
und nie recht aufgeklärte Geschichte der Eva Frank
denken, als sie das Waltersche Haus betrat.
Aber es hatte noch einen weiteren Reiz für
sie dadurch, daß hier auch ein Schriftsteller ge-
weilt hatte, der ein Onkel ihrer Schulfreundin
(der Schivager von Linas Vater) war: es war
Karl G u tz k 0 w, der im Sommer 1860 nach seiner
Rückkehr aus Italien einige Monate mit Familie
hier gelebt und an seinem Romalt „Der Zauberer
von Rom" ■ geschrieben hatte.
Im Februar 1865 hatte sie selbst Gelegenheit,
Gutzkow zu sehen. Er befand sich nach einem
Selbstmordversuch, den er nach seinenr Fortgang
aus Weimar in Friedberg infolge von Nervenzer-
rüttung gemacht hatte, einige Zeit in Behandlung
seines Schwagers, des Arztes Dr. Walter in Offen-
bach, ehe er das Sanatorium Gilgenberg bei Bay-
reuth aufsuchte. An einem schönen, sonnigen Fe-
bruartage kam er — es war wohl sein erster
Aus gang — von seiner Frau geführt und in Be-
gleitung seines Schwagers und dessen Tochter über
die Schiffbrücke. Der Hofrat Walter entrichtete
am Kassenfenster an den Erheber R. für die vier
Personen den vorgeschriebenen Kreuzer Brücken-
geld. Als sie am Erheberhaus vorbei waren, trat
Therese, die sich im Hintergrund des Erheberzim-
mers befunden hatte, hastig an den Vater heran
und sagte ihm, daß das soeben der Dichter Gutzkow
gewesen sei: sie habe ihn nach einem Bilde und
an der Begleitung von Walters erkannt. „Warum
hast du das nicht gleich gesagt?" fragte der Vater.
260
„Du konntest doch auch cm§ Fenster kommen und
deine Freundin begrüßen — hast dich wohl geschämt?
Vielleicht hätte ich dann ebenso großartig wie der
alte Spieler bei M e n d e l s s o h n auf den Brücken-
zoll für den berühmten Mann verzichtet! Schade!"
Die Geschichte, auf die R. hier anspielte, kannte
Therese recht gut. Der Vater hatte sie erst kürz-
lich gehört und in der Familie erzählt. Ter Vor-
gang war folgender: Ter Musiker Felix Mendels-
fohn-Bartholdy weilte oft und gern in Frankfurt,
der Vaterstadt seiner Frau. Da wurden vielfach
Landpartien veranstaltet, wobei seine Quartette ge-
sungen wurden oder er auch in einer Dorfkirche
Orgel spielte. So machte er einst mit zwei Freun-
den einen Spaziergang burcf) die Apfelallee von
Frankfurt nach Offenbach und über die Schiff-
brücke. Unterwegs hatte er wegen des kürzlich
erhaltenen preußischen Ordens Üour 1s merite
einige freundschaftliche Neckereien anhören müssen.
Am Brückengeldhaiis trat einer von ihnen an das
Kassenfenster, um den Zoll für die drei Personen
zu entrichten. Ter Erheber aber, ein Musikfreund,
hatte unter den Spaziergängern den berühmten
Komponisten entdeckt und erklärte in freudiger Er-
regung, für Mendelssohn nehme er kein Brücken-
geld au! So tvurde nur für zwei Personen be-
zahlt. Als der Dritte dann Mendelssohn und
seinen Begleiter eingeholt hatte und den Vorgang
erzählte, rief der Komponist erfreut aus: „Hat
der Mann das wirklich gesagt? Nun, wahrhaftig —
das macht mir mehr Freude als der Orden!"
Der alte Spieler ruhte ebenso wie Mendelssohn
(dieser starb 1847) schon unter der Erde. Die
Witwe Spieler wohnte mit ihrem Sohn Heinrich
und den Töchtern, die ebenso wie die R'scheu
Mädchen die Töchterschule besuchten und nur wenige
Jahre älter waren, in einem asten Fachwerkbau am
Schloßplatz.
Noch eine andere Schulfreundin, aber von Elise
R., verdient Erwähnung: Luise Andre. Sie war
die Tochter des Inhabers des weltberühmten Musik-
verlages und der Notendruckanstalt von Joh. Andre
in der Domstraße 21. Die R's kauften hier auch
ihre Noten für den Klavierunterricht, den Lydia
bei einem Jugendfreund ihrer Mutter namens
Güth genoß. Dieser war eine Zeit lang priuzlich-
hessischer Hauslehrer gewesen. An die Familie
Andre knüpften sich bedeutungsvolle Erinnerungen.
Hatte doch bei Johann Andre Goethe im Jahre
1775 mehrfach geweilt. Allerdings wohnte die Fa-
milie damals bis Ende des 18. Jahrhunderts in
der Herrnstr. Nr. 54, unmittelbar neben der
Bernardschen Schnupftabak-Fabrik und ganz in der
Nähe der d'Orvilles, der Verwandten von Lilli
Schönemann. Auch war hier noch ein anderer be-
rühmter Mann zu Gaste gewesen: Wolfgang Ama-
deus Mozart im Jahre 1790 als Leiter der
Privatkapelle Kaiser Leopolds II., den er zur Krö-
nung nach Frankfurt begleitet hatte; er soll sich
damals auch an einein Tanze bei Andres be-
teiligt haben. Nach seinem Tode hatte der Hof-
rat Anton Andre einen großen Teil der Mozart-
schen Manuskripte von der Witwe erworben und
drucken lassen, sowie lange Jahre im Besitz gehabt,
bis sie von der Königlichen Bibliothek in Berlin
angekauft wurden.
5. Krieg im Lande (1 86 6).
Im Krieg zwischen Preußen und Oesterreich
Ivar man in Offenbach und Frankfurt vollkommen
österreichisch gesinnt, zumal die leichtlebige, gemüt-
liche Art der Oesterreicher den Amvohnern des
Mains mehr zusagte, als das ernste strenge, straffe
Wesen der Preußen, wie es besonders in ihrem
Ministerpräsidenten Bismarck verkörpert tvar. Nur
der Brückengelderheber R. neigte, obwohl er Hesse,
ivenn auch kurfürstlicher Staatsangehörigkeit war,
doch mehr zu Preußen, da gerade deren ganzes
Auftreten und vor allein das ihres Ministerprüsi-
denten ihm gefiel und wesensverwandt erschien.
Er inachte als offener, ehrlicher Mann auch keinen
Hehl aus seiner Auffassung und äußerte öfters
gesprächsweise seine Sympathie für Bismarck. Dies
wurde ihm aber stark verübelt. Er galt schließlich
sogar als „Preußischer Spion" — besonders nach
der Besetzung Kurhessens Anfang Juni durch
Preußen. Die Stimmung der Offenbacher ivurde
bald durch den Verlauf des Krieges stark nieder-
gedrückt, als die Kunde von dem Sieg der Preußen
am 4. Juli 66 bei Königgrätz über die Oestev-
reicher eintraf. Die Niedergeschlagenheit sollte sich
in einigen Tagen schließlich in allgemeine Bestür-
zung und Angst verivandeln, als auch die Bayern
am 10. Juli bei Kissingen und die Bundestruppen
unter Prinz von Hessen am 13. Juli bei Laufach
und am 14. Juli bei Aschaffenburg eine Nieder-
lage erlitten hatten. Unter den in die Heimat
zurückflutenden Hessen befand sich auch der Unter-
offizier O h a u s aus Offenbach, der mit den
R's bekannt war, da er öfters im Brückenwärter^-
dienst bei Erkrankungen oder bei Mehrarbeit als
Tagelöhner ausgeholfen hatte. Die R'schen Mäd-
chen sahen und sprachen ihn. In starker Selbst-
verspottung und unter Anspielung des Unglücks-
ortes Laufach sagte er: „Es lauft alles — ich
lauf nach!"
Den siegreichen Preußen unter General Vogel
von Falckenstein stand jetzt der Weg nach Frank-
furt offen. Aus Angst vor ihrem Anrücken flüch-
tete die Bundesversammlung in der Nacht vom
13./14. Juli nach Augsburg. Auch die Redakteure
der preußenfeindlichen „Frankfurter Zeitung" Leo-
pold S o n n e m a n n, Kolb, H a d e r m a n u
und der Dialektdichter Friedrich Stoltze,
welch letzterer das witzige Wochenblatt die „Frank-
furter Laterne" herausgab, verließen Frankfurt und
begaben sich nach Stuttgart, von wo sie ihre Blätter
dann weiter erscheinen ließen. Täglich — stündlich
konnten nun die Preußen eintreffen! In Offen-
bach hatten alle Bewohner, außer den R's, schreck-
J0 Wurde später Brückenwärter für Rommel.
261
liche Angst vor den schlimmen Siegern: man hielt
sie für schreckliche Gesellen, etwa für Menschen-
fresser, und meinte sie am ehesten durch gute Ver-
pflegung von vornherein mild zu stimmen und durch
Sättigung voll Getvalttaten abhalten zu können.
Die Lebensmittelgeschäfte wurden geradezu gestürmt,
und in kurzer Zeit waren sie ausverkauft. Ta
am 10. Juli spät Nachmittags, an einem Montag
kamen die ersten Preußen mit Musik und Gesang
in guter Ordnung, staubbedeckt, anmarschiert. Nur
lvenige Neugierige waren auf der Straße. Die
kleine kl jährige Lydia R., die gerade einen Gang
»lachte, schloß sich in ihrer vom Vater angenom-
menen Vorliebe für die Preußen der Marschkolonne
an, wo ein junger, hübscher, gebräunter Infanterie-
Offizier Gefallen an ihr fand und sich mit ihr
scherzend unterhielt. So zog sie neben ihm über
die Allerheiligengasse und die Zeit' in Frankfurt
ein. Erst spät am Abend kam sie, von dem Offizier
ill die Lokalbahn gesetzt) lvieder nach Ofsenbach,
wo die Eltern schon in Sorge und Angst um sie
waren. Begeistert erzählte sie ihnen ihr Erlebnis.
Immer mehr preußische Kolonnen rückten heran
und wurden in Frankfurt und Umgegend unterge-
bracht. Auch die Osfenbacher erhielten Einquar-
tierung, lind zwar die nach ihrer Meinung schlimm-
sten Preußen: echte Berliner. Zu R's kam ein
Unteroffizier ins Quartier. Er wurde aufs beste
aufgenommen von Frau Anna Margarete airfs
trefflichste verpflegt und von ihrem Gatten aufs
lebhafteste unterhalten. Mit den Mädchen neckte
er sich gern und genoß ihre volle Sympathie.
Die Verkündung des außerordentlichen Gerichts-
standes, die Auferlegung großer Lieferungen sz. B.
von 60 000 Paar Stiesel, 300 Pferden) lind einer-
beträchtlichen Kontributions-Summe, sowie die Be-
kanntgabe der hohen Verpflegungssätze, wie für
jeden Soldaten Mittags eine halbe Flasche Wein,
Abends ein Seidel Bier und täglich 8 Zigarren —
das alles hinderte nicht, daß ein äußerst freund-
schaftliches Verhältnis schon in den nächsten Tagen
und Wochen zwischen Einquartierung und Quartier-
gebern zustande kam. Und nicht nur im Brücken-
geldhanse war dies der Fall, sondern auch in
anderen Häusern Offenbachs trotz der ursprünglichen
Angst vor den schrecklichen Preußen und Berlinern.
Ja, auch Herzensbündnisse tvurden hier geschlossen,
z. B. verlobte sich eine Schulfreundin von Therese
R. bald nach dem Friedensschluß mit einem preußi-
schen Vizefeldwebel d. R., von Beruf Baumeister,
den sie bei der Einquartierung in Ofsenbach kennen
gelernt hatte. In dieser bewegten Zeit erhielt
der Brückengelderheber R. ein Dekret zugestellt:
es war seine endgültige Anstellung, die unterzeichnet
war von: General-Gouverneur von Kurhessen von
Werder und ein jährliches Gehalt von 400 Gulden
und kch/gv/g der Erhebegebühren sowie 80 Gulden
für Heizung unb Beleuchtung des Amtslokals zu-
sicherte. Adam Friedrich R. lvar somit jetzt preu-
ßischer Untertan. Das hessische und Frankfurter
Rot-Weiß, das die Frankfurter Frauen und Mäd-
chen trotz des Hissens der preußischen Flagge in
Schleifen und Bändern in der nun annektierten
ehemaligen freien Reichsstadt mit herausforderndem
stillen Trotz in Schleifen und Bändern weiter
trugen, vertauschte er mit dem Schwarz-Weiß von
Preußen. Mit dem Witz, den der nach Stuttgart
geflüchtete Stoltze in einer Beilage des Stuttgarter
Beobachters Nr. 168 als Bericht seiner Frank-
furter Lokalfigur „H a m p e l m a n n" über die
preußischen Farben verbreitet hatte, war er gar-
nicht einverstanden: „Mit der amte Hälft' wird
mer ebbes »veiß gemacht, un de annere .Hälft' is,
die Schatteseit!" aber gelacht hatte er.doch über die
Vorstellung „Hampelmanns" von dem jetzigen Preu-
ßentum seiner Landsleute: „Wenn ich merr unsere
Sachsehäuser als Preuße denk', so muß ich bei all
meine Elend lache: Jott verdamm mir, jeben Se
mich man eenen Schoppen Äppelwein — Juten!
App elmost zu 3 Silberjroschen die Maas verzapft
Jener in die Dreijönigsstraße — Abends warme
Sulberj nochen! — O, hälft de de Sachsehäuser
Maabrück quer im Hals!"
Ja, ja -— der „Äppelwoi" in Sachsenhausen,
Frankfurt und Ofsenbach! Voir dem liehen die
dort nicht - ganz gleich, ob sie Hessen, freie
Reichsstädter oder Preußen ivaren oder blieben. Das
merkte der Erheber R. zur Genüge au deut Brücken-
wärtern Rummel, Siebert und Klaus. Gerade tu
jenen unruhigen und ernsten Tagen wußten diese
nichts besseres zu tun, als beim „Äppelwoi" in
der Kneipe zu sitzen. Dabei ging es aber nicht
immer friedlich und gemütlich zu. Einmal gab
es im „Tannenbaum" zwischen Klaus und deut
Gastwirt Merz einen scharfen Streit mit Hand-
greiflichkeiten, so daß gegen Klaus beim Land-
gericht Klage erhoben wurde. Eitrige Zeit später
ivar es Siebert, der in derselben Gastwirtschaft
mit dem Messer aus Rummel losging unb ihn zu
erstechen drohte iuegett einer Zankerei zwischen bei-
den Familien. Schließlich hatte Rummel, wahr-
scheinlich in Apfelweinstimmung, sogar im Dienst
einen Streit mit Tätlichkeiten gegen seinen Ge-
nossen. Die Folge davon war seine Pensionierung.
An seine Stelle trat Ohaus, der Held vorr Laufach.
6. 186 7/68.
Das Jahr 1867 schien für die R'sche Familie
eine Veränderung bringen zu sollen, insofern als
die 24 jährige Tochter Emilie, atrs der ersten Ehe
der Mutter, einen ernsthastett Bewerber gefuttden
hatte. Seit einiger Zeit hatte der biedere Hammel-
schlächter G o t t s ch a l k auffallend viele Wege über
die Schiffbrücke zu machen und stets längere Unter-
haltungen mit dem Erheber ant Kassenfenster. Bald
merkte man seine Absicht, und die 'Geschwister
neckten Emilie mit ihrem Verehrer. Sie wollte
aber nichts von ihm wissen: einen Schlachter möchte
sie überhaupt nicht! Auch das wirkte bei ihr nicht,
als utan darauf hinwies, daß doch ein Osfenbachcr
Schlüchter in R's Nachbarschaft, Namens Simott
Groh, Schlvßgasse, der Schwiegervater des be-
262
rühmten Louis Blanc, des Mitglieds der
provisorischen Regierung Frankreichs nach der Re-
volution 1848 sei (die Frau Christine Blanc geb.
