and
Zeitschrift
für
Hessische Ke schichte und Litteratur.
Drgriindet von F. Iwenger.
Skchkhntkr Jahrgang.
Redaktion: Wilhelm Bennecke.
Kassel 1S02.
Druck urrd 'Vertag r>c>n Irriedr. Scheel'.
Inhaltsverzeichnis des Jahrgangs 1902.
Geschichtliche Aufsätze. ®eitc
Borger, Dr. Hessen-Darmstadts Abfall von klla-
Poleon I.'................. 130, 144, 156, 188
Fenge, Dr. Beiträge zur Geschichte der Stadt Felsberg 170
Gilsa, Felix Freiherr von und zu Blätter zur
Geschichte des 7jährigen Krieges............. 91
Heldmann, Dr. K. Das Spital der hl. Elisabeth
und die Ansänge des Deutschen Ritterordens
in Marburg...................................203
Herget, Richard. Das Centgericht im Amt Auers-
berg bei Hilders in der Rhön.................. 6
Kolbe,Wilhelm. Eschwege im 30jährigen Kriege 257, 268
Presen, Carl. Und noch einmal die Hessen in
Amerika!.............................32, 46
Schenck ;u Schweinsberg, Karl Alexander Freiherr.
Briefe eines hessischen Offiziers ans Amerika 292, 308
Seelig, Dr. phil. Fritz. 8llt-Hessenland oder das
chattisch-hessische Ausbreitungsgebiet in Mittel-
Europa. Ein dcutsch-knndlicher Versuch . . 322
Kulturhistorisches, Biographisches, Kunst-
und Litteratnrhistorisches etc.
Armbrust, Dr. L. Allerlei von Zauberei .... 104
-----. Der Reformator Johann Sutcl 154,173,186, 201
Bennecke, W. Heinrich Henkel.......................... 5
— —. Adam Trabert (mit Bildnis)............... 18
— —. Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Hessen
(mit Bildnis) . . . .198, 210, 226, 240, 252
Burger, Alexander. Georg Büchner.....................116
------Alfred Bock...................... 270. 281, 298
Fenge, Dr. Das Beuerholz .... r—r-'.“^i,
Kasseler Kosthealer, Vom IV. V. VI. 66, 194, 811
Knetsch, Dr. Carl. Baltzer Wilhelm...................243
Meyer, Theodor. Die symbolischen Thaler des Land-
grafen Wilhelm V. zu Hessen..................283
Müller, L. Das deutsche Haus zu Marburg 158, 191
Neuster, C. Das Wilhelmshöher Riesenschloß und
die Herkulesstatue und ihre Erbauer 2, 21. 30, 44
-----. Die Kasseler Felsenkeller vor dem Frankfurter
Thor.................................118, 132
Guilling, Dr. F. Aus den Sammlungen des Hanauer
Geschichtsvereins (mit 2 Abbildungen) ... 114
Uenter? August. Renatus Karl v. Senckenberg 49. 65
S-, W. Hans Fehrenberg fi........................294
Sch midi, Max Georg. Ein hessisches Stammbuch 324
Schwalm, I. H. Kurt Ruhn fi......................216
-----. Kinderspiel und Kinderlieb auf der Schwalm 294
Schwarchopf, Dr. Karl. Audienz eines Kasseler
Bürgers bei dem letzten Kurfürsten zu Prag 142
— —. Gemälde-Erwerbungen unter Kurfürst Wil-
helm II....................................272
Tesdorpf, Dr. Paul. Richard Jordan fi ... . 35
------. Richard Jordan als Übersetzer............. 88
Totenschau, Hessische, von 1901 ................ 13
Meinmeister, Paul. Hessische Sterbemünzen 89, 102
— —. Namen von Münzmeistern und Stempel-
schneidern auf hessischen Geldstücken . .214, 229
Weyrauch, v. Beitrag zur Charakteristik des letzten
Minster, Dr. Eduard. Ein Sendbrief von Johannes
Schwan an seinen Vater Daniel Schwan,
Bürger zu Marburg..................42, 58
Mippermann, Professor Dr. Karl. Die kurhessischen
Landtagsabgeordnetcn von 1862 ............ 280
Novellen, Erzählungen, Skizzen.
Bennecke, Wilhelm. Kasseler Skizzen.
I. Der Leutnant und der Schreiner . . . 53
II Etwas von Paul Bulß.................... 96
Sock, Alfred. Aus dem Roman „Der Flurschütz"
Kapitel) ..............................300
Coestrr-Bifchoffsstausen, B. S. Das Engelchen 312
Estensteen, M. v. An der Werra (Novellette) 218. 231
Gros, O. Unterm Hollunderbaum Historische Er-
zählung .... 121, 136, 147, 162, 178, 193
Kastenstein, Louis Römische Erinnerungen 63.76, 93
— Erinnerung an Portugal..................160, 175
Keller-Jordan, H. Ein welkes Blatt...................246
Keller, Nora. Ein kurzer Lebenstraum .... 259
Menstrl, E. Der innere Appell (Novellette) 9, 24, 35, 51
Traudì, Valentin. Bcrgluft........................... 78
— —. Sonnentag....................................106
— —. Die eiserne Basis (Humoristische Skizze) . . 274
— —. Weihnachtsfahrt (Novelle)....................326
Gedichte.
Sehn, M. Wechselwirkung.............................. 57
Sennecke, Wilhelm. Ein Maskenball.................... 29
— —. Frage........................................197
-----.Zum 20. August 1902 .......................... 209
Serstl, Julius. Aus Jsmaels Geschlecht .... 135
-----. Mittag........................................169
Bertelmann, H. Hessenblut............................185
-----. Des Sämanns Tod...............................279
-----. Eine Bergpredigt..............................279
B-, E. Wintergedanke.................................321
-----. Einsamkeit....................................321
Malwig, Adolf. Sej' Meike............................302
Fais, Henri du. Genug................................ 57
-----. Der Dichter aber..............................169
-----. Abschied......................................251
Greif, Martin. Sommcrlied............................169
Kran-jot, C. Alte Akten..............................272
Heidelbach, Paul. Lied............................... 85
— —. Herbst ......................................291
Scite
Heidelbach, Paul. Sturm..............•..............291
Herbert, M. (Keiter-Kellnrr, Therese.) Neujahr 1
—. Jenseits der Liebe.......................... 69
Rückkehr. I. II.............................129
—. Die Schönheit...............................141
— —. Sommerstürme................................141
—. Heimweh.....................................225
— —. Kühlung des Herzens ........................239
—. Advent......................................321
Jordan, Richard t- Herbst-Ahnung.................. 41
—. Satanas................................... 85
—. Einfahrt in den Golf von Nicoya .... 239
Fr eitler, M. Abschied von Marburg................ 69
Kindt, Otto. Frau Holle............................. 29
—. Kirmestanz..................................291
Frnodt, Karl Ernst. Vor dem Kamin................. 41
—. Klage der Verlorenen........................129
—. Frühherbstbild .............................225
. An die Sterne..............................251
—. Der Mutter .................................267
. Treuste Treue.............................30,7
Koppen, Agathe. Stvrmwiud...........................121
—. Der Schorsche ufe Beddenhusen jc..........181
Költlin, Therese. Die Nacht.........................101
-------. Heimweh....................................169
— —. Herbst......................................286
Müller. G. A. Sonnenabschied........................ 57
— —. Nach dem Kampf..............................113
—. Ruhe........................................113
—. Gut Wetter..................................232
Naumann, Heinrich. Dr Weanderowed .... 34
—. Eam Froijohr ...............................109
— —. So meatte dorch.............................302
Huhn, Kurt. Zwiegespräch vffem Feld...............138
- —. Marieche im äschte Examen..................217
Kippart, Wilhelm. Faschings spuk in Wilhelmsthal 49
preser, Carl. Ode an A. Trabert (zum80. Geburtsfest) 17
—. Kodizill....................................197
—. Weihnacht...................................329
Sascha Eifa. Leuchtturm der Liebe.......... 41
•— —. Erste Lerche ................................. 69
— —. O. glaub' mir: könnt' ich zaubern .... 101
—. Feierabend im Walde.........................197
— . Gelöbnis...................................225
— Das Paradies der Töne ........ 251
— —. Advent-Feier am Meere .............307
—. Großmutters Magnet .........................315
—. Die Macht der Liebe.........................329
Schwalm, I. H. De ahlc, schlächde Zoh .... 247
Sodenstrrn, E. v. Rose..............................251
Trabert, A. Zwei alte Lieder........................ 20
— —. Ritornelle.................................. 38
-------.An Dich..................................... 85
— —. Im Maimond war's............................113
-------. Ich bin der König von Thule..............259
Trais, Fr. v. Die Roawena........................... 81
— —. E Sonndoagk off dr Suhre ....... 264
Traudt, Valentin. Der junge Sieger .........153
— —. Unser Kampfgenosse..........................267
IDi'iJj, Albert. Weltflucht und Einsamkeit ... 161
— —. Das Christkind naht.........................329
Molts. Louis. Wilhelmsthaler Wasserspiel . . . 245
Aus alter und neuer Zeit.
Aus alten Stndentcngesetzcn der Universitätsstadt
Marburg. Von W. S........................... 11
Das Frauenkreuz int Kinzenbacher Wald. Von B—r. 26
Der Jungfernraub durch Ritter Holzappel von Vetz-
berg 1476. Von B—r.................................. 38
Ein verschwundenes Beförderungsmittel. Von C. N. 98
Bericht eines Kasseler Handwerksmeisters über ein
Hoffest im 18. Jahrhundert. Von Louis Wolfs 138
Authentisches über die Vergiftung des Hoflakaien
Bechstädt. Von E. Bäumler...................149
Die Personen des Verfassungsbildes. — Vermühlungs-
mcdaille. — Kurze Bemerkung zu den Mit-
teilungen des Herrn E. Bäumler über die
Vergiftung des Hoflakaien Bechstädt. Von
Otto Gerland................................164
Jubiläum der ersten hessischen Thaler. Von Th. Meyer 182
Aus den Erinnerungen eines kurhessischen Garde du
Corps. Von C. G. — Kurfürst Friedrich
Wilhelm von Hessen als Ehestifter. Von
Agathe Koppen ... ............219
Der Landschaftsmaler Eduard Gleim. Von K.
Kassel im Jahre 1887. Von Otto Gerland.
Das letzte Hoch auf den letzten Kurfürsten . 233
Kurfürst Friedrich Wilhelm und der Mündener
Schiffsbaner im Reinhardswald.................247
Die Statuen am Bowlinggreen der Karlsatie bei
Kassel. Von C. Neubcr. — Die Kanzel in
St. Katharinae zu Eschwege. — Vom letzten
Kurfürsten von Hessen. Von H. Jonas . . 261
Lebensrettung durch eine Geburtstagsfeier. Von R. v. B. 287
Die Kasseler „Nationalqarde" unter König Jörome.
Von H. M.........................'..........303
Hessisches Schlachtbild. Von G. Maldfeld .... 304
Von der grünen Couleur. Von F. v. u. z. Gilsa.—
Seltene Münze. Von Th. Meyer . . . . 315
Ein Kasseler Verlagsgeschäst...........................331
Aus Heimat und Iremde.
Hessischer Geschichtsverein. — Elisabeth Paar t. —
Musikalischer Vortragsabend. — Münz-Ver-
steigerung (mitget. von Paul Weinmeister) . 14
Universitütsnachrichten. — E. v. Sodensteru —
Verein der Hessen-Kasseler in Berlin. — Adolf
Wippermann f. — Ausgrabungen .... 27,
Hessischer Geschichtsverein. — Armeebefehl. —
versitätsnachricht. — A. Trabert.............. 39
Hessischer Geschichtsverein. — Universitätsnachricht. —
Dr. Th. Gießler t ................................... 54
Universitätsnachricht. — Jubiläum des Dr. Führer.—
Oberkonsistorialrat Habicht. — Professor
M Büdinger f. — „Freie Feder." — Aus-
grabungen ............................................... 67
Hessischer Geschichtsverein. — Universitätsnachricht —
Erstaufführung — Amtsgerichtsrat Dallwigf.
Schriftsteller K. Münch tz. — Kogelberg. . 81
Hessischer Geschichtsverein. — Universitätsnachrichten.
— Friederike Kauffmann t- Superintendent
W. Fürer tz. Pfarrer K. E. Fürer tz. Oberst-
leutnant G. Herrlein tz. P. Bulß t . • ■ 99
Universitütsnachrichten. — Freifrau von Schenck zu
Schweinsberg und die wirtschaftliche Frauen-
schule zu Ofleiden. — Städtebundtheater. —
Bühnenjubiläum von V. Müller. — Prinz
Fr. W. von Ardeck f. Polizeirat Thomaszik f.
Geheimer Justizrat Fenner f. Domdechant
Engel f..................................................109
©fite
Joseph Schwank t- — Hessischer Geschichtsverein. —
Universitätsnachrichten. — Futdaer Erinne-
rung. — Beitrag zur hessischen Familien-
geschichte — Eine Erinnerung an den 18. Ok-
tober 1863. — L. Schultheis t- Oberbaurat
W Streckert t. Professor Dr. £). Kius +.
Kunstmaler S. Gerechter f. Justizrat E.
Mackeldey f ...................................124
Historische Kommission. — Universitätsnachricht. —
Hessische Volkskunde. — Versammlungen. —
Ein preisgekrönter Roman. — Sophienblick. —
Dr. R. Koenig f. — Zum „Beitrag zur
hessischen Familiengeschichte" ...... 139
Zentennarfeier. — Fuldaer Geschichtsverein. — „Freie
Feder." — Jubiläum — Geh. Ober-Justiz-
rat Dr. A. Schultheis t- Oberkonsistorialrat
Dr. V. Habicht t- — Großhändler L. Reuse si.
— Denkmalseinweihung.........................151
Fürst Wilhelm, von Hanau si. — Univcrsitätsnach-
richten. — V. Jahresbericht der Historischen
Kommission für Hessen und Waldeck. —
Hanauer Geschichtsvcrein — Städtetag. —
Rhönklub.....................................165
Universitätsnachricht - Hessischer Geschichtsverein —
Jubiläum — Opernsänger F Jäger f. Kgl.
Schauspielerin S. Turba 's. — Hessisches aus
dem N. G. Elwertfchen Verlag in Marburg 182
Herzogin von Anhalt-Bernburg f. — Universitäts-
nachrichten. — Professor Dr. Kraetzschmarf.—
Hessenblut ....................... .... 195
Regcntschaftsgesetz. — Geschichtsverein. — Kurhessische
Feldzeichen. — Vermächtnis. — Universitäts-
nachrichten. — Dr. Hermann Habicht. —
Gedenktafel. — Denkmal Kellners.— Edlitam si.
Dr. Wörishvfser f. Kurt Ruhn 's ... . 207
Hessischer Geschichtsverein — Geologische Gesellschaft.
— Karl Justi — Louis Katzenstein. —
Universitätsnachrichten. — Jubiläum . . 221
Geburtstagsfeier des letzten Kurfürsten in Kassel. —
68. Jahresversammlung des hessischen . Ge-
schichtsvereins in Gelnhausen. — Universitäts-
nachrichten. — Dr. W. Kießelbach 's. —
Burg Schwarzenberg ...............'..... 234
Preislied. — Brunnendenkmal. — Hngenvttentag. —
Verleihung. — Forstmeister A. Kayser 's . . 248
Schenkung. — Abschiedsfeier. — Jubiläum. —
Melsunger Forstakademiker....................265
Hessischer Geschichtsverein — Universitätsnachrichten
— Jubiläum. — Familientag - Amts-
gerichtsrat H. Zimmermann 's. Domänen-
pächter L. Zimmermann f. Geh. Sanitäts-
rat Dr. Klingelhöfer 's. Generalleutnant
v. Wurmb 's.....................................276
Hessischer Geschichtsverein — Kronprinz von Däne-
mark. — Universitätsnachrichten. — Jubiläum.
— Kunstnachrichten..............................288
Hessischer Geschichtsverein. — Universitätsnachrichten.
— Luise Braun t — Kalender. — Geschichts-
Entstellung ....................................304
Hessischer Geschichtsverein (Kassel—Marburg).—Ober-
hessischer Geschichtsverein — Universitätsnach-
richten. — Luise Braun. — Bühnenabschied. —
Liederlese moderner Sehnsucht...................316
Hessischer Geschichtsverein. — Geschichtsverein Schmal-
kalden. — Luise Braun-Stiftung. — Kur-
fürstenbild. — Kapitän Badenhausen t . . 332
Keslische Wncherschau.
Bock, A. Kinder des Volks. Bespr. von Alex.
-» Burger ........................................183
Braun. Christophine, Schillers Lieblingsschwester.
Bespr. von Heidelbach.......................266
B u r m e st e r, Marie. Pfarrhäuser. Bespr. von S. G. 290
Campoainors „Doloras", Auswahl aus. Dem
Spanischen nachgedichtet von Joseph Mager.
Bespr. von CP............................... 16
Coester, B. S. Leutnants-Erinnerungen eines
alten Kurhessen. Bespr. von W. B. ... 249
D a a b, Ph. Sonnenwende. Bespr. von Heidelbach 224
D ä h n h a r d t, Oskar. Heimatklänge aus deutschen
Gauen. Bespr von W. B....................... 84
©fenstern, M. von. Friede den Hütten. Bespr.
von M. Herbert .............................318
Festgeschenke ans dem Vertage der R. G. Elwertfchen
Verlagsbuchhandlung...........................335
Grebe. E. R Friedrich Wilhelm 1., Kurfürst
von Hessen. Bespr. von Otto Gerland . . 265
Happel, Ernst. Mittelalterliche Befestigungsbauten
in Riederhessen. Bespr. von Dr. Lge. . . . 334
Holzamer.W. Peter Nackter. Bespr von V Traudt 128
— —. Carnesie Colonna. Bespr. von A. Burger 306
-----. Der arme Lukas. Bespr. von A. Burger . 334
Immortellen. Bespr. von Heidelbach .... 183
Knodt, Karl Ernst. Aus allen Augenblicken
meines Lebens. Bespr. von Stromberger . 319
L e w a l t e r, I. „Das Vater Unser " Bespr. von R. 128
Müller, Fidelis. Emanuel Bespr. von S. . . 289
Müller, G. A. Gedichte. Bespr. von V. Traudt 127
O e y n h a u s e n. A. von. Während Mamas Bade-
reise und andere Geschichten. Bespr. von B. C. 320
Neuling, Carlot Gotfrid. Der Schatzgräber.
Banernkomödie. Bespr. von A. Burger . . 306
Roths Spezialkarte von Hessen-Nassau. Bespr.
von A. Gild.................................266
Roques, H. v Urkundenbuch des Klosters Kau-
fttngen. Bespr. von Ph. L...................223
Schoos. W. Marburg, die Perle des Hessenlandes.
2. Ausl. Bespr. von Hans Altmüller . . 333
Stratz, Rudolf Die ewige Burg Roman Bespr.
von Karl Berger............................. 83
Stromberger, Chr W. Biographische Charakter-
bilder. Bespr. von Alex Burger................127
Suchier, R. Trendila. Bespr. von W. B. . . 128
Traudt, V. Leute vom Burgwald. Bespr. von
Alex. Burger................................278
Voigt, W. Chronik von Stadt und Festung
Spangenberg. Bespr. von Ph. L...............223
KeMche Ieitschriflenschan vonW.S. 111.238,335
Personalien.
Seite 16, 28. 40. 56. 68. 84, 100, 112, 128, 140, 152,
168, 182, 196, 208, 224, 238, 250, 266, 278,
290, 306, 320. 336.
Priefkallen.
Seite 16. 28. 40, 56. 68. 84. 112, 152, 168, 182, 196,
208, 224. 278, 320. 336.
M 1.
XY1. Jahrgang.
Kassel, 3. Januar 1902.
Neujahr.
Verhallend weh'n die Weihnad^tsglockcn.
Hun zieht das neue 3ahr herein,
.Huf seinen langen, dunklen Locken
Liegt der Verhaftung Sternenfcbein.
6s spricht: Du zitternd Menschenleben,
Du Kerzenlicht in meiner Rand —
0 wolle nicht so flackernd beben —
Ich bin ein Bote — gottgesandt.
Id) trage tief in meinem herzen
Den Croft, die Liebe und das Glück.
Wohl flammen taufend beifte Schmerzen
Voll Glut Dir zu aus meinem Blick,
\ Wohl ringen dunkle Sehnsuchtsfragen
| in meiner Stimme mächt'gem Ruf,
\ Wohl zittern drin die stummen Klagen,
l Die Müdigkeit und Schwäche schuf
\ ünd doch — wie selige Gesichte
] Zeig' ich Dir Mut und Schöpferkraft.
I Gewalt'ge Bilder und Gedichte,
] Der Schönheit heil'ge Leidenschaft.
I 0 beuge Du Dich meinem Grüfte!
\ Geh’ mir entgegen frisch und warm —
\ 6s ströme Dir aus meinem Kusse
\ Mut in die Brust, Kraft in den Arm,
Daft Du mit einem Zuhelworte
ünd einer starken Bitte flehst —
ünd an des Zanus dunkler Pforte
Mit einem stolzen Lächeln stehst.
Cb. Keiter=Kellner (M. Herbert).
Regensburg.
Das wilhelrnshöher Riesenschlotz unö öre Herkulesstatue
unö ihre
Von C. Ne
ine strenge und unerbittliche Herrscherin ist die
Geschichtsforschung. Manche der Mit- und
Nachwelt überlieferte und von Tausenden gläubig
nacherzählte Begebenheit wird durch zufällig ans-
gefundene Urkunden oder Aufzeichnungen entweder
als geradezu unwahr hingestellt, oder doch als nicht
fv geschehen, wie bisher mitgeteilt worden; und
es wird aus solche Weise der Schleier manches
dunkeln Geheimnisses gelüstet. Wenn nicht im
Jahre 1900 Arbeiten an dem Niesenschloß zu
Wilhelmshöhe stattgefunden hätten und wenn
nicht bei dieser Gelegenheit die Schüdeldecke des
alten Heiden ans der Pyramide abgenommen und
dabei die verhängnisvolle Platte entdeckt worden
wäre, so würde wahrscheinlich niemand auf den
Gedanken geraten fein, daß ein anderer als der
bis dahin allgemein genannte Kasseler Hof-Kupfer-
schmied Otto Philipp Küper die Herknlesstatne
verfertigt habe. Nicht immer steht aber auch das
Verhältnis der Beteiligung von zwei Künstlern
an dem nämlichen Werke so fest, wie z. B. bei
dem Denkmal des Großen Kurfürsten auf der
Langen oder Kurfürsten-Brücke in der Nähe des
Königlichen Nesidenzschlosses zu Berlin, als dessen
Schöpfer der berühmte Baumeister und Bildhauer
Andreas Schlüter und als ausführender Gießer
der auch angesehene Kupferschmied Johann Ja-
coby genannt werden.
Bevor wir nun zur Herkulesstatue übergehen
lind zu der Frage, von wein dieselbe herrühre,
ob von dem bereits genannten Küper oder dem
neuerdings auf die Bildflüche getretenen Johann
Jakob Anthoni, Goldschmied aus Augsburg,
möchte es sich empfehlen, wenigstens in großen
Zügen die Baugeschichte des Riesenschlosses aus
dem Winterkasten vor uns vorüberziehen zu lassen,
und zwar einmal auf Grund der darüber vor-
handenen Schriften und Bücher in der hiesigen
Landesbibliothek und der Bibliothek des hessischen
Geschichtsvereins, sodann aber der im Königlichen
Staats-Archive auf dem Schlosse zu Marburg
vorhandenen Urkunden, wobei hiermit den Be-
amten dieser Anstalten für ihre freundliche Unter-
stützung der verbindlichste Dank ausgesprochen
wird.
Erbauer.
ber, Kassel.
Landgraf Karl, der bekanntlich von 1670-1730
regierte, errang nicht nur durch seine in verschiedenen
Ländern siegreichen Truppen kriegerische Lorbeeren,
sondern verstand auch daneben, mit der Friedens-
palme sich zu schmücken, und hat namentlich zwei
weltberühmte Schöpfungen hinterlassen: die Karls-
Aue und das Riesenschloß zu Wilhelmshöhe,
das von der Mitwelt wegen des ungeheuern
Kostenanswandes und der mühseligen Arbeiten
vielgeschmähte, dagegen von der Nachwelt gepriesene
und angestaunte Werk. Vergegenwärtige man sich
die damaligen Zustände, in denen sich die jetzt
mit so herrlichen Anlagen ausgestattete und von
so zahlreichen Einheimischen wie Fremden besuchte
Wilhelmshöhe befand. Zwar hatte schon Land-
graf Moritz der Gelehrte (1592 — 1627) an
Stelle des einstigen Klosters Weißenstein ein
ganz ansehnliches Schloß aufgeführt (1606) und
dasselbe mit verschiedenen Anlagen umgeben. Dieses
Schloß war aber in den Stürmen des dreißig-
jährigen Krieges zerstört und die schönen Anlagen
weggefegt worden. Da faßte der stets für das
Große und Erhabene glühende und wegen der
Vielseitigkeit seiner Neigungen und seines Sammel-
Eifers in der damaligen Sprechweise als „curieuser
Herr" bezeichnete Landgraf Karl den kühnen Plan,
die zwar arg verwilderte, indessen mit prächtigen
Waldungen versehene Gegend, in welcher auch
mancher hessische Landesherr mit seinem Gefolge
des edlen Waidwerks pflegte, durch einen groß-
artigen Bau zu verschönern, zugleich aber die
Ruhmesthaten der tapfern Heerschaaren
des Hessenlandes durch ein weithin über
die Berge hinaus sichtbares Denkmal
berf)errltcf)ett.
Bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts (1696)
wurde begonnen, jedoch das damals in Angriff
genommene Stück auf der eigentlichen Spitze des
Berges, welches daher den Namen des alten
oder kleinen Winterkastens noch führt, rechts
von der späteren Anlage und noch heutigen Tags
von der Wirtschaft benutzt, bald wieder, vermnt-
') Bergt, die Inschrift einer später noch zu erwähnenden
Medaille auf den Herkules; s. auch Rommel Bd. X, S. 158.
3
lief) wegen seines geringen Umfanges, liegen ge-
lassen. *) Der Landgraf wollte nun erst Vor-
studien machen und unternahm ganz plötzlich,
kurz vor Ausbruch des spanischen Erbsolgekrieges,
die Umgebung in dem Glauben lassend, nach
Thüringen reisen zu wollen, von Dezember 1699
bis April 1700 eine Reise nach Italien, dem
damals schon wegen der Unsicherheit seiner Straßen
verrufenen und doch wegen seiner zahlreichen und
herrlichen Kunstwerke berühmten Lande. Der
Landgraf reiste unter dem Titel eines Neichs-
grasen von Solms und nahm nur 10 Personen
im Ganzen mit.
Der unter dem Reisegefolge des Landgrafen
befindliche Geh. Kriegs-Sekretär Johann Balthasar
Klaute, welcher bereits beim Kriegszuge hes-
sischer Truppen in Morea einen Teil von Italien
gesehen hatte und der italienischen Sprache mächtig
war, führte das dem Erbprinzen, späteren Land-
grafen und Schwedenkönige Friedrich I. gewidmete
Tagebuch: Diarium Italicum (gedruckt Kassel
1722), dem trotz seiner Ausführlichkeit der Vor-
wurf gemacht wird, daß darin manche anderwärts
vorkommenden Nachrichten über diese Reise nicht
enthalten seien.2) Die Reise ging, wie das
Tagebuch ergiebt, zu Anfang (5.) Dezember in
tiefem Schnee über Friedewald, Schmalkalden,
Coburg, Augsburg, Innsbruck nach Venedig, so-
dann über Florenz und Rom bis Neapel und
Terracina, und wieder zurück, diesmal über Rom,
Pisa, Genua, Mailand, Basel, Straßburg, Mann-
heim, Worms, worauf sie in Kassel am 2. April
1700 ohne Unfall wieder anlangten. Betrachtet
wurden mit Gründlichkeit, auch schon in Deutsch-
land, die antiken und modernen Kunstschütze in
Museen. Kirchen, Palästen, Villen, ferner Garten-
Anlagen, Wasserwerke, und viele Kostbarkeiten,
wertvolle Steine u. dergl. zur Bereicherung des
Kunsthauses in Kassel angekauft. 3)
Übrigens erging es dieser Reisegesellschaft wie
mancher andern, daß sie zu Rom gewesen und
den Papst nicht gesehen. Als Grund dafür wird
im Tagebuche (S. 110) angeführt, daß der Papst
„sehr indispost" gewesen. Derselbe, mit seinem
eigentlichen Namen Antonio Pignatelli, als
Jnnocenz XII. seit 1691 ans Petri Stuhl,
starb am 1. November 1700, mag also zur Zeit
der Anwesenheit des Landgrafen Karl wirklich
unpäßlich gewesen sein.