Groh starb Ende April 1876 in Paris), und daß
eine andere ebenfalls dieser Familie entstammende
Bekannte voll R's geheiratet habe.
Eines Tages ging der bisher so zurückhaltende
Schlächter zum kühnen Angriff vor: er hatte es
erreicht, daß Vater R. t1)n mit in die Wohnung
brachte, wo er Emilie zu treffen hoffte. Doch als
bie)c ihn kommen hörte, ergriff sie in tvilder Hast
vor ihrem unwillkommenelr Liebhaber die Flucht.
All ihren Aufenthalt im Zimmer erinnerten nur
ihre Pantoffeln, die sie, lvie es ihre Gewohnheit
war, beim Sitzen von dcil Füßen gestreift hatte,
und so schnell llicht wieder hatte anziehen können.
Diese Pantoffeln schieilen dem Freiersmann doch
zu denken zu gebeil, er kaiil jedenfalls nicht wie-
der. Nicht lange darauf verlobte sich Emilie mit
einem Telegraphenbeamten. Die Hochzeit fand tm
Sommer 1868 statt.
Der Krieg mit Frankreich 1 870/7 1.
Hatte schon das Ende des Jahres 1869 im
Brückengeldhaus aufregende Stunden durch einge-
tretenes Hochwasser gebracht, so war dies noch mehr
zu Beginn von 1870 am Schluffe des Januar
Nlld Anfang des Februar der Falt. Scholl seit
alters her hatte sich der Main im Winter und
das Frühjahr hindurch als gefährlich gezeigt. So
ivaren bei einen: Hochwasser vor mehreren hundert
Jahren, am 1. Februar 1806, 500 Menschen seinen
hochgehenden Fluten zum Opfer gefalleil, ein wei-
teres Hochivasser ivar vom Winter 1374/75 über-
liefert; all der Seitenwand des Schlosses, gegeu-
über dem Erheberhaus, waren Hochwassermarken
angebracht, deren älteste aus dem 17. Jahrhundert
stammte. Auch in den letzten Jahren, 1867 uild
69, hatte sich der Main mit seinem Wasser in
den Keller des Brückenhauses ergossen. Wenn der
Fluß, ivie es vorkam, noch höher stieg und bis
auf den Hos beim Erheberhaus drang, ivar
die Verbindung zu dem Wohnraum im Erdgeschoß
des Brückenhauses uuterbrochen, und die R's mußten
in die Mansardenstuben der Killder flüchten, ivo
sie die ihnen im Kahn zugesührten Lebensmittel
nur durch Heraufreichen der Körbe mit Stangen
erhalten konnten.
Bei einem solchen grossen Hochwasser in späteren
Jahren verunglückte der Brückenwärter Siebert,
indem er init dem Kahn uinkippte, und zlvar an-
gesichts seiner Frau, die es vom Brückenhaus zu-
fällig ulit ansah; sie erlitt dabei einen Ncrvenchok,
an dessen Folgen sie starb. Auch ihr Marli: der
sich durch Schwimmen rettete, erlitt einen gesund-
heitlichen Schaden, der mit zu seinem ilicht fange
darauf erfolgenden Tode beitrug.
Das Jahr 1870 war für die R's aber noch mehr
und in anderer Beziehung ein Unglücksjahr. Kurz
vor einem Maskenball in Schlossers Garten, zil
dem man eine Einladung erhalten hatte, stellte
sich bei der jüngsten der Schwestern, der 15 jährigen
Lydia, ein schmerzhaftes und zunächst unerklärliches
Beinleiden ein, das schließlich zu einer Verkrüm-
mung des Beines führte und nach gewaltsamer
Streckung ein Steisbleiben des Knies zur Folge
hatte. Lydia hatte die heftigsten Schmerzen und
bedurfte sorgfältigster Pflege. Ihre Schwester
Therese erivies sich hierbei als die geeignetste, liebe-
vollste Samariteriu.
Da kam im Sommer des Jahres 1870 der Krieg
mit Frankreich. Auch die Ofsenbacher Jäger wur-
den mobil. Die Offiziere und Mannschaften aus
den: Reserveverhältnis wurden einberufen. Unter
ihnen war auch Ludwig K. als Leutnant der Re-
serve des Großherzogtich Hessischen 2. Jägerbatail-
lons. Wenige Tage vor dem Ausrücken — ver-
lobte er sich mit Elise R. Der Abschied tvurde
beiden sehr schwer — wie eine schlimme Ahnung
lastete es dabei über ihnen. Anfang August wurden
die ersten Schlachten geschlagen, nnb mit banger
Angst tvartete man im Brückengeldhause auf eine
Nachricht von K. Eine kurze ^Feldpost-Korrespon-
denzkarte" beruhigte Elise und ihre Angehörigen:
über Ludwigs Ergehen. An: 14. August hatte er
seiner: 20. Geburtstag. Man schickte ihn: aus dem
Erheberhaus einen Glückwunsch dazu. K. dankte
wieder mit einer Feldpostkarte der Feldpost der 25.
Divisior: und schrieb: „Meiner: Geburtstag habe ich
unter freiern Himmel angetreten. Es geht mir
recht gut." Wenige Tage darauf, am 18. 8., wurde
er bei Verneville (bei Metz) durch einen Schuß
in die obere Schädeldecke schwer verwundet und be-
rvußtlos aus den: Schlachtfeld gesunden. Bei ihn:
lag eir: Brief, den er vorher an seine Eltern ge-
schrieben hatte. In diesen: nahn: er irr eigenartiger
Vorahnung von seiner: Angehörigen Abschied und
legte ihnen als rvertvollstes Vermächtnis seine Braut
airfs wärmste ans Herz. Der Schwerverwundcte
wurde in das Feldlazarett Jonaville ausgenommen.
Nach 10 Tagen starb er hier an: 28. August 1870.
Elise R. erhielt die Unglücksbotschaft durch K's
Schtvager, der in: Aufträge der Schwiegereltern
nach Offerrbach kam und Elise bat, doch recht bald
zu diesen zu kommen, um in gemeinsamem Schmerz
um den geliebter: Toten gegenseitig Trost zu fin-
den. Ludwigs K's Leiche wurde in die Heimat
nach Bessungen überführt und dort arn 15. Sep-
tember feierlich bestattet.
So schloß der Herzensroman in: Brückengeldhause
— schroffer und grarisamer als der rund 100 Jahre
frühere Goethes. An beide sind noch heute Er-
innerungsstücke in der R'schen Familie vererbt:
vor: Ludwig K. sind noch Photographier: nnb Briefe
sowie seine Grabrede und der Nachruf vorhanden;
an Goethe und Lili Schönemanr: erinnern noch
ein lehrrenloser Armsessel aus Kirschbaumholz, eine
geschrveifte kleine Kommode und eine Teekanne,
welche Stücke Annemargarethe R. als Zeugen jener
Zeit bei einer Versteigerung im Hause d'Orville,
der Wohnstätte Lilis, erstanden hatte.
263
8. Schluß.
Wieder hat Deutschland einen großen Krieg er-
lebt, den furchtbaren Weltkrieg 1914/18. Aber dies-
mal war es nicht Sieger geblieben, sondern unter
der Übermacht der Feinde zusammengebrochen. Der
hohe Aufschwung seit dein Kriege 1870/71 war
dahin, und eine wirtschaftliche Not sondergleichen
an seine Stelle getreten. Adam Friedrich R. und
seine Frau Anna Margarethe waren lange vor
dem furchtbaren Krieg und Zusammenbruch heim-
gegangen, aber ihre Kinder — allerdings außer den
beiden jüngsten — sowie ihre Enkel erlebten die
schlimme Zeit mit. Einige, die Söhne der Töchter
Emilie, Therese ilnd der ebensalls verheirataten
Elise, nahmen als Angehörige des deutschen Heeres
am Kriege teil.
Auch ich >var einer von diesen.
Vier Jahre nach dem Ende des Krieges hatte
ich Gelegenheit, aus einer Reise zu Verwandten
meine Geburtsstadt Frankfurt-Sachsenhausen sowie
auch das nahe Osfenbach zu besuchen. Ich lenkte
meine Schritte dort nach beut alten Jsenburger
Schloß am Main und erkannte sogleich, auch das
alte Brückengeldhaus dicht dabei. Ein Wirtshaus-
schild prangte daran: „Zur alten Wachstube". Ich
betrat die Schenke und ließ mir einen Schoppen
„Äppellvoi" geben. Meinen Platz wählte ich am
oberen Fenster der Längsseite des kleinen, altertüm-
Rauhreif bei Mondschein.
Alles Dasein ward zu Traum und Mythe,
Wo der Frost geschritten seine Bahn.
71ur der Mond, die große bleiche Blüte,
Hat sich wunderherrltch aufgetan.
lichen Raumes. Aus der Unterhaltung mit dem
Wirt erfuhr ich, daß ich mich in dem alten Brücken-
gelderheberraum befand, und daß gerade durch das
Fenster, an dem ich mit dem Rücken saß, das
Brückengeld eingenommeir luorkit war! Hier also
Ivar mein Großvater von 1861 bis zu seiner Pen-
sionierung 1876, 15 Jahre lang, tätig gewesen,
und jetzt saß ich, der Sohn seiner Tochter Therese,
hier und gedachte seiner und der alten, aus feinen
Erzählungen mir bekannten Zeiten!
Wie hatte sich aber alles verändert!
In der Umgebung des Schlosses waren neue Ge-
bäude errichtet, die Schiffbrücke bestand seit 1887
nicht mehr, ein großer Damm mit Promenade
trennte den Main von feinem Ufer, das Brücken-
geldhaus nebst Wachtstube war eine Schenke, und
von den Soldaten, von der einstigen Garnison
Ofsenbachs ivar nichts mehr zu sehen: der Krieg
und seine Folgen hatten sie beseitigt. Wie gut,
dachte ich, daß das mein Großvater nicht mehr
erlebt hat! Doch ich riß mich von meinen Ge-
danken los, trat aus dem Dämmerlicht der Schenke
mit ihren Erinnerungen an vergangene Zeiten
hinaus aus den sonnenbestrahlten Platz, in die
Gegenwart, und blickte auf die stattlichen Gebäude
hinter dem alten Schloß. Das Wort des Dichters
kam mir dabei in den Sinn:
Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen!
Angehaucht von dein krtstall'neu Dunst,
Ruh'n in fremdem Zauber die Gefilde.
Keines Frühlings farbenfrohe Kunst
Schafft so feine, kostbare Gebilde.
Weißer Alben Geisterhände warfen
Spitzenschleker um die Wälder zart,
Kaum bewegte leise Lüfte Harfen
In des Mondgotts langem Silberbarl.
Karl von Der! epsch.
Aus: „Gib mir Sommer!" Neue Gedichte von Karl von Berlepsch. Verlag Velhagen & Klasing (Bielefeld und Leipzig).
Der Schäfer am roten Berge. Von Gottfried Buchmann.
Auch Heuer zieht es mich immer wieder zu dem
Alten am roten Berge. Eins ist gewiß: Drüben
int Tal, im Park, am Brunnen des berühmten
Kurorts ivandelt manch seltsamer Kauz, promeniert
ein ganzes, farbiges Rassenragout; aber eine so aus-
geivachsene Knorre wie btcfen Schäfer traf ich
dort nie. Es gibt keine Brücke von drüben nach
hier. Das „Wesen" drüben liegt nicht nur örtlich,
sondern auch seelisch tief und fremd unter ihm.
Seine Welt ist hier oben, und diese Welt hat
ihren ruhigen, harmonischen Fluß. Und ihren Frie-
den dazu. An einem schönen Sommertage, bei
sinkender Sonne, stieß ich auf ihn. Schars hob
sich sein Umriß von dem klaren, purpurnen Him-
>uel ab. Und doch war alles an ihm weiche,
lässige Linie. Die grobgeschuhten Füße gemessen
breit gestellt, den kräftig-hageren Körper etwas nach
vorn geneigt, die beiden braunen Fäuste am Schip-
penstiel, sich ganz sachte wiegend und stützend, so
stand er da. Man glaubt, so könnte er einig stehen
ohne Ermüden. Aber nachmachen kann inan's ihin
nicht. Und vieles nicht! Sein Gang — er macht
den Weg von der Domäne nach hier am Tage
viermal — ist ein scheinbar gemächlich Schreiten.
Aber laus einer mit, er kommt in sehr soliden
Schweiß, und er wundert sich baß, wie energisch
der Alte die Strecke frißt. Und schwitzt nicht.
Er hat sich nie von der Kraft der Erde, nie aus
dem Bann und Weben der Natur gelöst. Er ist
ein Stück von ihr und hat den heiligen Rhythmus
im Blute. Das ist das Geheimnis. Dem Gesetz
von der Spannung und Entspannung, von dem
264
man in turn- und sporthygienischer Beziehung jetzt
mehr und mehr ahnt und in schönen Artikeln und
Lehrbüchern wissenschaftlich und gelehrt redet, die-
sem Gesetze folgte triebhaft der Alte von jung
an. Darum versteht er von diesen modernen Dingen
auch kein Wort.
Mit seinem Alter steht es ähnlich wie mit
seinem Hut. Die Bestimmung ist schwer und geht
daneben. Auf Filz, Bart und Haut liegen die
Runen unzähliger Wetter. Aber auch vieler Som-
mer Sonne brannte ihre Male. Und so mag
denn dieser Hirt so zwischen fünfzig imi> achtzig
sein. An sich ist das gleichgültig. In seiner Ju-
gend waren unter seinen Schafen immer etwelche
räudig, ein paar hatten den Husten, die meisten aber
gediehen, wurden feist und gaben gute Wolle. So
ist es noch. Und so ändert sich die Welt des
Alten kaum. Nur die Hunde wechseln je und dann
ivie die rindernen Stiefel. Aber treu und brauchbar
sind jene, dicht und dauerhaft diese immer. Dafür
sorgt er.
Karriere ist weiter nicht zu machen, seit er
den schönsten Karren — er ist manneshoch, hat
Bettlade, Wandschrank und Sitz —- int ganzen
Umkreis besitzt. Er braucht sich nicht mehr zu
bücken, wenn er ins Stroh kriecht. Mehr kann
man nicht verlangen. Freilich, einen kräftigen Kau-
tabak weiß er zu schätzen, und am Sonntag setzt
er sich int Dorf auch ein Stündlein zum Bier.
Sonst aber giert er nicht wie wir „Gebildeten"
nach Taumel und Genuß, und kein Neid wuchert
giftig am Grund seines biederen Herzens. Wozu
auch Mißgunst? Um Haß mtb Dunst, um Eitelkeit
und Narretei? Zum Tanzen, und sei es selbst vor
dem Mammon, ist er nicht geschaffen.
In vielem ist er übrigens der Kultur weit voraus.
So hat er die Schöpfungen auch modernster Herren-
mode überholt; denn seine Kleidung ist absolut
praktisch und somit schlechthin vollkommen.
Auch sein neuer Mantel ist es. Gerade dieser
Mantel hellt so einiges auf. Es ist ein ganz
schwerer, graiter Offiziersmantel von der prima,
prima Sorte anno 14. Gehört hatte er dem gefallenen
Einzigen des Domänenpächters. Dieser Pächter mm
Der alte Bau.
Sie haben alle daran gebaut
Von Ahn zu Ahn
Und haben auf ihr Geschlecht vertraut
Und das Ihre getan.
Und wenn der Feind die Wand zerschoß,
Und das Dach verbrannt,
Sie ruhten nicht, bis wieder groß
Das Burghaus stand.
fand keilten treueren und würdigeren Menschen und
auch keinen, der den Mantel (bis auf die abge-
trennten Achselstücke) völlig unverändert getragen
hätte als den alten Schäfer. Diesen vom Ge-
schmack des Tages völlig unabhängigen und vom
Haß gegen alles Vergangene freien Mann! Schwebt
nicht eilt feines Licht um Geber und Nehmer? -
Aber dieser Mantel hat mir gewissermaßen plötz-
lich die ganze, schlichte Urtümlichkeit des alten
Schäfers aufgedeckt. Wieso? Nun, ich habe es
zwar immer für eine feine, schwere Kunst gehalten,
in jeder Maske auch wirklichkeitsecht der jelveils
Darzustellende zu sein. Das gelingt nicht mal
jedem zünftigen Schauspieler, geschweige jedem ge-
wöhnlichen Sterblichen. Dieser Alte aber kennt
offenbar die viel höhere Kunst, tu jedem Kleide
(wie der Mantel beweist) dennoch immer ganz
er selber zu sein. Ich weiß, der wäre in Gold,
Samt und Purpur imnter doch stark und eindrucks-
voll stets der alte, knorrige Schäfer vom roten
Berge. Er ist es von Bluts wegen, er, der Letzte
ans einer ganzen Geschlechterreihe von Schäfern.
Wie ehrlich hat er sich über den Mantel gefreut!
Andre freuen sich über eine Bombenerbschaft, einen
gesegneten Großeinkauf, ein Riesengeschäft an der
Börse; er über den pikfeinen, wetterfesten Mantel.
Es ist dasselbe; nur, daß der Alte gesund schläft,
seine Nerven an der frischen Lust jung hält und
an seinen einsamen Wegen da und dort die blaue
Blume des Gliicks in tiefstem Frieden grüßt.
Tie Einsamkeit hat ihn nicht stumpf gemacht.
Wer ihn für dumm nimmt, eckt an. Der Alte
weiß, daß es faule und fleißige Hunde, dumme und
finge, redliche und gefährliche Menschen gibt; er
versteht zu unterscheiden. Er hat „den Blick".
Und wenn ich auch int ganzen wohl kaum mit thut
tauschen möchte, um diesen untrüglichen Blick für
seine Schutzbefohlenen sonnte ich ihn beneiden.
Jedem gelehrten Psychologen ist er darin ent-
schieden über. Tu zweifelst? Laß es, es hat feinen
Zweck. Wenn Du es z. B. wünschen solltest, holt
Dir der Alte vom roten Berge aus 250—300
Schafen, die ihn für gewöhnlich umgeben, tot-
sicher und ohne Zögern den größteit Schafskopf
heraus. Das mache ihm mal einer nach. — —
Und wenn vom Alter barst der Stein
Und im Wetter verdarb,
Sie bauten und sagten: Bicht müde sein!
Bis ihr Atem starb.
Wir haben alle daran gebaut
Bis auf diesen Tag.
Hilf Herr, daß nicht noch einer schaut,
Wie es stürzen mag!
Karl von Berlepsch.
AuS: „ Gib mlr Sommer!" Neue Gedichte von Karl von Berlepsch. Beklag Belhagen & Klafing (Bielefeld und Leipzig).
265
Urgeitltcfye Aunde am 'ß^tlofopEemoeg in Kassel.
An vielen Stellen ist zur Zeit auf Kasseler
Stadtgebiet der Boden der Erde ausgeschlossen,
und wir tun einen Blick aus Gestein, das uns
durch seine Buntheit, den Wechsel seiner Bänder und
Schichten erstaunt: oder nur sehen, wie der Mensch
zahllos geschäftig Berge abträgt und Täler einfüllt.
Sv wird der urweltliche Charakter, der in allein
verborgen schlnniinert und an dem wir nur zu oft
achtlos vorübergehen, ivieder näher gerückt.
Bei beit Arbeiten zur Regulierung der kleinen
Fulda fanden sich an der Ecke Neue Straße und
Philosophenweg Prähistorische Scherben, Schalcn-
teile, mit der Hand gearbeitet, geschivärzt und im
unteren Teil durch Schlickbewurs gerauht, also
typische Latenekeramik des fünften vorchristlichen
Jahrhunderts, fast sechs Bieter unter der aufge-
schütteten Straße. Auch Knochen ziveiscllos dilu-
vialer Tiere kamen zum Vorschein, aus einer um
Jahrtausende älteren Erdperiode. 130 Meter süd-
östlich der Scherbensundstelle lagen sie in vier
Meter Tiefe im umgeschichteten Löß, der dort in
Mächtigkeit von vier bis fünf Metern ansteht.
Tank dem Entgegenkommen des städtischen Ties-
bauanites, das dem Landesmnseum von den Funden
sofort Mitteilung machte und dank der Achtsamkeit,
mit der Lehrer Eckhardt von der Bürgerschule 20
die Fragmente sammelte, konnten die Funde nicht
nur geborgen, sondern auch der Spaten zu weiterer
"Nachgrabung angesetzt werden.
Unweit der Scherbenfundstelle in die Tiefe gehend
durchstießen nur bei 0,70 Meter unter dem Rasen
den alten Pflasterhorizont des heute höher gelegten
Philosophenweges und trafen etwas über zwei Meter-
tief wiederum ans den Knochen eines eiszeitlichen
Tieres, in dem Herr Dr. Heilig vom Naturalien-
museum den Unterkiefer eines Mammuts erkannte.
Ter mit all seinen Zähnen wohlerhaltene Kiefer
lag hier in einer Zwischenschicht zwischen Schotter
und Lößauflagerung. Tiefe horizontal durchgehende,
auffällig feinsandige und geringmächtige Schicht ist,
>vie wir den Feststellungen des vorzüglichen Ken-
ners der heimatlichen Geologie Herrn Penndorf
verdanken, als oberer Schotterhorizont anzusehen,
der nach Beginn der Lößablagerung als nochmaliger
fluviatiler Niederschlag sich bildete. Unmittelbar
darunter und daneben lagen im Schotter große
tertiäre Quarzit- und Basaltblöcke, die anfangs wie
eine Steinsetzung von Menschenhand erschienen, aber
bei näherer Untersuchung als geologisches Geschiebe
sich eriviesen. Tiefe den Löß unterlagernden Schotter-
treffen wir in dem ganzen Flußtätchen zwischen Schön-
felder Park (Röt und Muschelkalk) und Weinberg
(Muschelkalk). In jene erodierte Senke ist aus dem
Habichtswald ein Gewässer, die Trusel (kleine Fulda)
mit stärkeren Wassernrengen als heute herunterge-
flossen. Das beweisen die Schotter an der Basis
dieser Telle, die an der tiefsten Stelle mehrere
Meter mächtig, nach den Hängen zu schwächer wer-
dend anstehen.
266
Tarin findet sich auch eine Mnschelart (Ueetun-
eulu8 obovatrw), die aus ausgearbeitetem Kasseler
Meeressand-Oberoligozän stammt, der heute noch
im Habichtswald ansteht. Tie aus Basalt und
Muschelkalkgeröllen bestehenden Schotter sind Neben-
talschotter zum Unterschied der Fuldaschotter; ihre
Abrundung ist noch nicht vollkommen, da sie keinen
großen Transport hinter sich haben. Auf diese
Bachschotter, die zu Beginn der Eiszeit herunter-
gespült sind, hat sich die vier bis fünf Meter dicke
Lößschicht mit ganz wenigen Kalkkonkretionen ab-
gesetzt, die nochmals durch Wasser umgeschichtet
wurde. Nahe an der Grenze zwischen Schotter und
Löß fanden sich die ertvähnten Spuren der Vertreter
eines glazialen Klimas.
Tas Mammut (Elephas primigenius) lebte in
der kalten Steppe, deren Hauptrelikt der durch
Winde angewehte Löß ist. Jene diluvialen Steppen
stimmten erwiesenermaßen im wesentlichen mit den
heutigen Steppen Südrußlands überein, mit denen
sie auch alle typischen Säugetierarten gemein hatten.
Ter mit Woll- und Granne»pelz gegen die Kälte
geschützte Eiszeitelefant, ein Pflanzenfresser, war
in ganz Europa verbreitet. Sein südlichstes. Vor-
kommen ist in Nordspanien, Mittelitalien, im
Nordbalkan und am Südrande des Schwarzen Meeres
nachgewiesen. In Niederhessen fanden sich bis jetzt
(nach den Zusammenstellungen Blankenhorns) außer
am Weinberg Reste vom Mammut bei Grifte, bei
der Knallhütte, am Dörnberg, bei der Ziegelei an
der Einmündung des Quellgrabens ins untere Ahna-
tal und bei den Steinbrüchen hinter Wolfsanger,
in neuerer Zeit auch am Wartberg bei Kirchberg
und bei den Ziegeleigruben an der Holländischen
Straße in Kassel. In jeder einigermaßen voll-
ständigen Faunenfundstätte des Eiszeitalters er-
scheint als Begleiter des Mammuts und in an-
nähernd derselben Verbreitung (außer Italien) das
wollhaarige Nashorn (Rhinoceros antiquitatis).
Von diesem Dickhäuter stammt einer der südöstlich
unserer Mammutstelle zu Tage gekominenen Schen-
kelknochen. Aus Niederhessen fanden sich Reste vom
wollhaarigen Nashorn außerdem am Möncheberg,
bei Wolfsanger und bei Niederkanfungen.
Eine ganze Reihe bildlicher Darstellungen dieser
beiden seitdem erloschenen Pachydermen kennen wir
aus den Höhlen des Eiszeitmenschen, der uns'sein
Jagdleben eindrucksvoll illustrierte. Menschliche
Kulturreste aus dem Paläolithikum aber sind in
Hessen noch nicht zum Vorschein gekommen, was
wohl nur auf Zufall beruht. Wie die anfangs er-
wähnten Scherben der so viel jüngeren Periode
so tief in den Boden gelangten, bleibt rätselvoll.
Vielleicht entstammen sie einer auf dem Wein-
berg durchaus möglichen prähistorischen Siedelung,
aus der sie durch Wasser hinunter und in das
tiefer gelegene Gebiet eingespült wurden. Vielleicht
klären spätere Funde und Untersuchungen diese
Frage noch auf. Alexander Langsdorfs.
Von Valentin Traudt.
Der Einbruch.
Aus: Valentin Traudt, Leichtes Volk. Kassel (Weser-Main-Verlag, I. Kämpfer) 1928.
Das Haus war nicht sehr geräumig und schon
alt und gebrechlich. Wie man früher in manchen
Orten baute, unter der Wohnstube, in der auch das
Himmelbett stand, der Kuhstall, oben ein Gerümpel-
boden und nebenan eine dunkle Kleiderkammer, die
nach Apfeln roch. Aber die Leute waren zufrieden
und glücklich bis aus den Tag, an dem bei ihnen
eingebrochen worden war. So etwas hatte man
in den letzten fünfzig Jahren im Dorfe noch nicht
erlebt. Eingebrochen. Zweimal sogar.
„Bei Spoilers ist eingebrochen worden!"
„Net zu glaube."
Warum nicht bei dem Bürgermeister oder dem
Pfarrer oder dem Schmied? Bei denen konnte
man doch etwas vermuten! Aber nein, bei Hollers
war eingebrochen ivorden. Und was war mitge-
nommen worden? Ein Schweinsbläschen mit einigen
Weißpfennigen und einem Kassenmännchen und eine
uralte Spindeluhr. Der ganze Reichtum also!
Natürlich wurde Anzeige erstattet. So ein ge-
ivaltiger Einbruch!
Also kam der Herr Amtsrichter aus dem be-
nachbarten Städtchen, ein gewaltiger Herr von zwei
Zentnern, ohne Frage gut genährt. Aber schlecht
angezogen und meist ohne Kragen! — Die seien
ungesund! — Allein aber konnte er nicht kommen.
In seiner Begleitung war der Herr „SekentarN
Auch der schlachtete um Nikelchestag zivei Schiveine
und hatte ein Fäßlein Ol und ein Fäßlein „Sol-
dan" aus Großseelheim im Keller. So wvg er
denn auch nicht iveniger als der Amtsrichter. Er
hatte nur weniger zu sagen, dafür aber das Proto-
kollbuch unterm Arm.
Da aber der Einbrecher noch irgendivo im Haus
versteckt sein konnte, mußte noch der Gerichtsdiener
mit. Das war ein baumlanger Kerl, der alle
Wirtshäuser in der Runde kannte, tagsüber zwanzig
Kännchen petzte und zum Frühstiick und Vesper ein
Stück Speck verzehrte so groß wie seiner Mutter-
Gesangbuch. Der wog nette 224 Pfund.
Als diese hohe Gerichtsbarkeit bei dem Holler
über die Schwelle kam, wackelte das ganze Haus.
Überall suchten sie nach den Spuren des Ein-
brechers, der Gerichtsdiener mit einer gespannten
Türkenpistole in der Faust! — Kann man wissen?
Endlich steigen sie die schmale Stiege hinauf
auf den Gerümpelboden. Mäuse knabbern und
rascheln. Sie halten den Atem an und erbleichen.
Der Gerichtsdiener würgt am Abzug. Die Pistole
geht aber nicht los. Doch da gibt es plötzlich ein
Knistern und Knattern. Der Herr Amtsrichter bricht
durch die Decke in die Wohnstube und gerade in eine
Schüssel voll dampfenden Haferbreis. Au weh! Der
Gerichtsschreiber folgt sofort gehoZamst; aber er
verbrennt sich nicht. Allein der Gerichtsdiener bleibt
mit dem Bauch zwischen den Wickelhölzern hängen.
Hinauf kann er nicht. Also ziehen sie ihn her-
unter und reißen ihm die .Hosen auf.
Der Holler fragt: „Wer bezahlt mir den Scha-
den?"
„Was? Schaden? Das Amtsgericht bezahlt ihn
nicht!"
„So?"
„Wir sind die Untersuchungskommission."
„Aber schlimmer als der Einbrecher! Das kostet
mich doch mehr als ein Holländer Gulden? lind
mei' Uhr?"
„Der Fall ist von Amtswegen nach Vorschrift
zu klären versucht. Augenscheinstermin hat nichts
ergeben."
Och doch! Ein großes Loch in der Decke und in
seiner Hose.
Das Trio trabte ab in das „Weiße Roß" und
verzehrte eine große Blasenwurst, die mit einem
Liter „Soldan" verdaulicher gemacht wurde. Bier
trank man damals auf den Dörfern noch nicht. Mit
dampfenden Nasenwärmern zog dann die Kom-
mission ab, nachdem die Wirtsfrau des Gerichts-
dieners Höslein mit Überwendlmgsftichen luftdicht
gemacht hatte.
Im Dorf wurde danach eine Sammlung ver-
anstaltet, daß wenigstens der zweite Einbruchs-
schaden ausgebessert werden konnte.
Der Holler war noch einige Monate berühmt;
aber dann flaute seine Bedeutung ab.
Die Zeit frißt alles.
Der Melsunger Bartemveher.
Es gibt wohl kaum einen Ort im Hessenland, der
nicht seinen Spitznamen hätte. Wie die Felsberger
die „Hasenschützen", die Eschweger die „Tütemänner",
die Lichtenauer die „Karpfenfänger", die Hersfelder die
„Mückenstürmer", die Rotenburger gar die „Bornsch ... r"
heitzen und die Wolfhager als „Wolfhager Zwiebäcke"
begrüßt werden, so tragen die Bewohner des zwischen
den hessischen Bergen am Ufer der Fulda gelegenen
Melsungen seit alters den Namen der „Barten-
wetzer". Karl Lyncker schrieb vor etwa 75 Jahren:
„Es würde die Einwohner der Stadt Melsungen
sehr böse machen, wenn man sie „Bartenwetzer" nennen
wollte, und doch^ führen sie diesen Spitznamen im
ganzen Lande. Sie haben oder hatten nämlich die
Gewohnheit, ihre Barten auf der steinernen Brüstung
der Fuldabrücke zu wetzen, wovon die vielen Ver-
tiefungen au den Steinplatten entstanden, die zuletzt
die Aufmerksamkeit und den Spott der Durchreisenden
erregten."