') Fr. Chr. Schminke: Beschreibung der Hochfürstlich
hessischen Residenz- und Hauptstadt Kassel (Kassel 1767),
S. 419.
9 Rommel a. a. O. Bd. X. S. 136, Anm. 2.
9 Vergl. auch Otto Gerl and, Die Reise des Land-
grafen Karl von Hessen nach Italien, „Hessenland" 1901,
S. 2 ff., 14 ff.
Alsbald nach Ankunft in der Heimat wurde
mit den Arbeiten aus dem Winterkasten von
neuem begonnen. Die im Marbnrger Archive
befindlichen Rechnungen enthalten bereits vom
Jahre 1700 eine ,8peciticatiou" : Was denen
Bergleuthen uffm Wintertasten in diesem 1700ten
Jahre in Abschlag ist ausgezalet worden — —.
Aber erst im folgenden Jahre (1701) berief
der Landgraf den genialen italienischen Baumeister
Giovanni Franzesko Guernieri und etliche
Stuccatoren nach Kassel. Sv giebt Rommel an
im Diarium Italicum wird Guernieri noch nicht
erwähnt. Nach Angabe des Archivrats Piderit2)
war derselbe allen Nachrichten zufolge aus Rom
gebürtig und lebte mit Familie in Kassel, wo
er bei der Steiuschleiferei beschäftigt war, nach
Rommel3) bei der Ed elst e inschlei ser e i, welche
in dem nahen trockenen Schloßgraben (an der
Stelle, wo jetzt Ställe und Reithaus der Kriegs-
schule sich befinden), mit Räderwerk, Schleif-,
Polier- und Schneidemühle betrieben wurde. Hier
begann Guernieri — nach Mitteilung Anderer D
war er schon mit dem Landgrafen aus seinem
Vaterlande nach Kassel gekommen — im Jahre
1704 seine Thätigkeit und darauf (1705) am
Winterkasten, wozu auch die Rechnungen im
Archive passen, in denen nunmehr die italienische
Sprache viel vorkommt (eingeleitet: 1705. Lista
cominciata al 4 Majio per Albis schateza
A preso la fondacione), sowie die von der
jüngsten Tochter Simon Louis Du Rys (des
dritten des Namens aus der berühmten Bail-
meister-Familie), Amalie Rothe, herrührenden
mündlichen Mitteilungen au ihre Nichte Amalie
Grandidier, welche diese zu Papier gebracht hat"),
denen zufolge Landgraf Karl mit Paul Du Ry
im Jahre 1703 nach Italien gereist ist, wo
beide die herrlichen Schätze der Kunst, jeder mit
seinem Stifte, kopierten.
Während bis dahin in den Rechnungen nur
Namen von Hessen aus verschiedenen Teilen des
Landes oder von Leuten aus der Nachbarschaft
für die vorbereitenden Arbeiten vorkamen, finden
sich jetzt daneben viele italienische Namen, wie
Giorgio, Giachomeo, Bartolvmeo, Ambrvsiv,
9 Rommel a. a. O. S. 156.
9 Piderit, Geschichte der Haupt- und Resideuzstadt
Kassel (Kassel 1844), S. 276. Anm.
9 Rommel a. a. O. S. 143.
9 Kassel in historisch-topographischer Hinsicht. Nebst
Geschichte und Beschreibung von Wilhelmshöhe und seinen
Anlagen (Marburg 1805), Wilhelmshöhe, S. 51. — Kassel
und die umliegende Gegend. Eine Skizze für Reisende.
(3. Aufl. Kassel 1801.) S. 106.
9 Gerland, Paul, Charles und Simon Louis Du Ry.
(Stuttgart 1895.) S. 162, Anm. 1.
4
Fiorino (deutsch Gulden), ferner Giovan Rizo
(richtiger Riso, Reis, dann Ritz), Stefano Rizo,
Giovan Pisof (letzterer vielleicht nur italienisiert
für Bischof).
Nach den vorgelegten Plänen und Zeichnungen
wollte Guernieri den ganzen Berg, zuerst Wind-
kasten, dann Winterkasten und daneben be-
reits in der Ausgabe von 1705 dem Landes-
herrn zu Ehren Karlsberg genannt, durch
verschiedenartige Anlagen und Wasserkünste in
einen Wunderberg umwandeln, die Wasser-
künste mit Unterbrechungen (unter anderen
durch einen italienischen Palast unterhalb der
Kaskaden) zum Schloß fortführen, dieses
neu bauen und davor ein Bassin zu einer großen
Fontaine anlegen. Landgraf Karl war diesem
großartigen und wegen der beinahe eine Stunde
betragenden Entfernung zwischen dem fürstlichen
und dem Riesenschlosse geradezu ungeheuerlichen
Plane gar nicht abgeneigt, da ihm die von ihm
selbst geschauten herrlichen Bauten und Wasser-
künste zu Tivoli und Frascati in der Nähe von
Nom und zu Terni im Sabinerlande als Muster
vorschwebten, näher beschrieben im Diarium
Italicuni (S. 95, 155, 162 sg.), teils natürliche
Wasserfälle der Flüsse, wie des Anio oder Teverone
bei Tivoli (ca8catc u. cascatelle) und der Nera
bei Terni, zwei Nebenflüsse der Tiber, teils reine
Kunst-Anlagen, wie bei Frascati und Tivoli.
Gleichwohl kam der Plan infolge der Kost-
spieligkeit, wie der baulichen und sonstigen
Schwierigkeiten, z. B. daß Guernieri auch seine
Neider und Feinde hatte, nur zum dritten
Teile zur Ausführung. Der Landgraf bewilligte
ungeheuere Summen, nach Rommel anfangs
45 200 Gulden, später 91 564 Reichsthaler
— Piderit nennt nur die letztere Summe —
nebst der Beschaffung aller erforderlichen Bau-
materialien. Guernieri erhielt für seine Person
eine jährliche Besoldung von 1500 Reichsthalern,
30 Klafter Holz, freie Kost und Mietentschüdi-
gnng *); nach anderen Mitteilungen, nach welchen
das Werk binnen fünf Jahren fertig sein sollte,
jährlich 3000 Reichsthaler, nebst anderen Douceurs,
') Rommel a. a. O. S. 157; Piderit S. 277.
Dos Verhältnis der verschiedenen Münzsorten zu ein-
ander war zu den verschiedenen Zeiten verschieden, Nach
Kopp, Hessisches Handbuch, Th. II. S. 503, galt in der
Mitte des vorigen Jahrhunderts 1 Thaler — 2 Gulden
und mehr, das. Vorrede zu Th. II, S. 11 zu Ende des
vorigen Jahrhunderts 14 Reichsthaler — 21 Gulden,
also 1 Reichsthaler — 1 J/a Guiden. Für den Anfang
des vorigen Jahrhunderts scheint es an einer genauen
Vorschrift zu fehlen. Rach einer Archiv-Urkunde waren
1450 Gulden — 9602 s Thaler, also 1 Thaler — 1 ’/» Gulden.
als freier Jagd. Fischerei und dergl. *) Obgleich
die Sache mit großem Eifer angefaßt und außer
den mitgebrachten Italienern noch, wie schon
früher angegeben, Handwerker und Tagelöhner
aus dem ganzen Hessenlande und darüber hinaus,
auch Soldaten herangezogen wurden, hatte man
nach einem Jahrzehnte (mit Guernieri als fest-
stehendem Leiter nach fünf Jahren) noch große
Schwierigkeiten zu überwinden. Der Landgraf
bewilligte nun, wie es in der Urkunde vom
7. Januar 1710 im Archiv heißt, „zur weiteren
Fortsetzung des Bauwesens auf'm Winterkasten
bey Weißenstein vor dieses 1710te Jahr" 24 000
Reichsthaler und verordnete, daß dazu genommen
würden:
1. aus den Richelsdorfer Berg-
werks-Jntraden (Einnahmen) 4 500 Rthlr.
2. aus dem Diccnt (Steuer) von
Bier und Brühhahn . . . 2 000 „
3. aus dem bei Hose befindlichen
Vorräte der englischen arre-
rages (d. h. den Einnahmen
aus dem Subsidien-Vertrage
mit England im spanischen
Erbfolgekriege, in welchem be-
kanntlich hessische Truppen mit
Auszeichnung neben englischen
fochten).................... 15 500 „
4) aus dem Frankenberger Berg-
werks-Überschuß ............... 2 000 „
Summe 24 000 Rthlr.
Davon erhielt Guernieri für Besoldung aus
dem Vorräte zu 3. 1500 Thaler, mithin für
seine Auslagen 22 500 Thaler. Die Besoldung
von jährlich 1500 Thalern ist noch ausdrücklich
bestätigt in Anweisung bezw. Quittung vom
31. Dezember 1710 unter Bezugnahme ans
Vereinbarung (chonformita dell achordo) vom
1. Mürz 1708. Nach weiteren Anweisungen und
Quittungen von demselben Tage bekam er für
das Jahr 1710 den Betrag von 22 891 Thalern
(also über 22 500 Thaler), da ihm noch ein Rest-
Guthaben vom Jahre zuvor verblieben war, und
außerdem 40 Thaler Jahres-Miete.
In dem Buche: „Das Kurfürstentum Hessen
in malerischen Ansichten" (Darmstadt 1850) ist
ohne Quellen-Angabe Seite 68 fg. der jährliche
Gehalt von Guernieri nur zu 1006 2/s Thaler
beziffert und sind außer der obigen Zahlungsstelle
noch andere Kaffen genannt, z.B. Kammerschreiber-
Kasse, Wolfsjagd-Kasse. Danach hat auch her
') Uffenbach: Reisen nach Niedersachsen 11. s. w. (Frank-
furt u. Leipzig 1753) bei Beschreibung von Kassel S. 11.
Bau bis zum Jahre 1710 die Summe von
200 007 Thalern verschlungen.
Anweisungen vom Jahre 1710 bestätigen die
Anlage eines Kanals von dem bei der jetzigen
Meierei Sichelbach (Siegelbnch) auf einer kleinen
Anhöhe befindlichen Teiche nach dem hinter dem
Niesenschlosse gelegenen Teiche, der sogen. Follen-
tränke (Fohlentränke), wozu ein Röhrengießer
Schreyer und Bergleute herangezogen wurden.
So zog sich die Sache hin bis zum Jahre 1714,
in welchem Gnernieri noch die Pyramide auf
dem ein Achteck (Oktogon) bildenden Riesenschlosse
aufführte, wofür ihm nach Notiz im Archive
durch Ordre des Landgrafen die Summe von
14 000 Reichsthalern bewilligt wurde, zahlbar in
vier Raten (1. Oktober 1713, 1. Januar, 1. April,
1. Oktober 1714, je 3 500 Reichsthaler).
Nunmehr stand fertig da das Niesenschloß auf
der Höhe des Karlsberges, ein kolossaler, drei Stock-
werke hoher, durch Kreuzgewölbe durchbrochener,
felsenartiger Bau oder vielmehr ein Grottenwerk
die Rechnungen lauten über die „Baukosten
beim Winterkasten-Grvttenwerk" —, in dessen
Mitte in einer ovalen Öffnung ein großer Wasser-
behälter angelegt wurde, der später aus irgend einer
traurigen Veranlassung sogenannte Unglücks-
Teich, von einem starken Geländer umgeben. Die
beiden unteren Stockwerke des Baues scheinen ans
dem Felsen gehauen zu sein.
(Fortsetzung folgt.)
-----------------------—
Heinrich Henkel.
Zur Erinnerung an seinen hundertsten Geburtstag.
in 9. Januar 1902 sind hundert Jahre seit
der Geburt Heinrich Henkel's verflossen,
der in der Geschichte unseres engeren Vaterlandes
eine so hervorragende Stellung einnehmen sollte.
Seilt Vater war der Bergrat und Bergrichter
Johann Ludwig Henkel in Schmalkalden, welcher
dem Sohne eine sorgfältige, wissenschaftliche Aus-
bildung zuteil werden ließ. Heinrich Henkel
studierte in Marburg die Rechte, ließ sich kaum
21 Jahre alt in Kirchhain als Rechtsallwalt nieder
und wurde bereits 1825 Obergerichtsanwalt in
Marburg. Diese Thätigkeit scheint ihn aber, wie
einer seiner Biographen sagt, nicht befriedigt zu
haben, „weil er die gesellschaftlichen Verhältnisse
mehr vom Standpunkte des Naturrechts, als nach
den Normen des positivell Rechts zu beurteilen
geneigt war". Aus diesem Grllnde gab er 1830
seine Stelle ans, uin sich dem akademischen Lehrfache
zu widmen. Dazu kam er jedoch nicht, da die
Umgestaltung der Politischen Verhältnisse Kur-
hessens seinem Lebensgange eine andere Wendung
gab. Er trat als politischer Führer auf und nahm
1833 ein Mandat der Stadt Marburg als Land-
tagsabgeordneter an. 1834 wurde er in Kassel
zwar wieder Obergerichtsanwalt, aber der Schwer-
punkt seiner Thätigkeit ist nunmehr in der Politik
zu suchen. Auch mit religiösen Fragen beschäftigte
er sich und trat 1839 für die evangelische Lehr-
und Glaubensfreiheit gegen den Ober-Appellations-
rath Bickell und dessen Auslegung der symbolischen
Bücher aus. Als das Jahr 1848 über Deutschland
und auch über Knrhessen dahinbranste, fand es
auch Henkel auf seinem Platz, der in der un-
erschrockensten Weise für das kämpfte, was er als
recht und billig erkannt hatte. In die Pauls-
kirche gewählt, verzichtete er auf dies Mandat,
da er glaubte, dem Volke in der knrhessischen
Ständekammer, deren Mitglied er war, mehr
nützen zu können, und erschien im Parlament
nur kurz vor dessen Verlegung nach Stuttgart
als Stellvertreter des Herrn von Banmbach, bei
welcher Gelegenheit er seine Stimme gegen die
Verwandlung des Parlaments in einen „bloßen
Club" in Stuttgart erhob. Während der an
Kurhessen vollzogenen Bundesexekntivn 1850 und
1851 fehlte es nicht an Veranlassung, Henkel
vor das permanente Kriegsgericht stellen zu lassen,
von welchem er zu fast zwei Jahren Festungs-
haft verurteilt wurde. Dies sind kurzgefaßt die
hauptsächlichsten Taten aus dem öffentlichen Leben
dieses bemerkenswerten Mannes, welcher unter
der Bezeichnung „der Henkel" zu den volks-
tümlichsten hessischen Persönlichkeiten seiner Zeit
zählte. Dreimal vermählt, hatte er zahlreiche
Kinder, von denen Herr Oberlehrer Dr. Henkel
in Kürze eine ausführliche Biographie seines
Vaters herausgeben wird. Heinrich Henkel starb
als Justizrat am 26. Juni 1873, im 72. Lebens-
jahre. Sein Name wird im Hessenlande unver-
gessen bleiben als der eines „rechten Hessen, in
welchem kein Falsch war".
2$. W.
6
Das Lentgericht im Amt Auersberg
bei Hilders in der Rhön.
Mitgeteilt von R i ch
ngeregt durch Bechsteins Sagenschah, ermuntert
durch verschiedene in der Landes- und Mnr-
hard-Bibliothek entdeckte, wenn auch spärliche
Nachrichten, welche Dörfer und Ortschaften des
jetzigen Amtsgerichtsbezirks Hilders in der Rhön
betreffen, bin ich bei weiteren Nachforschungen
schließlich reichlich belohnt worden, als mir durch
gütige Vermittelung der hiesigen Landesbibliothek
das Auersberger Amtssalbuch vom Kreisarchiv in
Würzburg zur Benutzung überwiesen wurde.
„Ambt und Saalbuch vom Jahre 1595"
lautet die Überschrift. Die Erklärung dieser Be-
zeichnung giebt uns das große „Lexikon aller
Künste und Wissenschaften, welche bishero durch
menschlichen Verstand und Witz erfunden worden"
im 33. Band vom Jahre 1742 wie folgt:
„Saal bedeutet bei den alten Deutschen erst-
lich schlechthin und überhaupt einen Aufenthalts-
ort, eine Wohnung, ein Verbleiben nicht nur der
Menschen, sondern auch der Tiere. Hernach ist
es ein besonderer Name der Behausung freier
und zum gemeinen Wesen etwas zu sprechen
habender Menschen bei den Franken geworden.
Noch weiter hat man mit deni Titel Saal die
Gerichtsorte und Stellen belegt, allwo in rechtige
Folge die Verzeichnisse des Abgehandelten, des
Verordneten, deren Rechte u. s. w. aufbehalten
und hinleget worden sind, daß man hernach von
Saalbüchern d. i von Gerichts-, Grund-, Erb-,
Lager-Büchern und deren mehr gewußt hat ?c."
Interessant auch für weitere Kreise dürfte das
in genanntein Amt bestandene Centgericht sein,
dessen Umfang, Zusammensetzung und Verlauf in
genanntem Saalbnch, wie folgt, beschrieben ist:
„Der Hochwürdig Fürst und gnädiger Herr
von Würtzburg hat in dem Amt Auersberg ein
Centhgericht, darin gehören nachfolgende Dorf-
schaften, Weyler und Höfe nemblich: Hilters,
Simmershausen, Larbach, Wickers, Schandenhofs,
Strutthof, Rommelsrain, Brauertz, Batten, Deckten,
Seyfertz, Fündlos, Wüstensachsen Melbers, Brandt,
Revelbach, Undrastein*) (?), Neuer **) Schwanbach,
und Wüstung Boppenrodt. ch) Berührt Centh-
gericht wird alle 14 Tag und dann jährlich aus
Petri cathedra, so das Petersgericht genannt
wird, ein Hochgericht und sonsten und sooft die
Nothdurft erfordert, peinlich Gericht gehalten.
*) Vielleicht Schafstein.
**) Muß jedenfalls Silier (Aura) und Schwainbach heißen.
1) Im 30 jährigen Kriege zerstört.
ard H erg et, Kassel.
--- (Nachdruck verboten.>
Solche Gericht werden jedesmal mit 14 Schöpfen
als zween von Hilters, Simmershausen, Larbach,
Wüstensachsen, einer von Wickers, Melbers, Nevel-
bach, so alle allein Jahrschöpfen, von Batten,
Deitten, Seyfertz und Fündlos, und einer von
Schandenhvs, so Erbschöpf, besetzt, welche alle von
eines jeden regierenden Fürsten und Bischoffen
zu Würtzburg, sowohl eines Ehrwürd. Tom-
Capitels daselbst wegen durch einen jeden Centh-
grafen mit Pflichten und Eydten auf und an-
genommen uff Maas und Form, wie nachfolgt.
In solchen Gerichten ist der jederzeit verordnet
Centhgraf Richter, werden solche von des Hoch-
würdigen unsers gnüd. Fürst und Herrn von
Würtzburg, eines Hochwürdigen Dom-Capitels,
eines Ambtmanns zu Fladungen und Auersberg,
des Centhgrafen als Richter und der vierzehn
Schöpfen wegen geheegt und seyen auf den pein-
lichen Gerichtstag alle Centhverwandte, hinter wem
sie sonst gleich gesessen, mit ihren besten Währen
auffordern zu erscheinen und die Gericht beschützen
zu Helsen.
Hilters, Simmershausen, Lahrbach, Wickers,
Schandenhof, Rommelsrain, Branertz, so alle
Würtzburgisch, rügen alles, bürgerlich und peinlich,
ist nichts ausgenommen.
Melbers, Wüstensachsen, Boppenrodt, Brandt,
Thnngisch, Thannisch und Schenkisch, Revelbach,
Umbrastein, ein Hof Steinrückisch, Auerschwan-
bach, seyen Mord, Mordbrand, Diebstahl, Noth-
zucht und was denselben anhängig zu rügen und
ist die Buß, wie hernach zu finden. Die von
Melbers und Revelbach rügen auch über fliegende
Wunden, doch werden dieselben nicht von der Centh,
sondern von ihrem Vogtherrn verbüßt und bestraft.
Auer und Schwanbach, weil sie keine Schöpfen
geben, werden begebenden Fäll durch des Orts-
schultheißen vorbracht und gerügt und verwehren
sich dardurch der Strafen und ziehen sich ihre
Nachbarn aus dem Eydt.
Batten, Deitten, Seyfertz und Fündlos alle
fuldaisch, welcher Gestalt diese 4 fnldaischen Dvrf-
schasten der Centh Auersberg oder Hilters augehörig,
das ist aus dem Kaiserl. Kammergerichtsurtheil
von anno 1552 zu befinden.
Heege des Halsgerichts.
Demnach in Recht erkannt, daß es wohl an
der Tagzeit sey, daß ich des Hochwürd. unsers
gnädigen Fürsten und Herrn von Würtzburg Hoch
7
noth peinlich Acht und Hnlsgericht heegen möge,
so heege ich dies Hoch Noth peinlich Acht und
Halsgericht in Kraft und Gewalt des Hoch-
würdigen Fürsten und Herrn Julij Bischhvf
zu Würtzbnrg und Herzog zu Francken, unsers
gnädigen Fürsten und Herrn. Ich heege es auch
in Kraft und Gewalt aller Ehrwürd. und edlen
Herrn des Kapitels und Domstists zu Würtzbnrg.
Ich heege auch in Kraft und Macht des Edlen
und Ehren Vesten N. N., jetzige Zeit Amtmanns
allhier. Ich heege auch in Kraft und Macht
mein, Als Richters. Ich heege es auch mit Kraft
und Macht der 14 Geschworenen Centhschöpfen,
ich heege auch dieses Hoch Roth peinlich Acht und
Halsgericht mit aller feiner Gerechtigkeit und Frei-
heiten , wie das. von Alters Herkommen ist und
noch in sich hält, von feinem ersten Anfang an
bis auf den heutigen Tag.
Diese Centh und Halsgericht werden durch einen
Centhgrafen, so von niemand anders als von dem
Hochwürdig unserm gnädigen Fürsten und Herrn
jederzeit als zum Richter, der zu verordnet wird,
gehalten, wie dan darrüber über eines jeden Centh-
grafen Bestallungen und Bnnbrief, so ihm von Hoch-
gedachten unserm gnädigen Fürsten und Herrn
darüber zugestellt, ausweisen.
Nach gethaner Heege, wie vorgemerkt, fragt der
Richter den anderen Schöpfen: wie frag ich euch
Rechtens. Antworth der Schöpfe: bei dem Eydt.
Darein stellt der Richter an mit denen Worten:
so seyd des Rechten Urtheils bei dem Eydt gefragt,
und ihr Schöpfen alle 14, ob dies Hoch Noth
peinlich Acht zu recht genügsam geheegt sey, daß
man ein Jeden, so an diesem peinlichen Halsgericht
Recht begehre, könne rechtens geholfen werden.
Urtheilen darauf nach gehabten Bedacht der
Schöpfen:
Also haben mich meine Brüder gelehrt und
steht es auch mit ihnen zu recht, dies peinlich
Halsgericht sey so mächtig, wohl und recht geheegt,
daß wer rechtens an diesem peinlichen Halsgericht
begehre, wohl rechtens verholffen wird.
Fragt ferner der Richter den dritten Schöpfen wie
vor der Eydt: wie soll dies Hohe Noth peinlich
Acht und Halsgericht besetzt fein, dieses zu dem
rechten macht und Kraft haben.
Urtheilen darauf die Schöpfen nach gehabten
Bedacht:
Also haben mich meine Brüder gelehrt und straf
es selbst mit ihnen zu recht, dies peinlich Hals-
gericht soll besetzt fein mit guter Mann Vierzehn,
die untadelhaftig seyen.
Solchem nach gebeuth der Richter den Schöpfen,
auch dem ganzen Umbstand mit nachfolgenden
Worthen:
Demnach dieses hohe Noth peinlich Acht und
Halsgericht zu recht genügsam geheegt, auch sonst
alle Nothdurft dieses peinlichen Halsgerichts zu
recht erkandt: So gebiethe ich Euch Vierzehn
Schöpfen, das ihr recht Urtheil straft. Ich ver-
biethe euch, daß keiner uffstehe oder niedersitze, vvr-
oder abtrette, auch niemands sein Worth rede,
er thue denn solches mit Erlaubniß mein, als
Richters. Ich verbiethe auch alle unziehmblich
Worth und Werk dem ganzen Umstand hinden und
vor dem Gericht, soweit dies peinlich Halsgericht
Ohrenschall hat, solches alle sey verbothen bei
Leibesstraffe.
Solchem nach fordert aus Geheiß des Richters
der Centhknecht überlaut Klage und Antwort mit
nachfolgenden Worten:
Ich erfordere Klag und Antworth für des Hoch-
würdigen meines gnädigen Fürsten und Hern von
Würtzbnrg Hohe noth peinlich Acht und Hals-
gericht. Wer etwas daran zu schaffen hat, der mag
wohl fürtretten. Und solches thut der Landknecht
zum ersten, andern und drittenmal.
Solchem nach tritt der Kläger für und begehrt
mit Erlaubniß des Richters einen Schöpfen, so
ihnl gefällig, sein Wort zu reden.
Wann nun dem begehrten Schöpfen vom Richter
solches erlaubt wird, und der Schöpf sich solches
zu thun verweigert, wird es ihm uff rechtlich An-
stellung zu thun erkannt. Solchem nach dingt er
sich mit dem Kläger zu bedenken. Nach beschehenem
Bedacht tritt er neben dem Kläger mit Erlaubniß
des Richters wieder für Gericht und beding fein
Klag nach Gelegenheit schriftlich oder mündlich
für, und begehrt darauf an den Richter zu recht
anzustellen, findemahl der Hochwürdig unser
gnädigster Fürst und Herr Übelthäter einen oder
mehr in gefänglichen Banden habe, wie man solche
aus den gefänglichen Banden bringen mag.
Darauf wird uff Anstellung des Richters von
den Centhschöpfen nach beschehener Berathschlagung
also geurtheilt:
Also haben mich meine Brüder gelehrt, strafe
es auch selbst mit ihnen zu recht, der Landknecht
soll den Beklagten dem Kläger antworthen zu
feinen Handen.
Auf solche Urtheil fragt des Klägers Antworth-
reder und fielt ferner zu recht an, wie man ferner
mit dem Beklagten verfahren soll, damit man
rechtlich thue und unrecht lasse.
Darauf urtheilen die Schöpfen, auf Anstellung
des Richters mit vorgehabten Bedacht also:
Also haben mich meine Brüder gelert, so straf
ich es auch selbst mit ihnen zu recht, der Klüger
soll den Beklagten dem Züchtiger antworth zu
feinen Handen.
8
Aus solch Urtheil fragt des Klägers Wort-
redner und stellt abermals zu recht an, wie man
ferner mit dem Beklagten geparen soll, daß man
recht thue und unrecht lasse.
Darauf urtheilt der Schöpf uff Anstellung des
Richters mit vorgehabtem Bedacht also:
Also haben mich meine Brüder gelehrt, strafe
es auch selbst mit ihnen zu recht, der Kläger soll
den Beklagten zu dreymahlen befchreyen.
Auf solches Urtheil fragt des Klägers Worth-
reduer und stellt abermahls zu recht au, wie man
ferner mit dem Beklagten geparen soll, daß man
recht thue und unrecht lasse.
Darauf urtheilt der Schöpf uff Anstellung des
Richters uff vorgehabten Bedacht also:
Also haben meine Brüder gelehrt, auch fprech
ich es selbst mit ihnen zu recht, der Züchtiger soll
den Beklagten iu's Halseisen führen und einschließen,
allda soll der Kläger wiederumb dreymal be-
fchreyen.
Hierauf begehrt des Klägers Worthredner an
den Richter, daß er den Kläger vergönnen wolle
abzutretten, damit diesen vier vorgehenden Ur-
theilen möge Folg geschehen.