Mit dem Namen hat es schon seine Richtigkeit;
aber es gibt heute keinen Melsunger mehr, der über
diesen^ Beinamen böse wäre. Ganz im Gegenteil, sie
sino stolz daraus. Beginnt doch ein Melsunger Poem
mit den Worten:
267
Es ist bekannt in weiten Kreisen,
baß wir die „Bartenwetzer" heißen.
Mit Ehren tragen wir den Namen,
den wir aus alter Zeit bekamen.
Für Ordnung in den Hausrat-Dingen
will er uns stets ein Loblied singen;
denn wer den Sinn auf Ordnung setzt,
der hält sein Werkzeug scharf gewetzt,
hält Beil uno Barte, Messer, Schere
so scharf und blank wie seine Ehre —
Und dem ist es ein Kompliment,
wenn man ihn „Bartenwetzer" nennt.
Jedem, der einmal die alte sechsbogige, 1596 er-
baute Fuldabrücke überschritten hat, werden die vielfach
tief ausgewetzten Randsteine dieser ehrwürdigen Brücke
aufgefallen sein. Sie erinnern daran, wie die Vor-
fahren der heutigen Melsunger, wenn sie in Mütze
und Biberjacke zum Holzfällen in die reichen Wal-
dungen der Stadt gingen, erst einmal aus der alten
Brücke halt machten, uni ihre Barte scharf zu wetzen.
Die Bezeichnung „Bartemvetzer" für die Melsunger ist
schon sehr alt. Über die Brücke fahrende fremde Fracht-
fuhrleute werden sie zuerst den wetzenden Melsuugern
zugerufen haben, und so hatten auch sie, wie ihre
Landsleute in den anderen hessischen Städten, ihren
Spitznamen weg.
Aber tvas einst gutmütiger Spott war, ist heute
längst zum Ehrennamen geworden. Und so war es
eine glückliche Anregung Konrad Berneckers, des rührigen
Verlegers des „Melsunger Tageblattes" und der ver-
dienstvollen „Heimatschollen", gleichzeitig mit der Fertig-
stellung des in seinem alten Fachwerkstil erneuerten
Rathauses von 1556 als Wahrzeichen der Stadt im
Aus Heimat und Fremde.
5) o ch s ch u l n a ch r i ch t e n. M a r b u r g: Am 29.
Oktober wurde der neue Rektor für das Amtsjahr
1927/28 in sein Amt eingeführt. Der scheidende Rektor
Geh. Rat Prof. Dr. B u s ch erstattete den Jahres-
bericht und übergab sodann dem neuen Rektor, dem
Professor der Theologie D. Freiherrn v. Soden, die
Insignien der Rektorwürde. Dieser hielt hierauf seine
Antrittsrede über „den Begriff der Wahrheit in Ver-
gangenheit und Gegenwart". — Bei der endgültigen
Immatrikulation begrüßte der Rektor Prof. Dr. Frei-
herr von Soden die Studierenden mit herzlichen
Worten und erläuterte u. a. den Begriff der akade-
mischen Freiheit. — Tie Gesamtzahl der Studierenden
beträgt 2565, darunter 431 Frauen. Diese Zahl wurde
bis jetzt noch in keinem Wintersemester erreicht. Auf
die einzelnen Fakultäten verteilen sich die Studierenden
wie folgt: Theologen 194 Männer, 13 Frauen, Juristen
767 Männer, 15 Frauen, Mediziner 412 Männer, 60
Frauen, Philosophen 758 Männer, 346 Frauen. —
Der Direktor der chirurgischen Klinik, Prof. Dr. Arthur
L ä w e n nahm den Ruf auf den Lehrstuhl der Chirurgie
an der Universität Königsberg an; er >var seit 1919
Nachfolger von Prof. König. — Der seit 1922 au
der Universitätsbibliothek ivirkende Bibliothekar Dr. Ul-
rich Leo wurde zum planmäßigen Bibliothekar an
der Greifswalder Universitätsbibliothek ernannt. — Am
26. November hielt Dr. phil. Freihe r r Klein-
f ch m i t von L e n g e f e l d seine Antrittsvorlesung
über „Neue Wege und Ziele in der englischen Philo-
logie". — Am 24. September verschied 60 jährig der
zu Sontra geborene Universitätsverwaltungsoberinspektor
Rechnungsrat Friedrich B o e ck e l, der 30 Jahre lang
26s
Rathausgiebel die Figur eines Bartenwetzers anzu-
bringen, und zwar in der Form, daß beim zwölften
Glockenschlag aus dem Erker unter der Uhr der historische
Bartenwetzer hervortritt und seine Barte wetzt, —
nicht nur in Erinnerung an alte Zeiten, sondern auch
als Symbol der Arbeitsamkeit, die immer wieder ihre
Waffen zum Kampf ums Dasein schärft. Der Ge-
danke wurde sofort von allen Melsungern daheim und
draußen aufs freudigste aufgegriffen. Magistrat und
Stadtverordnete gingen voran, Ausschüsse bildeten sich,
und freiwillige Spenden gingen von allen Seiten ein.
Noch freilich fehlt ein erheblicher Teil an der not-
wendigen Summe, aber es steht zu hoffen, daß auch
im übrigen Hessenlande zahlreiche freudige Hände zu
Spenden an den Verlag des „Melsunger Tageblattes"
oder an die städtische Sparkasse in Melsungen bereit
sind oder den Plan wenigstens durch Erwerb einer
Bartenwetzer-Postkarte (50 Pfennig) fördern. Inzwischen
hat sich dieser Plan noch weiter verdichtet. Gleich-
zeitig mit der Einweihung des Bartenwetzers soll im
Frühfahr oder Sommer ein großes Heimatfest alle
Melsunger aus nah und fern und alle Freunde der
schönen Hessenstadt vereinen, um so den Heimatgedaukeu
in tatkräftiger Weise zu stärken.
Wie Eschwege seinen lustigen Dietemann, Spangenberg
seinen reizvollen Liebenbachbrunnen besitzt, so wird nun
auch Melsungen seinen Bartenwetzer erhalten, und zwar
als Geschenk der Bürgerschaft anläßlich der Wiederher-
stellung des in alter Schöne erstrahlenden Rathauses.
Es liegt in der Hand unserer hessischen Landsleute,
daß das löbliche Werk auch wirklich zur Ausführung
kommt und damit eine der ältesten hessischen Städte
eine Sehenswürdigkeit erhält, die zugleich hessischer
Heimatliebe beredten Ausdruck gibt. H.
im Dienste der Hochschule stand. — Der Vorsitzende des
Universitätsbundes Marburg Geheimrat Dr. phil. b. c.
Dr. med. h. c. Dr. ing. e. h. Adolf Häuser, ein
alter Marburger Burschenschafter, Generaldirektor der
Höchster Farbwerke, beging am 26. November seinen
70. Geburtstag. Die Stadt Marburg, der er eine
namhafte Stiftung zur Erbauung eines Hallenschwimm-
bades machte, ernannte ihn zum Ehrenbürger. — Der
Studentenheimverein erwarb das Haus des Instituts-
direktors Dr. Müller, um darin ein Heim für Stu-
dentinnen zu errichten. — Am 20. Oktober verschied
der Historiker der Universität Freiburg i. B„ Geh.
Hofrat Prof. Dr. Georg v. B e l o w im Alter vou
70 Jahren, der bekanntlich auch an unserer Universität
gewirkt hat. — Gleichfalls ein früherer Angehöriger
unseres Lehrkörpers (1889—96) war der 75 jährig ver-
storbene frühere Strafrechtslehrer an der Universität
Heidelberg Geheimrat Prof. Dr. Karl von Lilien-
thal. — Im Alter von 82 Jahren starb zu München
der frühere langjährige (1885—1917) Ordinarius der
Geologie unb Paläontologie an der hiesigen Universität
Geh. Rat Prof. Dr. Emanuel K a y s e r. Bis zu
seinem übertritt in den Ruhestand war Kayser, einer
der bekanntesten^ Gelehrten seines Fachs, Direktor des
Geologischen Instituts und lebte seitdem in München. —
Gießen: Tie Zahl der Studierenden beträgt im
Wintersemester 1446, der Hörer 25, der Hospitantin-
nen 2, der Gasthörer 180. — Im Alter von 66 Jahren
verstarb Gymnasialdirektor i. R. Dr. Willi Barges,
Dozent für mittlere und neuere Geschichte. — Für
das Fach der wirtschaftlichen Staatswissenschaften habi-
üerte sich die Assistentin am staatswissenschaftlichen
Seminar Frau Dr. Charlotte v. Reichenau mit
einer Schrift über „Die Kapitalfunktion des Kredits". —
Das neu eingerichtete landwirtschaftliche Institut, das
durch Einbeziehung der Räume des seitherigen physio-
logischen Instituts' eine bedeutende Erweiterung erfahren
hat, wurde feierlich eingeweiht. — An unserer Univer-
sität hat sich eine Vereinigung auslandsdeutscher Stu-
denten gebildet. — Zu Ehrendoktoren wurden ernannt
der Pfarrer am Baseler Münster Ed. Thur n e y s e n,
der Verleger des „Gießener Anzeigers" Buchdruckerei-
besitzer Richard Lange und der Direktor der I. G.
Farbenindustrie Ludwigshafen, Regierungs- und Landes-
ökonomierat Franz Ströbele. — Darmstadt:
An der technischen Hochschule übergab der Rektor des
abgelaufenen Jahres Prof. Knippings das Rektorat
Pros. Dr.-Jng. K a m m e r. — Der Professor der
Mathematik Geh. Rat. Herrmann Wiener trat in
den Ruhestand. — Rektor und Senat verliehen Ge-
heimrat Professor Dr. Karl Bantz er in Marburg
sowie dem Fabrikbesitzer Emil Scheu ck in Darm-
stadt die Würde eines Ehrendoktors. — Göttin gen:
Anläßlich der Gedächtnisfeier des 100. Geburtstages
Paul de Lagardes verlieh die Universität dem Ver-
fasser des Romans „Volk ohne Raum" Hans G r i m m
zu Lippoldsberg a. d. W. die Würde eines Ehren-
doktors. — B onn: Der Assistent am gerichtsürzt-
lichen Institut der Universität Dr. meä. et phil. I.
Andre aus Fulda wurde zum Gerichtsarzt des Land-
gerichts Magdeburg ernannt.
Zum Artikel Marburger Ehrenpromo-
tionen von 1 827 in Heft 9/10. Heft 9/10
des „.Hessenland" bringt eine interessante Zusammen-
stellung der beim Marburger Universitäts-Jubiläum
1827 stattgefundenen Ehrenpromotionen. Am Schlüsse
ist bezüglich des Dr. pharm, die Ansicht ausgesprochen,
daß dieser Titel damals erstmalig verliehen wurde.
Dies entspricht nicht ganz den Tatsachen. Allerdings
handelt es sich hierbei um eine an hervorragende Apo-
theker verhältnismäßig selten verliehene Auszeichnung,
die bis jetzt für Deutschland im ganzen achtmal fest-
gestellt wurde, während der Titel im Auslande viel-
fach offiziell eingeführt ist. Die älteste bekannte Ver-
leihung in Deutschland stammt aus dem Jahre 1808,
um welche Zeit die Universität Rinteln den Apotheker
und Dozenten an der Universität Erfurt Chr. Friedr.
Buchholtz zum Dr. pharm, h. c. ernannte. Der zweite
Fall betrifft den Besitzer der Rosenapotheke in Kassel,
Obermedizinalassessor Georg Wilhelm Rüde, der von
der medizinischen Fakultät der Universität Marburg
1821 zum Dr. pharm, rite Promoviert wurde. 1836
erhielt dieselbe Ehrung von Marburg noch der Besitzer
der Hirschapotheke in Kassel, Obermedizinalassessor,
spätere Medizinalrat Gottlieb Friedrich Fiedler.
H. Gelder.
P e r s o n a l ch r o n i k. Die bekannte hessische Dich-
terin und Schriftstellerin Mathilde von Es ch st ru t h
(Pseudonym M. v. Eschen), die neben ihren Erzäh-
lungen und Jugendschriften vor allem auch aus sozialem
und frauenrechtlichem Gebiet schriftstellerisch tätig war,
beging ihren 88. Geburtstag. — Am 30. Oktober
feierte Dom-Musikdirektor Ferdinand R ü b s a m in
Fulda, vor allem bekannt durch sein feinsinniges Orgel-
spiel im Dom, seinen 75. Geburtstag. — Dem in
Büdingen wohnenden Professor Hermann v. Jhering
widmete der Wissenschaftliche Verein in Buenos Aires
anläßlich seines 50 jährigen Doktorjubiläums ein Heft
seiner Vereinszeitschrift „Phönix" als Festzeitschrift,
v. Jhering hat lange Zeit in Südamerika seine Forscher-
tätigkeit ausgeübt und in Sao Paulo ein Museum
gegründet. Der Deutschenhaß tvährend des Weltkrieges
brachte ihn um seine Stellung. — Die Gießer Stadt-
verordnetenversammlung wählte den Spielleiter des
Stuttgarter Schauspielhauses Dr. Rolf P r a s ch^ zum
Intendanten des Gießer Stadttheaters. — Zu Stadt-
räten des Kasseler Magistrats wurden Magistratsrat
Dr. Fritz Theiß, ein geborener Kasselaner, und Re-
gierungsrat Richard Sarrazin, der frühere Landrat
des Kreises Melsungen, gewählt. — Als Nachfolger des
Baurats Dr. H o l t m e y e r wurde Dr. Friedr. B l e i -
bäum zum Bezirkskonservator für den Regierungs-
bezirk Kassel gewählt. — Baurat Dr. ing. et phil.
Aloys Holtmeye r, der bereits sein neues Amt
als Diözesankonservator in Köln angetreten hat, war,
ehe er 1913 Bezirkskonservator wurde, Hochbaudezernent
der Eisenbahndirektion Kassel, und hat u. a. die Bahn-
höfe in Marburg, Treysa und Corbach ausgeführt.
Einen Überblick über seine Tätigkeit als Konservator
bietet sein „Jahrbuch der Denkmalspflege". Auch gab
er verschiedene große Jnventarisationswerke der hessi-
schen Bau- und Kunstdenkmäler und die vortreffliche
Serre Alt-„Hessen" heraus. Eine Arbeit über die hes-
sischen Klöster steht noch aus. — Die städtischen Körper-
schaften in Treffurt ernanuten den Pfarrer Aloys
H ö p p n e r in Wanfried einstimmig zum Ehrenbürger.
— Der frühere Kammermusiker und Harsenvirtuose am
Kasseler Staatstheater, dem er seit 1882 angehörte,
William Deyerberg, beging am 1. Oktober sein
50 jähriges Künstlerjubiläum. — Der Organist der
Marienkirche in Hanau Daniel P a u l st i ch, der sich
besonders um die Schaffung des neuen Choral- und
Chorgesangbuches verdient machte, trat nach 50 jähriger
Tätigkeit im Dienst der hessischen Kirche in den Ruhe-
stand.
Todesfälle. Am 23 September starb im 81.
Lebensjahr der frühere Direktor der hessischen Landes-
bibliothek Dr. Edward L o h m e Y c r. In Rinteln 1817
geboren, war er nach der 1871 in Marburg bestandenen
Staatsprüfung an der höheren Bürgerschule in Ülzen
tätig, bildete sich aber dann zum Bibliotheksdienst aus,
promovierte 1881 in .Halle, wurde 1882 zweiter, 1886
erster Bibliothekar an der Kasseler Landesbibliothek
und später deren Leiter. Seit 1912 lebte er im Ruhe-
stand. Seine sprachwissenschaftlichen Abhandlungen ver-
öffentlichte er in der von ihm herausgegebenen ortho-
graphischen Zeitschrift „Reform". Der Zweigverein
Kassel des Deutschen Sprachvereins verdankte ihm sein
Entstehen. — Am 22. Oktober verschied zu Kassel der
Generalleutnant z. D. Friedrich F r i t s ch, ein Sohn des
unseren Lesern durch seine Mitarbeit bekannten, vor
einigen Jahren hochbetagt gestorbenen Geheimrats Fritsch.
In Kassel geboren, trat er 18 jährig 1867 beim Kasse-
ler Feldartillerie-Regiment Nr. 11 ein und erwarb
sich im Krieg 1870/71 als junger Leutnant das Eiserne
Kreuz. Seine Laufbahn führte ihn an die Spitze des
19. Feldartillerie-Regiments und der 15. Feldartillerie-
Brigade. Zuletzt hatte Exzellenz Fritsch die Stellung
eines Traininspekteurs inne. Als Generalleutnant zur
Disposition gestellt, widmete sich der liebenswürdige,
allzeit hilfsbereite alte Herr mit starkem Pflichtbe-
wußtsein dem Dienst der Allgemeinheit. So stand er
viele Jahre an der Spitze der Rotenkreuzvereine, des
Kasseler Sprach- und des Verschönerungsvereins. —
Am 28. Oktober entschlief der langjährige Direktor und
Kurator des Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen
Professor Ernst Albert F a b a r i n s. In Saarlouis
1859 geboren, hat er 30 Jahre lang seine erfolgreiche
Arbeu in Witzenhausen betrieben. 1897 war es ihm
gelungen, eine Vereinigung zur Errichtung einer deut-
scheu evangelischen Kolonialschule zu gründen. Im
März 1899 wurden in Witzenhausen die Arbeiten hierfür
ausgenommen und aus den Räumen des alten Witzen-
häuser Klosters eine Lehranstalt von besonderer Wich-
tigkeit für Deutschlands Weltgeltung geschaffen. Er
gründete ferner den evangelischen Hauptverein für
deutsche Ansiedler und Auswanderer. Tausende Aus-
ländsdeutsche wissen ihm Dank für seine fördernde
Hilfe. — Am 15. November verschied in Kassel nach
zweijähriger schwerer Krankheit Buchhändler Karl Vic-
tor. In Hilders 1871 geboren, war er Vorsitzender
des Rhönklubs. Als Verleger hatte er besondere Ver-
dienste um die Herausgabe hessischer Heimatliteratur,
besonders der Kasseler Mundart. — In Frankfurt
a. M., Ivo er von schwerem Leiden Heilung suchte,
starb am 28. November im 60. Lebensjahr der Ober-
Regierungsmedizinalrat Pros. Dr. Karl K raus e. Ju
Kassel als Sohn des bekannten Arztes Geheimrats
Gottsneö Krause geboren, wurde er nach erfolgreicher
klinischer Assistentenzeit als Nervenarzt und Psychiater-
Oberarzt im 6. Ostasiatischen Infanterie-Regiment, so-
dann Stabsarzt an der Kaiser Wilhelms-Akademie in
Berlin; mehrere Jahre las er auch als Privatdozent
an der Berliner Universität. Im Weltkrieg war er
aus verschiedenen Kriegsschauplätzen in leitenden Stel-
lungen tätig, zuletzt als Etappenarzt der Heeresgruppe
Pilderim in der Türkei. Nach dem Krreg war er
Begutachter beim Hauptversorgungsamt und gerichtlicher
Sachverständiger und gewann daneben eine große Pn-
vatpraxis. Krause war langjähriger Vorsitzender des
Kasseler Vereins für Naturkunde. — Fast 83 jährig
verstarb zu Hofgeismar der Baurat a. D. Eduard
Lambrecht. In Bettenhausen als Sohn eines
Brauereibesitzers geboren, machte er als Einjähriger
den Krieg 1870/71 beim Feldartillerie-Regiment Nr. 11
mit, verdiente sich seine ersten Sporen als Baube-
flissener in Ungarn beim Ausbau der ungarischen Staats-
bahnen und erhielt 1879 die Verwaltung des Landes-
bauamtes Hofgeismar, an welcher Stelle er 40 Jahre
lang wirkte. Die Kreise Hofgeismar und Wolfhagen
verdanken ihm die umfassenden Um- und Neubauten
sajr sämtlicher Straßen, wodurch die Schaffung emes
einheitlichen Wegenetzes erst ermöglicht wurde. Die
Weserbrücken ber Gieselwerder und Karlshasen, und
zahlreiche Diemelbrücken zeugen von seiner Tätigkeit.
1919 trat er 74 jährig in den Ruhestand. — Am 1. No-
vember verschied in Berlin der Geheime Justizrat Land-
gerichtsdirektor a. D. Dr. Felix Paul A s ch r o t t im
72. Lebensjahre. In Kassel als Sohn des Geheimen
Kommerzienrats Sigmund Aschrott geboren, war er-
lange Zeit als Landgerichtsdirektor in Elberfeld tütrg
und verbrachte die letzten Jahre in Berlin. Er arbeitete
besonders aus dem Gebiet der Strafrechtspflege und
war an der Reform des Strafgesetzbuches beteiligt.
Seiner Vaterstadt Kassel vermachte er etwa 3 Mil-
lionen Mark zur Errichtung eines Wohlfahrtshauses
und eines Frauenaltersheimes.
Familientag Zülch. Am 8. —10. Oktober
fand der zweite Familientag des Familienverbandes
Zülch im „Stadtpark" zu Kassel statt! Schon der
Begrüßungsabend am 8. Oktober war reich besucht.
In der Hauptversammlung am 9. Oktober begrüßte
der Familienälteste, Oberbürgermeister Zülch-Allenstein
die zum Teil von weither erschienenen Festteilnehmer,
darunter auch einige Namensträger aus einer noch nicht
als verwandt nachgewiesenen Linie. Studienrat Zülch-
Leipzig gab den Geschäftsbericht. Der 1925 gegründete
Vervand' zählt bereits 120 Mitglieder und gibt soeben
sein zweites Nachrichtenblatt heraus. Professor Kürsch-
270
ner-Marburg sprach über Sontra, die Heimat der Fa-
milie, und gab wichtige Archivfunde über Ahnen im
16. Jahrhundert bekannt. Ferner erörterte Rechts-
anwalt Dr. Strippel-Kassel die Mitarbeit des Einzelnen
an der Familienforschung und gab wertvolle Anre-
gungen zur Pflege des Familiensinns. Ein wohlgc-
lungener Autoausflug nach Schloß Wilhelmsthal am
10. Oktober beschloß den von 135 Personen besuchten
Familientag. Als nächster Tagungsort (6. Oktober 1929)
wurde Sooden-Allendorf bestimmt.
Physikalische Arbeitsgemeinschaft am
Kasseler L a n d e s m u s e u m. Wie bereits ge-
legentlich der Eröffnung der neu geordneten Jnstru-
mentensammlung mitgeteilt wurde, soll diese Samm-
lung durch eingehende Bearbeitung in wissenschaftlicher
Beziehung einem großen Interessentenkreise näherge-
bracht werden. Dieser Tage wurde nun eine Arbeits-
gemeinschaft gegrAndet, deren Aufgabe es sein soll,
die Jnstrumentensammlung in jeder Weise zu betreuen.
Eine sorgfältige Katalogisierung nach technischen Ge-
sichtspunkten, eine bibliographische Aufstellung der bis-
her erschienenen Veröffentlichungen, die Herausgabe
eines ausführlichen Führers und Werbung neuer Freunde
und „Stifter" werden die nächsten Aufgaben dieser
Kommission sein. Möglicherweise werden auch Füh-
rungen während der Besuchszeiten stattfinden können.
Die Vereinigung führt den Namen: Physikalisch-Histo-
rische Arbeitsgemeinschaft am Hessischen Landesmuseum
zu Kassel. Als Obmann wurde Studicnrat Dr. Dippel
bestellt, der schon seit längerer Zeit die Sammlung
bearbeitet; die Museumsverwaltung ist durch Dr. Hallo
vertreten.
F u l d a e r L a n d e s b i b l i o t h e k. Dem neuen
Direktor der Landesbibliothek ist es auf Grund seiner-
persönlichen Beziehungen gelungen, ein Zehr wertvolles
Stück für die Schausammlung zu erwerben. Auf seine
Bitte hat der Altmeister der Einbandkunst und Ein-
bandsorschung Gewerbelehrer a. D. Paul Adam in
Düsseldorf die von ihm hergestellte Rekonstruktion des
Einoandes des Ragyntrudis-Codex der Bibliothek ge-
schenkt. Der Band, der mit lauter Pergameutblüttern
gefüllt ist, zeigt in prächtiger Weise die ursprüngliche
Form des in seiner Art einzigartigen Denkmals ältester
Einbandkunst mit seiner feinen Durchbrucharbeit über
vergoldetem Lederüberzug. Der Ragyntrudis-Codex ist
bekanntlich einer der größten Schätze, die die Fuldaer
Landesbibliothek besitzt. Er ist das Buch, mit dem Boni-
fatius in unwillkürlicher Bewegung der Abwehr sein
.Haupt zu decken versucht haben soll, als er in Friesland
den Märtyrertod durch die Beilhiebe der Heiden erlitt.
Das Buch zeigt bekanntlich die Spuren der Schwert-
hiebe. Alle Blätter sind am oberen Runde durchhauen,
etwa über dreieinhalb Zentimeter tief.
Sammlung hessischer Volkslieder. Die
nunmehr seit einem Jahre bestehende Sammlung der
im ehemaligen Kurhessen noch lebendigen echten Volks-
lieder ist dank der gütigen Hilfe zahlreicher Einsender,
besonders aus der hessischen Lehrerschaft, rüstig vor-
wärts geschritten. Die bis jetzt aufgezeichneten Lieder
haben die Zahl 300 bereits erreicht. Sehr wertvolle
und zum Teil ziemlich umfangreiche Beiträge schickten
in den letzten Monaten noch ein: Oberschullehrer
S ch a a k e (Vollmarshausen, Kreis Kassel), Lehrer
S ch e r p (Obergrenzebach, Kreis Ziegenhain), Lehrer
Scholl (Eimelrod, Enklave, Kreis Frankenberg), Rektor
H u s s ch m i d t (Zierenberg, Kreis Wolfhagen), Lehrer
Hans Schnelle (Rotensee, Kreis Hersfeld). Um
weitere gütige Unterstützung und Einsendung von in
Wort und Weise aufgeschriebenen hessischen Volksliedern
tut die Landesbibliothek zu Kassel (Bolksliederarchiv),
von^der auch orientierende Vordrucke jederzeit kostenlos
angefordert werden können, bitten Dr. Wilh. H o p f,
Direktor der Landesbibliothek, Dr. Gustav Struck,
Bibliotheksrat, und Johann L e w a l t e r, Kassel.
Ein Werk R i ch a r d Hamanns über das
Straßburger Münster. Professor Richard
H a m a n n, der Ordinarius für Kunstgeschichte an der
Universität Marburg, hat die photographischen Auf-
nahmen für ein Werk über das Straßburger Münster
und seine Bildwerke geleitet, das demnächst im Deut-
schen Kunstverlag in Berlin erscheinen soll als Gegen-
stück zu den bekannten Büchern Pinders über die Tome
von Bamberg und Naumburg mit den Aufnahmen
Walter Heges. Man kennt Hamanns Photographierkunst
aus seinen Veröffentlichungen der Bildwerke von Olympia.
Die Einleitung des Werkes schrieb Dr. Hans Wei-
gert, ein Schüler Wilhelm Pinders und jetziger
Assistent Hamanns.
Naturdenkmäler im Kreise Ai e l s u n g e n.
Ter Regierungspräsident erläßt im Amtsblatt der Re-
gierung zu Kassel folgende Bekanntmachung: Auf Grund
des Z 30 des Feld- und Forstpolizeigesetzes in der
Fassung der Bekanntmachung vom 21. Januar 1926
werden im Kreis Melsungen folgende Bäume als Natur-
denkmäler unter Schutz gestellt: Die große alte kugel-
förmige Buche östlich vom Hochbehälter des städtischen
Wasserwerks im Stadtwald Melsungen; die große
Buche in Kraftshecke im Stadtwald Melsungen; die
alten Buchen hinter dem Lindenberg im Stadtwald
Melsungen; die Linde am Kasseler Tor in Melsungen,
Eigentum der Stadt; die Linde am Hospital St. Georg
in Melsungen, Eigentum des Hospitals; die Linde in
der Hospitalsgasse, Eigentümer Georg Morst in Mel-
sungen; die Linde am Huberg in Melsungen, Eigentum
der Stadt Melsungen; die alte Buche im Gutsbezirk
M a l s f e l d, rechts der Fulda, dicht über der Nürn-
berger Landstraße, Eigentümer: Heydenreich; die
Eiben beim Sundhof, Gemeinde Beuern, Eigen-
tümer: Landwirt Dörffler auf Sundhof; die alte
Eiche in dem Distrikt 120 der Försterei Mörs-
hause n, in dem Winkel zwischen Randweg am Enten-
psuhl und Waldweg; die Roßkastanie an der Nürn-
berger Landstraße vor den Gipsbrüchen der Gemarkung
tz e i n e b a ch, Eigentümer: Bezirksverband. Jede Be-
schädigung und das Beseitigen der Bäume ist verboten.
R i n t e l n. Tie Kirche in Großenwieden, eines der
ältesten Baudenkmäler des Kreises Rinteln, aus der
Zeit Heinrichs II. stammend und wegen ihrer Stil-
reinheit künstlerisch bedeutsam, wurde stilgerecht wieder-
hergestellt und ausgebaut.
S k e l e t t s u n d e bei Meimbressen. Kürzlich
wurden bei den Erdarbeiten zur Legung der Wasser-
leitung aus dem Opferberg menschliche Gebeine ge-
funden. Vor etwa zwei Jahren wurden am Abhänge
des Berges schon einmal mehrere Skelette ausgegraben,
so daß anzunehmen ist, daß hier einmal ein Be-
erdigungsplatz gewesen ist. Auch ist möglich, daß
in der Schlacht bei Wilhelmsthal" im Sieben-
jährigen Kriege, die sich zum Teil hier abgespielt hat,
gefallene Krieger an dieser Stelle beerdigt wurden,
denn die Skelette liegen in der Nähe der Oberfläche.
Schwarzenborn. Hier sind Bestrebungeit im
Gange, die Grenzbegehung, die in früheren Zeiten
alle 15 Jahre im Monat Mai veranstaltet wurde,
wieder ins Leben zu rufen. An der Grenzbe-
gehung nahmen außer der Stadtvertretung die ältesten
Bürger teil, die bei dieser Gelegenheit der Jugend
heimatkundliche Unterweisungen gaben. Bei der Länge
der zu begehenden Strecke, etwa 37 Kilometer, mußten
zwei Tage dafür angesetzt werden, oft wurde es auch
noch ein dritter. Die Nachbargemeinden waren eben-
falls bestellt. So schritt man zusammen die gemein-
schaftliche Grenze ab. Und abends saß man gemeinsmn
bet Speise und Trank im Gasthaus. Die Kosten be-
stritt die Stadtverwaltung, die bekanntlich noch heute
infolge des reichen Waldes der Notwendigkeit der Er-
hebung von Gemeindesteuerit enthoben ist. Der Stadt-
schreiber, der bei der Grenzbegehung auch nicht fehlen
durfte, verzeichnete gewissenhaft alle Vorgänge. Es
wäre zu wünschen, daß dieser alte Brauch wieder auf-
lebt, damit die Bewohner ihre Gemarkungsgrenze wie-
der kennen lernen.