Wenn nun diesen Urtheilen also Folg geschehen,
so tritt des Klägers Wortredner wiederumb neben
den Kläger für und fragt abermahl und stellt
zu recht an, wie man mit dem Beklagten geparen
soll, daß mau recht thue und unrecht lasse.
Darauf urtheilen die Schöpfen uf 'Anstellung
des Richters mit vorgehabten Bedacht also:
Also haben mich meine Brüder gelehrt, auch
habe ich es selbst mit ihnen zu recht, daß der
nächst und weiteste Schöpfe, so im Schöpfenstuhl
bei dem Richter sitzen, für das Halseysen oder
Pranger gehen sollen und bestehe», wem der Be-
klagte gleichstehe Daraus stehen die zween Schöpfen
mit Erlaubniß des Richters auf und gehen hin
für den Pranger und bestehen den Beklagten.
Wann alsdann sie wieder kommen, lind sich mit
Erlaubniß des Richters wieder gesetzt haben, fragt
sie der Richter, wie sie den Beklagten beschaffen
gefunden, daraus geben sie dem Richter Antworth
nach Gelegenheiten, wie sie ihn befunden.
Solchem nach fragt des Klägers Wortredner
und setzt zu recht abermahls an, wie man ferner
mit dem Beklagten geparen soll, daß man recht
thue und unrecht lasse.
Daraus urtheilen uff Anstellung des Richters
mit vorgehabtem Bedacht die Schöpsen also:
Also haben mich meine Brüder gelehrt und
straf es auch selbst mit ihnen zu recht, der Züchtiger
soll den Beklagten uf dem Halseisen oder Pranger
nehmen und ihnen führen unter das Oberthor, |
allda soll ihn der Kläger abermahls zu dreyen-
mahlen befchreyen.
Solchem nach fragt des Klägers Wortreduer
und stellt zu rechten, wie man ferner mit dem
Beklagten geparen soll, das man ihn bringen
möge für das peinlich Halsgericht.
Darauf urtheilen die Schöpfen uff Anstellung
des Richters vorgehabten Bedacht nach also:
Also haben mich meine Brüder gelehrt, auch
straf ich es selbst mit ihnen recht, der Züchtiger
soll den Beklagten führen für das peinlich Hals-
gericht ungefähr bis uff drey Schriedt, damit dem
Gericht kein Eiubuß geschehe.
Wenn nun diesen nächsten vorgehenden zween
Urtheilen Folge geschehen ist, und der Beklagte
für Gericht kommen, so bitt des Klägers Wort-
redner mit Erlaubniß, die Klage, da er die
schriftlich einlegt, zu verlesen, oder dieselben nach
Gelegenheit mündlich zu thun.
Wann alsdann die Klag verlesen oder münd-
lich geschehen, fordert der Richter den Beklagten
zu antwort, ob er Ja oder Nein darzu sage, ver-
gönnet ihm auch einen Schöpsen zu einem Wort-
redner, wofern er dessen bedarf.
Solchem nach fragt des Klägers Wortreduer
liitb stellt zu recht an, wie man ferner mit dem
Beklagten geparen soll" das man recht thue und
unrecht lasse.
Darauf urtheilen die Schöpfen uff Anstellung
des Richters nach gehabten Bedacht also:
Also haben mich meine Brüder gelehrt und
straf es auch selbst mit ihnen zu recht, der Kläger-
soll dem Beklagten die zween förderste Finger uff
die Scheidel legen und schwören zu Gott und
seinem Heiligen Wort, das die Klag, deren er
ihn beschuldigt, wahrhaftig sey und er dasselbige
gethan habe.
Sofern der Beklagte dein Klüger solches schwörens
aus Gutwilligkeit nicht erlassen will, muß er also
schwören.
Solchem nach fragt des Klägers Wortredner
und stellt abermahls zu recht an, wie man ferner
mit dein Beklagten geparen soll, daß man recht
thue und unrecht 'lasse.
Darauf urtheilen die Schöpfen uff Anstellung
des Richters mit vorgehabtem Bedacht also:
Also haben mich meine Brüder gelehrt und
sprech ich es selbst mit ihnen zu recht, dieweil
der arme Beklagt hier steht, als ein Verächter
der Rechten, so urtheilen wir ihn heut zu Tag
vom Leben zum Tod.
Solchen: nach fragt des Klägers Wortredner
und stellt ferner zu recht an, wie man ferner mit
dem Beklagten geparen soll, damit man ihn
bringen möge vom Leben zum Todt.
9
Darauf urtheilen die Schöpfeu uff Anstellung
des Richters mit vorbehabten Bedacht:
Also haben meine Brüder gelehrt und straf es
auch selbst mit ihnen zu recht, der Landknecht soll
den arm Beklagten den Weeg weisen so lang
und breit es der Züchtiger bedarf bis an die Statt,
da der Arm sein Todt leyden soll.
Darauf fragt des Klägers Wortredner und
stellt zu recht an, wie man ferner mit den armen
------------<*3>.
Der imtei
Novellette von
Beklagten geparen soll, daß man recht thue ititb
unrecht lasse.
Daraus erfolgt das Endurtheil."
Die Flurbezeichnungen „am Galgenberg", der
„Galgenrasen" und „an der Centh", sowie der
im Amtsbezirk Hilders noch mehrfach vorkommende
Familienname „Zentgraf" sind noch Erinnerungen
an das ehemalige „hoch noth peinlich Acht- und
Halsgericht" Auersberg.
----------
re Appell.
E. Mentzel.
I.
Hochverehrte Frau!
Sie wünschen einen Beitrag von mir zu dem
Sammelwerke „Wichtige Abschnitte aus dem Leben
bedeutender Sängerinnen", das Sie in Bälde zum
Besten eines Unterstützungs-Fonds für mittellose
weibliche Gesangstalente herauszugeben gedenken.
Diese Sache hat meinen vollen Beifall und
spornt mich an, — freilich nicht ohne Zagen —
das bisher streng von mir gemiedene Gebiet der
Schriftstellerei zu betreten.
Sie meinen, verehrte gnädige Frau, wer so singen
könnte wie ich, wäre auch imstande. Wichtiges
über sich selbst in einer Weise auszusprechen, die
Andere zur Nacheiferung anspornen könnte. Ich
fürchte jedoch, in dieser Hinsicht haben Sie mir
wohl zu viel zugetraut. Da Sie es mir aber frei
stellen, die Ansänge meiner Entwickelung zu er-
zählen oder mich zur Heldin einer kleinen Skizze
zu erheben, so erleichtern Sie mir die Aufgabe um
ein Beträchtliches. Ich wähle die letztere Form;
denn sie gestattet mir. Manches freier und un-
gebundener auszusprechen, was ich bei einfacher
Wiedergabe der Thatsachen teils aus Bescheidenheit,
teils aus Rücksicht für Andere verschweigen müßte.
Die Heldin der Ihnen in den nächsten Tagen
zugehenden Novellette bin ich also selbst. Genau
stimmen die geschilderten Verhältnisse mit dem
Milieu meiner Kindheit und ersten Jugend überein.
Ihren Vorschlag annehmend, bitte ich Sie, dies den
Lesern des Werkes entweder in einer Einleitung
zu meinem Beitrag oder in einer Schlußbemerkung
kurz mitzuteilen. Vielleicht melden sie dann auch
noch ein für mich höchst wichtiges Ereignis, dessen
Veröffentlichung in Kürze bevorsteht und das meinem
Leben und Streben eine ganz andere Richtung
geben wird.
Sie vermuten nicht mit Unrecht, gnädige Frau,
daß ich schwer und lange kämpfen mußte, ehe es
mir gelang, eine erste Stelle an der hiesigen Oper
zu erringen. Doch glauben Sie mir, nie, selbst
in der schlimmsten Zeit nicht, habe ich bereut,
dem „inneren Appell," wie Sie in einer Ihrer
Novellen den unüberwindlichen Drang in der eignen
Brust so hübsch bezeichnen, unentwegt gefolgt zu sein.
Und wenn es mir gelingen sollte. Andere, die
sich vielleicht in ähnlicher Lage befinden, gleichfalls
zu dieser Treue gegen sich selbst anzuregen oder sie
darin zu befestigen, so würde mir das große Be-
friedigung gewähren. Ein nach künstlerischen Zielen
strebendes Weib braucht ja deshalb nicht, wie man
so oft meint, persönlichem Glück zu entsagen, so-
bald ihm dies aus seinem Lebensgange in wahrer
Gestalt entgegen tritt. Auch hierfür hoffe ich im
Spätsommer meiner dreiunddreißig Jahre den
schlagenden Beweis zu liefern. Bin ich doch augen-
blicklich nicht allein, wie Sie, verehrte Frau, sich
ausdrücken, „eine große allgemein beliebte und ge-
feierte Künstlerin ', sondern ein einfaches Mädchen,
das heimlich beglückt der nächsten Zukunft entgegen
sieht.
Die gewünschte Photographie werde ich der Skizze
beilegen. Empfangen Sie, verehrte gnädige Frau,
jetzt noch den herzlichsten Tank für Ihre warmen
und verständnisvollen Worte über meinen Bortrag
der Schubertlieder. Wer sollte die Kompositiouen
dieses Meisters nicht schön singen und nun gar an
einem seinem Andenken gewidmeten Abend! Über-
traf ich mich aber an demselben, wie Sie meinten,
wirklich selbst, so hat das einen guten Grund. Sie
werden ihn bald erfahren.
Mit besten Grüßen und in herzlichster Verehrung
Ihre ergebene
K o n st a n z e Eberhard.
Einige Tage später erhielt die berühmte und
namentlich um ihrer menschenfreundlichen Be-
strebungen willen hochangesehene Schriftstellerin,
10
Frau Erna Tücher, einen großen Brief. Der In-
halt desselben bestand aus einer Anzahl loser Blätter
und der Photographie einer Dame.
Eine Zeit lang betrachtete Frau Tücher das
schöne Gesicht mit den lebhaften Angen, den kühn
geschweiften Brauen und dem entschiedenen Zug um
den sonst weich und anmutig geformten Mund. Dann
stellte sie das Bild vor sich auf den Schreibtisch
und begann die von einer schwungvollen Handschrift
ausgefüllten Blätter zu lesen. Sie trugen den
Titel: „Der innere Appell. Eine wahre Geschichte
von Konstanze Eberhard."
II.
Die zweite Klasse der Mädchen-Bürgerschule wird
mit kurzem Gebete geschlossen. Kaum ist das letzte
Wort verhallt, da eilen die zwölfjährigen Töchter
der kleinen ehemals knrhessischen Landstadt aus dem
alten niedrigen Raum tiefausatmend ins Freie.
Nur eine Schülerin. Stanzchen Müller, darf nicht
mit und muß einmal wieder eine Stunde sitzen
bleiben. Sie konnte in der Religionslehre die biblische
Geschichte nicht erzählen, setzte den Anfang an den
Schluß und den Schluß an den Anfang und wußte
nicht einmal, ob Laban den Jakob oder ob gar der
fromme Erzvater selbst den schlauen Gesellen beim
Lämmeraustansche betrog. Der Herr Kantor war
sehr entrüstet über die sinnentstellenden Ver-
wechslungen und wehrte heftig mit der Hand ab,
als er von ein paar Mädchen gebeten wurde,
Stanzchen doch noch einmal die Strafe zu er-
lassen.
Während die Andern hinausgingen, saß diese
mit traurigem Gesicht ans der letzten Bank. Allein
wie schon manchmal in ihrem jungen Leben erwuchs
der Bestraften auch heute wieder aus peinlicher Lage
unerwartete Freude.
Kanin waren alle Schülerinnen fort, als der
junge Herr Lehrer, der von dem Vorgesetzten den
Auftrag erhalten hatte, die Dagebliebene zu be-
schäftigen, mit ernster Miene ins Zimmer trat und
vor dem Klavier Platz nahm.
„Du sollst nicht müßig da sitzen, Stanzchen, hat
der Herr Kantor gesagt", begann der junge Mann
strengen Tones, doch ein Schelm hockte dabei in
seinen lustigen Angen und milderte den Ernst.
„Komm her, übe Deinen Examen-Gesang, damit Du
recht sicher bist. Ich will Dir die Melodie erst
noch einmal vorspielen."
Während der Lehrer die ersten Akkorde von Webers
„Die Sonn' erwacht in ihrer Pracht" anschlug, wäre
ihm Stanzchen am liebsten vor lauter Glückseligkeit
um den Hals gefallen. Allein so etwas schickte sich
leider nicht für eine Schülerin dem Lehrer gegenüber,
der außer Können und Wissen zur weiteren Erhöhung
seiner Würde mindestens zehn Jahre mehr zählte
als das Mädchen selbst.
Nach dem Vorspiel der Melodie fiel Stanzchen
sicher und mit kräftiger melodischer Stimme ein.
Es war, als jubele das Lied ans einem übervollen
Herzen, als würde jeder Laut wie auf Schwingen
aus der frischen Kehle hinausgetragen. Mehrmals
streifte der Lehrer staunend ihr Gesicht, was Stanzchen
nicht weiter beachtete. Als diese jedoch geendet und
dem letzten Ton wie selbstvergessen noch einen leisen
Seufzer nachgeschickt hatte, meinte der junge Mann:
„Ich wiederhole heute, was ich Dir schon neulich
sagte, Kind, Du mußt Sängerin werden."
„Ich?" entgegnete das Mädchen bedrückt, indem
ein beklemmendes Gefühl ihr die Brust hastig ans
und nieder hob. Dann sah sie so sehnsüchtig durch
die Fenster nach der schimmernden Ferne, als suchten
ihre Blicke dort über den Bergen etwas Hohes und
Unerreichbares. Erst nach einigen Sekunden ver-
setzte sie ernst: „Ach, wie gerne würde ich Sängerin!
Aber Sie wissen doch, Herr Lehrer, daß mein Vater
das nie erlauben wird."
„Wirklich nicht?"
„Nein. Ganz anders wäre es, wenn die Mutter
oder die Großmutter noch lebten! Die Anderen sind
ja all so dumm, so entsetzlich dumm und hetzen
den Vater noch gegen mich auf."
„Laß sie nur," meinte der Lehrer immer zu-
traulicher, „ sie werden sich noch alle ducken müssen!
Eine solche Stimme gab Dir Gott nicht umsonst,
Stanzchen! Nur noch ein paar Jahre Ruhe, dann
mußt Du sie ausbilden."
„Ausbilden", wiederholte das Mädchen wehmütig,
„wie soll ich das anfangen?"
„Kommt Zeit, kommt Rat! Der innere Drang
ist ein findiger Lehrmeister! An Mut fehlt es
Dir doch nicht?"
„Keineswegs!" erklärte das Mädchen strahlenden
Auges. „Es handelt sich ja doch um die Erfüllung
meines höchsten Wunsches.— Und, Herr Lehrer,
Sie werd' ich doch wohl später immer um Rat
fragen dürfen?"
„Zuerst frage stets die Stimme in Deiner Brust
und höre nur ans sie selbst, wenn sie auch einmal
leise oder ängstlich klingen sollte. Siehst Du,
Stanzchen, ich kann doch nicht immer hier bleiben —,
es war sogar meine Absicht — recht bald von hier
fort zu gehen." Die Worte kamen zögernd hervor;
denn der traurige Ausdruck in des Mädchens Zügen
erschwerte dem jungen Manne sichtlich die Mit-
teilung.
„Wirklich?" fragte sie betroffen. „Das thut mir
aber leid — sehr leid."
Stanzchens Rechte ergreifend, sah ihr der Lehrer
bewegt in die etwas feucht schimmernden Augen:
11
„So nahe' geht Dir mein Fortgehen von hier,
liebes Kind?"
„Ach, ja, ich darf garnicht daran denken!"
„Auch mir wird es um Deinetwillen nicht leicht,
hier fort zu müssen. Du bist mir ja lieb geworden
wie eine jüngere Schwester, Stanzchen. Das hat
alles die Musik fertig gebracht, nicht wahr?"
„Nur die liebe Musik", bestätigte das Mädchen
freudig. Gleich daraus glitt ein Schatten über ihr
Gesicht, und sie meinte fast traurig: „Wenn Sie
erst fort sind, Herr Lehrer, ist niemand mehr hier,
der meine Freude an der Musik begreift."
Der junge Mann war gleichfalls sehr ernst ge-
worden. Augenscheinlich eine tröstliche Antwort
suchend, dachte er kurze Weile nach und versetzte:
„Stell Dir nur immer vor, Stanzchen, daß ich
oft in Gedanken bei Dir bin und alles gern mit
Dir teilen würde, wenn sich's nur möglich machen
ließe." Er nahm die kleine Freundin bei der Hand,
führte sie zu einer Bank und fuhr neben ihr Platz
nehmend fort: „Jetzt sollst Du auch erfahren, wes-
halb ich so bald als möglich von hier fort muß.
Durch Vermittelung des Herrn Sanitätsrat hat
mir nämlich ein sehr reicher Mann in Frankfurt
die Mittel gewährt, mich ans der Violine weiter
auszubilden."
„Ach nicht möglich!" rief Stanzchen überrascht.
„Natürlich, dann müssen Sie fort, recht bald fort)
Herr Lehrer. Ich bin ganz glücklich für Sie, ich
kann garnicht sagen, wie sehr!"
Über die hübschen männlichen Züge des Lehrers
glitt tiefe Bewegung. Ein heißer Wunsch wurde
Meister über ihn, er ergriff des Mädchens Hand
und drückte diese so heftig, daß die großen braunen
Augen ganz verwundert zu ihm ausblickten. „Ich
danke Dir für Deine Teilnahme an meinem Glück,
Stanzchen," sagte er mit verhaltener Wärme. „Sie
thut mir wohl. Du ahnst gar nicht, wie wohl! —
Könntest Du doch mit mir gehen!"
„So etwas darf man sich garnicht vorstellen,"
meinte sie traurig. „Denn dann wür's hier über-
haupt nicht zum Aushalten!"
„Hab' nur Geduld", tröstete der junge Mann.
„Ich bin fest überzeugt, Kind, auch Du wirst zur
rechten Zeit eine hülsreiche Hand finden, vielleicht
kann ich sie Dir selbst bieten! Und dann — wenn
viele Jahre vorüber sind — dann treten wir, will's
Gott, einmal zusammen in einem Konzerte auf."
Der heitere Ausblick in die Zukunft stimmte auch
das Mädchen wieder froh. „Wir beide!" rief
sie kindlich beglückt, „das wäre ja zu schön, das
wäre herrlich!"
Er stimmte, keinen Blick von ihrem erregten Ge-
sichte wendend, freudig zu und meinte noch lächelnd:
„Hoffentlich hast Du aber daun den abscheulichen
Namen abgelegt! Er dringt mir immer wie ein
greller Mißton in die Ohren. — Stanzchen Müller!
Wie kann nur ein Kind mit einer so schönen Stimme
Stanzchen Müller heißen!"
Beide lachten wie Kinder und plauderten noch
ein wenig zusammen. Dann setzte sich Lehrer
Mellinor wieder ans Klavier, und Stanzchen sang
zu seiner Begleitung verschiedene Volkslieder. Als
der junge Mann endlich von einem Freunde ab-
geholt wurde, war die Strafzeit längst um ein
Beträchtliches überschritten.
Das Mädchen verabschiedete sich schnell und eilte,
noch glühend vor Erregung, nach Hause. Ach, dachte
sie indessen voll stillen Glückes, wenn ich nur jeden
Tag eine solche Stunde sitzen bleiben dürste!--------
Ehe der junge Lehrer das Städtchen verließ,
schenkte er der kleinen Freundin ein Album zum
Andenken. Ans die erste Seite desselben hatte er
den Nückertschen Vers geschrieben:
/,Vor Jedem steht ein Bild deß, das er werden soll.
Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll."
Als Schlossermeister Müller einige Tage später
das Album betrachtete und den Vers las, fragte er
einen für ganz besonders unterrichtet gehaltenen
Bekannten: „Sah emol, Schorsch, was meint daun
der Schoulmäster nur mit dem Bersch?"
„No," sagte der Andere nachdenklich, „der meint,
Tei Stanzche sott nil unue stich bleiwe und sich
recht hoch nuff mache."
„So, na, Grase und Ferschte könne doch nit
alle Leut wern. Der Mensch soll merr doas Mädche
nit verrückt mache."
„Woas leiht an so ein Bersch! Ist der Manu
selbst fort, ist bei deue Weibsleut alles fort."
„Doas stimmt," bestätigte der Meister. „E woahr
Glück, daß der Schoulmäster sein' Sparrn jetzt
aunerschwo unner Dach gebroacht Hot."
(Fortsetzung folgt.)
Aus alter und neuer Zeit.
Aus alten Studentengesetzen der Uni- ! die im Gegensatz zu unseren heutigen Verhältnissen
versität Marburg. Vor mir liegen drei Hefte | ein merkwürdiges Spiegelbild der guten alten Zeit
von Vorschriften für die Studirenden der Universität ! liefern und mit denen sich unsere heutige Studenten-
Marburg aus den Jahren 1796, 1819 und 1826, ; jugend wohl schwerlich einverstanden erklären würde.
12
In dem ersten Hefte, welches das interessanteste ist,
heißt es u. a.:
I.
Jeder, der Unsere Universität Marburg, um zu
studieren, besucht, soll innerhalb acht Tagen sich bey dem
Prorektor melden, und sich gehörig immatrikulieren
lassen. Verziehet er auf erhaltene Erinnerung noch
länger damit, so ist er einer von dem Prorektor
zu verhängenden willkührlichen Strafe unterworfen.
II.
Die Erfüllung der Religions-Pflichten, welche
aus einem Triebe des Herzens kommen muß, über-
lassen Wir zwar dem Gewissen eines jeden; doch soll
niemand mit dem, was andern heilig und ehr-
würdig ist, sein Gespotte treiben, oder die Feyer
der Sonn- und Festtage durch Unfug und Lärmen
stören, auch sollen bey willkührlicher Strafe vor En-
digung des gesammten Gottesdienstes keine Schlitten-
ß'hrten gehalten werden.
V.
Da jeder Studierende sich durch Fleiß, Ordnung
und eine gesittete Lebensart auszeichnen muß. und
man gemeiniglich nicht mit Unrecht aus seinen Uui-
versitätsjahren aus seine künftige Amtsführung und
sittlichen Wandel schließen kaun; so soll dem, der
keine Kollegia besucht, sondern sich dem Müßiggang
ergiebt, so wie dem, der seine Zeit in Spiel- und
Sausgelagen tobtet, (wenn die ihnen gegebene Er-
mahnung nicht fruchten will) das Consilium abeundi
ertheilt werden, damit Unfleiß und unordentliche
Lebensart nicht auch andere vergiften und den heil-
samen Zweck der Lehranstalten vernichten mögen.
VII.
Reu ankommende Studenten sollen von den ältern
nicht beunruhiget, nicht zu Schmausen, Spiel- oder
andere Ausgaben verleitet, am wenigsten aber
wörtlich oder thätlich beleidigt werden. Jede Ueber-
tretung dieses Gesetzes soll mit nachdrücklicher Strafe
belegt werden.
VIII.
Alle Schlägereyen bleiben durchaus untersagt. Alle
die, durch einen falschen Begriff scheinbarer Ehre
verführt, sich verleiten lassen, jemand herauszufordern,
oder sich aus die ergangene Aussorderung zu stellen,
werden mit unabbittlicher Relegation bestraft. Eben
diese Strafe leiden die Anhetzer, Secundanten, und
diejenigen, auf deren Zimmer eine Schlügerey vor-
fällt. Weder die Ausflucht, daß nur Rappiere ge-
braucht worden, noch irgend ein erkünstelter Vor-
wand, um die Schlägerey weniger strafbar zu machen,
soll rechtliches Gehör finden.
X.
Alle, welche die öffentliche Ruhe und Sicherheit
stören, es sey aus welche Art es wolle, als mit
Fenftereinwerfen, Ausbrechung der Thüren, Pereat-
rusen, Gewaltthätigkeiten von aller Art gegen
Fremde und Einheimische, sollen ohne Nachsicht mit
scharfer Strafe belegt werden.
XI.
Das Schießen in der Stadt sowohl als zwischen
den Gärten vor der Stadt, wird bey willkührlicher
Strafe untersagt; dagegen bleibt die Studenten-
Jagd jenseits Gißelberg in Ordnungsmäßigen Zeiten
frey, wie auch das Schießen aus dem Kämpfrasen
an der Wasserseite, in genügsamer Entfernung von
den Gärten. Das Schießen in der Neujahrsnacht
bleibt aber bey zehn Thaler Strafe verboten, welche
Strafe auch die zu erlegen haben, auf deren Stuben
geschossen worden. Das gefährliche Legen der
Kanonenschlüge, und Wersen der Raketen in der
Stadt, wird bey Strafe der Relegation untersagt.
XII.
Ob wir gleich jede erlaubte Lustbarkeit den
Studierenden gerne gönnen, so erlaubt doch die Ab-
sicht, weswegen sie aus Universitäten sind, nicht,
ihnen theatralische Vorstellungen zu verstatten; auch
werden alle maskierten Bälle untersagt, so wie der
Gebrauch der Masken überhaupt.
XIV.
Sämmtliche Ordens-Gesellschaften und Verbin-
dungen unter Studierenden sind nachdrücklichst unter-
sagt, und wird die Theilnahme an denselben nicht
nur in Gemäßheit der aus der allgemeinen Reichs-
versammlung unter des teutschen Reiches Chur-
fürsten, Fürsten und Ständen im Jahre 1793
getroffenen Uebereinkunst, nach welcher die nnnach-
sichtlich erfolgende Strafe der Relegation, von
Seiten der Universität, der Landes-Kollegien im
Vaterlande des Relegierten, wie auch den übrigen
Universitäten bekannt gemacht, ingleichen derselbe
auf keiner anderen Universität in Teutschland aus-
genommen werden soll, wirklich geahndet; sondern
auch ein Landeskind, welches diesem Verbothe ent-
gegen handelt, zu jeder Versorgung unfähig, und
ein anderer Studierender, welcher in dergleichen
Verbindungen sich hält oder begiebt, nach Höchst
Landesherrlichem Ermessen und Befinden, zu keiner
Anstellung und Beförderung in hiesigen Landen und
Diensten zugelassen; und überdies derjenige, welcher
sich unterstehet, eine solche Ordens-Gesellschaft zu
stiften, oder dazu zu werben, er sey ein Jnnländer
oder Fremder, noch mit Festungs-Arrest, dessen
Dauer nach dem Grade der Verführung und der
Schädlichkeit der Verbindung zu bestimmen ist, belegt.
XVI.
Das Tabaksrauchen aus öffentlicher Straße in
der Stadt, wird hierdurch bey fünf Thaler Strafe
(in der späteren Fassung der Vorschriften vom
13
Jahre 1819 findet sich der Zusah: „und Verlust
der Pfeife, welche nebst einem Trittheile der Geld-
buse dem Angeber zufällt") untersagt.
XVII.
Ter Gebrauch der Fackeln in hiesiger Stadt ist
überhaupt, und insonderheit bey Musiken und
Schlittenfahrten, bey nachdrücklicher Strafe ver-
boten.*)
XVIII.
Um sowohl die Studierenden, und deren Eltern,
als unsere Bürgerschaft, gegen die Folgen der Ver-
schwendung, den unüberlegten Aufwand, und das
dadurch veranlaßte Schuldenmachen sicher zu stellen,
setzen und ordnen Wir, daß alle zur Verschwendung
und zur Pracht dienenden Sachen, als Wein, Punsch,
Vischoff, Limonade, Liquenrs, Branntwein, Chvco-
lade, Gebackenes, Confitüren, Traetamente, Mahl-
zeiten, Billard- und Spiel-Schulden, Pferde-, Wagen-
und Schlitten-Miethe, alles was zum Ball, Abend-
und Nachtmusik und Pickenicks gehöret, ferner alle
seidene Waaren, von welcher Art sie auch seyn
mögen, Tressen und Stickereyen, Uhren, Dosen,
Ringe, Etuis, Schnallen, Degen, kostbare Stock-
knöpfe, auch alle zur Pracht gereichende Menbles
und Geräthe, ingleichem baare von den Eltern oder
Vormunden nicht verwilligte Geldvorschüsse, den
Studenten durchaus nicht mehr creditiert werden
*) Die Nacht-. auch Tag-Musiken sind verboten; ver-
möge höchster Resolutionen vom 30sten Dezember 1800
und 20sten Januar 1801.