S ch l ü ch t e r n. Geh. Reg.-Rat Dr. B o c h l a u
vom hessischen Landesmuseum in Kassel hat unter
Führung des Kreiskommissars für Bodenaltertümer,
Rektors a. D. G. M a l d f e l d - Steinau, die Stein-
hügel verschiedener Distrikte des Stadtwaldes Schlüch-
tern besichtigt. Besonders eingehend wurde der „Tu-
mulus" im Schnittpunkte der Distriktslinien 54, 55,
63 und 66 in Augenschein genommen, der den volks-
tümlichen Namen „Schweinsküppel" führt. Geheimrat
Dr. Boehlau glaubte, deu „Schweinsküppel" als vor-
geschichtliche Grabstätte ansprechen zu dürfen, deren Öff-
nung wahrscheinlich verschleime Funde erhoffen läßt.
Es soll deshalb demnächst mit dessen Aufdeckung be-
gonnen werden. Überhaupt soll in Zukunft die Fest-
stellung und Erforschung der vorgeschichtlichen Be-
festigungen, Siedlungen und Gräber im Kreise Schlüch-
tern entschiedener als bisher einsetzen.
Ziegenhain. Unser Heimatmuseum ist jetzt in
einem größeren Raum in einem Hause der Vorstadt
untergebracht worden. In seiner reichhaltigen Samm-
lung von Altertümern spiegelt sich die reiche Kultur
des Schwälmerlandes in der Vergangenheit. Es be-
steht die Absicht, ein Denkmal der Schwälmer-Kultur
in Gestalt eines Museumsgebäudes zu schaffen.
L a u t e r b a ch. Am 8. Oktober beging die Frei-
herrlich Riedeselsche Bierbrauerei und Mälzerei zu Lau-
terbach die Feier ihres 400 jährigen Bestehens.
Schotten. Im hiesigen Rathaus wird in der
großen unteren Halle ein Heimatmuseum für die Stadt
Schotten und den Vogelsberg errichtet werden. Eine
reiche Sammlung wertvoller Altertümer wird hier eine
würdige Aufstellung finden. Der Gemeinderat erteilte
hierzu seine Zustimmung.
Die Rettung des Naumannhofes. Wie
manchen unserer Leser bekannt sein wird, war der
Simmeshof, der uralte Familienbesitz der Vorfahren
des hessischen Landwirtes und Volksschriftstellers H.
Naumann in Nanzhausen (Kr. Marburg), zur Zwangs-
versteigerung ausgeschrieben. Der im Weltkrieg durch
schwere Verwundungen verletzte Sohn des alten Nau-
mann hatte sich in Geschäfte eingelassen, deren Trag-
weite er nicht übersehen konnte. Er wurde hierauf
entmündigt, doch der Hof war inzwischen so belastet,
daß er nicht mehr gehalten werden konnte. Ein Auf-
ruf an die vielen Freunde Naumanns brachte, wie
die Oberhessische Zeitung berichtet, eine Summe zu-
sammen, die es dem Ausschuß der Naumannhilfe er-
möglichte, ein Abkommen mit den Gläubigern zu treffen,
so daß oie Zwangsversteigerung, wie bereits gemeldet,
unterblieb. Obwohl eine Hypothek auf den Hof auf-
genommen werden muß, bleibt trotzdem noch ein Rest
bestehen, zu dessen Deckung der Ausschuß noch einmal
271
alle Freunde Naumanns aufruft, und zwar diejenigen,
die bisher noch nicht geholfen haben; aber auch alle
diejenigen, die schon einmal Hilfe zuteil werden liehen.
Auch der kleinste Betrag ist willkommen, um die Hilfs-
Bücherschau.
Marburger Jubiläumsliteratur.
Aus der anläßlich des Marburger Universitätsjubi-
läums erschienenen und der Universität gewidmeten Lite-
ratur haben wir den bereits hier ausgeführten noch eine
Anzahl höchst bemerkenswerter Werke nachzutragen. Da
ist vor allem die mit Spannung erivartete erste. Liefe-
rung des im Auftrag und mit Unterstützung der Preu-
ßischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin sowie
des Hessischen und Nassauischen Bezirksverbandes her-
ausgegebenen „H essen- N a s s a u i s ch e n Volks-
Wörter b u ch e s" (Marburg, N. G. Elwert, Preis
4.— RM), dessen Ausarbeitung in den Händen von
Privatdozentin Dr. Luise Bertholt» liegt. Seine
Ansänge gehen bis 1944 zurück, seine Entwicklungs-
geschichte, namentlich in den schweren Nachkriegszeiten,
kennen unsere Leser ans unseren jeweiligen Veröffent-
lichungen. Angesichts dieser Schwierigkeiten hat man
sich vorläufig auf die gekürzte, auf 2 Bände berechnete
Volksausgabe beschränkt, die aus dem gewaltigen Mar-
burger Wörterarchiv Professor Wredes basiert und eine
Zwischenstellung zwischen einem philologischen Lexikon
uno einem Lesebuch für Gebildete anstrebt. Besonderer
Wert wird aus die Wortgeographie gelegt; schon die
zahlreichen Kartenskizzen zeigen, daß das Werk von
dem Sprachatlas des Deutschen Reiches nicht zu trennen
ist. Der Heimatfreund wird neben den zahlreichen
urkundlichen Belegen viel Volkskundliches finden. Das
Werk, das niit den ersten 4 Bogen des zweiten Bandes
beginnt und in jährlich 2—3 Lieferungen erscheinen
wird, darf als aufschlußreiche Fundgrube unseres hei-
mischen Sprachschatzes in keiner Bibliothek, vor allem
auch in keiner Schulbibliothek fehlen. — Eine pracht-
volle Festgabe brachte das Historische Seminar, Ab-
teilung für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, mit der
fleißigen Arbeit von Margarete K i l l i n g „D i e
Glasmach erkun st in He s s e n. Ein Beitrag zur
Gewerbe- und Kunstgeschichte der deutschen Renaissance".
(Marburg, N. G. Elwert, XIV, 194 Seiten, 44 Tafeln
uno 24 Abbildungen im Text. Preis geb. 20.— RM.)
Das vornehm ausgestattete Werk will die Erinnerung
an die früher so hochstehende, jetzt fast vergessene Glas-
macherkunst Hessens wecken. Das war um so verdienst-
voller, als ivir außer dem Aufsatz von Landau aus
4843 über dieses glanzvolle Stück hessischer Vergangen-
heit nichts besitzen. Die Verfasserin konnte Landau
aus Grund eines reichen, bisher unbekannten Akten-
materials wesentlich erweitern und hat das Verdienst,
auch die Zusammenhänge mit der übrigen deutschen
und außerdeutschen Glasbrennerei aufgezeigt zu haben.
Das hessische Glasgewerbe n»ar keinesivegs nur eine
hessische Angelegenheit, sondern hat einen ehrenvollen
Platz in der europäischen Wirtschaftsgeschichte. Wir
wissen, daß zur Reformationszeit Kaufunger- und Rein-
hardswald die wichtigsten Produktionsstätten der Wald-
glasmacher waren, uno daß alljährlich die Gläsncr
des gesamten westlichen Mitteldeutschland in Großalme-
rode ihreü Gerichtstag hatten. Tie Verfasserin erzählt
uns von den ältesten Waldglashütten in Hessen, von
der Glasbereitung, dem Hüttenbetrieb, dem Absatz und
Handel, dem Wandertrieb der hessischen Glasmacher,
ihren Familiennamen usw. Prächtige Bilder nach
meist eigenen Aufnahmen der Verfasserin geben dem
aktion zu Ende zu führen. Alle Beträge werden wie
bisher auf das Postscheckkonto des Herrn Dekan Lehr-
Gladenbach, Postscheckamt Frankftirt a. M., Konto Nr.
10 349, erbeten.
fesselnden Werk noch einen besonderen Schmuck. — Eine
hübsche Mappe (auch als Heft) „M arburger
San d" nach Bildern von Karl Lenz (Marburg,
N. G. Elwert, Preis 4.— RM), bot der Kreis-
lehrerverein. In 40 hübschen Offsetbildern und zwei
Vierfarbendrucken lernen ivir in Stadtansichten, Land-
schaften, Bildnissen, Trachtenbildern, Fachwerkhäusern
uno Brunnen Land uno Leute der Marburger Gegend
kennen. Diese Großquartmappe wird ein willkommenes
Geschenk sein. — Auch Leo Sternberg hat sein,
im Rahmen der Brandstetterschen „Heimatbücher deut-
scher Landschaften" erschienenes, mit 88 Abbildungen
und 23 Kunstdrucktafeln nach Werken Thomas, Stein-
haufens, Knaus', Rethels usw. wundervoll geschmücktes
Heimatbuch „L and N a s s a u" (Leipzig, Fr. Brand-
stetter, 478 Seiten, Preis in Leinen geb. 10.— RM).
der Universität Marburg gewidmet. Landschaft, Ge-
schichte, Geistesleben, bildende Kunst, Volkskultur und
Wirtschaft sind die einzelnen Kapitel, in denen durch
poetische, geographische, geschichtliche, volkskundliche Bei-
träge heimisches Land und heimische Art nahe gebracht
werden. Wer mehr verlangt als einen Reiseführer,
dem sei dieser feinsinnige Band warm empfohlen. —
Als letzte und wahrlich nicht geringste Gabe erschien
die Jugendbiographie des lvohl größten deutschen Juri-
sten, der auf dem Katheder zu Marburg dozierte: „D e r
junge Savign y. Kinderjahre, Marburger und
Landshuter Zeit Friedrich Karl von Savignys. Zu-
gleich ein Beitrag zur Geschichte der Romantik. Mit
217 Briefen aus den Jahren 4792—4840 und 34 Ab-
bildungen" (Berlin, Carl Heymanns Verlag, XVI, 434
Seiten, Preis geb. 13.— RM), so lautet der Titel
des Werkes, das der frühere Professor am Kasseler
Friedrichs-Gymnasium Dr. Adolf S t o l l der .Alma
Mater Philippina darbrachte. Hat doch Savigny nicht
nur fast seine gesamte Studienzeit in Marburg verbracht,
sondern hier auch seine erste akademische Tätigkeit aus-
geübt, hier die bedeutsamsten Einflüsse für seine geistige
Entwicklung empfangen und in seiner Wohnung im
Forsthof Fäden angeknüpft und Freundschaften gewonnen,
die ihn sein ganzes Leben hindurch begleiten sollten.
Wenn wir die Namen Klemens und Bettina Brentano,
Achim v. Arnim, Jacob und Wilhelm Grimm, Bang,
Friedrich und Leonhard Creuzer nennen, so umschreiben
wir damit diesen Freundeskreis und gleichzeitig den-
jenigen der Adressaten der Savignyschen Briefe, die
Stoll in diesem stattlichen Bande vereinigt. Persönliches,
furistische Dinge, Geschichtswissenschaft, Philosophie, aka-
demisches Leben, die schöne Literatur, Tagesereignisse
uno weltgeschichtliche Vorgänge sind der Inhalt dieser
Briefe, die ihren Schreiber als einen hervorragenden
deutschen Gelehrten und Staatsbürger von ungewöhnlicher
Bildung und feinstem Empfinden, aber auch als einen
warmherzigen Freund erkennen lassen. Wer den Her-
ausgeber aus seinen Monographien Ludwig Emil
Grimms und Fr. Aug. Tischbeins kennt, der wird es
selbstverständlich finden, daß auch diese Briefe nicht
nur zeitgeschichtlich höchst übersichtlich miteinander ver-
bunden, sondern auch mit umfassendstem Wissen aufs
reichste kommentiert sind, so daß dem Leser nicht nur
eine lebendige Charakteristik des jungen Savigny, son-
dern auch ein Zeitbild großen Ausmaßes geboten wird.
Ein wertvollerer Beitrag namentlich auch zur Ge-
schichte der Romantik ist lange nicht gegeben worben.
Daß das mit reichem Abbildungsmaterial ausgestattete
Werk gebunden nur 13 RM kostet, darf als buch-
händlerisches Unikum nicht verschwiegen werden, schon
deshalb, weil es, von dem Allgemeininteresse, das dieses
Werk beanspruchen darf, abgesehen, wohl keinen hessi-
schen Juristen geben wird, der nicht Besitzer dieser
Monographie sein möchte. H.
Dr. Robert M eiste r. „Heimatgeschichtlicher Ar-
beitsunterricht am Gymnasium zu Biedenkopf."
106 S. Berlin bei Ehering 1927.
In diesen Pädagogischen Studien zeigt der Verfasser,
wie man die neuen Forderungen des Arbeitsunterrichtes
und der stärkeren Betonung der Heimatgeschichte er-
füllen kann. In einem algemeinen Teil behandelt er
nach einer erschöpfenden Literaturangabe über die
Methodik u. a. den Begriff der Arbeitsschule, die Not-
lvendigkeit des Lehrervortrags, die Benutzung von Quel-
len und der Abgrenzung des Begriffs „Heimat", den
er auf Hessen-Kassel und -Darmstadt, Nassau und die
benachbarten Kreise Berleburg und Wetzlar ausdehnt.
Eine erstaunliche Belesenheit verrät der Verfasser in
den 'Literaturangaben, die er den weiteren Kapiteln
des Heimatuuterrichtes aus Unter-, Mittel- und Ober-
Vereinsnachrichten.
Hessischer G e sch i ch t s v e r e i n. Am ersten
dieswinterlichen Unterhaltungsabend des Kasseler
Vereins am 3. Oktober berichtete zunächst der zweite
Vorsitzende Zolldirektor W o r i n g e r über die Jahres-
versammlung in Rinteln. Es folgte ein Vortrag von
Bibliotheksrat Dr. Israel über die Jugend des
zweiten hessischen Kurfürsten, namentlich über dessen
durch die französische Revolution unterbrochenen Stu-
dienaufenthalt in Genf. An den sich an den Vortrag
anschließenden Erörterungen beteiligten sich Zolldirektor
W o r i n g e r, Studienrat Dr. Weiden: a n u und
Dr. Hallo. Dieser sprach hieraus über die beiden
im Landesmuseum aufbewahrten sogenannten Jagd-
fäßchen Otto des Schützen, die nach neueren Unter-
suchungen sehr wohl Otto aus Kleve mitgebracht
haben kann. Zum Schluß brachte Direktor W o r i n g e r
noch interessante Beiträge zur Ortsgeschichte der Graf-
schaft Schaumburg. (Bericht: Kafs. Post 5. 10. i —
Am 17. Oktober hielt Pros. Dr. L u t h m c r einen
Lichtbildervortrag „Aus der Geschichte der Kasseler
Kunstakademie", die einst revolutionierend in der deut-
schen Kunst war, nämlich um die Wende des 18. und
19. Jahrhunderts. Wie Redner nachwies, ist damals
außer in Stuttgart nirgends in Deutschland derart
konzentriert um die Gestaltung des Klassizismus ge-
rungen worden. Hierher gehört auch die Auswirkung
der Akademie auf die architektonische Gestaltung des
Kasseler Stadtbildes. Leider habe die Kasseler Bür-
gerschaft der Akademie gegenüber fast immer versagt.
(Bericht: Kasf. Post 19. 10.) — Ter von Bibliotheks-
direktor Dr. Hopf geleitete Unterhaltungsabend am
7. November brachte zunächst einen Bericht des Kan-
tors Horwitz über ehemalige Banken und Börsen
in Kassel, deren erste 1776 eröffnet wurde. Von hohen:
Interesse waren die Erläuterungen Direktor Dr. Hopfs
über die Entstehung der hessischen Landesfarben rot-
weiß. Diese kommen in der Geschichte fast gleich-
zeitig mit Schwarz und Gold vor. So hat Heinrich!.,
das Kind von Brabant, 1292 die rot-weißen Farben
für sein Banner übernommen. Privatmann W e n tz e l l
entwarf eimgc Kasseler Miniaturbildchen aus den 60 er
stufe vorausschickt, gute Geschichtserzählungeu und Romane
aus der engeren Heimat sind dabei reichlich vertreten.