-------------
Hessische Toten
Oberstleutnant a. D. Julius von Bardeleben,
86 Jahre alt, Kassel, 4. Januar. — Forstmeister
st. D. Franz Coester, 67 Jahre alt, Nenhof bei
Fulda, 15. Januar. — Assistent der ständischen
Landesbibliothek zu Kassel und Redakteur der Zeit-
schrift „Hessenland" Dr. phil. Wilhelm Grotefend,
44 Jahre alt, Kassel, 16. Januar. — Oberst a. D.
Karl von Helmschwerdt, 75 Jahre alt, Schmiede-
berg, 19. Januar. — Rittmeister a. D. Rudolf von
Eschwege, Hannover, 21. Januar. — Kgl.Kreis-
physikus Geh. Sanitätsrath Professor Dr. Otto von
Heusinger, 70 Jahre alt, Marburg, 17. Februar. —
Ärchidiakonus Wilhelm Salzmann, 48 Jahre alt,
Frankenhausen am Kyffhäuser, 27. Februar. —
Tierarzt Peter Philipp Geibel (Dialektdichter),
59 Jahre alt, Frankfurt a. M., 2. Mürz. —
Geh. Regierungsrat Professor Dr. Franz Melde,
69 Jahre alt, Marburg, 17. März. — Gymnasial-
Prosessvra.D. Karl Scheuck.Marburg, 17.März. —
sollen, und diejenigen, welche gegen dieses Verbot
angehen, mit ihren Forderungen bey der Universität
nicht gehört, sondern sogleich a limine judicii ab-
gewiesen werden.
Der Mittags- und Abendtisch kann, jedoch ohne
Wein. den Inländern nur ans drey Monate, den
Ausländern nur auf sechs Monate creditiert werden.
Für Stuben-Miethe und Bücher, welche letztere
jedoch die Summe von vier und zwanzig Thalern
Frankfurter Währung nicht überschreiten dürfen*),
ingleichen die Arzeneymittel und Heilungs-Kosten,
wird der Kredit ans sechs Monate gestattet.
Für Forderungen, welche Pernguenmacher, Ans-
wärter, Aufwärterinnen, Wäscherinnen, Barbierer
und Stiefelwüchser, Kauf- und Handelsleute, für
ordinaire Kleider zur Nothdurft haben (wovon je-
doch die Summe nicht 16 Thaler Frankfurter
Währung, und bey Krämer-Waaren, Schuhe».
Stieseln, Strümpfen nicht 12 Thaler übersteigen
darf), wird der Kredit nur auf drey Monate verstattet.
Ein Versatz von Studenten soll nicht länger
als auf drey Monate angenommen werden. Es darf
aber nicht mehr als die Landesübliche Zinse davon
genommen werden, bey Vermeidung einer Strafe
von 20 Reichsthalern, welche halb dem Fiskus, und
halb dem Denuncianten verbleibt."
*) Jedoch ist der Kredit für wissenschaftliche
Bücher auf 50 Gulden Frankfurter Währung, ohne
Zeitbeschrnnkung gestattet: kraft höchster Resolution vom
4ten September 1801.
W. S.
---------
chau von 1901.
Frau Johanna Henkel, geb. Linck, Wittwe des
Justizrats Henkel, 79 Jahre alt, Frvnhausen,
3. April. — Vorsitzender der Anwaltskammer Justiz-
rat Gustav Alster, 73 Jahre alt, Kassel, 5. April. —
K. K. österreichischer Oberst Freiherr Alexander
von Scholley, 54 Jahre alt, Pest. —
Mittelschnllehrer a. D. Georg Davin, 76 Jahre
alt, Kassel, 8. April. — Geheimer Regierungsrat
Gymnasialdirektor a. D. Georg Buchenau, 75
Jahre alt, Marburg, 10. April. — Bürgermeister
a. D. Winter, 89 Jahre alt, Homberg a. d. E.,
17. April. — Privatmann Karl Oberbeck,
Mitbegründer des Niederhessischen Touristenvereins,
78 Jahre alt, Kassel, 26. April. — Gymnasial-
direktor a. D. Fritz Reimann, 61 Jahre alt,
Kassel, 28. April. — Realschuldirektor a. D.
Dr. phil. Christoph Hempfing, 79 Jahre alt,
Marburg, 3. Mai. — Pfarrer Konrad Schmidt,
55 Jahre alt, Melsungen, 6. Mai. — Major
14
a. D. Karl von Stamford, 74 Jahre alt,
Kassel, 16. Mai. — Gymnasial-Oberlehrer a. D.
Professor Pfarrer Georg Theodor Dithmar,
90 Jahre alt, Marburg, 16. Alai. — Geh. Re-
giernngsrat a. T. Ernst von Eschwege, 83 Jahre
alt, Kassel 2. Juni. — Geheimer Regierungsrat
Professor I)i-. Herman Grimm, 73 Jahre alt,
Berlin, 17. Juni. — Oberlandesgerichtsrath Ge-
heimer Justizrath Friedrich L i m b e r g e r, Bad Ems,
24. Juni. — Gymnasial-Direktor a. D. Wilhelm
Ben necke, Marburg, 25. Juni. — Gymnasial-
prvsessvr Di-. Heinrich Schäfer, 60 Jahre alt,
Marburg, 18. Juli. — Pfarrer a. D. Seibert,
72 Jahre alt, Marburg, 26. Juli. — Arzt
Friedrich Will). Schimmelpseng, 30 Jahre
alt, Grnnewald bei Berlin, 29. Juli. — Ober-
landesgerichtsrat Hermann Keßler, 60 Jahre alt,
Kassel 16. August. — Ordensgeneral der Franzis-
kaner Pater Aloysius Lauer, 68 Jahre alt. Kloster
Gorheim bei Sigmaringen, 20. August. — Baron Max
Trott zu Solz, Bauhaus bei Nentershausen,
25. August. — Kursürstl. Hessischer Premierleutnant
a. D. Rittergutsbesitzer Ludwig von Bohne b u r g k,
Wichmannshausen, 25. August. —- Geh. Rat Professor
Adolf Fick, 71 Jahre alt, Blankenberghe. — Vor-
standsmitglied des Kasseler Creditvereins Friedrich
Diehls, 78 Jahre alt, Kassel, 31. August. —
Pfarrer Dr. Gustav Beyer, 70 Jahre alt, Kassel,
10. September. — Rentner Edward Habich,
83 Jahre alt, Kassel, 12. September. — Kgl. Hof-
buchdrucker Adolph Gotthelft, 73 Jahre alt,
Kassel, 19. September. — Bürgermeister Helwig
Lange, 61 Jahre alt, Sooden a. Werra, 27. Sep-
tember. — Superintendent Dr. Bial, 71 Jahre
alt, Hersseld, 4. Oktober. — Konsul a. D. Wilhelm
Schmidt, Brüssel, 5. Oktober. — Landesrat
Georg Zuschlag, 49 Jahre alt, Kassel, 6. Ok-
tober. — Pfarrer a. D. Georg Fenn er, 83 Jahre
alt, Kassel-Wehlheiden, 14. Oktober. — Landes-
konservator Dr. phil. h. c. Ludwig Bickell, 62 Jahre
alt, Marburg, 20. Oktober. — Kgl. Oberförster a. D.
Heeg er, 87 Jahre alt, Schönstadt, 27. Oktober. —
Konsistorialpräsident a. D. Hermann Opitz, 74 Jahre
alt, Hanau, 10. November. — Kgl. Oberstaatsanwalt
Geh. Oberjustizrat Dr. zur. Karl Bartels, 74 Jahre
alt, Kassel, 13. November. — Lehrer Gustav Adolf
Berg, 69 Jahre alt, Kassel, 17. November. —
Justitiar und Generalpvstdirektionsrat a. D. Friedrich
Schmidt, 81 Jahre alt, Kassel, 22. November. —
Amtsgerichtsrat a. D. Hermann Fuchs, 76 Jahre
alt, Kassel, 6. Dezember. — Geh. Regierungsrat,
Regiernngs- u.Schulrat a. D. Friedrich Ernst Hasse,
76 Jahre alt, Kassel 13. Dezember. — Schrift-
stellerin Elisabeth Paar, 49 Jahre alt, Kassel,
15. Dezember. — Geh. Regierungsrata. D. Alexander
W e n d e r h o l d, 58 Jahre alt, Kassel, 30. Dezember.
Aus Heiinat und Frenrde.
Hessischer Geschichtsverein. In der am
18. Dezember abgehaltenen Sitzung des hessischen
Geschichtsvereins zu Marburg teilte der
Vorsitzende mit, daß die Vereinssammlnng ans dem
Schlosse dem neuen Vereinskonservator Herrn Pros.
Dr. von D r a ch durch den Vorstand übergeben
worden sei. Herr Professor von Drach setzte aus-
einander, daß er die Sammlung übersichtlicher aus-
zustellen und wenigstens vorerst einige Teile all-
gemeiner zugänglich zu machen beabsichtige. —
Herr Archivar Dr. K ü ch hielt hieraus einen fesselnden
Vortrag über die Hochgräber der Land-
grafen in der Elisabethkirche. Der Vor-
tragende besprach zunächst die Grabmäler der Gründer
der Elisabethkirche, des Deutschordenshochmeisters
Landgrafen Konrad von Thüringen (s 24. Juli 1240)
und der ersten Gemahlin Heinrichs I., Adelheid von
Braunschweig, deren Identität als sicher anzu-
nehmen ist. Tie heute gewöhnlich als die Heinrichs II.
und Ottos des Schützen mit Elisabeth von Cleve
bezeichneten Denkmäler wurden dagegen Heinrich I.
und seinem Sohne Johann zugeschrieben. Es
wurde sodann die Anfertigung eines nicht mehr
erhaltenen^-Denkmals für Ludwig I. erwähnt,
welches im Jahre 1458 der Bildhauer und Maler-
Kurt Krug (wahrscheinlich ein Kasseler Künstler)
im Anstrage Ludwigs II. in Witzenhausen herstellte
und das vermuthlich für eine Kasseler Kirche, viel-
leicht das Kloster Ahnaberg, bestimmt war. Das
schöne Denkmal Ludwigs I. in der Elisabethkirche
ist nach urkundlichen Quellen im Jahre 1471 von
zwei Meistern Hermann und Heinze in einer eigens
dazu errichteten Bauhütte gemeißelt worden. Der
eine von ihnen war höchstwahrscheinlich ein Frank-
furter Meister. Minderwertige Nachahmungen
dieses Kunstwerks sind die Gräber Ludwigs II. von
Niederhessen und Heinrichs III. von Oberhessen, von
denen das letztere nachweislich 1484 durch den
Steinmetzen Heinrich angefertigt wurde. Das letzte
der erhalteneu Hochgräber, das Wilhelms II., ist
eine Arbeit des tüchtigen Marburger Bildhauers
Ludwig Joppe. von dem u. a. auch die Wappen
über der Rathausthüre und am Ostflügel des
Schlosses sowie einige Altäre in der Elisabethkirche
stammen. Die Entstehnngszeit ist 1516, wenigstens
datiert von diesem Jahre ein Vertrag des Künstlers
15
mit den landgräflichen Räten. Das Material ist
Witzenhäuser Alabaster. Die späteren Denkmäler
sind von geringerem künstlerischen Wert und
haben nur als Zeugnisse des Verfalls der hei-
mischen Bildhauerkunst, die während des Mittel-
alters so schöne Blüten getrieben hatte, einige Be-
deutung. An diesen Vortrag schlossen sich ver-
schiedene Bemerkungen der Anwesenden, aus denen
die des Herrn Pros. Dr. von Drach hervorgehoben
sein mögen. Er wies ans die Reste älterer Gewebe
hin, die aus Landgrasengrübern der Elisabethen-
kirche schon vor verschiedenen Jahrzehnten in das
Germanische Museum in Nürnberg gelangt sind.
Es folgte der Vortrag des Herrn Dr. Maurin an n,
des langjährigen Mitarbeiters an dem Deutschen
Sprachatlas des Professors Dr. Wencker, über
Sprache unb Hausbau in den Kreisen
Wolshagen und Hofgeismar. Herr Dr.
Maurmann, der seinen Vortrag durch eigens ge-
fertigte Sprachkarten erläuterte, gab ein über-
sichtliches Bild von den sprachlichen Verhältnissen
dieser niederdeutschen hessischen Gegenden, dabei
besonders aus die Beziehungen zwischen Sprach-
grenzen einerseits und territorialen und natürlichen
Grenzen anderseits hinweisend. Er sprach dann
über das sogenannte sächsische Haus, machte aus
manche bisher nicht beachtete Einzelheiten aufmerksam
und wies nach, daß die Verbreitung desselben
viel weiter nach Süden reiche, als bisher an-
genommen worden sei, daß es sich sogar aus mittel-
deutschem Gebiet, so in Naumburg uitb Umgegend
finde.
Todesfall. Am 15. Dezember starb die Schrift-
stellerin Elisabeth Paar, eine jüngere Schwester
der dahingeschiedenen Mathilde Paar. Sie war
1852 als die Tochter eines kurhessischcn Beamten in
Kassel geboren und verlebte dort ihre Jugend wie
den größten Teil ihres späteren Lebens. Seit
1898 wohnte sie in Leipzig, gestorben ist sie aber
in ihrer Vaterstadt. Außer zahlreichen Novellen
in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichte sie unter
dem Pseudonym L. Gies die Romane: „Das Pflege- I
kind des Hagestolzen" (1886), „Aus der Jagd
nach dem Glück (1892), und „In der Schule des
Lebens" (1893). Ferner war die Verewigte auch
auf dem Gebiete der fortschrittlichen Frauen-
bewegung mit großem Eifer thätig.
Musikalischer Vortragsabend. Am 19. De-
zember v. I. veranstaltete das Konservatorium
der Musik in Kassel im großen Saale des
Evangelischen Vereinshanses daselbst in diesem
Winterhalbjahre seinen VII. Vortragsabend, in
welchem auch ein Trio in c-moll für Klavier,
Violine und Violoncello von dem im vorigen Jahre
in Kassel verstorbenen Oberstleutnant Eduard Otto
zu Gehör gebracht wurde.
M ü n z - V e r st c i g e r u n g. Vom 2 5. November
1901 an wurde bei Sally Rosenberg zu Frankfurt
am Alain die vormals Buchenausche Sammlung
(vgl. vorigen Jahrgang Nr. 13, S. 181) hessischer
Münzen versteigert und ergab einen Erlös von
14876,25 Mark, nachdem vorher die besseren
Stücke aus dem Mittelalter freihändig verkauft
worden waren. Den höchsten Preis (550 Mark)
erzielte eine kupferne Klippe des bekannten Medailleurs
Chr. Wermuth von 1731 auf die Wasserwerke
des Karlsberges (Wilhelmshöhe). Nächstdem kommt
mit 400 Mark ein halber Thaler (1669) von
Hedwig Sophie, eine Halbthaler-Klippe von 1600 des
Landgrafen Ludwig 111. von Marburg (260 Mark),
ein viertel Thaler Philipps des Großmütigen
von 1564 (255 Mark), ein Thaler der Landgräfin
Maria von 1764 (230 Mark), ein Medaillon von
Karl und seiner Gemahlin Maria Amalia und
ein hananischer Dukat Wilhelms IX. von 1775
(je 225 Mark), eine Medaille von Le Clerc
auf das Marburgische Universitätsjubiläum 1727
(190 Mark), ein Thaler Philipps des Großmütigen
von 1538 (185 Mark), ein ebensolcher von 1537
(180 Mark), ein breiter doppelter Weidenbanmthaler
Wilhelms V. von 1629, ein viertel Thaler (1669)
von Hedwig Sophie und ein ebensolcher auf ihren
Tod 1683 (je 150 Mark), ein Thaler 1711 aus
den Tod von Maria Amalia (140 Mark), ein
Horngroschen Ludwigs II. von 1467, ein Thaler-
Ludwigs III. von 1593 und ein Thaler (Kassel)
Friedrichs I. von 1733 (je 125 Mark), ein Thaler-
Ludwigs III. von 1588 (120 Mark), eine silberne
Medaille von Wermuth 1700 auf die erste Ver-
mählung Friedrichs 1. (110 Mark), ein halber
Thaler 1683 aus den Tod von Hedwig Sophie,
eine Medaille ohne Jahreszahl (1714) auf den
Schloßbau aus dem Karlsberg und eine Medaille
von Hedlinger aus Wilhelm VIII. (je 105 Mark).
Diese 22 Stücke brachten also bereits 4210 Mark.
Dazu kamen 5 Stücke mit je 100 Mark, nämlich
ein Thaler Wilhelms II. von 1502, ein ebensolcher
Philipps des Großmütigen ohne Jahreszahl, ein
ebensolcher Ludwigs III. von 1600, ein Goldgulden
Wilhelms V. von 1633 und ein Thaler Karls von
1693. Brakteaten kosteten das Stück 1 bis 40 Mark.
Sehr hoch ging außer dem bereits erwähnten
Horngroschen (125 Mark) das Probe-Dreiheller-
Stück von 1842 (55 Mark), wenn auch nicht
so hoch wie bei der Kornemannschen Versteige-
rung (85 Mark), ferner zwei Stücke mit Stempel-
fehlern: Vg Thlr. von 1828 (7 Mark) und 1 Heller
16
von 1859 (8,50 Mark). Ter sehr seltene hunauische
Heller von 1745 brachte wegen schlechter Erhal-
tung nur 1 Mark. Sehr billig (3/25 Mark), freilich
auch nur „gut erhalten" war ferner der sechstel
Thaler des Erbprinzen Ludwig llX.) von Hessen-
Darmstadt, geprägt 1758 für Hessen - Hanau-
Lichtenberg. Bvn westfälischen Proben kamen 5 Frank
allf 10 Mark, 2 Frank ans 16 Mark, 5 Centimes
ans 11 Mark, 3 Centimes ans 4,50 Mark (billig) und
•-----------<£>•■
2 Centimes auf 21 Mark. Von besseren Fuldischen
Stücken erzielten ein Schauthaler Adalberts I.
von 1701 (Wermuth) 220 Mark, eine Medaille
aus die Konsekration Adolfs von 1726 (Wermuth)
115 Mark und ein Schauthaler Konstantins von
17 l 4 (Wermuth) 100 Mark. — Im ganzen er-
kennt man einmal wieder, daß eine Sammlung
hessischer Münzen eine gute Kapitalanlage darbietet.
Leipzig. H^aut Meinmeisler.
---------
Hessische Bücherschau.
Spanische Gedicht e. A uslvahl ans Campo-
a in o r 's D o l o r a s ". Dem Spanischen
nachgedichtet von Josep h Mager. 126 S.
München (Max Poeßl).
Das vorliegende Buch ist unserer hochverehrten Mit-
arbeiterin und Landsmännin, Frau Henriette Keller-
Jordan in München gewidmet; Grund also genug, daß
das „Hessenland" nicht stillschweigend daran vorüber geht.—
Ramvn de Campvamor ist einer der bekanntesten und be-
liebtesten der spanischen Dichter der Gegenwart, der, 18l7
geboren, erst vor kurzem gestorben ist und bis in sein
hohes Alter mit einem regen Geiste begnadet war. Seine
Dichtungen, zu welchen auch Dramen und Novellen in
Versen gehören, erschienen großenteils in zahlreichen Auf-
lagen. Sein bedeutendstes Werk jedoch sind gerade diese
„Doloras", aus denen uns Joseph Mager in deutscher
Übersetzung, oder als Nachdichtung, einen Auszug bietet.
Campvamor, der eine philosophisch angelegte Natur war,
schenkt es uns auch in diesen Gedichten nicht, seinen oft
sehr tiefsinnigen, philosophischen Gedanken zu folgen, aber
seine vornehme Ironie, sowie sein liebenswürdiger Humor
erleichtern es dem Leser, sich mit den Urteilen und
Bekenntnissen des Dichters zu befreunden sowie, nach-
empfindend, sich lint ihm auseinander zu scheu. Oft be-
gegnet man in den rein lyrischen Stücken Gedanken von so
verblüffender Schönheit, daß die große Zahl von Auf-
lagen, welche diese „Doloras" bereits erlebten, nicht weiter
auffallen kann. Auch da, wo er die balladische Form
-----------8»
Personalien.
Ernannt: Observator der Hamburger Sternwarte
Dr. Schorr zum Direktor lind Professor; Rechtsanwalt
und Notar Dr. Wolter zu Kassel zum Justizrat; Rechts-
anwalt Dr. Heidenfeld in Rotenburg a. F. zum Notar.
Versetzt: Amtsgerichtsrat Orthelius in Witzen-
hausen nach Wiesbaden; Amtsrichter L i m b e r g e r in
Kassel als Landrichter an das Landgericht daselbst.
Verliehen: dem Rentmeister Esser tz in Biedenkopf
der Titel Rechnungsrat.
Geboren: ein Sohn: Professor Edward Schröder
und Frau (Marburg, Dezember); Architekt Hans Fang-
hänel-und Frau Lizzie, geb. Scheel (Kassel, 24. De-
zember); Hauptmann Wald eher und Frau Helene,
geb. v. Wild (Kassel, 26. Dezember); — eine Tochter:
Fabrikant C. K e e r l jun. und Frau Marie, geb.
Schumacher (Kassel, 19. Dezember); Hofbuchhändler
Dethard Hühn und Frau, geb. Hoelting (Kassel,
22. Dezember); Wasserbauinspektor Abraham und Frau,
geb. Stein (Harburg, 23. Dezember); Direktor E i t n e r
und Frau (Freiburg im Breisgau, 23. Dezember):
Dr. Ernst Stern und Frau (Kassel, 25. Dezember).
Gestorben: Lehrer a. D. C h r i st o p h Wilhelm
Kraft, 60 Jahre alt (Waldau, 6. Dezember); Privat-
wühlt und am Schlüsse das Gedicht lyrisch und ernst aus-
klingen läßt, wie beispielsweise in dem reizenden Gedicht
„Der Gaitero", erreicht der Sänger einen geradezu wunder-
baren Effekt. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß
solchen Eindruck nicht auch sein Humor macht. Denn das
von Anfang bis zu Ende von Humor getragene Gedicht
„Wer doch schreiben könnte" ist in seiner einfachen Natürlich-
keit so schön, daß der Leser unwillkürlich Interesse faßt
für die Heldin des Gedichtes, die einem Priester über einen
zu schreibenden Liebesbrief eine Vorlesung hält und dann
zu dem Schluffe kommt:
„Nun wird Euch wohl der Schluß noch gelingen,
Und dann die Adresse gar fein! —
Ja, ja! Was nützt in solchen Dingen
Euer Griechisch und Euer Latein!"
Wir haben es bei Ramon de Campvamor mit einer
Dichter-Individualität ganz eigener Art zu thun, und
man muß dem Übersetzer dankbar sein, uns mit dem
Besten bekannt gemacht zu haben, was uns seine „Doloras"
bieten. Ob das teilweise etwas Schwerfällige im Ausdruck
dem Dichter zuzuschreiben ist oder dem Übersetzer, das
vermag ich freilich nicht zu beurteilen. Ich entsinne mich
aber, daß vor einigen Jahren Richard Jordan, der
sangesreiche Sohn der Frau Keller-Jordan, uns eine
Übersetzung lyrischer Gedichte von G u st a v o A d o l f o
B ec quer bot, die, abgesehen von ihrem hohen poetischen
Gehalt, aucffDn Ausdruck und Sprache sich auszeichneten.
-«>------------
mann Lonis Ely, 74 Jahre alt (Kassel, 14. Dezember);
Fräulein Elisabeth Paar, 49 Jahre alt (Kassel,
15. Dezember); Gerichtssekretär Heinrich Sauer,
40 Jahre alt (Gudensberg, 17. Dezember); verwittwete
Frau Generalmajor Bertha Funck, geb. Balthaser,
68 Jahre alt (Kassel. 19. Dezember); Frau Minna
Münz, geb. Schneider, tBochum, 21. Dezember); Haupt-
mann Karl Stern(Wiesbaden,21.Dezbr.); Frau Marie
Adam, geb. Pfass, 82 Jahre alt (Kassel, 25. Dezember);
verwittwete Frau Amtsgerichtsrat Rosine Dieterich,
geb. N ö ll (Kassel, 25. Dezember); Oberregierungsrat a. D.
Karl Philipp Kühne, 81 Jahre alt (Berlin, 25. De-
zember) ; Geh. Regierungsrat a. D. Alexander Wender-
hold, 58 Jahre alt (Kassel, 30. Dezember); verwittwete
Frau Geh. Regierungsrat L o u i s e H e y e r, geb. Silber-
eisen, 72 Jahre alt (Kassel, 30. Dezember).
Briefkasten.
V. Tr. Rauschenberg. Dankend angenommen. Mit
allem einverstanden.
Wegen Erkrankung des Herrn Dr. Schoos mußten
mehrere Einsendungen bisher unerledigt bleiben. Wir
bitten alles für die Redaktion Bestimmte vorläufig nur
nach Kassel, Schloßplatz 4, zu adressieren.
Für die Redaktion verantwortlich: i. V. W. Bennecke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.
M 2. XYI. Jahrgang. Kassel, 16. Januar 1902.
Ode an A. Trabert.
(Zum 80. Geburtsfest.)
Mein alter Freund!
Nun trägst Du denn richtig die Achtzig auf Deinem
Rücken,
Und ich, — ich würde in sieben fetten und mageren Jahren
Mahl bei Dir sein, schritt'ft Du nicht immer
Weiter fort in alter, gewohnter Weise,
Die keinerlei Rast kennt.
Das ist Gesetz,
So will's die Natur, und ich streiche vor ihr die Segel,
wie könnten auch imponieren mir diese lieblichen Achtzig,
Sobald sie schon — schmückten mich selber?
Nein, es muß hier Jedem das Seine bleiben,
Gerecht und auch neidlos.
Und so, mein Freund,
Erscheine ich heute, iin Geist Dir die Hand zu drücken,
Aus weiter Ferne Dir zuzurufen: „Glückauf, Du Erwählter,
Auf dessen Haupt göttliche Gnade
Sichtbar niederlegte des Himmels Segen
In silbernem Glanzschmuck.
wie oft, wie oft,
Gedenk' ich der Tage, die einst uns zusammenführten!
von Hanau zogen wir hin am Main zum benachbarten
Steinheim,
Die Kerzen voll, voll von den Dingen,
welche damals mächtigen Sturms durchwühlten
Den Geist wie ein Glutstrom.
Wächtersbach.
Doch öfters noch
Gedenk' ich der Zeit, wo ich wieder Dich fand am Strande
Der majestätischen Donau und an den Ufern der Moldau!
Das war die Zeit mannhafter Freundschaft,
Und wir weihten gern ihr in trauten Stunden
Manch edelen Trunk auch.
Indeß, es ist
Hier unter der strahlenden Sonne nur ew'ger Wechsel:
Mich riefs zur Heimat zurück, — Du bliebst, und er-
kämpftest Dir siegreich
Am Donaustrom friedliche Heimstatt,
Feiernd dort, von Liebe umgeben, heute
Das herrliche Fest nun.
Gott mit Dir, Freund!
Und möge das Lied, das er pflanzte in unsre Seelen,
Roch fort Begleiter uns fein durch stürmende Wogen
des Lebens,
Doch stets voll Trotz gegen die Lüge,
wie es Deiner Harfe Gebrauch gewesen,
Du hessischer Barde.
Und bleibt die Uhr,
Die rastlos in unserer Brust sich bewegt, einst stehen,
Ich weiß: Der letzte der Töne Deiner verstummenden Harfe,
Das letzte Wort sterbender Lippen,
Stolz noch gilt's der Liebe zur alten Heimat.
Das malte Dein Herrgott!
cari Presen.
- 18
Aöanr Trabert.