An Stoss, den der Verfasser zur Durchnahme vor-
schlägt, bietet er fast zuviel: nicht jeder Kollege wird
so viel bewältigen können. Aber für alle, besonders
diejenigen, die nicht aus Hessen stammen und hier im
Land hessische Geschichte unterrichten solle::, bietet das
Büchlein, das in keiner Lehrerbibliothek fehlen sollte,
ein ausgezeichnetes Hilfsmittel.
Prof. Kürschner, Studienrat.
W a r t b u r g - I a h r b u ch 1 9 2 6. Eisenach (Verlag
der Freunde der Wartburg) 1926. 130 Seiten.
An der Spitze steht der von Dr. Friede. Castelle
anläßlich der vierten Mitgliederversammlung gehaltene
schöne Vortrag über Goethe und Beethoven, in deren
Zeichen die Tagung stand. Weiter berichtet Burgwart
Nebe über neue Bauten, Funde und Ausgrabungen
auf der Wartburg, und Äourad Höfer behandelt das
Gebetbuch des Landgrafen Hermann, jene 1925 neu
herausgegebene köstliche Bilderhandschrift des Land-
grafenpsalters aus dem 13. Jahrhundert. Ten Beschluß
bilden der Jahresbericht und 50 prächtige Original-
ausnahmen, die uns einschließlich der Freilegungen ein
Bild vom jetzigen Zustand der Wartburg geben. II.
Jahren, und Prof. Dr. Lut h n: e r gab Proben aus
einem 1666 zu Lyon erschienenen Reisejournal des
französischen Gelehrten de Moucony, der 1663 auch
Hessen besuchte. (Bericht: Kais. Post 9. 11.) — An:
21. November sprach der treffliche Kenner Schmal-
kalder Verhältnisse, Fachschuloberlehrer P i st o r, über
„die Schmalkalder Eisen- und Stahlindustrie und die
hessischen Fürsten". Schon in historischer Zeit ist in
dieser Gegend Eisengewinnung betrieben worden. Mit
Nutzbarmachung der Wasserkräfte wurden die Eiseniucher
seßhaft. Tie eigentliche Blüte der Schmalkalder Eisen-
industrie beginnt mit der Bergordnung von 1471.
Schmalkalder Eisenhändler finden w:r auf allen großen
Messen. Ten: langsamen Nwdcrgang im 18. Jahr-
hundert folgt erst nach 1866 wieder ein glänzender
Aufschwung. (Bericht: Kasf. Post 23. 11.) — An:
Unterhaltungsabend des 5. Dezember sprach Zolldirektor
Woringer über das hessische Geschützwesen in
älterer Zeit und über die Bestände des alten Kasseler
Zeughauses. Philipp der Großmütige legte den Grund
zu einer modernen Artillerie;• sein großarttgcr Ge-
schützpark wurde jedoch nach der Kapitulation von Halle
vernichtet, und Kaiser Karl V. verteilte die erbeuteten
Geschütze über sein ganzes Reich. Nach Philipps Tode
verfügte Hessen jedoch wieder über 160 moderne Ge-
schütze. Kantor H o r w i tz berichtete über den 1603
der Familie Goldschmidt in: Stadtbau freigegebenen
Warenhandel, »voraus Direktor W o r i n g e r noch inter-
essante Ausführungen über die in Elgershausen be-
stehende Begrübnisgesellschaft machte. (Bericht: Kass.
Post 7. 12.)
Der M a r b u r g e r Verein lud in Gemeinschaft
mit der Marburger Bundesgruppe am 18. November zu
einem Vortrag von Professor Dr. Stengel ein über
„Wilhelm Tilich, einen hessischen Kartenmaler des
Frühbarock und seine Stellung in der Geschichte der
Kartographie", über den wir an anderer Stelle be-
richten. — Gemeinsam mit den: Oberhessischen Ge-
brrgsverein Ivurde am 5. Dezember ein Lichtbilder-
vortrag veranstaltet, an dem Prof. Dr. R i ch t e r -
Gießen über „die Ausgrabungen am Totenberg bei
273
Treis a a. d. Lumda" sprach. Diese vom Vortragenden
geleiteten Ausgrabungen konnten durch namhafte Funde
von Steinwerkzeugen und Tierknochenresten das Auf-
treten des Eiszeitmenschen in unserem engeren Heimat-
gebiet nachweisen. Es handelt sich wohl um eine
etwa 20—25 000 Jahre zurückliegende Siedlung der
älteren Steinzeit. (Bericht: Oberhesf. Ztg. 6. 12.)
Vor der F r i tz l a r e r Gruppe des Hessischen Ge-
schichtsvereins sprach am 20. Oktober Prof. Or. Van-
der a u - Fulda über die Ergebnisse der von ihm ge-
leiteten Ausgrabungen am Büraberg. Es ergab sich,
das; die der iro-schottischen Heiligen Brigida geweihte
Kirche fränkischer Bauart war; au der Nordseite tvurde
eine Taufzelle mit Taufbrunnen, dem ersten seiner Art,
der bisher in Deutschland entdeckt tvurde, gesunden.
Die Befestigungen mögen schon um 550 ein starkes
Kastell der Franken gebildet haben. Das Kastell in
seiner ganzen Führung zeigt die römische Bauart. Im
Frühjahr 1928 sollen die Straßeuzüge und das Prä-
torium freigelegt Iverdeu. (Bericht: Kaff. Post 21.10.)
Der Geschichtsverein Alt-Wanfried erwarb
wieder eine Reihe wertvoller Stücke für sein Heimat-
museum.
Der Verein für Naturkunde in Kassel hielt
am 11. Oktober seine Vorstandssitzung im Gasthaus
„Herkules" Hohenzollernstraße ab. Außer sonstigen ge-
schäftlichen Angelegenheiten wurden die im kommenden
Winterhalbjahr 1927/28 zu haltenden Vorträge be-
sprochen. Die Veranstaltungen finden, wenn nichts
anderes bestimmt wird, im Gasthaus „Herkules" statt.
Beginn abends 81/4 Uhr. Etwaige Programmänderungen
sind an den bekannten Aushangstellen (Engel-Apotheke,
Obere Königstraße, Schwanen-Apotheke, Friedrich-Wil-
helmsplatz und Gasthaus „Herkules") zu ersehen. —
Am 27. Oktober sprach Studienrat E. Dippel über
die neu eröffnete astronomisch-physikalische Abteilung
des Landesmuseums. Dieser Vortrag war zugleich eine
Vorbereitung für eine nachfolgende Führung durch die
Sammlung. Tie weiteren Vorträge werden teils aus
dem Gebiet der Geologie, der Medizin, der Chemie
und sonstigen naturwissenschaftlichen Fächern sein. So
sprach am 10. November Lehrer H. Penndorf über die
Grundwasserverhältnisse des Kasseler Beckens und die
Wasserversorgung der Stadt Kassel. Am 24. Novem-
ber wurden die Ausflüge und Reisen, die der Verein
für Naturkunde im verflossenen Sommer veranstaltete,
besprochen. Der letzte Vortrag des Jahres 1927 fand
am 8. Dezember statt, und zwar sprach Dr. A. Grimme
über die Tuberkulose der Tiere mit Vorlagen. In
1 9 2 8 finden in jedem Monat 2 Sitzungen statt, und
zwar wird an einem Abend ein größerer Vortrag ge-
halten und am anderen Abend werden Vorlagen lind
Mitteilungen aus allen Gebieten der Naturwissenschaft
gemacht werden. Au Vorträgen ist geplant, am
l2. Januar von H. Schwitzer, über Bettfedern und
ihre Verwertung zu sprechen. Dr. G. Alsberg hält
am 9. Februar einen Vortrag auf medizinischen: Ge-
biet. Dr. K. Brauer wird am 8. März Streifzüge
durch die Lebensmittelchemie unternehmen. Tie Haupt-
versammlung des Vereins für Naturkunde findet am
26. April statt, und zivar wird Prof. B. Schaefer über
die Naturdenkmäler (mit Lichtbildern) sprechen. Tie
Borträge, versprechen sehr interessant zu werden, und
hoffentlich wird eine größere Zahl von Zuhörern an
ihnen teilnehmen. Dr. Sch.
Verein für Naturkunde. In der letzten
Vereinssitzung des Vereins für Naturkunde hielt Herr
H. Penndorf einen hochinteressanten Vortrag über
„die Grundwasserverhältnisse im K a s -
274
feler Becken und die Wasserversorgung
der Stadt Kasse l," der im Auszug wiedergegeben
sei: Als die Temperatur der Uratmosphäre unserer
Erde unter den Siedepunkt des Wassers gefallen war,
erreichte dieses in Form von Regen zum ersten Male
die Erdoberfläche. Dieses Niederschlagswasser sammelt
sich seitdem teils in den Meeren, Seen, Flüssen usw.,
teils sickert es in die oberen Schichten der Erdrinde
ein und bildet hier das Grundwasser. Je nach der
Wasferdurchlässigkeit der Schichten unterscheiden wir
durchlässige Gesteine (Sand, Kiesel, Schotter, Sand-
steine, Kalke, Dolomite, Basalte) von den undurch-
lässigen Gesteinen Ton, Lehm, Mergel und Tonschiefer.
Das Sickerwasser durchdringt die durchlässigen Schichten,
bis es auf einer undurchlässigen Schicht aufgestaut
wird, um aus ihr je nach ihrer Neigung stehen zu
bleiben oder langsam weiter zu fließen. An einem
natürlichen bzw. künstlichen Einschnitt oder an einem
sogenannten Verwerfungsspalt kann das Grundwasser
als Ouelle wieder zu Tage treten. Im ersten Falle
sprechen wir von ^chichtquellen. Zu ihnen gehören die
zahlreichen Quellen der Randberge des Kasseler Beckens
— besonders die Basaltgebirge der westlichen Umrah-
mung. Hier dringt das Niederschlagswasser im klüftigen
Basalt in die Tiefe, sammelt sich auf einer tonigen
Schicht der Tertiärunterlage und sprudelt am Hange
als Quelle hervor. Ebenso verschwindet das Regen-
wasser im klüftigen Sandstein des Ostrandes, bis es
durch eine undurchlässige Tonschicht zum Austritt ge-
zwungen wird. Verwerfungsquellen finden wir im Kas-
seler Becken nur im Zuge des Kasseler Grabenbruches 1,
wo einstmals der durchlässige Muschelkalk in die un-
durchlässigen Rötmergel niedergcbrochen ist. Hier wird
das im Muschelkalk eindringende Wasser an der Grenze
zum Rötmergel an Verwerfungsspalten im Muschel-
kalk wieder emporgedrückt. Wegen der geringen flächen-
haften Ausdehnung des Muschelkalks im Kasseler Becken
sino die schwachen Verwerfungsquellen nur spärlich ver-
treten; es seien diejenigen am Eichwäldchen, an der
Prinzenquelle und in: Ahnetal genannt. — Grund-
wasser ist in: Untergrund des Kasseler Beckens in
reicher Menge und in mehreren .Horizonten oder Stock-
werken vorhanden. Das oberste Grundwasserstockwerk
liegt östlich der Fulda (Waldauer Wiesen, Forstfeld).
Es wird gespeist durch die Niederschläge, die in die
Schotter und Sande eindringen, die die flachen .Hügel
in der Umgebung von Ochshausen, Krumbach, Vollmars-
hausen bedecken und die, allmählich unter einer 1—2 m
starken Lehmdecke verschwindend, zur Fulda hinabziehen.
Die undurchlässige Unterlage dieses Grundwasserstromes
besteht aus Rötmergeln. Infolge feiner geringen Tiefe
wird dieser Wasserhorizont durch die Fulda angeschnitten,
so daß er sich zu ihr hin entwässert. Der Eintritt
vom Fuldawasser in das Grundwasser wird verhindert
einmal durch den Druck des einfließenden Wassers,
zum anderen durch die Schlammdecke des Flußbodens;
wohl aber verursacht Hochwasser einen Aufstau des
Grundwassers. — Ein zwei;er Grundwasserstrom hat
sein Nährgebiet in: Habichtswald und sauen Vorbergen.
In tertiären Sanden, die sich ostwärts ins Kasfeler
Becken hinabziehen und von Lehm bedeckt sind, strömt
er auf Rötmergeln zur Senke. Er steht nicht mit der
Fulda in Verbindung, da er 10—16 m tiefer liegt
uno vom Flußwasser durch eine undurchlässige Lehm-
bzw. Tonschicht getrennt ist. Diesem Stockwerk ent-
nehmen d:e Brunnen der städtischen Wasserleitung bei
1 Näheres: H. Penndorf, Geologische Wanderungen
im Niederhessischen Berglande.
der Neuen Mühle ihr Wasser. — Die breiten Sand-
steinrücken des Kaufunger Waldes, des Stiftwaldes und
der Söhre sinken von Nordosten nach Südwesten ties
in den Untergrund des Kasseler Beckens ein, um an der
Fulda gegenüber .Freienhagen wieder zu Tage zu treten.
Im klüftigen Sandstein der genannten Gebirge fließen
die reichen Niederschläge abwärts, stauen sich m der
Sandsteinmulde im Untergründe des Kasseler Beckens
aus, am Emstordringen durch eine rund 50 m mächtige
auflagernde Rötmergeldecke verhindert.. Das Uberwasser
dieses unterirdischen Wasserbeckens entleert sich am nied-
rigen Rande der Sandsteinmulde, wo er gegenüber
Freienhagen von der Fulda angeschnitten wird, in diesen
Fluß. Seit 1925 ist dieser starke Grundwasserstrom aus
dem Forstfelde durch 3 Bohrbrunnen von 60—80 m
Tiese für die städtische Wasserversorgung nutzbar ge-
macht. Ähnlich den artesischen Quellen wird das Wasser
infolge seines starken Auftriebes in den Rohren empor-
gedrückt. — Infolge des erwähnten Grabeneinbruches,
der im Zuge Oberkaufungen—Eichwäldchen—Weinberg—
Kratzenberg — Lindenberg — Rammelsberg das Kasseler
Becken als Muschelkalkrücken durchsetzt, ist m fernem
Bereich auch die vorhin erwähnte Sandsteinmulde ge-
stört dergestalt, daß der Sandstein im Untergrund des
Grabenbruches stärker abgesunken ist und mit ihm die
auflagernden Rötmergel. Durch diese ist der Wafter-
horizont des Sandsteins im Grabenbereich abgeschlossen
vom Grundwasser des Sandsteins der großen Mulde.
In dem Sandsteinwasserhorizont des Grabenbruches
stehen die Brunnen am Fischhos im Lossetal oberhalb
Bettenhausen, die den Hochbehälter aus dem Linden-
berg bei Bettenhausen speisen. — Eine Tiefbohrung
an der Kohlenstraße am Ostfuß des Habichtwaldes
hat bei rund 1300 m Tiefe einen fünften Grundwasser-
honzont erbohrt, der unter einer mächtigen Sand-
steindecke den Uüftigen Plattendolomit des Zechsteins
erfüllt. Er führt ein Heilwasser ähnlich dem der Wil-
dunger Quellen und harrt der Berwendung für die
leidende Menschheit. — Tie Wasserversorgung der Stadt
Kassel nahm folgenden Gang: Anfangs geschah sie
durch offene Brunnen oder Zaiten. 1334 Bau der
Drujelwasserleitung. Sie wurde unterhalb Wahlers-
hausen von der Druse! abgezweigt, um Tannenkuppc
und Kratzenberg zum Mllhlenteich am Königstor ge-
leitet und von dort zunächst in offenen Rinnen oder
Druseln, dann in Rohren in die Stadt verzweigt.
Später kamen Prinzenquelle- und Eichwasserleitung hin-
zu. 1733 wurde der nördlich Kirchditmold gelegene
Schoppachbrunnen an die Drufelleitung angeschlossen.