Zu seinem achtzigsten Geburtstag.
ern von seiner hessischen Heimat weilt der greise
Dichter in Österreich, wo er vor Jahrzehnten
einwanderte, — über ein Menschenalter ist seitdem
dahingegangen, — um, schon ein Vierzigjähriger,
sich ein neues Leben zu schaffen. Ein neues
Leben —. Hinter ihm lag Hessen mit seinen po-
litischen Kämpfen und dem ruhlosen Gähren der
Parteileidenschasten, die dem Lande keine Ruhe
gönnten, bis es aufhören mußte ein selbständiger
Teil des großen deutschen Vater-
landes zu sein. An erster Stelle
hatte Trabert mitgekämpft, und
man könnte über seine politische
Thätigkeit allein ein kleines Buch
schreiben, da ein politisch Lied
aber ein garstig Lied ist, so möge
bei dieser seltenen Geburtstag-
feier die Politik nur soweit in
Betracht gezogen werden, als sie
bei Erzählung der Thatsachen
unumgänglich notwendig ist. Um
den Entwicklungsgang Traberts,
der viel des Interessanten bietet,
dem Leser vor Augen zu führen,
wollen wir einer uns von hoch-
geschätzter Seite zugegangenen
Schilderung folgen:
Adam Trabert — so nannten
ihn seine Eltern, seine Freunde
und er sich selbst, obgleich er ans die beiden Vor-
namen Johann Adam getauft war.
Er wurde am 27. Januar 1822 als Sohn
eines armen Messerschmieds in Fulda geboren,
hatte schon frühe mit Rot und Elend zu kämpfen
und wurde, gegen seinen Willen, nach zurück-
gelegtem 12. Lebensjahre von seinen Eltern in
die Vorbereitungsschule des Fuldaer Gymnasiums
geschickt. Er wäre damals lieber zu einem Hand-
werker in die Lehre gegangen, weil ihm davor
graute, einst Theologie im Fuldaer Priesterseminar
studieren zu müssen, um sich dem geistlichen Stande
zu widmen.
Indessen — er mußte sich fügen und besuchte,
nachdem er das Gymnasium mit gut bestandener
Maturitätsprüfung absolviert hatte, zwei Jahre
lang die theologische Lehranstalt des Fuldaer
Priesterseminars. Als er sich zum sog. Konkurs-
Examen meldete, wurde er jedoch „wegen mangelnden
theologischen Berufs" nicht zugelassen und ging,
arm wie eine Kirchenmaus, nach Marburg, um
Jura zu studieren.
Die Studienjahre waren eine neue Zeit drückendster
Not, und wenige Studenten haben wohl so sehr
mit dem Elend zu kämpfen gehabt, als unser
Trabert. Doch ein Freundschaftsakt führte ihn
um diese Zeit, trotz angeborener
unsäglicher Schüchternheit, auf
die Rednerbühne und änderte
seine Situation. Er war Mit-
glied des Marburger Turnvereins
geworden, der aus Studenten und
Marburger Bürgersöhuen bestand.
Trabert war aber sicher von allen
Mitgliedern das unbekannteste.
Es wurde damals — es war
im Jahre 1848, — ein deutscher
Turnertag einberufen, den der
Marburger Verein durch drei
Delegierte beschickte. Hier nun
kam es zu einem Konflikte zwischen
Großdeutschen, die die Erhaltung
Österreichs im deutschen Bunde
wollten, und den preußisch-ge-
sinnten, sog. Gothanern. Der eine
Marburger Delegierte, Traberts
Freund Uckermann, stimmte im großdeutschen
Sinne, die beiden andern im preußischen Sinne,
und in einer Vereinsversammlung beantragte
alsdann der gesamte Vorstand: die Abstimmung
der beiden, die im großpreußischen Sinne gestimmt
hatten, zu „ratihabieren", Uckermanns Abstimmung
dagegen zu verwerfen. Uckermann kam in das
Gedränge, und hier war es, wo der noch ganz
unbekannte Trabert das Wort ergriff und an
drei nach einander folgenden Abenden in zündenden
Reden es dahin brachte, daß der vom Vorstande
gestellte Antrag mit einer Dreiviertel-Majorität
verworfen und dadurch der Turnvorstand ver-
anlaßt wurde, insgesamt zurückzutreten. Trabert
war in Marburg plötzlich der Held des Tages
und wurde sofort vom Turnverein zum Sprecher
des Vereins gewählt. Eine Folge hiervon war.
Adam trabert.
19
daß er gleich nachher, und obgleich er noch Student
war, auf Antrag des Professors Bayrhoffer zum
Mitgliede des Marburger Vvlksrates erwählt
wurde und so in den Strudel der damaligen
demokratischen Bewegung hineiugerissen wurde, in
der er bald ein gefeierter Volksreduer wurde.
Inzwischen war Hassenpflug in Kassel Minister
geworden. Der liberale Landtag beschloß mit
Hilfe einiger von dem besonnener gewordenen
Bayrhoffer abgefallenen Demokraten eine Steuer-
verweigerung, und Hassenpflug antwortete hierauf
mit seinen Septemberverordnungen, die in ihrer
Konsequenz zum Staatsstreiche führen mußten.
Knrhessen stand über Nacht mitten in dem damals
berühmten Kampf um sein Recht, im — Ver-
fassungskampfe.
Trabert unterzog sich um diese Zeit noch in
Marburg der juristischen Fakultätsprüfung, bestand
auch in Kassel noch mit gutem Erfolg bei der
Staatsprüsungskommissivn das Staatsexamen, als
er sich jedoch hieraus zum Eintritt bei dem Fuldaer
Land- oder Obergericht meldete, erhielt er von
Hassenpflug die Resolution: daß er aus politischen
Gründen zum Staatsdienst nicht zugelassen werden
könne. Trabert that, wozu die Verhältnisse ihn
zwangen; er suchte sein tägliches Brot durch
journalistische Thätigkeit und als Verteidiger vor
Gericht zu erwerben. Er schrieb in seinem eigenen
Blatt, dem Fuldaer „Wacht aus" — der zweiten
Kasseler „Hornisse" —, eine Serie von Artikeln,
die gegen Hassenpflngs September-Ordonnanzen
gerichtet waren, und kämpfte gleichzeitig für die
Erhaltung der 1831er Staatsverfassung.
Die 1850 erfolgende Wiederherstellung des
Bundestags brachte Kurhessen nun die Bnndes-
exekntivn mit Einsetzung des permanenten Kriegs-
gerichtes, das freilich nicht nach Kriegsrecht, sondern
nach Maßgabe der allgemein gültigen bürgerlichen
Gesetzgebung jubilieren sollte.
Trabert wurde wegen seiner Thätigkeit in der
Presse verhaftet und, obwohl der jüngste, gegen
die oben erwähnten Ordonnanzen gerichtete Artikel
längst verjährt war, in das Kastell nach Kassel
eingeliefert. Man verurteilte ihn dann zu sechs-
oder mehrjähriger Gefängnisstrafe und zwar ans
Grund eines Gesetzes, das als höchste Strafe nur
sechsmonatliche Einsperrung wollte. Man lebte
eben damals in Hessen unter — Kriegsrecht.
Es wurde sogar dies Urteil durch das „purgierte"
General-Auditorat kassiert und die Bestellung
eines anderen Auditeurs für das permanente
Kriegsgericht mit der Weisung angeordnet: Trabert
nach dem Kurhessischen Marti algesetz ab-
zuurteilen, ein Gesetz, das die Bestimmung hatte,
den Einbruch der französischen Revolution von
1789 in Deutschland, bezw. Hessen abzuhalten
und darum Strafen androhte, die zumeist ans
lebenslängliche Eisenstrafen lauteten. Trabert
antwortete hieraus: daß Fulda, der Ort seiner
litterarischen Sünden, überhaupt erst 1815 an
Kurhessen gefallen und das Martialgesetz hier
niemals publiziert worden sei. Das mußte freilich
anerkannt werden. Der neue Auditeur aber
wußte sich dadurch aus der Verlegenheit zu helfen,
daß er sehr künstlich ein Majestätsverbrechen
konstruierte, die fünfjährige Untersuchungshaft als
Strafe zwar anrechnete, jedoch noch eine 3 ^jährige,
in Einzelhaft zu verbüßende Festnngsstrafe zn-
fügte, was denn auch den Inhalt des Urteils
bildete.
Trabert hat diese lange Einkerkerung*) bis
zum Ende abgesessen, hatte aber dann die Genug-
thuung, daß diese ganze kriegsrechtliche Prozedur,
als ihn die Stadt Hanau, nach Wiederherstellung
der 1831er Verfassung, in den Landtag wählte
und die Regierung diese Wahl wegen Peinlichkeit
der Verurteilung anfocht, von der nur ans per-
sönlichen Gegnern bestehenden Ständekammer
stimmen einhellig als Rechtsbruch bezeichnet
wurde, so daß die Verurteilung als null und
nichtig zu bezeichnen sei.
Bemühungen ans den Kreisen der Abgeordneten
heraus drangen nun in Trabert, um ihn zu be-
stimmen, wie zur Belohnung dieses ihn in seiner
Ehre restaurierenden einhelligen Ausspruchs, sein
Mandat freiwillig niederzulegen. Selbverständlich
aber konnte er sich dazu nicht verstehen. Er
blieb Mitglied der Kammer bis zur Auflösung
Kurhessens. Dem schon in seiner Jugend so
eifrig verfochtenen großdeutschen Standpunkt ist
er niemals untreu geworden.
Im Jahre 1868 wurde Trabert zum zweiten
Male in seinem Leben verhaftet, weil er im
Verdacht stand, von Leipzig aus ein Flugblatt
„An die Kurhessen" verbreitet zu haben. Nach
langer, resultatloser Untersuchung mußte man
ihn allerdings frei geben, denn jener Aufruf war
ohne sein Wissen und ohne feine Mitwirkung
erlassen worden. Da er aber unter Polizeiaufsicht
gestellt wurde, entschloß er sich nach Österreich
auszuwandern.
Nun stehen wir an dem neuen Lebensweg des
Dichters. Trabert stand im 47. Jahre. Er
hatte das höchste Normalalter, das die Aufnahme
in eine staatliche Stellung gestattet, schon längst
überschritten, aber ans die Empfehlung des Ministers
*) Siehe die humorvolle Schilderung „Der Sängerkrieg
auf Spangenberg" von A. Trabert. „Hessenland" 1887,
S. 130 ff. D. Red.
20
Schaffte wurde er bei der Direktion der Franz-
Josess-Bahn, die damals noch nicht verstaatlicht
war, angestellt und avancierte bis zum Vorstände
der Personal- und Rechtsabteilung. Adam Trabert,
der politische Mann aus dem Kurfürstentum
Hessen, war in Österreich Beamter geworden. Die
Sturm- und Drangjahre waren vorüber, ruhig
konnte sein Schisslein nunmehr dahingleiten, bis
es in den Hafen einlief. Nach der Verstaatlichung
der Franz-Josefs-Bahn, deren Folgen ihm nicht
behagten, wurde er als Generalsekretär erster Klasse
der K. K. österreichischen Staatsbahnen aus sein
Ansuchen 1889 pensioniert. Aber noch einmal
ergriff er die politischen Waffen, und zwar um
für eine österreichische Einheit zu kämpfen, die
ans einem demokratischen Katholizismus beruhen
sollte, aus „Licht, Wahrheit und Freiheit ohne
jegliche Art von Reaktion — ". Die Verhältnisse
haben ihm jedoch den Kampf verleidet und er
zog sich zurück, fortan der Dichtkunst allein zu leben.
Der Politiker ist ein Kind seiner Zeit, der
Dichter lebt für alle Zeiten, und daß Trabert
ein wahrer Dichter ist, darüber herrscht kein Zweifel.
Er ist entschieden einer der besten Lyriker der
Neuzeit. Tiefe der Empfindung und Einfachheit
der Form sind die Hauptvorzüge seiner Muse.
1888 und .1889 veröffentlichte er die „Deutschen
Gedichte aus Österreich", in drei Bünden („Schwert-
lieder eines Friedsamen", „Ein Menschenleben"
und „Trösteinsamkeit"). Ör. Wilhelm Schoos
schreibt darüber in seinen „Studien zu einer hessischen
Litteraturgeschichte": Ein reiches, warmes Gefühls-
leben pulsiert in den „Schwertliederu". Einige
sind vorzüglich geeignet, der Jugend und dem
Volke bekannt gemacht zu werden, da sie voll
jugendlichen Feuers sind und fast soldatischen
Sinn atmen. Von einer anderen Seite zeigt
sich das bedeutende lyrische Talent Trabert's in
„Ein Menschenleben". Hier offenbart sich uns
eine echte Dichterseele. Wie ein roter Doppelfaden
zieht durch sie der immer und überall wieder-
kehrende Gedanke an die hessische Heimat mit
dem dankbaren Gefühle für die neue. Auch in
„Trösteinsamkeit" schallen uns die mächtigen
Akkorde der Vaterlandsliebe entgegen. —
Unsere Zeitschrift, der Adam Trabert seit ihrer
Begründung ein treuer Freuud geblieben ist, ver-
dankt ihm eine ganze Reihe wertvollster dichterischer
Beiträge.
Trabert hat auch eiu sünsaktiges Schauspiel
„Elisabeth, Landgrüfiu vvu Thüringen und Hessen"
(l892)verösfentlicht,demvorwenigenJahren(1899)
noch ein zweites „Julian der Abtrünnige" gefolgt
ist. Seine „Elisabeth" nennt Trabert einen „Protest
gegen das Ehebruchsdrama der Gegenwart, gegen
die auf der Bühue eingebürgerte Zweideutigkeit
uud sittliche Verdorbenheit". Dies dürste wohl
mit ein Grund sein, daß dies Schauspiel bis
jetzt Buchdrama geblieben und wenig bekannt
geworden ist.
In Trabert's Pulte besiudeu sich übrigens noch
einige weitere dramatische Arbeiten, die nur deshalb
ruhen, weil sie den Fehler haben, „an den alten,
unsterblichen Idealen klassischer Zeit festzuhalten".
In den Augen aller Modernen gewiß ein unver-
zeihliches Verbrechen, für welches der greise Dichter
jedoch mit einem noch lange andauernden, milden
Lebensabend gesegnet werden möge. W. Zz.
Zwei alte Cieder >>°» H. Crabert.
I.
Klinasors 6c$ana.*)
Kornblumen, ihr blauen,
Ihr Ähren so schwer,
Tauperlen der Anen,
Wo kommt ihr wohl her?
lver schuf dich, o Sonne,
Du leuchtendes Gold,
Den Menschen zur Wonne,
So lieblich und hold?
Ich ahn' ihn und schweige;
Ihr Menschen, o glaubt!
Ich schau ihn und neige
Demütig mein ksaupt.
ll.
£ied der Weberin.*)
Mein Flachs ist gesponnen
Im vollmondschein;
Nun find' ich am Bronnen
Den Liebsten mein.
Ihr himmlischen Kerzen,
Ihr Sternlein der Nacht,
Wer hat euch den Herzen
Zum Troste gemacht?
*) Aus A. Traberts Schauspiel „Elisabeth, Landgräfin von Thüringen
und Hessen".
Die Nixlein der (Quelle,
Sie lockten ihn her;
Du schöner Geselle,
Nun spinn' ich nicht mehu.
‘) Aus A. Traberts noch unediertem Schauspiel „Heinrich der Stolze".
Webschifflein, o schwebe
Don Hand mir zur Hand!
Webschifflein, o webe
Mein bräutlich Gewand!
Nur hüte vor Schaden,
Webschifflein, die Treu;
Denn bräche der Faden,
Wär' alles vorbei.
G Web mir: da bricht er!
Ich webe nicht mehr.
Mein himmlischer Richter,
Wie strafst Du so schwer!
Das wilhelrnshöher Riesenschlotz und die L-erkulesstatue
und ihre Erbauer.
Von C. Neuber, Kassel.
(Fortsetzung.)
achdem nun im Jahre 1714 der Bau der
Pyramide auf der Oftfeite des Oktogons voll-
endet war, veranstaltete nach einer verbreiteten
Überlieferung Landgraf Karl, welchem diese Lieb-
Üngsfchöpfung sehr am Herzen lag, und der sich
gewiß über den Fortgang des Baues 'wiederholt
Bericht erstatten ließ, denselben auch manchmal
höchstselbst in Augenschein nahm, eine große Fest-
lichkeit. An dieser, im Näheren geschildert von
Emil Welper (angenommener Name für Emilie
Wepler), Geschichte von Wilhelmshöhe bei Kassel
(Kassel 1867), S. 19 ff., nahm nicht nur der
ganze Hof, sondern auch eine große Menge der
Bevölkerung von Kassel teil, und dabei wurden
unter Trompetenstößen die Wasser unter staunen-
der Bewunderung der Zuschauer zum erstenmale
angelassen.
Übrigens wurden zum Andenken, daß der Bau
im allgemeinen bis dahin glücklich verlausen,
Gedächtnismedaillen von verschiedener Größe ge-
schlagen. Aus der Hauptseite befindet sich das
rechtssehende Bildnis des Landgrafen Karl mit
der Umschrift: 0arolu8 IIa88iae Landgr. Pr.«
C. C. D. Z. N. et S. — darunter der Name des
Graveurs, Köhler —. Auf der Rückseite ist der
ganze Prospekt des Karlsbergs mit seinen An-
lagen, Gebäuden und Wasserfällen dargestellt,
am Fuße das fürstliche Schloß Weißenstein.
Im Vordergründe sitzt Kronos (Saturn) und
beschreibt ans einer großen Tafel nach Anweisung
der bei ihm stehenden Pallas Athene das vor
ihnen liegende Kunstwerk, wobei der aus seine
Keule sich lehnende Herkules zusieht. Im Ab-
schnitt ist zu lesen: Aedes Carolinae. In Monte
Herculis. Deo Auspice Et Pace In Foederato-
rum Gloriam Partae. Exstructae Et Confectae
MDCCXIV. Z
h Schminke a. a. O. 2. 419 c; Beschreibung von
Wilhelmshöhe S. 52. — Abgebildet ist die Medaille
in Joh. David Köhlers historischen Münzbelustigungen,
Teil XX ll, S. 385.
Dem gewaltigen Bau liegt, wie man schon
aus der ganzen Anlage, iloch mehr aber,
wenn die Wasserwerke im Gange sind, ersehen
kann, die aus der griechischen Götterlehre ent-
nommene Sage von der durch die Giganten
versuchten Erstürmung des Himmels zu Grunde,
welche durch die olympischen Götter unter Bei-
stand des Halbgottes und Heroen Herkules
(HeQaK/Jjs) abgeschlagen wurde und mit bem
Untergang der Giganten endete, auf deren Leiber
ungeheuere Felsmassen gewälzt wlirden.
Selbstverständlich war nun, daß zu einem
Bauwerke, vor welchem viele Statuen aufgestellt
wurden, auch, und zwar an einen hervorragenden
Platz, die des Herkules, welcher den Göttern
zu ihrem Siege über die Giganten verholfen
hatte, gehörte. Zum Muster nahm man den
sog. Farnesischen Herkules, ein Werk des
athenischen Bildhauers Glykvn. das sich an ein
älteres griechisches Vorbild anlehnt. Herkules
ist dargestellt, wie er nach Erbeutung der Hespe-
riden-Äpsel, welche er in der rechteil Hand hält,
mit der linken auf seine Keule sich stützend aus-
ruht. Landgraf Karl hatte denselben auf seiner
Reise im Farnesischen Palaste zu Rom geseheil,
wohin ihn Papst Paul III. (reg. 1534 — 1549)
aus dem Hanse Farnese uach Auffindung in den
Bädern (Thermen) des römischen Kaisers Cara-
calla, ebenso wie den später aufgefundenen Far-
nesischen Stier, hatte bringen lassen si; mithin
rührt die Benennung von bem Orte der Aufbewah-
rung her. Nach dem Aussterben des Hauses Farnese
(1786) kamen diese Kunstwerke zum Kummer
der römischen Künstler, wie unser große Dichter-
Goethe in der Beschreibung seiner italienischen
Reise aus der Zeit seines Aufenthalts in Nom
h Diarium Italicum 2.10 Nach dem Diarium 2. 71
ist in der Herkules-Statue in dem Rathhause zu Bologna
der Heros sitzend dargestellt, in der rechten Hand die
Keule haltend und mit den Füßen aus die Lernäische
Schlange tretend.
unterm 16. Januar 1787 mitteilt, in den !
Besitz des Königs Ferdinand III. von Neapel !
und Sieilieu (reg. 1759—1825), welcher die-
selben dem Museo Borbonico (jetzt Museo
Nazionale) zu Neapel einverleibte, woselbst sie
sich noch im Hauptsaale des Erdgeschosses be-
findeu.
Ursprünglich sollte, einer bekannten Erzählung
zufolge, die Herkules-Statue auf der Pyramide
des Oktogons von Stein sein, und war mit der
Bearbeitung eines riesigen Sandsteinblocks in
den Steinbrüchen zwischen Balhorn und Martin-
hagen begonnen worden, da wurde wegen Schwierig-
keit der Fortschaffung dieser Plan wieder aus-
gegeben. I Ob sich aus diese Arbeiten oder auf
die früheren aus der Zeit der Herbeischaffung
der Steine zum Oktogon und den Kaskaden die
im Archiv vorkommende Zahlungsanweisung von
6 Thalern zur Verpflegung eines im Steinbruche
gefallenen Arbeiters, Namens Christoffel Meiler,
vom 9. Februar 1717 bezieht, muß dahin gestellt
bleiben. Auch wurde eingewandt, daß zu einem
so schweren Bildwerke von Stein der Untergrund
nicht stark genug gewesen wäre, da zwar zu den
Treppenstufen und den Kaskaden Sandstein, da-
gegen zu dem Grottenwerke und dem Riesenschlosse
Basalttuff, welcher an der Oberfläche der Ver-
witterung ausgesetzt ist, verwandt worden war.
Nunmehr wurde die Herkules-Statue aus Metall
hergestellt und zwar aus Kupfer getrieben,
31 Fuß — 9'/2 Meter hoch und von solchem
Umfange, daß in der Keule 6 bis 8 Personen
sitzen können. In den Geschichtsbüchern von
Hessen überhaupt und von Kassel und Umgegend
im besonderen ist ziemlich übereinstimmend gesagt
und zwar mit Bestimmtheit, daß der Hof-
Kupferschmied Otto Philipp Küper
von Kassel dies gethan, und zwar u. a. auch
von Rommel, Piderit, Münscher und Hoffmeister,
denen doch die Urkunden im Archive zu Gebote
standen.
Da wollte es der Zufall, daß bei den im
Jahre 1900 an der Pyramide und an dem
Herkules vorgenommenen Renovierungs-Arbeiten
oben im Kopfe unter den Haaren des Stand-
bildes eine kupferne mit Nieten befestigte kreis-
runde, 12 Centimeter im Durchmesser haltende
Platte entdeckt wurde, welche die Inschrift trug:
Carolus Landgr. Z. H. Hat Dieses Bild Machen
Lassen Durch Joh Jacob Anthoni. Ein
Goldschmid. Gebürtig Aus Augspurg. Ist
y Geschichte der Regenten von Hessen-Kassel (Kassel
1882) — Verfasser nicht genannt —, S. 138.
Angefangen Anno 1714 Und Fertig Worden
Anno 1717 D. 30. Nov. U
Angesichts dieser Inschrift sollte aber doch nicht
gleich der heimische Künstler fallen gelassen, viel-
mehr auf Grund der später zu besprechenden
Urkunden im Besitze der Nachkommen desselben
— der bisherige Hof-Kupferschmiedemeister, jetzt
Privatmann Friedrich Francke dahier, wohnhaft
Schloßplatz Nr. 3, ist sein Urgroßenkel — die
Ehrenrettung versucht werden, selbst ans die Ge-
fahr hin, hämische Bemerkungen zu veranlassen.
Um indessen der Sache auf den Grund zu kommen,
muß man zu dem allen wohlbekannten Landgrafen-
schlosse zu Marburg an der Lahn emporsteigen
und sich in das dort befindliche Königliche Staats-
archiv begeben. In dem Bündel: Akten über
Ban des Riesenschlosses mit Kaskaden und Herkules-
Statue 1700—1717, von denen die ersteren
bereits besprochen sind, befinden sich vom Jahre
1714 bis' zum Jahre 1716 mehrere besondere
Rechnungen und außerdem eine Reihe von Posten
in den jedesmal für ein Jahr aufgestellten
„Specificationen derer beym Winter - Kasten-
Grotten-Werk ao ... aufgewendeten Bau-Kosten"
lautend: für den Gvldschm i dt Anthoni, ein-
mal, merkwürdigerweise die zweite Rechnung
(ebenso wie die erste aufgestellt in 1713 und be-
zahlt in 1714): für den Goldschmidt An-
thoni von Berliit, eine Rechnung von 1715
zur Veränderung: dem Kupfer treibe r An-
thoni geliefert, abgelauget u. dgl.:
a. verschiedene Metalle von herrschaftlichen
Werken, nämlich Eisen von der Eisenhütte
bei Holzhausen (bzw. bei Veckerhagen),
Kupfer vom Kupferhammer und vom Richels-
dorfer Werk, Messing vom Messinghof 2);
b) verschiedene Werkzeuge, z. B.: Ambosse,
Sperrhaken, sonstige Gerätschaften, Nägel
u. dgl.;
c) andere Sachen zur Vornahme der Arbeit,
wie große Quantitäten Kohle, Borar;
ferner eine Rechnung vom April 1714 über
Reife- und Zehrungskosten dem Gold-
schmidt Anthoni w. Werkstücks zur großen
8tatue und diesen letzteren Zusatz bei sehr
vielen Posten, zweimal auch zum Kopf der
großen Statue, schon 1714 und 1715.
y Vergl. Beschreibung und Abbildung „Hessenland".
XIV. Jahrg., S. 218.
s) Kupferhammer und Messiughof sind erst vom Land-
grafen Karl angelegt (1680), Eisenhütte und Richelsdorfer
Werk bestanden schon länger, vgl. Roth: Gesch. v. Hessen,
S. 315; Landau: Beschreibung des Kurf. Hessen (2. Ausl.
Kassel (1867), S. 188, 231.
23
In der landgräflicheii Zahlungsanweisung vom
22. Mai 1714 zur ersten Rechnung heißt es:
„Hiervon specificirteS Kupfer und Meßing, so
der Goldschmitt Johann Jacob Anthoni
zu der vor Uns unter Handen habenden arbeit
von Unsern Kupferhammer und Meßinghof nach
und nach empfangen." Daneben liegen Rechnungen
für Handwerker mannigfacher Art vor, fo für
deu Baufchmied Klocke sin einer Rechnung mit
Anthoni), für „Stnale", Platten u. dgl., ferner
Bergleute, Zimmerleute, Schmiede, Maurer, Hand-
langer, Erdarbeiter, Artillerie-Knechte, Maultier-
Knechte, auch für deu Röhreugießer Scheck, für
den gewesenen Hof-Kupferschmidt Selten (Zahlung
einer Rechnung lle uuno 1713 für die an den
Baumeister Franc. Guernieri gelieferten Kessel),
endlich, in 1718 an Joh. Ludw. Chr. Werner
für Ol und Firniß zu Anstrich innen und
außen der großen Statue und an Valentin
Winther für Lieferung von Farben ebendazu.
Der Name Otto Philipp Küper kommt in
keiner der vielen Rechnungen vor.
Aus denselben ergiebt sich vielmehr, daß die
Hauptperson bei Anfertigung der großen Statue
also des Herkules, der Goldfchmidt Johann
Jakob Anthoni von Berlin (wie er in einer
Rechnung bezeichnet wird) ist, welcher unter oberster
Leitung des Brigadiers Obersten von Hatten-
bach — der Name Guernieri kommt feit 1715
nicht mehr vor — in den Jahren 1713-1717
gearbeitet hat. Wenn auch von 1717 eine
Rechnung nicht vorliegt, fo ist doch aus dem
Umstande, daß von 1718 eine Rechnung über
Ölung u f. w. der Herkules-Statue da ist, zu ent-
nehmen, daß Anthoni im Jahre zuvor noch daran
thätig gewesen, und seine Angabe, bis zum
30. November 1717 gearbeitet zu haben, ans
Wahrheit beruhen kann.