Nachdem die Schädlichkeit der offenen Brunnen und
Leitungen erkannt war. wurde 1872 die Niesteleitung
erbaut, die ihr Wasser der Schichtquelle im Kaufunger
"Personalien.
Vermählte: George Rittershaußen und Frau,
Rosemarie, geb. Has (Kassel, 1. 10.); Studienrat Dr.
Friedrich Wilhelm Schröder und Frau, Marga,
geb. Schultz-Welchhausen (Kassel, 2. 10.); Pfarrer Gott-
fried Kahler und Frau, Milly, geb. Schulte (Weiters-
hausen, 4. 10.); Oberleutnant Werner Bergemann
und Frau, Ruth, geb. Knöner (Kassel, 8. 10.); Dipl.-
Jng. Karl H o r n st e i n und Frau, Irmgard, geb.
Seelig (Frankfurt a. M., 8. 10.); Schriftleiter Sig-
muno D i s p e k e r und Frau, Blanche, geb. Kehr
(Frankfurt a. M., 9. 10.); Dr. Georg E n d e m a n n
und Frau, Margarethe, geb. Fisher (Windecken, 20. 10.);
Amts- und Landgerichtsrat Dr. Erwin Melzer und
Frau, Gerichtsassessorin a. D. Hedwig, geb. Wenzel
Wald entnimmt und zum Hochbehälter am Kratzen-
berg führt. 1892 Errichtung des Wasserwerkes Neue
Mühle, das 1907/8 erweitert wurde. 1899 Erbohrung
der Brunnen am Fischhof bei Bettenhausen. Mit der
Eingemeindung der westlichen Vororte wurden auch
deren Leitungen mit denen der Stadt vereinigt. Die
Wasserversorgung Rothenditmolds durch Quellwasser im
Ahnetal ist >vegen nicht einwandfreier Beschaffenheit
des Wassers aufgehoben. 1925 kamen die reichen, als
Trink- und Jndustriewasser gleich ausgezeichneten Wasser-
mengen des Forstfeldes hinzu, die eine Sicherstellung
der Stadt für die nächsten Jahrzehnte bedeuten. Heute
besitzt die Stadt Kassel 9 Hochbehälter, unter denen
der Kratzenberg-, Westend- und Dönchebehälter die be-
kanntesten und wichtigsten sind. Der Kratzenbergbe-
hälter wird von der Niestequelle und der Neuen Mühle
gespeist, ebenso der Westendbehälter; der Dönchebehälter
erhält sein^Wasser vom Habichtswald. Das Wasser der
Forstbrunnen wird durch Druckpumpen unmittelbar in
das Rohrnetz gedrückt.
Der Verein der K u r h e s s e n im Saargebiet
hielt kürzlich in Saarbrücken seine erste Jahresver-
sammlung ab. Dem neugewählten Vorstand gehören
an Beigeordneter Dr. Dr. Kuhring als Vorsitzender
und Ernst Goehle als erster Schriftführer, an dessen
Adresse (Saarbrücken 2, Tauentzienstr. 2) Zuschriften
zu richten sind.
Hessischer Gebirgsverein. Am 15. No-
vember sprach Wilhelm Ide im Kasseler Verein über
„Hessisches Jugendwandern" und am 19. November in
Veckerhagen über „Wandern und Heimatgeschichte". Weiter
sprach Direktor Hermann Schulz im Kasseler Verein
über „eine besinnliche Wanderung auf Wilhelmshöhe"
und wußte durch ausgezeichnete Lichtbilder mancherlei
Anregungen zu geben. — „Kirchen und Klöster im
hessischen Landschaftsbild" führte Wilhelm I d e am
6. Dezember in zahlreichen Lichtbildern vor und bot
durch seine fesselnden Schilderungen den Zuhörern einen
erlesenen Genuß. (Bericht: Kass. Post 8. 12.)
Der Knüllgebirgsverein wählte (Mitte
Oktober) in seiner Hauptversammlung auf dem Knüll-
köpfchen Amtsgerichtsrat Heußner-Hersfeld zum ersten,
Direktor Sauer-Hersfeld zum zweiten Vorsitzenden,
Schulz-Neukirchen zum ersten, Pfalzgraf-Ziegenhain zum
zweiten Schriftführer und Hempfler-Hersfeld zum Kas-
sierer. Ter Vorsitzende entwickelte ein großzügiges Pro-
gramm über die Förderung des Wanderwesens im
Knüllgebiet. — Die Ortsgruppe Oberaula veranstaltete
am 10. Dezember einen Heimatabend. Oberlehrer Hein-
rich R u p p e l las aus seinen Werken vor und wußte die
Zuhörer über zwei Stunden lang zu fesseln.
(Marburg, 20. 10.); Dr. Albrecht Kippenberger
und Frau, Dr. Margarethe, geb. Killing (Remscheid,
21. 10.); Howard Clinton Wreforo und Frau,
Lisch), geb. Bartram (Stratford-Outario-Canada, 21.10.);
Rechtsaiuvalt Dr. Eitelfritz Albrecht und Frau,
Erna, geb. Zuschlag (Hanau, 25. 10.); Dr. msch
Lambert W a m i ch und Frau, Fanny, geb. Schu-
macher (Aachen, 27. 10.); Architekt Friedrich F r en-
de n st e i n und Frau, Gertrud, geb. Winkelstern
(Waldau, 29. 10.); Reg.-Obersekretär Heinrich Brack-
mann und Frau, Clementine, geb. Raacke (Greben-
stein, 29. 10.); Pfarrer Karl Hopf und Frau, Ger-
trud, geb. Hermann (Rockensüß-Göttingen, 3. 11.);
Dr. Hans D o e r r und Frau, Elisabeth, geb. Helfrich
275
(Kiel); Georg Kothe und Frau, Erna, geb. Spangen-
berg (Kassel, 9. 11.); Architekt Heinrich Helbing
uno Frau, Hede, geb. Heidelbach (Kassel, 19. 11.).
Geboren: ein Sohn: Turn- und Sportlehrer Karl
A d o r s und Frau, Alice, geb. Meyer (Marburg);
Rechtsanwalt Dr. Stemmer und Frau, Erika, geb.
Maurmann (Osnabrück, 14. 10.); Dr. Wilhelm
Brauneck und Frau, Hildegard, geb. Weidemann
(Berleburg i. W., 12. 10.); Amtsgerichtsrat Karl Anton
G ö ß m a n n und Frau, Susanne Luise, geb. Schmidt
(Volkmarsen, 20. 10.); Justizinspektor Adolf H a r t -
mann und Frau, Emmy, geb. Adam (Marburg,
27. 10.); Dr. Adolf Enßlin und Frau, (Hersfeld,
10. 11.); Dr. med. H. S o st m a n n und Frau, Herta,
geb. Kahl (Melsungen, 14. 11.); Pfarrer Karl August
K l ü g e l und Frau, Amelie, geb. Heermann (Bär-
walde, N.-M., 18. 11.); Pfarrer W ackerbart h
und Frau, geb. Koch (Metze, 23. 11.); — eine T o eh -
t e r: Dr. med. Hans von Hagen und Frau, Edith,
geb. kluger (Kassel, 7. 10.); Rechtsanwalt Dr. Her-
mann K u g e l m a n n und Frau, .Hilde, geb. Loeb
(Kassel, 7. 10.); Wilhelm Siegfried und Frau,
Ria, geb. Temme (Kassel, 9. 10.); Dr. Reinhold
Bütt ch e r und Frau, Erna, geb. Hebel (Marburg,
11. 10.); Dr. med. de Freese und Frau, Paula,
geo. Pütz (Grebenstein, 15. 10.); Zahnarzt Dr. Hart-
w i g und Frau, Annemarie, geb. Fleischhut (Aichach,
17. 10.); Studienrat Bernhardt und Frau, Hannah,
geb. Albrecht (Kassel, 18. 10.); Fabrikant Adolf R e u l
und Frau, Hedwig, geb. Mangold (Kassel, 22. 10.);
Landesbankassessor Stein und Frau, Helmi (Kassel);
Prof. Dr. Helmut H affe und Frau, Clara, geb.
Ohle (Halle, 23. 10.); Hauptmann a. D. Robert K o ch
uno Frau, Erna, geb. Siebrecht (Halberstadt, 26. 10.);
Pfarrer Hafner und Frau, Luise, geb. Hartig (Iba,
3. 11.); Dr. Walter Daniel und Frau, Ilse, geb.
Ehrlich (Marburg, 10. 11.); Reg.-Assessor Beek und
Frau, Hedwig, geb. Früh (Berlin, 19. 11.); Land-
gerichtsdirektor B a ch m a n n und Frau, Charlotte, geb.
Fritze (Kassel, 26. 11.).
Gestorben: Forstrat Wilhelm Klemme aus Treysa
(Manila, 21. 9.); Rektor Wilhelm Bern dt, 60 I.
alt (Kassel, 30. 9.); Privatmann Ludwig S t nt b e,
83 I. alt (Kassel, 4. 10.); Senator a. D. Georg
W ü st e n f e l d, 65 I. alt (Münden); Frau Hilde-
garo Kr ahm er, geb. von Müller, 66 I. alt (Batten-
berg, 6. 10.); Rektor i. R. Christoph Friedrich Heine-
m a n n, 64 I. alt (.Hersfeld, 7. 10.); Klavierlehrerin
Johanna Küllmar, 57 I. alt (Kassel, 7. 10.);
Lehrer i. R. Hermann S ü ß m a n n, 62 I. alt (Hach-
born, 8. 10.); Sophie Freifrau von S ch l e i n i tz,
geb. von Muschwitz (Kassel, 10. 10.); Witwe Auguste
H o l st e i n, geb. Jahn (Kassel, 11. 10.); Oberpost-
fekretär i. R. Otto Stallmann, 68 I. alt (Kassel,
14. 10.); Ehefrau des Generalmajors a. D. Anna
Scholz, geb. Fehrenberg (Kassel, 15. 10.); Witwe
Helene S i e b r e ch t, geb. Warlich, 81 I. alt (Kassel,
15. 10.); Hegemeister a. D. Peter Sartorius,
68 I. alt (Borsch, 15. 10.); Witwe des Lehrers Elisabeth
Metz, geb. Dingel, 85 I. alt (Hohenkirchen, 16. 10.) -
.Stiftsdame des Freiadeligen Stiftes Wallenstein Hofstaats-
dame Frl. Claire von Gersdorff (Potsdam, 17.10.);
Frau Marianne von Heydwolff, geb. Milchling von
Schönstadt,^84 I. alt (Germershausen, 18.10.); Witwe
des Prof. Therese Schwa r z, geb. Hohmann, 61 I. alt
(Kassel, 20. 10.); Ehefrau des Lehrers Elise 6tanun,
ged. Keiser (Lengers, 20. 10.); Lehrer Wilhelm Stücke
(Amönau); Frau Forstmeister Marie S p r e n g e I,
72 I. alt (Frankfurt a. M., 20. 10.); Strommeister i. R.
Hermann M e y e r, 68 I. alt (Melsungen, 22. 10.);
Generalleutnant Friedr. Fritsch, 78 I. alt (Kassels
22. 10.); Ehefrau des Hauptlehrers Kath. K o r n m a n n,
geb. Hartmann, 49 I. alt (Fronhausen, 22. 10.);
Geh. Justizrat Oberlandesgerichtsrat a. D. Hermann
von Winckler (Fulda, 23. 10.); Kaufmann Wil-
helm S ch l e m m i n g, 40 I. alt (Kassel, 24. 10.);
Amtsgerichtsrat i. R. Walter Rudert, 66 I. alt
(Kasfel, 25. 10.); Oberforstmeister i. R. Hans Gra fi-
tz o f f (Kassel, 26. 10.); Dr. med. Ludwig Sflöll,
48 I. alt (Treysa, 26. 10.); Sanitätsrat Dr. med.
Albert Wigand (Marburg, 27. 10.); Direktor und
Kurator der Deutschen Kolonialschule Prof. Ernst Albert
Fabarius, 68 I. alt (Witzenhausen, 28. 10.); Kauf-
mann Julius Heinrich Hafer, 70 I. alt (Kassel,
30. 10.); Geh. Justizrat, Landgerichtsdirektor a. D.
Dr. Felix Paul Aschrott, 71 I. alt (Berlin, 1.11.);
Witwe des Oberpostrats Martha R u t s ch, geb. Wun-
derlich (Kassel); Kreisrentmeister und Kreissparkassen-
drrektor i. R. Johannes P f a l z g r a f (Sch.üchtern);.
Landwirt Heinrich Gundla ch, 94 I. alt (Wicken-
rode) ; ?. Wilhelm D e ck e l m e y e r 8. -l., 53 I.
alt (Sta. Cruz, Süd-Brasilien, 6. 11.); Pfarrer Peter
Ignatius Nau, 65 I. alt (Steinhaus, 10. 11.);
Ehefrau des Vermessungsrats Emma Q u a n d t, geb.
Weber, 70 I. alt (Kassel, 10. 11.); Witwe des Rech-
nungsrats Henriette Gebhardt, gcb. Bethge (Kassel,
11. 11.); Prof. Dr. Ernst Trommershausen,
82 I. alt (Marburg, 11. 11.); Vermessungsrevisor
Karl Hildebrandt (Kassel, 12.11.); Kausm. Arthur
W e r t h e i m, 66 I. alt (Kassel, 13. 11.); Geh.
Justizrat, Amtsgerichtsrat a. D. Dr. Eduard Schee -
mann, 68 I. alt (Hersfeld, 13. 11.); Buchhändler
Karl Victor, 56 I. alt (Kassel, 15. 11.); Prof.
Dr. Rudolf Schreiber, 69 I. alt (Kassel, 15. 11.);
Bezirksdirektor Wilhelm D eh wert, 51 I. alt (Frank-
furt a. M„ 17. 11.); Dr. med. Hänse Fondy (Kassel,
19. 11.); Landwirt Georg Heinrich Rumpf, 81 I.
alt (Breuna); Witwe des Kaufmanns Else Apell,
geb. Weiß (Kassel, 19. 11.); Witwe des Prof. Jo-
hanna S i e b e r t, geb. Hahn, 55 I. alt (Kassel,
21. 11.); Ober-Regierungs-Medizinalrat, Generalober-
arzt a. D„ Prof. Dr. med. Karl Krause, 59 I.
alt (Kassel, 28. 11.); Oberlehrer i. R. Prof. Dr. Eduard
Wintzer, 85 I. alt (Marburg, 28. 11.); Bürger-
meister .a. D. Johannes Spi es (Damm, 28. 11.);
Regierungs-Oberinspektor Christian M ü n s ch e r, 64 I.
alt (Kassel, 30. 11.).
ctf*4 Iltis 01*0 C0f 01* I Die Zusammenlegung der letzten 4 Hefte zu 2 Doppelheften erfolgte auf besonderen Wunsch
lill|vl£ <vv|vl ♦ des Verlages. Die dadurch ln Fortfall gekommenen Beiträge, besonders die Bücherschau,
finden die Leser im Januarheft des neuen Jahrgangs.
Die örtliche Trennung zwischen Schrkftleitung und Druckerei einerseits und Verlag andererseits brachte verschiedene
Unzuträglichkeiten. Diese sollen nach Möglichkeit im neuen Jahrgang behoben werden, mit dem der Verlag an Gebr.
Müller, Buchdruckerei, Kassel, Seidlerstraße 2, E, 1. u. 2. (Tel. 1471) übergeht.
Schriftleiter! Paul Heidelbach. Kassel. Druck: Friedr. Scheel. Kassel Alle Rechte vorbehalten.
Manuskripte sind zu senden an Paul Heidelbach, Kassel, Hohenzollernstraße 18.
Für unverlangte Einsendungen keine Verbindlichkeit. Rücksendung nur, wenn daS Postgeld beiliegt.
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