Unter wessen Leitung das Arbeiterfest statt-
gefunden, auf welches sich eine Rechnung von
1714 zwischen denen für Anthoni zu beziehen
scheint mit den Posten:
für die Arbeiter zu Branutwein, Bier,
Wecke u. dgl.; denen Spiellenten, ferner
von Tellern u. s. w. so zerschlagen, im
Ganzen . . — 4 Rthlr. 19 Alb. 4 Hlr.
muß dahin gestellt bleiben. Das oben mitgeteilte
Fest nach Vollendung der Pyramide auf dem
Oktogon möchte mehr gekostet haben.
Wie ist nun dies Ergebnis aus den Rechnungen
im Archiv mit dem Inhalte der in den Händen
von Küpers Nachkommen befindlichen Papiere
zu vereinigen.
Nach einer vom herrschaftlichen Verwalter des
Messinghofes und des Kupferhammers. Namens
Otto Philipp Kleinschmidt, ausgestellten Urkunde
vom 19. Mürz 1709 hat der diesem seit zehn
Jahren untergebene, von Goslar im Harz ge-
bürtige Mefsing-Schmelzmeister Christoph Küper
gebeten, seinen ehelich erzeugten Sohn, geboren
1692 und am 7. Juli d. I. getauft, und Pathe
des Kleinschmidt, Otto Philipp Küper. als
Lehrling des „Kalt Kupfer Schunds- oder
Ausarbeiter Handwerks umb von dieser Pro-
fession hiernechst sein stück brod dadurch haben
zu können", anzunehmen, und ist der Bitte will-
fahrt worden.
Nach der zweiten Urkunde, einem Gesuche an
den Landgrafen (ohne Datum), dankt zunächst
diesem unterthünigst Otto Philipp Küper für
die Annahme als Hof-Knpferfchmied und
bittet sodann, da ihm die Kosten zur Verfertigung
des Meisterstücks, um Meister zu werden, als
einem Fremden und jungen Anfänger (er war
damals 25 Jahre alt) schwer fallen würden,
„Ew. Hoch-Fürst!. Durch!, auch Gnädigst
bekannt, daß ich an der Höre ul 68
8t a t u e gearbeitet, und alßo er-
wiesen, daß ich meine profession
sattsam erlernet"
ihm das Meisterstück aus Hoch-Fürstl. Gnaden
zu erlassen und „Befehlends" Verordnung an
Bürgermeister und Rat zu erteilen, daß ihn
sämmtliche Meister der Kupferfchmiedgilde ohne
Entgelt annehmen.
Diesem Gesuche hat Landgraf Karl unterm
8. Juni 1707 entsprochen, den Supplikanten
„weilen Uns; wegen seiner Unß ver-
fertigten arbeit Zur Genüge bekandt,
daß er fein erlerntes Kupfer Schmidts Hand-
werk wohl Verstehet,"
vom Meisterstücke befreit und die erbetene Ver-
ordnung erlassen.
Hierauf hat sich ausweislich des „Hauptbuch
unserer Löblichen Kupferschmiede der Zunft allhier
zu Cassel und auf dem Lande" darin Otto
Philipp Küper als Meister eintragen lassen
am 4. Oktober 1717 (also noch vor dem Tage,
30. November, an welchem Anthoni sein Werk
beendet hatte). Er ist dann weiter, nachdem er
vier Töchter erzeugt hatte, nach einer Rechnung
über die Beerdigungskosten, am 21. Juli 1770
(Todestag erhellt nicht) begraben. 78 Jahre alt.
(Fortsetzung folgt.)
24
Oer innere Appell.
Novellette von E. Mentzel.
«Fortsetzung.)
III.
Wie doch die Zeit verging! Seit Lehrer Mellinor
die kleine Landstadt verließ, waren bereits vier
Jahre verflossen. Bald nach seiner Abreise, die
Stanzchen viele Schmerzen kostete, griff noch ein
Ereignis tief in deren Leben.
Schlossermeister Müller verheiratete sich, obwohl
er bereits die Mitte der Vierzig überschritten hatte,
mit einem kaum achtzehnjährigen Mädchen, einer
sehr reichen Waise. Jedermann wußte, daß das ver-
schüchterte, im Hause eines brutalen Onkels erzogene
Mädchen niemals einen eigenen Willen besessen und
sich ohne Widerstreben gehorsam dem Wunsche des
Vormunds gefügt hatte.
Warum der noch im besten Alter stehende Vor-
mund unter allen Bewerbern grade den Schlosser-
meister Müller für sein Mündel auswählte, konnten
die Leute in der Stadt gar nicht begrersen. Sie
sollten jedoch später dahinter kommen.
Betty Furtmann wurde mit Recht für ein herzens-
gutes Geschöpf gehalten. Dennoch fragte man bei
ihrer Verheiratung in den Bekanntenkreisen mit
Besorgnis, wie sie mit der kaum fünf Jahre jüngeren
Stieftochter auskommen würde. Denn, ■ wie all-
gemein bekannt, war Stanzchen Müller kein solch
fügsames Geschöpf wie die meisten anderen Mädchen.
Sie hatte, so sagte man, „Gott weiß was für
Schrullen im Kopse" und saß sogar stundenlang
am Klavier, während ihre Altersgenossinnen tüchtig
im Haus oder im Garten helfen mußten.
Gegen den Willen des Meisters hatte die ver-
storbene Großmutter dies Klavier ihrem Liebling
angeschafft. In stetem Kampfe mit dem Schwieger-
sohn, der seine Tochter ganz einfach bürgerlich
erzogen haben wollte, ließ ihr dann die Groß-
mutter zuerst bei sich den Unterricht erteilen.
Nach dem Tode der alten Frau aber bekam
Stanzchen keine Klavierstunden mehr, trotzdem übte
sie oft halbe Tage lang und las auch manchmal
bis tief in die Nacht hinein, zwei Dinge, die sich
nach Ansicht der Leute für eine einfache Bürgers-
tochter gewiß nicht schickten. Es waren also manche
Untugenden bei dem eigensinnigen Ding auszurotten.
Wenn Betty ihre Pflicht thun. ja wenigstens nur
den Versuch dazu machen wollte, ging die Sache
sicher nicht so glatt ab, gab's zweifellos im Müllerschen
Hause über kurz oder lang die größten Zwistigkeiten.
Die allzugrvße Jugend der Mutter berührte
Stanzchen anfangs peinlich. Ein drückendes Ge-
fühl der Beschämung überkam sie, sobald sie das
ungleiche Paar zusammen sah. Als aber die junge
Frau einige Wochen in der Familie war, und das
Mädchen dieser öfters in die guten hübschen Augen
blickte, verlor ihr stiller Widerwille mehr und
mehr den Halt. Ja, als Stanzchen sogar staunend
hörte, daß die junge Frau immer zu allem, was
der Vater meinte, demütig „Ja" sagte, da schwoll
ihr das Herz in heißem Mitleid. Immer inniger
begann sie die Mutter zu lieben, während sich ein
tiefer Groll gegen den Vater in ihr festsetzte.
Die Tochter empfand dunkle Furcht vor der
maßlosen Heftigkeit des Vaters, dem die Gering-
schätzung weiblicher Wesen nicht nur angeboren,
sondern auch anerzogen war. Dessen ungeachtet
machte sie diesem jetzt Vorhaltungen, die sie in
ähnlicher Weise früher nie gewagt haben würde.
Dann sah der Meister seine Tochter stets mit
einem solchen Ausdruck von Verblüfftheit an, als
rede sie in einer fremden, ihm gänzlich unverständ-
lichen Sprache.
Manchmal, wenn Stanzchen ganz besonders
kräftige Worte wählte, ja sogar aus den großen Alters-
unterschied anspielte, schien dem Vater der Zorn
übermannen und zu Thätlichkeiten hinreißen zu
wollen. Allein es war gar nicht nötig, daß die
junge Frau, die meist in angstvoller Spannung
nebenan zuhörte, schnell dazwischen sprang. Nach
jähem Auflodern des Zornes besaun sich Meister
Müller ganz von selbst wieder aus seine Würde,
die er den beiden Frauenzimmern gegenüber
keineswegs schädigen wollte. Sonst brachte er
im ganzen Verhalten sein Übergewicht über diese
höchst augenfällig zur Geltung und sagte meist
spöttisch drohend, indem er die Hand gegen die
Tochter erhob: „Na, woart nor, Don Grünschnawel!
Krähst oach noch fersch Peise gedoah, eh's lang
währt! Woas soll ich mäir hüß mache! En
Annere werd Düch schont zähme!"
Solche Drohungen schienen gerade keinen tiefen
Eindruck auf Stanzchen zu machen. Ohne den
Vater ungebührlich zu reizen, schüttelte sie lächelnd
mit entschiedener Miene den Kops und schlang den
Arm zärtlich um die junge Mutter, als wolle sie
in Verbindung mit ihr schon heute den ange-
kündigten Stürmen Trotz bieten.
Als nach Verlauf eines Jahres der in der ersten
Ehe ausgebliebene Stammhalter zur Welt kam,
schenkte Meister Müller seiner jungen Frau eine
Zeit lang mehr aufmerksame Beachtung. Während
er sie bisher immer wie ein Kind behandelt hatte,
schien er endlich die Gattin in ihr zu sehen und
25
sprach auch vor den Leuten mit mehr Rücksicht von
ihr. Stanzchen war überglücklich über diesen Wandel
im Wesen des Vaters. Sie versuchte auch sofort,
dessen gute Laune zum Vorteil der Mutter aus-
zubeuten, und brachte ihn wirklich dahin, daß er
dieser einen sehr schönen Schmuck und einen neu-
modischen seidenen Umhang kaufte.
Nicht allzulange bewahrte Meister Müller seiner
Frau gegenüber das wohlthuende rücksichtsvolle Ver-
halten. Nachdem die erste Freude über die Geburt
des Stammhalters verrauscht und alles wieder im
alten Geleise war, ging der Mann seine eigenen
Wege wie früher, behandelte er die Frau auch
wieder wie ein unmündiges Kind. Sie ertrug dies
zwar geduldig und ohne den geringsten Wider-
spruch, seufzte jetzt aber öfters, ja hatte sogar
manchmal Thränen in den Augen. Stanzchen schnitt
das durch die Seele. Da der Vater augenblick-
lich viele Unannehmlichkeiten im Geschäft hatte,
also durch keinen Vorhalt noch mehr gereizt werden
durfte, hielt sie zwar diesem gegenüber an sich,
wurde aber wahrhaft erfinderisch in Liebesbeweisen
der Mutter und dem Kleinen gegenüber.
Nie mehr ließ das Mädchen beide allein, sie ver-
zichtete aus den Verkehr mit Altersgenossinnen, ja
sie versäumte sogar ihre Übnngsstunden am Klavier,
um die Frau und das Kind zu unterhalten.
Namentlich brachte sie dem kleinen Bruder die
größten Opfer. Damit ihn die etwas leidend ge-
wordene junge Frau nicht fremden Händen überlassen
mußte, schleppte ihn Stanzchen bei Tag und Nacht
unverdrossen oft lange umher und trug auch sonst
mütterliche Sorge für das Wohlbefinden des
Kleinen.
So schlang dieser unbewußt ein neues festes
Band um die Seeleu von Mutter und Tochter
Zum größten Erstaunen der Leute blieben die
zwischen ihnen erwarteten Streitigkeiten vollständig
aus, merkte man täglich mehr das gute Einvernehmen
zwischen Beiden. Freilich konnte von einem er-
ziehlichen Einfluß der Mutter auf die Tochter keine
Rede sein. Im Gegenteil, wer deren Verhältnis
zu einander genau kannte. merkte alsbald, daß
Stanzchen der herrschende Teil war.
Frau Müller blickte zu ihr aus wie zu einem
höheren Wesen. Sie lauschte so andächtig, als ver-
nähme sie Offenbarungen aus unbekannten Welten,
wenn ihr das Mädchen in vertraulicher Stunde
und unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit-
teilte, was für Zukunstspläne ihr der „innere
Appell" laut und mahnend jeden Morgen zurufe.
Als im Laufe der Zeit Mutter und Tochter
mehr wie zwei Freundinnen miteinander verkehrten,
hielten es Stanzchens Tanten — rechte Schwestern
ihrer verstorbenen Mutter — endlich für an der
Zeit, sich in die verlotterte Erziehung des Mädchens
einzumischen. Beide machten dem Meister den Kopf
so lange warm. bis er nachgab und die Tochter mit
allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zwang, eine
Zeit lang bei jeder von den Tanten zu verbringen.
Es waren furchtbare Monate für Stanzchen. deren
Eigenart der rohe gewaltige Wille beider Frauen
zu vernichten versuchte. Auf Schritt und Tritt
verfolgt, und, wenn ihr unwillkürlich einmal ein
Wort über die sonst streng gehüteten Regungen
ihres Innenlebens entschlüpfte, verhöhnt und ver-
spottet, geriet das Mädchen in einen hochgradig
erregten Zustand.
Sonst hörte .sie stets auf die Mahnungen der
inneren Stimme zur Geduld, einmal jedoch über-
brauste der Sturm der Empörung deren bittende
Zurufe. Als darauf die roten Hände ihrer jüngsten
Tante in unverkennbarer Absicht und unter den
gemeinsten Schimpfreden sich schwer auf ihre
Schultern legten, schleuderte sie die Frau so heftig
von sich, daß sie stolperte, gegen den Ösen fiel
und sich am Kopse verletzte.
Stanzchen eilte nach Hanse, vertraute der Mutter
schnell den Vorfall und flüchtete auf deren Rat daun
eilig in eine Bodenkammer. Drei Tage, bis der
Zorn des empörten Vaters und der Verwandten
sich wieder einigermaßen gelegt hatte, hielt die junge
Frau das Mädchen dort verborgen. Erst als der
Vater der Gattin fest versprach, die Tochter nicht
körperlich zu bestrafen, verließ diese endlich ihr
Versteck.
kV.
Stanzchens kecke That hatte das ganze Städtchen
in größten Aufruhr versetzt. Kein Mensch trat
ans ihre Seite. Tie Eltern geboten ihren Alters-
genossinnen sich von ihr zurück zu ziehen, die ganze
Familie mied sie wie eine Verbrechern». Desto
treuer hielt die Mutter zu ihr. Diese war aber
mittlerweile so klug geworden, ihre Empfindungen
für die Tochter nicht mehr so offen zur Schau zu
tragen, sondern sie nur dann ganz unverhohlen zu
zeigen, wenn beide allein waren. Dadurch konnte sie
Stanzchen vor den Angriffen des Vaters, der Ver-
wandten und anderen Bekannten besser schützen.
Aus der Verachtung und dem Hohn der Leute
machte sich das Mädcheu nicht das Geringste. Im
Gegenteil, das ungerechte Verhalten der Menschen
ihr gegenüber stachelte ihren Stolz noch mehr auf
und gab ihr die Kraft, böse geringschätzende Blicke
mutig und mit trotzigen Angen abzuwehren.
Dennoch lastetete gerade damals heimlicher Truck
aus ihrem Gemüte. Eine Nachricht über ihren ehe-
maligen Lehrer Mellinor war schuld daran. Stanzchen
hatte die Laufbahn desselben aus der Ferne stets
26
mit wärmster Teilnahme verfolgt. Als sic von
dem großen Beifall las, den der fehl bereits be-
rühmte Geigenspieler Mellinor in einer Anzahl
Konzerte errang, war es ihr so selig zu Mut ge-
wesen, als habe sie selbst diesen Sieg errungen. -
Da las sie einige Wochen nach der Flucht ans
dem Hanse der Tante in der Zeitung einen kurzen
Bericht über Mellinors Verlobung mit einer be-
rühmten Klavierkünstlerin. Zuerst durchflog Stanzchen
ein Gefühl beglückender Freude. Als sie jedoch
den mit großer Zurückhaltung geschriebenen Aussatz
zum zweitenmale las und die seltsamen Bemerkungen
über das Vorleben der hochbegabten Künstlerin
ernster überdachte, fiel ihr plötzlich ein, was vor
etwa einem halben Jahre von der Dame in einem
großen Berliner Blatte stand. Sie war infolge häß-
licher Vorkommnisse von ihrem Gatten geschieden
worden, hatte viel Schulden gemacht und auch
außerdem durch abenteuerliche Streiche ihren Charak-
ter nicht in bestem Lichte gezeigt.
Tie Erinnerung hieran fiel Stanzchen schwer
aufs Gemüt. Wie gerne hätte sie dem im Stillen
immer noch angebeteten Lehrer eine bessere, wenigstens
eine achtbare Frau gegönnt. Tenn der Künstler-
ruhm der Erwählten vermochte trotz des Mädchens
Begeisterung für die Musik sie über solch verhängnis-
volle Eigenschaften nicht zu beruhigen.
Warum hatte Mellinor nur sie auserkoren? Er
bewahrte doch sonst so strenge Grundsätze und
verlangte früher immer von talentvollen Menschen,
namentlich aber von Künstlerinnen, eine tadellose
Führung. Hatte ihn die Frau durch ihre Schön-
heit verblendet? War sie vielleicht besser wie ihr
Nus? Allein auch, wenn dies zutreffen sollte, ver-
mochte sich Stanzchen keineswegs über die Ver-
-------------<£>.
Aus alter un
Du», Frmrenlrreuz im Kinzrnlmcher Mal-.*)
Im Kinzenbacher Wald findet sich ein Stein,
der die Bezeichnung X. W. 1771 Frauen f trügt.
Er steht vermutlich an Stelle eines älteren Kreuzes,
zu dessen Errichtung nach der Sage folgender Anlaß
geführt haben soll: Auf dem Schlosse zu Nassau-
Weilburg wohnte einst der reiche Graf Otto mit
seiner Gemahlin Jutta, denen nichts an Erden-
glück zu fehlen schien. Lästerzungen suchten dem
Grafen allerlei Reden von der Untreue seiner
Gemahlin zuzuraunen. Nur zu leicht lieh der
Graf den Verläumdern das Ohr. Ein Besuch bei
*) Kinzenbach Dorf nordwestlich von Gießen, int Kreise
Wetzlar.
lobnng zu freuen. Erweckte es ihr doch auch peinliche
Empfindungen, daß die Braut, wie es in dem Be-
richte hieß, beinahe die Mutter Mellinors sein
könnte. Da aber nun an der Thatsache nichts mehr
zu ändern war, wollte sie sich auch keine Gedanken
mehr darüber machen und das Beste hoffen.
Dieser Vorsatz war aber leichter gefaßt als aus-
geführt. Ganz gegen ihren Willen kam ihr die
Verlobung immer wieder in den Sinn und weckte
Unruhe und nagende Zweifel in ihrem Inneren.
Vergeblich wehrte sie sich gegen eine immer mehr
über sie Herr werdende Verstimmung, die sie der-
artig ergriff, daß es sich wie ein Schleier auf ihr
ganzes Wesen legte.
Ties Versenktsein in sich selbst, diese Teilnahm-
losigkeit gegen Freuden und Vergnügungen der
Jugend hielten manche Leute, auch Frau Bettys
ehemaliger Vormund, für aufrichtige Reue und
einen Wandel zum Guten. Der Mann überwand
deshalb den angeborenen Widerwillen gegen ein
weibliches Wesen von Stanzchens Art, machte sich
klar, welch ansehnliches Vermögen sie von ihrer
Mutter bekomme, und erinnerte Meister Müller eines
Tages an das ihm vor Jahren gegebene Versprechen.
Der Letztere war denn auch sofort bereit, sein
Wort einzulösen. Kam doch die Werbung Schreiner-
meister Peters seinen geheimsten Wünschen entgegen.
Mit einem Gefühl drückenden Unbehagens, ja oft
sogar mit geheimer Angst dachte Müller an die Zu-
kunft seiner Tochter. Was konnte ihm deshalb will-
kommener sein als der Antrag eines Ehrenmannes,
der ein gutes Geschäft und daneben auch die Fähig-
keit besaß, einem überspannten Frauenzimmer zur
richtigen Zeit den Kops gehörig zu recht zu setzen.
(Schluß folgt.)
-----------
:b neuer geit.
einem befreundeten Nachbar im oberen Lahnthal
führte Mann und Frau allein durch den Kinzen-
bacher Wald, während die Diener dem Wunsche
des Grasen gemäß in einiger Entfernung nach-
folgten. Schweigend schritt mit finsterem Blick
Gras Otto neben seiner Gemahlin dahin. Immer
dichter schließen sich die Bäume; öde und düster
wird der Waldpsad. Jutta wagte nicht, das
Schweigen ihres Gemahls zu unterbrechen. Doch
plötzlich bleibt dieser stehen, herrscht sie an und
spricht: „Du kannst, Unwürdige, eine Gnade dir
verdienen, wenn du mir hier gestehst, wie schändlich
du mir die Treue brachst!" Mit diesen Worten
setzte er den Dolch aus die Brust der Ahnungs-
losen. Starr vor Entsetzen schweigt ihr Mund
27
int Bewußtsein ihrer Unschuld. Dadurch wird
der argwöhnische Graf nur nach wilder; sein Auge
funkelt vor Zorn. Sprachlos steht noch immer
das arme Weib da, nicht vermögend, ein Wort
hervorzustammeln. Doch den Graf hält's jetzt nicht
mehr; er führt den Dolch ihr in das Herz. Ein
leises Stöhnen, ein milder Blick nach dem Mörder,
und ihr Leben ist dahin. Durch höhere Schickung
wurde Juttas Unschuld offenbar. In Trauer und
Schmerz verzehrte sich nun der allzu leichtgläubige
Gemahl. Durch Buße und Neue hoffte er Be-
ruhigung zu finden. Darauf pflanzte er das heilige
Zeichen des Kreuzes, das für die Sünder Heil er-
warb, an der Stelle auf, wo feine Gemahlin ihre
edle Seele aushauchte. Dann greift er nach dem
Wanderstabe und pilgert im Büßergewand nach
dem heiligen Grabe. In völliger Weltentsagung
brachte er den Nest seines Leben dahin, bis ihm
der Erlöser Tod Ruhe gewährte. Die Stelle, wo
die Leidenschaft ihr blutiges Opfer forderte, heißt
zur Erinnerung au jene Begebenheit das „Frauen-
kreuz". A-r.
-------------------
Aus Heiinat nnb Freuröe.
U niverfit ä t s n n ch r i et) t c u. Die Obliegen-
heiten eines Hülfsbibliothekars an der Königlichen
Universitäts'Bibliothek zu Marburg sind dem seit-
herigen Assistenten an der Königliche Universitäts-
Bibliothek zu Halle a. S. Dr. Reinhold über-
tragen worden
Geburtstag. In diesem Monat feiert Frau
Eveline von Svdenstern in Homburg v. d. Höhe
ihren 80. Geburtstag. Frau von Sodenstern ist
in Kassel geboren und hat verschiedene Opernbücher
tuib Ballets verfaßt, von welchen hauptsächlich
„Paul und Birginie", „Tie schöne Müllerin",
„Heto und Leander", „Bettina" und „Manuela'
«nach Kochs ..Prinz Rosa Stramin") zu neune»
sind. Möge die greise Dichterin uns mit weiteren
poetischen Arbeiten erfreuen und ihr die Schaffens-
kraft dazu noch lauge erhalten bleiben.
Die „Zwanglose Bereinigung geborener
H essen- K a s s e l e r z u B e r l i n" hielt am 8. d. M.
in ihrer Januarsitzung, wie es seit elf Jahren
üblich ist, eine Grimmfeier ab. Der erste Vor-
sitzende, Oberlehrer F. Wolfs, behandelte in seiner-
beifällig aufgenommenen Festrede die ältesten Be-
ziehungen der Brüder Grimm zu Berlin. Nahezu
dreißig Mitglieder waren erschienen, mehrere Herrn
traten der Vereinigung bei. Sonnabend den 18. d.M.
findet ebenfalls im Klublokal (Heidelberger, Central-
hotel Friedrichstraße) eine Nachfeier des Grimm-
festes im weiteren Familienkreise statt. Jeder
Hesse, der sich zeitweilig in Berlin aufhält, wird
au den Hessenabenden am ersten Mittwoch des
Monats freundlich willkommen geheißen
Todesfall. In Kassel verschied in der Nacht vom
auf den 6. d. M. nach kurzem, aber schwerem Leiden
der königliche Landgerichtsdirektor Geheime Justiz-
rat Adolf Wippermauu im Alter von 62 Jahren.
Er war als Sohn des Stadtsekretärs*), nachherigeu
Kurhessischen Staatsrats Karl Wilhelm Wipper-
mann und dessen Gattin Pauline, geb. Asbrand,
am 20. November 183!» in Kassel geboren. Die
erste Schule, die er von l846 bis 1840 besuchte,
war die Falckenheinersche, dann kam er auf das
Kasseler Gymnasium, das er von Ostern 1853 an
mit dem Gymnasium in Rinteln vertauschte, wohin
sein Vater versetzt worden war. Im Herbst 1858 legte
er die Reifeprüfung ab und studierte sodann bis
1860 in Heidelberg und bis 1862 in Marburg die
Rechte. Am 23. August 1862 bestand er in Mar-
bung das Fakultätsexamen und im folgenden Jahre
das hessische Staatsexamen. Seine Anstellung stieß
zuerst auf Schwierigkeiten, nachdem diese aber ge-
hoben, wurde er dem Obergerichte zu Rinteln als
Referendar zugewiesen, wohl mit Rücksicht aus seine
dortigen Familienbeziehungen. Nach Ablegung des
Assessorexamens verblieb er bei dem Kreisgericht
in Rinteln, woraus er von 1872 bis 1878 Amts-
richter in Friedewald war. Während seines dortigen
Aufenthaltes vermählte er sich mit Adele Sandrock,
*) Da Wippermann, der Vater, 1833, als er von den
schaumbiirger Landgemeinden in die Ständekammer ge-
wählt wurde, schau Bürgermeister von Rinteln
war, so könnte diese Stellung befremden. Die Erklärung
giebt Wippcrmann selbst in seinem „Kurhessen seit dem
Freiheitskriege" Seite 361. „Sie (die Bürger) wählten
Wippermann zum zweiten Stadtvvrstande. dem aber
Hassenpflng die Bestätigung versagte. Ohne einen andern
zu wählen zogen sie ihn, mit Verleihung des Ehrenbürger-
rechts. als Sekretär zur städtischen Verwaltung. Hassen-
pflug aber nötigte durch Strafen, denselben davon auch
unter dieser Form zu entfernen. Weil nämlich die Gc-
meindeordnung vorschreibt, daß der Stadtsekretar auf
Lebenszeit gewählt werden soll, das übrige Personal der
Gemeindeverwaltung auf Kündigung, gab es Hassenpflug,
wegen des hier gebrauchten Artikels der Einheit, für eine
Gesetzwidrigkeit aus. neben einem schon vorhandenem
Sekretär noch einen zweiten in Wippermanns Person zu
.wählen. Doch wußte gegen solche Auslegung die Stadt
Kassel Schutz bei den Gerichten zu finden."
28
Tochter des Gutsbesitzers Sandrock in Lautenhausen
bei Friedewald. Sodann wurde er an das Kreis-
gericht in Tecklenborg in Westfalen versetzt und kurz
daraus zum Kreisgerichtsrat befördert. Am 1. Juli
1880 wurde er zum Laudgerichtsrat in Münster
ernannt und am 1. April 1887 zum Landgerichts-
Direktor, womit seine Versetzung an das Land-
gericht zu Essen a. d. Ruhr verbunden war. Von
dort wurde er am 1. Oktober 1892 in gleicher
Eigenschaft nach Bochum versetzt, noch bevor er
diese Stelle angetreten hatte, erfolgte aber seine Ver-
setzung nach Erfurt. Dort blieb er zwei Jahre,
nach deren Verlauf er in seine Vaterstadt Kassel
zurückkehrte, wo er ebenfalls als Landgerichtsdirektvr
wirkte. Mit Wippermann ist wieder einer ans
der Zahl der trefflichen hessischen Juristen hin-
geschieden, die noch im alten Knrstaate ihre
hauptsächliche Ausbildung erhielten und deren Er-
innerungen ans jene Zeit zurückreichten, in welcher
Kurhessen im Mittelpunkt der deutschen Streitig-
keiten stand. Von schlichtem, liebenswürdigen Wesen
erfreute er sich persönlich wie in seiner amtlichen
Stellung größter Wertschätzung.
A usgrabnnge n. In den letzten Wochen ist von
Freunden und Gönnern des Oberhessischen Geschichts-
vereins-Mnsenms zu Gießen eine ganz beträchtliche
Zahl von Ausgrabungsarbeiten unternommen worden.
----------<»•
Personalien.
Ernannt: Oberregierungsrat M ülle r in Kassel
zum Präsidenten der Generalkvmmission zu Bromberg;
Landgerichtsrat Schwarz in Marburg zum Oberlandes-
gerichtsrat in Jena; Gerichtsassessor Bvhnstedt zum
Amtsrichter zu Neustadt; der Rechtsanwalt und Notar
M e i n s h a u s e n in Eschwege und der Rechtsanwalt
H a n d s ch u b in Marburg zu Justizräten ; der Referendar
Nöll in Marburg zum Gerichtsassessvr; die Rechts-
kandidaten Hassenkamp und Meißner zu Refe-
rendaren ; Oberpostdirektionssekretär Frenzel in Mar-
burg zum Postkassirer.
Versetzt: Generalkommissionspräsident v. B a u m b a ch -
Amönau in Bromberg in gleicher Amtseigenschaft nach
Kassel; Amtsgerichtsrat Dr. jur. Schulin von Oberaula
nach Marburg.
Bestellt: Pfarrer extr. Breh in zum Verweser der
Pfarrstelle zu Orferode; Pfarrer extr. Bock als selb-
ständiger Gehülfe des ersten Pfarrers an der Altstädter
Gemeinde zu Kassel.
Verliehen: dem Direktor des Königlichen Museums
in Kassel Dr. phil. Oskar Eisenm a n n der Charakter
als Geheimer Regierungsrat; dem Oberlehrer a.D. Professor
Dr. W e i d e n m ü l l e r in Marburg der Rote Adlerorden
4. Kl.; dem Kreisarzt Medizinalrat Dr. Lambert in
Melsungen der Charakter als Geh. Medizinalrat; dem
seither. Direktor des Landkrankcnhauses in Kassel Sanitätsrat
Dr. H a d l i ch der Rote Adlerorden 4. Kl.; dem Domünen-
pächter Keifer in Steinau der Charakter als Königl.
Oberamtmnnn; dem Ober-Postassistenten Berthold in
Sv wurde au einer Stelle eine vorgeschichtliche
Opferstätte mit einer großen und dicken Aschen- und
Kohlenschicht ausgegraben, in der zahlreiche Scherben
und Knochen, darunter Hauer von Wildschweinen
und bearbeitete Knochenstücke, gefunden worden sind.
Man kann daraus vielleicht schließen, daß diese
Opferstätte in das Ende der Steinzeit zu setzen
ist. — An einer anderen Stelle ist mit dem Er-
folg gegraben worden, daß Reste eines llrnengrab-
feldes aus der nachschriftlichen Zeit, etwa 200
v. Chr. Geb, aufgedeckt wurden. Man fand hier,
wie der „G. Anz." meldet, u. a. Scherben römischer
Herkunft, ferner ein kleines ans Bronze bestehendes
Ortsband mit durchbrochener Arbeit, das von der
Scheide eines Messers oder eines Dolches herrührt.
Unter dieser römischen Schicht befand sich an einer
Stelle eine Aschengrube, in der die Reste eines aus
weil älterer Zeit, vielleicht aus dem 2. Jahrtausend
v. Chr. Geb., stammenden Gesäßes gefunden
wurden. — An einer dritten Stelle stieß man auf
eine Grabstätte oder Wohnstätte, deren Inhalt am
nächsten verwandt ist mit den Funden im Gießener
Stadtwalde, die jetzt im Museum bereits acht Schränke
füllen. Diese Stücke dürften dem 2. bis 8. Jahr-
hundert n. Chr. Geb. angehören. Alle drei Fund-
stätten liegen teils in der Gemarkung Gießen, teils
in deren nächster Nachbarschaft.
Kassel der Kronenorden 4. Kl. bei feiner Versetzung in
den Ruhestand.
Geboren: ein Sohn: Oberarzt an der Chirurgischen
Abteilung des Angnsta-Hospitals Dr. B r a n n und Frau
Elisabeth, geb. Reinhard tBerlin, 5. Januar);
Oberlehrer B o ck h o l t und Frau (Kassel, 8. Januar); —
eine Tochter: Bergwerksdirektor Schwein ann und Frau
Alma, geb. Kupfer (Neurode, 4. Januar); Dr. med.
Müller und Frau (Marburg. Januar).
Gestorben: Frl. Lili Pfankuch. 80 Jahre alt
(Kassel. 2. Januar); Bürgermeister LudwigHillebold,
74 Jahre alt (Niedenstein. 4. Januar); Landgerichts-
direktor Geheimer Justizrat Adolf Wipper mann,
62 Jahre alt (Kassel. 6. Januar); Chamottesteinfabrikanten
Carl August und Wilhelm Göbel (Großalmerode,
6. Januar); K o n r a d Eisenach, letzter Stabstrompeter
der kurhessischen Garde-du-Corps, 82 Jahre alt (Kassel.
7. Januar); Kaufmann Ferdinand Bork, 63 Jahre
alt (Elberfeld, 8. Januar); Oberförster Neins (Betzigerode,
Januar); Güterexpeditions-Vorsteher a. D. E d u a r d E r n st,
N4 Jahre alt (Kassel. 12. Januar).
Briefkasten.
W. P. in O. Das Gedicht könnte gekürzt und mit einigen
Umänderungen vielleicht gebracht werden. Sind Sie ev.
damit einverstanden?
Dr. Lz. in Kassel. Soll gelegentlich gebracht werden.
H. Sch. in Fulda. Abdruck leider nicht möglich. Besten
Dank.
Dr. 8. in Gießen. Wird gern verwendet. Verbindlichen
Dank.
8. 8. in Ravolzhausen. Dankend erhalten.
Für die Redaktion verantwortlich: i. V. W. Bennecke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.
J\q 3
XYI. Jahrgang
Kassel, 1. Februar 1902.
Ein Maskenball.
(Z^. Januar ;822.)
Berr Friedrich Wilhelm zum Mummenschanz
Ging er mit seinem Knecht,
Die Masken schwangen sich wild im Tanz,
Das war dem Berren recht.
„Meinen Mantel und mein Kleid nimm hin,
Trag' sie in Ehr' und Zucht;
Die schöne, junge Schäferin
l)at lang' mich schon gesucht."
Kaum hat der Diener so gethan
Und trägt des Herren Kleid,
Ti, tritt ihn ein Kapuziner an:
„Gruß' Gott in Ewigkeit!
von: heiligen Lande komm' ich her
Und bringe gesegneten Wein,
So köstlich wächst keiner auf Erden mehr —
Laßt mich Euren Mundschenk sein."
Im klaren Krystall eutgegenblinkt
Wie Blut der duftende Wein —
Und der Diener im Fürstenmantel trinkt —
Sollt' sein letzter Becher sein.
Berr Friedrich Wilhelm tanzt und lacht
In ahnungslosem Sinn,
Indeß für ihn in Todesnacht
Sein Treuer sinkt dahin. —
Wer aber auf jenen: Maskenball
Gereicht den tödlichen Trank,
verschweigen bis heut' die Bücher all' —
Ein Schleier darüber sank.
Kassel. YV. Kenn ecke.
Srau Rolle.
Frau Bolle, die wallt übers wogende Feld,
Das Korn ihre Fußspitzen streifen,
Und da, wo sie segnende Umschau hält,
Da schwellen die Ähren und reifen.
„wie schön ist Frau Bolle im lichten Gewand,
Libellen sie funkelnd umschwirren. —
Hun spinn deinen Flachs, Dirn, mit sorglicher Band,
Denn leicht sich die Fäden verwirren!
Nun spinne und schau, wie Frau Bolle dir lacht,
Das Brautleinen hilft sie dir weben,
Es soll deines Flachshaares goldene Pracht
Ein Ährenkranz bräutlich umgeben.
Frau Polle, die winkt dir mit brennenden: Mohn,
Sie freut sich der surrenden Rädchen
Und segnet den Fleiß dir mit minnigem Lohn!" —
— Die Wangen erglühen den: Mädchen.
Gießen. OttO Killdt.
yp'
30
Xsas wilhelrrrshöher Riesenschlotz und Sie ^tzerkulesstatue
und ihre Erbauer.
Von C. Neuber, Kassel.
(Fortsetzung.)
ält man nun die Archiv-Rechnungen und die
Küperschen Familien-Papiere neben einander,
so bleibt zwar, daß Ant hont die Hauptperson
bei Versertignng der Herkules-Statue, der eigent-
liche Verfertiger (faiseur) gewesen ist, es ergiebt
sich aber weiter, daß Kuper einen nicht ge-
ringen Antheil dabei gehabt hat, da er sonst
bei den damaligen strengen Zunstvorschriften nicht
gewagt hätte, vom Landesherrn die Entbindung
von Anfertigung des vorgeschriebenen Meisterstücks
mit Rücksicht auf seine Arbeit am Herkules nach-
zusuchen, und bei gegentheiliger Sachlage der
Landesherr gewiß nicht zu seinen Gunsten ein-
gegriffen haben würde. Daß er trotzdem nickst
in den Archiv-Rechnungen genannt ist. muß wohl
aus der allgemein bekannten Thatsache erklärt
werden, daß die Handwerksmeister in ihren Rech-
nungen , seien diese für Privatpersonen oder für
Gesellschaften, Behörden u. dergl., niemals die
Namen ihrer Gesellen, auch wenn solche noch so
tüchtig, aufführen, sondern höchstens angeben:
2 oder 3 Gesellen-Tage u. dergl. Und Küper
war damals noch Geselle. Andererseits wird
Anthoni nirgends als Meister bezeichnet. Aber
er war Goldschmied, und wie er aus der
gedachten Platte angegeben, gebürtig aus Augs-
burg, welche freie Reichsstadt jahrhundertelang
berühmt war durch ihre blühenden Gewerbe,
namentlich die Goldschmiedekunst *), die ein solches
Ansehen genoß, daß den Goldschmieden oder, wie
sie später heißen, Juwelieren in ihren bürgerlichen
Verhältnissen eine höhere Stellung eingeräumt
wurde. Nach einer Polizeiordnung von 1735,
-zunächst eine Luxusordnung, welche „der Hossarth"
in Bezug aus die Kleidung zu Leibe rückte,
daneben aber eine Rangordnung, waren die Ein-
wohner in fünf Klassen eingeteilt^):
1. die Patrizier nebst den Kaufleuten mit den
bürgerlichen Kapitäns und Solche vom ge-
lehrten Stand;
’) Paul n. Stetten: Beschreibung der Reichsstadt Augs-
burg (Augsburg 1788), S. 124; Lorenz Werner: Ge-
schichte der Stadt Augsburg (Augsburg 1900). S. 321,
347. Der Name Anthoni kommt daselbst nicht vor.
") Werner, S. 338.
2. die bürgerlichen Lieutenants nebst Raths-
Gerichtsprokuratoren ;
3. die Rathsdiener, Schreiber, Goldschmiede,
Maler, Kupferstecher und Glockengießer;
4. die Handwerksmeister, Kramer, sowie vor-
nehmer Familien Dienstboten;
5. Alle, die keine Handwerker, wie die Lohn-
kutscher, Fuhrleute und Tagelöhner.
Wenn diese Ordnung auch aus einer späteren
Zeit datiert als der hier in Rede stehende Fall,
so kann doch aus dieselbe Bezug genommen
werden, weil sie gewiß nichts neues einführte,
sondern nur längst bestehende Verhältnisse sank-
i tiouierte.
Nach den von dem dahingeschiedenen Dr. Grote-
send angestellten unb in der Zeitschrift „Hessen-
land" (Jahrgang 1900, Nr. 17, S. 218 fg.)
niedergelegten Erhebungen liegt über Anthoni
eine ausführliche Mitteilung des Bibliothekars
Dr. Kueß an der Königlichen Kreis- und Stadt-
bibliothek zu Augsburg vor, auf deren Wieder-
gabe wir hier verweisen.
Wo sich Anthoni, der danach um 1675 als
Sprößling einer alten Goldschmiedesamilie in
Augsburg geboren ist, zunächst niedergelassen, hat
bis jetzt nicht ermittelt werden können. Infolge
der Bezeichnung in der Archiv-Rechnung 1713/14:
„Goldschmidt Anthoni von Berlin" ist auch dort
und zwar sowohl beim Königlichen Hausarchiv
i zu Charlottenburg, als auch beim Königlichen
Geh. Staatsarchiv. und beim Stadtarchiv in
Berlin wegen etwaiger Nachrichten über ihn an-
gefragt worden. Alle drei haben, ersteres etwas
kurz, die beiden letzteren mehr ausführlich und
unter Bezugnahme auf ein sehr fleißig mit Be-
nutzung aller dortigen Quellen gearbeitetes Werk:
„Die Berliner Goldschmiedezunft von ihrem Ent-
stehen bis 1800" von Friedrich Sarre, Berlin
1895, und anderer Bücher, in denen nirgends des
Anthoni gedacht werde, mit Nichtwissen geant-
wortet.
Das Königliche Geheime Staatsarchiv zu Berlin
verwies auch auf den Obermeister der Gold-
schmiede-Jnnnng dortselbst, Namens Roßbach,
und aus einen an diesen gerichteten Brief ging
31
ein längeres Schreiben des Juweliers Wilhelm
Fischer zn Berlin, welchem die Sache zum
weiteren Verfolg übergeben worden war, ein.
Herr Fischer beantwortet zwar die gestellte Frage
auch nicht, hält es aber für höchst unwahrschein-
lich , daß der Kasseler Knpserschmiedemeister
allein das großartige Kunstwerk geschaffen,
dagegen nahe liegend, daß Küper die groben
Formen gebildet und sich für die seinen Treib-
arbeiten einen Goldschmied in Lohn und Brot
genommen. Dafür spreche, daß Anthoni, dem
Drange eines Künstlers folgend, sich im Kopfe
verewigte, was nicht in ausfälliger Weise hätte
geschehen dürfen, weil Küper als der Schöpfer
des Werkes habe gelten wollen, und es sei an-
zunehmen , daß Landgraf Karl ihm als einem
Inländer die Sache übertragen habe. In Hessen
gelte der Knpserschmiedemeister als der Erzeuger,
aber es sei seiner Zeit mindestens aufgefallen,
daß ein solcher die Figur gemacht, und gerade
dies Auffallende sei von Generation zu Generation
weiter erzählt worden, so daß dies noch heute
alle Kasselaner mit besonderem Stolze hervor-
höben. Alle Goldschmiede der damaligen Zeit
hätten mit Hammer und Punzen umzugehen ver-
standen, jedenfalls die tüchtigen.
So die Ansicht eines Fachmanns über die
streitige Angelegenheit, welche die oben entwickelte
unterstützt. In der köstlichen Lokalposse von
1859: „Herkules oder Ambos und Actien" von
W. Lyncker und I. Braunhofer will einem Aus-
länder, der den Herkules gesehen, nicht einleuchten,
daß denselben ein Kasseler Kupferschmied und
nicht ein Künstler gemacht, während die Ein-
heimischen an der überlieferten Erzählung fest-
halten und ein Nachkomme Küpers den Ausländer
bekämpft.
Nach den Marburger Archiv-Rechnungen und
der Angabe auf der Platte ist Anthoni 1713
bis 1717 in Kassel bezw. Umgegend gewesen als
Verfertiger der Herkules-Statue, also nach der
obigen Mitteilung des Geburtsjahres 36—40
Jahre alt, während Küper damals nur 25 Jahre
alt war. Dafür daß Anthoni früher hier ge-
wesen, fehlt jeder Anhaltspunkt- Einträge in
den Kirchenbüchern der Altstädter Gemeinde über
Geburten in der Familie von 1700, 1702 und
1704 beziehen sich der erste auf einen Bleicher,
die zwei anderen aus einen Maurer Anthoni.
Der Vorname des Vaters ist keinmal angegeben.
Wohl aber ist derselbe nach den weiteren Er-
mittelungen des verewigten Di-. Grotesend *) noch
mindestens zwei Jahre (1718 und 1719) in
') „Hessenland" n. a. O-
Kassel geblieben ititb für ein Grabmal des
Fritzlarer Kanonikus Theodor Philipp von Nehem,
welches in der Petri-Stiftskirche zu Fritzlar auf-
gerichtet werden sollte — ob dasselbe noch dort
vorhanden, wird nicht angegeben —, thätig gewesen
(vergl. das.). Anthonis fernere Schicksale und sein
Todesjahr sind noch nicht ermittel worden. Trotz
der Genauigkeit der Archiv-Rechnungen bezüglich
der Zulieferung der Werkzeuge und Materialien
ist nirgends der Betrag des von ihm bezogenen
Gehaltes zu ersehen, und ebensowenig, daß ein
hölzernes Modell, über welches die Herkules-
Statue getrieben, von ihm oder einem Anderen
gemacht worden sei, während ein solches doch
nicht zu entbehren war. Verfertigt wurde das-
selbe nach einer Überlieferung unter Küpers
Nachkommen in dem nahe der oben erwähnten
Edelsteinschleiferei im Schlvßgraben gelegenen
Modellhause, woselbst auch das Modell des
Wasserwerkes auf dem Karlsberge, 220 hessische
Fuß hoch, 1709 vom Mvdellisten Wachter be-
gonnen und eine sehr genaue Vorstellung gebend,
gezeigt wurde. Z
Welche Schwierigkeiten nun die Fortschasfung
und Ausstellung der Bildsäule ans der Pyramide
des Oktogons, abgesehen von der Wegentfernung,
verursacht haben mag, kann man ungefähr er-
messen, wenn man vernimmt, daß vom Fuße
der Kaskaden bis in die Keule des Herkules
902 Treppenstufen gezählt werden, die Bildsäule
selbst 10 Meter hoch ist und der Scheitel derselben
596 Meter hoch über dem Meresspiegel liegt.
Gleich unter dem Piédestal dieser kupfernen Bild-
säule — von Holz mit Kupferüberzug — nach
vorn zn, befinden sich zwei Statuen der F a m a. 2)
Diese, Posaune blasend, in Relief ausgeführt,
paßt auch dahin, weil nach der griechischen Götter-
lehre die Fama (der Ruf, das Gerücht), jüngste
Tochter der Gaea (Erde) von dieser geboren
wurde, um sich an den Göttern wegen Nieder-
werfung ihrer Söhne, Titanen und Giganten,
zu rächen, indem dieselbe noch die anstößige Ge-
schichte derselben offenbarte. Die noch weiter
für das Piédestal und die Plattform geplanten
Figuren blieben fort, wahrscheinlich der Kosten
und Schwierigkeiten wegen.
Nach dem Verschwinden Anthonis kommt
plötzlich der italienische Baumeister Euer ui er i
wieder in Kassel vor. Wie bereits früher mit-
geteilt, sind die dritte und vierte Ausgabe seines
Bauplans vom Riesenschloß in den Jahren 1727
6 Schminke a. n. O. S. 192.
y Beschreibung des Kurf. Landsitzes Wilheliiishöhe dey
Kassel, S. 39.
32
und 1749, also die dritte wenige Jahre vor dem
Tod und die vierte beinahe zwei Jahrzehnte
nach dem Tode des Landgrafen Karl, im Druck
erschienen. Sodann soll nach Hossmeister I
Guernieri nochmals mit zwei Stukaturarbeitern
— nach Rommel war dies, im Jahre 1731 —
in Kassel gewesen sein, um Älteres auszubessern
und Neues auszuführen, allerdings ist dies aus-
fallend, da er, wie schon erwähnt, viele Feinde
hatte und ihm insbesondere der Erbprinz unb Thron-
folger nicht zugethan war. Nach Rommel hat
sich auch — was erst auf den Bau in seiner Voll-
endung paßt — eine Bußpredigt eines eifrig
frommen Predigers erhalten, in welcher der
heidnische Herkules, nachher im Munde des Volkes
der große Christoph (der freilich in die beim
Oktogon dargestellte griechische Mythologie nicht
hineinpaßt), als ein Teuselswerk perhorresziert
wird. Wohl aber bewahrheitete sich der Vorwurf,
daß man zu der eigentlichen Grotkenanlage nicht
dauerhafte Steine, sondern der Verwitterung aus-
gesetzten Basalttuff genommen habe, insofern, als
wiederholt Ausbesserungen notwendig geworden sind.
Die nach der kurhessischen Verfassung vom
5. Januar 1831 gebildeten Landstände haben in
verschiedenen Jahren große Summen für die
Erhaltung des national gewordenen Riesenwerks
verwilligt, nachdem die Wasser der Kaskaden
längere Zeit vorher nicht mehr hatten angelassen
werden können. x)
h Piderit - Hoffmcistcr: Geschichte von Kassel (1882),
Hoffmeisters gesammelte Nachrichten, S. 37.)
Rommel a. a. O. Bd. X, S. 159, Anmerk.
L>. 241, Anmerkg.
(Fortsetzung folgt.)
Unö noch einmal: Oie Hessen in Amerika!
Von Carl Pr es er.
Ob sie wohl jemals zur Ruhe kommen werden —
„die Hessen in Amerika"? Ich verliere den
Glauben daran. Zwar war ich der Meinung,
mit meinem „Soldatenhandel in Hessen" *) wenigstens
mancher Feder die Spitze abgebrochen zu haben,
aber auch das scheint vorerst nicht der Fall zu
sein, denn schon wieder liegt uns ein ziemlich
umfangreiches Buch von 250 Seiten vor, dessen
Inhalt zu einer Abwehr auffordert. Das Buch
führt den Titel:
„Die Hessen und die anderen deutschen Hilss-
truppen im Kriege Groß - Britanniens gegen
Amerika 1776 — 1783. Nach dem Englischen
von Edward I. Lowell, mit Autorisation
des Verfassers herausgegeben von O. C. Frei-
herr n v o n V e r s ch u e r, Major z. D. Braun-
schweig und Leipzig, Verlag von Richard
Sattler, 1901."
Freilich hat mein „Soldatenhandel" aus das
amerikanische Original dieses Buches noch nicht
von Einfluß sein können, denn schon in der Schrift:
,.American History from German Archives'* by
J. G. Rosengarten sand ich auf der ersten
Seite, in einem Vortrage vom 16. April 1900,
das Lowellsche Buch erwähnt, während meine
Schrift, so viel ich weiß, erst im Mai 1900 in
amerikanischen Kreisen bekannt wurde. Anders
dagegen verhält es sich mit der Übersetzung.
*) Marburg. N. G. Elwertscher Verlag.
Diese erschien erst kürzlich, konnte also, aus Grund
der neueren Litteratur, Berichtigungen oder Er-
gänzungen anfügen. Statt dessen empfangen wir,
ohne genügende Erklärung über Zweck und Ziel
— denn Bankrost „in Einzelheiten" zu ergänzen
kann wohl nicht ernstgemeint sein —, statt dessen,
sage ich, empfangen wir die reine Übertragung aus
dem Englischen eines Amerikaners, der uns nicht
etwa das Resultat neuer wertvoller amerikani-
scher Forschungen bietet, sondern im wesentlichen —,
doch ich will nicht vorgreifen, er mag selbst reden:
„Zwei Geschichtschreiber", sagt Mr. Lowell,
„sind unter denen, die diesen Gegenstand behandelt
haben, besonders hervorzuheben. Der eine ist
Fritz Kapp................ Diesem (!) Buche (!)
verdanke ich sehr viel............... Der andere
Geschichtschreiber ist Max von Elking Haupt-
mann in Sachsen-Meiningenschen Diensten . . . .
Seine zwei Werke stellen die Geschichte vom deut-
schen Standpunkte (!) dar. Wenn Hauptmaun
von Elking so viel Sorgfalt im Gebrauche des
Materials, als Fleiß in der Sammlung desselben
entwickelt hätte, so würden seine Werke sehr
wertvolle Beiträge zur amerikanischen (!) Ge-
schichte sein. Ich habe ihn oft (!) benutzen
müssen rc."
Was also haben wir Deutschen von einem
Buche zu erwarten, dessen Autor selbst einräumt,
sein Material aus den Quellen unserer eigenen,
viel genannten und allbekannten, Schriftsteller ge-
33
schöpft zu haben, und dabei nur bedauert, daß
die deutschen Michels vom deutschen Stand-
punkt e aus schrieben ! Was Kapp und Elk in g,
was die, in dem Buche reich in Anspruch ge-
nommene Baronin Riedesel, sowie Wieder-
hold, Ewald, Sen me und Andere gesagt und
geschrieben haben: das wissen wir doch längst,
auch ohne Mr. Lvwell, und die hier und dort
auftretenden Zugaben namentlich an „Biographie
und Anekdote", können diesen Vorwurf iu der
Hauptsache uicht beseitigen. Überdies ist dabei
der Ailtor nicht einmal objektiv. Er giebt z. B.
auch die von Sybelsche „Historische Zeitschrift"
als Quelle au, berichtet seineil Lesern aber nicht,
daß gerade Kapp darin, ans Grund weiterer
Studien, die ihil ehrende Beichte ablegte: „daß
er in den Generalstabs-Akten in Berlin eine
Fülle von Thatsachen gefunden habe, welche
die Regenteneigenschäfte n des Land-
grafen (Friedrich) viel h ö h e r ft e l l e n, als
er sie ihrer Zeit charakterisiert habe".
Endlich durste bei der Anführung Seumes der
Hinweis nicht fehlen, daß dessen Tiradeu an den
eigenen Schriften lind aufgefllndenen Briefen ver-
flüchtigt sind. Ging aber eine „unbefangene Ge-
schichtsschreibung" nicht so weit, dergleichen Be-
richtigungen aufzunehmell, so hätte sich der Autor
wenigstens bemühen sollen, and) aus den Geschichts-
quelleu des Landes zu schöpfen, über dessen
Regenten er schrieb. Statt dessen stellt er dem
Landgrafen Friedrich prüfungslos das übelste
Zeugnis aus und redet sich dabei schon auf den
ersten beiden Seiten so in Eifer, daß er plötzlich
in den Plural verfällt und von „den Landgrafen"
spricht, bei denen weder „Patriotismus noch Politik
eine Rolle" spielte. Und dieser Plural nebst un-
wahrem Anhängsel dient dann nur dazu, um aus
älterer Zeit das gar nicht mit der amerikanischen
Geschichte im Zusammenhang stehende Märchen
erzählen zu können, daß 1743 — also ein
Menschenalter vor dem geschitderten Kriege! —
„6000 Hessen gegenüber 6000 Hessen ge-
standen" hätten. Das muß, obwohl es nicht
zur Sache gehört, hier besonders abgethan werden,
weil es Air. Lowell nun einmal austischt, und
daraus leicht gefolgert werden kann, daß Hessen
gegen Hessen gekämpft hätten, und zwar unter dem
Landgrafen Wilhelm, dem „würdigsten Fürsten
Deutschlands", wie ihn kein geringerer als Friedrich
der Große nannte. Jener Vorwurf ist indessen weder
in der einen noch in der andern Form wahr! Alan
lebte damals in einer Zeit, wo die „unsägliche
Schwäche und Zerfahrenheit, welche das heilige
Römische Reich deutscher Nation im polnischen
Thronsolgekriege mit Frankreich an den Tag ge-
j legt, noch gestiegen war. Eine wirkliche
Gewalt, ein lebendiges Recht, ein Reich bestanden
j längst nicht mehr. Von einem vaterländischem
Sinne bei Fürst oder Volk war keine Rede. Das
Einzelinteresse beherrschte alles." Daneben war
die Politik der Großen schwankend sowie voller
Mißtrauen, und mit Recht konnte Friedrich der
Große, nach Formulierung der mit Österreich ver-
abredeten Konvention von Klein-Schnellenberg, am
9. Oktober 1741, dem Grafen Neipperg er-
klären, „Jeder müsse für sich selber sorgen".
Die praktische Anwendung dieser Worte ergiebt
sich ans den Ereignissen von dem Tage des Ab-
schlusses dieser Konvention bis zur verabredeten
i Übergabe der Festung Neiße und dem an diesem
! Tage, 2. November 1741, vom König an den
! Kurfürsten von Baiern gerichteten Briese. Ab-
: gesehen von allen sonstigen Vorgängen während
! dieses Krieges, bin ich der Meinung. daß allein
die Geschichte dieser kurzen Spanne Zeit uns jede
Berechtigung zu einem harten Urteil darüber
nimmt: daß, nachdem der genannte Kurfürst mit
Hilfe Frankreichs zur Kaiserkrone gelangte, nun
dem Ruse des neuen Reichsoberhauptes 3000
Hessen folgten, während sich schon 6000 Hessen
bei der englischen Armee befanden. Diese, 'die
sog. pragmatische Armee, stand indessen garnicht
aus deutschem Boden, sondern in den
Niederlanden. Und hier waren ganz andere
Interessen zu vertreten als dort, wo die 3000 Mann
zur Verwendung kamen. Dennoch wurde ver-
tragsmäßig ausbedungen, daß Kaiser Karl VII.
diese Truppen nicht gegen die Hessen in der eng-
lischen Armee führen durfte. 'Das war eine weise
Vorsorge seitens des Landgrafen, aber niemals trat
die Notwendigkeit ein, sie anwenden 51t müssen.
England fürchtete von Spanien und Frankreich
viel zu viel für sich, um die Armee iu den Nieder-
landen aus ihrer beobachtenden Stellung, und da-
mit aus ihrer Unthätigkeit. herauszunehmen lmb
nach Deutschland zu führen. Wie schwerwiegender
Natur die Interessen Englands aber hier waren,
das beweist uns Maria Theresia selbst, denn
als sie nach Jahr und Tag in ihrem Uumute
den englischen Gesandten am Wiener Hofe zu
endlichem energischen Handeln aufforderte, be-
gründete sie diese Aufforderung damit, daß sie
doch „aus Rücksichten für die englischen
J'n t e r e s s e n die g ü n st i g e n F r i e d e n s v v r -
schlüge Frankreichs abgewiesen habe".
Hiermit ist die Vertretung verschiedener Interessen
klar erwiesen. Erst als im Jahre 1743 auch
Maillebois mit seinem Heer nach Deutschland
marschierte und über den Rhein setzte, erst da gab
die englische Armee ihre beobachtende Stellung in
34
den Niederlanden aus. rückte ebenfalls nach Deutsch-
land, und es kam dann am 27. Juni 1743 bei
Dettingen zwischen Georg II. und den Franzosen
unter Noailles zu einer Schlacht, in welcher die
letzteren eine gründliche Niederlage erlitten. Das
zur englischen Armee gehörige hessische Corps lag
aber zu dieser Zeit in — Hanau.
Es ist nun die Frage, wo standen jetzt die
unter das Kommando des Kaisers gestellten hessi-
schen Truppen von 3000 Mann? Dies Corps
befand sich im Mai im Lager bei Marktl, es stand
am 7. Juni bei Ncuhausen. am 14. Juni am
Lech und zog am 20. Juni nach Rain. Am
22. Juni wurde dies verlassen, da sich die baieri-
sche Armee, folglich auch das hessische Corps, auf
das linke Lech-User zurückzog, und am 26. Juni
verließen die Hessen auch diese Stellung, um
im Verbände der Armee Karls VII. den Rückzug
ans Donauwörth anzutreten. Sie können also am
folgenden Tage, den 27. Juni, nicht bei Dettingen !
am Main gewesen sein und dem hessischen Corps I
im englischen Armeeverbande umsoweniger gegen-
über gestanden haben, als Hessen überhaupt hier
nicht am Schlachtselde erschienen. Nach der aus
diese Ereignisse folgenden Union zwischen dem
Kaiser, Preußen und Hessen re. traten alsdann
auch jene 6O0O Mann Hessen in den Dienst des
Kaisers über. Kurz: weder am 27. Juni 1743
noch zu einer anderen Zeit standen Hessen sich
gegenüber. Das „Jeder muß für sich selbst sorgen"
galt aber selbstverständlich auch für einen hessischen
Landgrafen, wenn er nicht „beim Friedensschlüsse
untergeteilt" sein wollte. So — nachgewiesen
und nachzulesen im vierten Bande der im Auftrag
des k. k. österreichischen Generalstabs herausgegebenen
Geschichte des österreichischen Erbfolgekrieges (Wien
1900). Daß übrigens in Berlin die Stellung
von 3000 Mann unter das neue Reichsoberhaupt
eher gern gesehen, als ein Stein des Anstoßes
war, das geht allein schon daraus hervor, daß
König Friedrich II. den Landgrafen Wilhelm
kurze Zeit vor der Katastrophe bei Dettingen
j nach Berlin eingeladen und dort „das alte Bünd-
I nis zwischen Hessen und Brandenburg erneuert
hatte".
(Schluß folgt.)
Dr wean-erowed.
(Hinterländer Mundart.)
Ohm Owed eam Weander, eam Steabche d'rheem.
To hun ich mei Lost ean mei ganze Bläsier,
To setze die Weisleu ean strecke, ean spean,
Ean schneatzest die Mannsleu, ean luj ernst die Kean —
D'r Boarer leest 's Mierche vom Nuthkäbbche fier.
Ihr sinnt m'rsch g'gläwe, wüi sillt 's ois wähl gieh.
Wann emol ois Bauern kenn Weander mie kiem.
Wann all doas G'mergel3) bei Sonn'schei ean Rah st —
Mit Sichel entt Seaste st. mit Bluck st ean met Wah st,
Bei Sootzeit ean Ernte, ke Enn hüi mie niem.
Da wean m'r — verzeih m'r, ach Hergoatt, mei Sinn —
Da wean m'r woarhaftig noach inner d'm Vieh,
M'r kieme kenn Owed z'm Schwätze beineh —
's hüälte ke Schronn st mie. ke Buch wier z' seh,
Eau kinnt m'r ke Stonn mie z'm Nachher g'gieh.
Ean da noach d's Schleamste — doas will ich uch sah —
Doas wier noach d's Schleamste vo allem d'rbei,
Na nz Hausen.
Da lernt jo kenn Borsch hüi ke Mäüche mie kenn.
Da hüt jo d's ganze Gschäft baal e Enn,
Da wier bei d'r Bauern d's Freie v'rbei.
Eam Weander, d'r ezige Zeit ean d'm Johr.
Deß emol die Bauern beinaaner eam Haus.
Da komme die Bürsch'cher eau hu sich nau oh st,
Ean gucke baal häi, ean 's gucke baal do —
Eau gucke fiern Sommer die Weiwer sich aus.
Drim low' ich d'r Weander met Froaft eau met Rouh 'st,
's eas doach vom Johr nu d's wichtigste Steck,
He breangt ois fiers Froijohr die Kraft ean die Lost.
Ean manchem häßbobbernde 'st Herz ean d'r Brost
Fier'n Sommer d's Leawens d's bloihenste Gleck.
st schnitzen, st lauschen, st rastlose, angestrengte Arbeit,
st Regen, st Sense, st Pflug, st Wagen, st es heilte keine
Schrunde (Riß an den Händen rc.), st haben neue Kleider
angezogen, 'st Ruhe. ") heiß klopfenden.
- Heinrich Naumann.
35
Richard Jordan f.
m 6. Januar d. I. verschied drei Tage vor
Vollendung seines 44. Lebensjahres der den
Lesern des „Hessenland" als einer der edelsten und
begabtesten Dichter hessischer Abkunst bekannte
Richard Jordan. Er starb zu Charcas in dem
mexikanischen Staate San-Luis-Potosi. woselbst er
seit Jahresfrist eine ihm gehörige Silbermine be-
trieb und wohin er von der Hauptstadt Mexiko
aus mit seiner ans angesehener mexikanischer Familie
stammenden Gemahlin und seinen zwei Töchtern
übergesiedelt war. Noch wenige Monate vor seinem
durch ein Herzleiden und nach kurzem Krankenlager
erfolgten Ende erschien in der „Deutschen Zeitung" ,
der Hauptstadt Mexiko die letzte Dichtung Richard
Jordans, ein Gedicht, in welchem er der gegen- j
wältigen Bedrängnis des Burenvolkes ergreifenden
Ausdruck gab. Eine Würdigung des thatenreichen
und litterarisch bedeutsamen Lebens des Verblichenen
brachte bereits vor einer Reihe von Jahren die
„Beilage" der in München erscheinenden „Allge-
meinen Zeitung". Es kamen daselbst in den Jahren
1893 und 1894 zwei mit dem Leben und den
Leistungen Richard Jordans vertraute Aufsätze
zum Abdruck, deren erster die von Richard Jordan
unter dem Titel „Spanische Lieder" gelieferte
deutsche Übertragung der „Rimas" des Spaniers
Gustavs Adolfo Becquer in gebührender Weise
anerkannte, während der zweite Aussatz die von
Richard Jordan selbst stammenden „Lieder vom
Stillen Ozean" litterarisch zur Geltung brachte.
Mit diesen zwei Büchern hat Richard Jordan, der
überdies als Sohn der verdienten Dichterin und
Schriftstellerin Henriette Keller-Jordan und als
Enkel des insbesondere in Kurhessen unvergeßlichen
Sylvester Jordan erhöhtes Interesse beansprucht,
sich in seiner deutschen Heimat ein dauerndes
München, 28. Januar 1902.
Denkmal gesetzt. Es wäre einer eingehenden Dar-
stellung wert, ans welchem Wege der Verstorbene
zu diesen eigenartigen und bereits von den ver-
schiedensten Seiten anerkannten Leistungen gelangte.
Verfasser dieser Zeilen, ein langjähriger Freund
des Verblichenen, glaubt sich an dieser Stelle daraus
beschränken zu müssen, das obengenannte, die Buren
betreffende Gedicht als letzten Geistesgrnß des Ver-
storbenen den Freunden desselben in dessen hessischer
Heimat mitzuteilen. Das Gedicht lautet:
Gottvater hilf!
Gottvater sieh's: Nie hat ein Volk ertragen
Sein Mißgeschick und seines Kampfes Qual
So stolz, so stark, so ohne wehzuklngen.
Als wie das Bnrenvolk dort in Transvaal;
Auch keins hat je. so weit der Himmel blaut.
Wie jenes Volk, auf Dich, o Gott, vertraut.
Verlaß es nicht, wie's die verlassen haben.
Die Du mit Macht auf Erden hast bestellt,
Die ihres edlen Vorrechts sich begaben,
Der Schwachen Schirm zu sein auf dieser Welt:
Der Freiheit Recht, für das sie sich verbürgt.
Dort in Transvaal wird's einspruchslos erwürgt.
Die Menschheit sieht's, sie bebt in Wut zusammen,
Und aus Millionen Herzen steigt der Schrei:
O Himmel, sende deines Zornes Flammen,
Steh Du — o Gott — dem Burenvolke bei,
Du brichst der Habgier Macht, wie Sturm das Schilf,
Gottvater, eh's zu spat, Gottvater hilf!
Noch verdient erwähnt zu werden, daß die beiden
genannten Bücher Richard Jordans: „Spanische
Lieder" itiib „Lieder vom Stillen Ocean" im
Verlag von Otto Hendel zu Halle a. d. S. in den
Jahren 1893 und 1894 erschienen sind.
k)r. meck. Paul Lesdorps.
Der tmtere Appell.
Novellette von E. Mentzel.
(Fortsetzung statt Schluß.)
Von dem Augenblick an, da Peter als Bewerber
Stanzchens auftrat, und der Vater die Tochter
mit Gewalt zu dessen Gunsten stimmen wollte, floh
der Friede aus dem Hause, begann für die letztere
und die Mutter ein wahres Martyrium.
Niemals hatte Meister Müller im Sieben den
eignen Willen einer Frau zu achten oder zu be-
kämpfen gehabt. Er wußte es garnicht anders, als
daß in wichtigen Dingen nur Männer die Ent-
scheidung trafen, die Frauensleute aber parieren
mußten. In dem dunklen Gefühl, einer neu-
modischen und sicher gefährlichen Auffassung der
Dinge gegenüber zu stehen, wurzelte nach dem ent-
schiedenen Widerstande der Tochter der Zorn Meister
! Müllers immer tiefer. Ließ sich doch der sonst im
Grunde herzensgute Mann sogar zu Grausamkeiten
hinreißen, um in dem immer heftiger werdenden
Kampfe Sieger zu bleiben.
Je lauter aber oft der Vater schrie, je zorniger
er aufstampfte, desto ruhiger und fester wurde
36
Stanzchen. Wie Sturmgebrause rauschten des
Vaters Drohungen und Scheltworte eindruckslos
an ihrem Ohre vorbei, sie hörte nur die Mahnungen
der inneren Stimme, die ihr jetzt vernehmlicher und
öfters den Rückertschen Vers zuries:
„Vor Jedem steht ein Bild, deß. das er werden soll.
Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll."
Wie es in kleinen Landstädten zu gehen pflegt,
wo jeder des Andern Verhältnisse genau kennt und
sich durch alle möglichen Umstünde für berechtigt
hält, in sie einzugreifen, mischten sich auch wieder
eine große Anzahl Leute in den Streit zwischen
Vater und Tochter.
Die einen suchten ihn mild zu stimmen und
machten ihn aus den großen Abstand der Jahre
zwischen dem sechzehnjährigen Stanzchen und dem
um dreißig Lenze älteren Schreinermeister Peter
aufmerksam, die anderen jedoch meinten, bei den
Alten sei man gut gehalten. Sie erinnerten an
Müllers eigene glückliche zweite Ehe und verstanden
es noch, durch allerlei Bemerkungen das Feuer so
gut zu schüren, daß der erregte und verblendete
Mann znm Äußersten gereizt wurde.
Ja, ja, Stanzchen erfuhr es in bitterster Weise,
welche grausamen vernichtenden Gedanken aus dem
Herzen sogenannter ehrbarer Leute aufsteigen können,
wenn es gilt, ein armes ringendes Menschenkind,
dem die Natur seine Ziele vorgeschrieben, in Kämpfe
zu stürzen oder durch die Wasser der Trübsal zu
treiben. Wer mischte sich nicht all ans guter Meinung
in die heikle Angelegenheit! Wer trug nicht in
frommem Glauben Holz zu dem Scheiterhaufen herbei,
ans dem die Entschlüsse der kühnen Empörerin gegen
männliche Obergewalt in nichts Verladern sollten!
Jedoch Stanzchen blieb in allen Stürmen un-
beugsam. In ihr steckte ein gutes Stück gesunder
Selbstsucht. Sie hatte in der kleinen Stadt in
manch verkümmertes Frauenleben tiefen Einblick ge-
than. sie kannte, obwohl noch jung, die Tragödie
manches verschwendeten und verbitterten Mädchen-
daseins und schauderte bei dem Gedanken an ein
ähnliches Los. Lieber wollte sie sterben, als unter
harter Bevormundung aus Furcht ihr Heiligstes
dem Moloch überlebter Anschauungen zum Opfer
bringen! —
Jeden Morgen und jeden Abend versammelten
feste Vorsätze Stanzchens Widerstandskräfte und
gaben ihr neuen Mut, wenn ihr trotz allem in heißer
Kindesliebe am Vater hängendes Herz in dem
Streite mit ihm zu erliegen drohte.
Die gereizte gegenseitige Stimmung entlud sich
eines Tages in einem furchtbaren Auftritt. Kaum
noch Herr über sich, erklärte Meister Müller, die
Tochter müsse sich entweder seinen Wünschen fügen
oder sofort ans dem Hause.
Stanzchen fühlte, daß von dem Verhalten in
dieser Stunde ihre ganze Zukunft abhing. Ein
wahrer Heldenmut kam über sie. Trotzdem jeder
Nerv an ihr bebte, erklärte sie dem Vater mit
eiserner Ruhe und Festigkeit, sie würde weder
den Schreinermeister Peter noch einen Anderen
heiraten:
„So?" rief der Mann außer sich, „woas hoast
De dann sonst vor?"
Keineswegs eingeschüchtert durch den drohenden
Klang der Worte, versetzte das Mädchen mit der-
selben Festigkeit wie vorhin: „Das werde ich Dir
jetzt offen sagen, Vater. Ich will mich der Kunst
widmen und, wenn es mir gelingt, eine tüchtige
Bühnensängerin werden."
Meister Müller fuhr zurück. Einen Augenblick
schien er das Ungeheuerliche nicht fassen zu können,
alsbald jedoch trieb ihm der Zorn das Blut ins
Gesicht, verlor er den letzten Rest von Selbst-
beherrschung. In sichtlicher Angst trat Frau Betty
: eiligst zwischen Vater und Tochter und versuchte,
des Mannes Händen zu umklammern. Dieser machte
i sich jedoch nach kurzem Ringen frei, schlenderte die
Gattin beiseite und wollte sich ans die Tochter
stürzen. Zur Ausführung dieses Vorhabens aber
war es zu spät. Gerade noch im rechten Augen-
blick schlüpfte Stanzchen hinaus. Wie betäubt eilte
sie durch die Hinterthüre über eine kurze Treppe
I in den Garten. Mit fliegenden Pulsen lies sie über
einige Wege und blieb dann tief aufatmend am
nahen Gitterthore stehen.
Indessen war Meister Müller an ein Fenster ge-
! treten und hatte die Flüchtige, mit den Blicken ver-
! folgt. Die Augen von Vater und Tochter trafen
sich noch einmal mit gegenseitig entschlossenem Ans-
druck. Dann hob der Mann die Rechte drohend
I empor und rief mit seiner kräftigen Stimme so
I laut, daß es weit hinaus schallte: „Führ Dein
! sauwern Plan nor gleich aus, Don Ausbund ans
: gonrer Oart, Don! Werd' 'ne Komödiantin — bist
! ja doch zu nix besser nutz!"
Trotz der harten Worte wallte in diesem ent-
! scheidenden Augenblick Stanzchens Liebe zu dem
Vater heiß aus. Es war ihr zu Mut, als dürfe
sie nicht hinweg, als müsse sie umkehren, sich ihm
zu Füßen werfen und ihr kühnes Geständnis wider-
rufen. Allein plötzlich erhob sich heftiger Wider-
spruch in ihrer Brust; er lähmte erst durch
leise, dann immer lauter werdende Zurufe ihre
Schritte.
„Fort!" klang es immer und immer wieder,
„fort! Der rechte Augenblick ist gekommen,
Stanzchen! Du darfst nicht mehr zurück, wenn
! Du Dich wirklich frei machen und Tein Ziel erreichen
i willst!" —
37
V.
Niemals hat es Stanzchen bereut, der inneren
Mahnung gefolgt zu sein. Freilich hatte sie noch
schwere Tage zu durchkämpfen, ehe sie damals die
Vaterstadt verließ und nach strenger Abhängigkeit
mit freier Selbstbestimmung und eigner Ver-
antwortung die ersten Entschlüsse für ihre nächste
Zukunft fassen durfte.
Der Abschied von der geliebten Mutter und dem
Brüderchen, die sich beide gar nicht von ihr trennen
konnten, erfüllte ihr Herz nnt namenlosem Weh
und rüttelte noch einmal an ihren Vorsätzen. Um
sich und die Anderen vor neuen leidvollen Erregungen
zu schützen, faßte sie rasch den Entschluß, zu dem
verabredeten letzten Zusammensein nicht mehr zu er-
scheinen, der Mutter vielmehr als letzten Gruß einige
Zeilen zu senden.
Wie sehr Frau Betty Müller an der Stieftochter
hing, wie fest sie an das ungewöhnliche Talent des
Mädchens glaubte, bewies eine von ihr ausgeführte
Liebesthat, deren Kühnheit eigentlich im grellsten
Widerspruch zu ihrer ursprünglich schüchternen Natur-
stand. Um Stanzchen vor Not zu schützen und ihr die
ersten Schritte zu ihrer Ausbildung zu ermöglichen,
verschaffte sie sich auf ungemein schlaue Weise den
Schlüssel zum Schreibtisch ihres Mannes und nahm
ein Sparkassenbuch über siebenhundert Mark heraus.
Die Enkelin hatte dasselbe von der Großmutter
geerbt, und diese äußerte noch kurz vor ihrem Ende,
daß die Summe bestimmt sei, Stanzchen den Weg
für ihren künftigen Berus zu ebnen. Mehr als
ein Jahr verging, ehe Meister Müller etwas von
dem Abhandenkommen des Sparkassenbuchs merkte.
Da seine Tochter wegen ihrer bedeutenden Stimme
von Ansang an eine Freistelle am Konservatorium
und aus einer Stiftung weitere Unterstützungen
erhielt, machte er sich schon deshalb keine Sorgen
mehr um- die Entartete, weil er vermutete, seine
Frau würde diese schon genügend unterstützen.
Im Stillen hatte er auch gar nichts mehr dagegen
einzuwenden, ja, er vergaß sogar öfters absichtlich,
das Kästchen mit den Goldstücken zu verschließen,
und ließ nicht das geringste merken, wenn später
eins oder zwei davon fehlten.
Um sein Ansehen zu retten, wollte Meister Müller
zwar die junge Frau über ihre dreiste eigenmächtige
Handlungsweise ganz gehörig vornehmen, allein es
fehlte seinen Worten diesmal doch der rechte innere
Nachdruck. Seitdem er einmal einen Prüfungs-
bericht des Konservatoriums in einer bedeutenden
Zeitung las und die glänzenden Stimmmittel und
außerordentlichen musikalischen Anlagen seiner
Tochter besonders hervorgehoben sah, wurde es ihm
oft recht unbehaglich bei dem Gedanken, daß sein
Kind, ein doch immerhin recht vermögendes Mädchen,
ganz ans fremde Hülse angewiesen sei. Manchmal
drückte den Mann dies Bewußtsein derartig nieder,
daß er oft lange in sich gekehrt und schweigend
in seinem Lehnstuhl saß oder in kurzen Selbst-
gesprächen seinem Herzen Lust machte.
Aus dem Inhalt derselben erfuhr auch Frau
Betty den allmählichen Wandel im Herzen ihres
Mannes. Sie war mittlerweile viel klüger ge-
worden, fühlte ganz genau heraus, daß es mit dem
Zorn des Meisters nichts weiter ans sich habe, und
ließ keinen seiner Vorwürfe gelten. Sie behauptete
einzig und allein ihre Mutter-pflicht erfüllt zu haben
und wies weiter aus deu letzten Wunsch der ver-
storbenen Großmutter hin, deren Absicht es doch
gewesen war, das Geld für denselben Zweck zu ver-
wenden. Als der Mann merkte, daß seine Frau
das Übergewicht behielt, schritt er brummend hinaus
und schlug die Thür hinter sich ins Schloß. Er
wußte sich nicht anders zu Helsen und glaubte
wenigstens seine Manneswürde dadurch gewahrt zu
haben.
In den ersten Jahren konnten sich Mutter und
Tochter nur durch Vermittlung Anderer Nachrichten
von einander zukommen lassen. Später jedoch
kamen Stanzchens Briese offen ins Haus, erzählte
Frau Betty sogar ihrem heranwachsenden Sohne
im Beisein des Vaters den Inhalt derselben. Meister-
Müller sagte nie ein Wort dazu, als aber nach
Stanzchens Abgang vom Konservatorium ein Brief
aus Paris die Mitteilung brachte, eine reiche Dame
habe ihr einige tausend Mark geliehen, um sich dort
bei einer berühmten Gesangsmeisterin noch weiter
auszubilden, konnte sich der am Schreibtisch stehende
Alaun des Ausrufs nicht enthalten: „Nee, nee, nee,
so ^en Frauenzimmer! Worim ist doas nu keen
Mann worn? Kurasche hoat's doch für zehn!" —
Obwohl Stanzchen nie etwas davon schrieb, er-
wuchsen ihr neben reinen- Freudeil doch nach und
nach auch schwere Sorgen. Der Aufenthalt in Paris,
namentlich aber die teuren Stunden, verschlangen
große Summen und nötigten sie, ihre Gönnerin
uin einen weiteren beträchtlichen Zuschuß zu bitten.
Die Mutter hatte sie zwar über die zu ihren
Gunsten umgewandelte Stimmung des Vaters ans-
! geklärt und außerdem versichert, derselbe würde
jetzt gewiß keine Umstände mehr machen, ihr mit
einer Summe zu Helsen, allein zu einer solchen
Bitte konnte sich Stanzchen nicht entschließen. Sie
fühlte, daß sie stolz bleiben müsse, um die mühsam
errungene Achtung des Vaters nicht wieder zu er-
schüttern. Hatte sie soviel ohne seinen Beistand
erreicht, so wollte sie jetzt auch aus eigener Kraft
ans Ziel kommen. Gelang ihr dies nicht, starb sie,
ehe dasselbe erreicht war, so konnten ihre Schulden
ja durch ihr mütterliches Vermögen gedeckt werden.
38
Das Studium in Paris gab der Stimme
Stanzchens und ihrer gesamten künstlerischen
Ausbildung den letzten seinen Schliff. Sie fand
schnell eine Stellung als jugendlich - dramatische
Sängerin an der Oper einer mitteldeutschen Stadt,
wo sie zwar eine minder glänzende Gage, aber
dafür eine Reihe bedeutender Partieen zu singen
bekam, was einstweilen das Wichtigste für sie
war.
Ta sich die junge Künstlerin einen Teil ihrer
Garderobe selbst anschaffen mußte und daneben ihre
Schulden zu tilgen hatte, waren die folgenden
Jahre keineswegs leicht für sie. So wurde sie
fast dreiundzwanzig Jahre alt, ehe sic sich mit freiem
Herzen über ihre Erfolge freuen konnte. Dann
jedoch überhäufte sie das Glück wahrhaft mit köst-
lichen Spenden. Nach einer Vorstellung des „Lohen-
grin", in der die Sängerin die Elsa unter außer-
ordentlichem Beifall gab, wurde sic von dem In-
tendanten der Oper in einer großen Stadt für diese
Kunstanstalt sofort engagiert. Die Bedingungen
des Vertrags waren glänzend für sie. Seitdem
wirkte die Künstlerin mehrmals in Bayreuth mit,
ist sie auch in großen Konzerten mit Erfolg aus-
getreten und hat als Gast an den bedeutendsten
deutschen Bühnen gesungen.
Nachdem sie kaum Primadonna der großen Oper
geworden war, wurde sie von einflußreichen Persön-
lichkeiten ihrer engeren Heimat gebeten, in einem
Konzert zum Besten der verarmten Einwohner eines
vollständig niedergebrannten Dorfes unweit ihrer
Vaterstadt mitzuwirken. Sofort sagte die nun
unter dem Namen Konstanze Eberhard auftretende
Sängerin ihren Landsleuten zu. Gleichzeitig schrieb
sie an ihre Mutter und bat diese, den Vater zu
veranlassen, das Konzert zu besuchen und ihr nach
demselben Gelegenheit zu einem Wiedersehn zu
geben.
(Schluß folgt.)
---^><<4----
Ritoriulk,
© Blume der Haide!
Du dürstest und der ©ucll im Thäte weinet.
Gefesselt liegt er dort zu eurem Leide.
© Blume der Liebe!
Dein Auge späht und meines nach dem freunde.
wird auch das deine dir von Thränen trübe?
w i e ii.
-»
Aus alter ui
Der Jungfrrnraub durch Ritter Holzappel
vom Vetzberg*) (1476).
Auf der Burg zu Diüenburg im Nassauerland
wohnte vor mehr als 400 Jahren Gras Johann IV.
von Nassau-Dilleuburg. Er hatte ein liebreizendes
Töchterlein, zu dem Ritter Holzappel vom Vetzberg
in heißer Liebe entbrannte. Vergebens bestürmte
der Vetzberger den Grasen mit Bitten, das Edel-
fräulein aus seine Burg heimführen zu dürfen.
Nicht vermochten die Thränen der Jungfrau und
das Geständnis ewiger Treue und Liebe zu dem
teueren Mann auf der Burg im Lahnthal das
Herz des Alten zu rühren, der sein Töchterlein
*) Jetzt Burgruine nordwestlich von Gießen, im Kreise
Wetzlar.
© Blume der Treue!
tNeiu Trost bist du, denn wo du blühst im Herzen,
verwandelt mir die Liebe sich in Reue.
© Blume der Haide!
Ruht mein Geliebter wieder mir am Herzen,
Daun trinkest du die Thränen meiner Freude.
fl. Crabert.
•<S4>-----------
> neuer Zeit.
für einen Grasen, aber nicht für einen wenig be-
güterten Edelmann bestimmt hatte. Da gute Worte
nichts halsen, so suchte Holzappel vom Vetzberg sich
mit Gewalt in den Besitz des Edelfräuleins zu
setzen. Er sammelte seine Mannen, und im scharfen
Trab ging's über die Höhe des Dünsbergs ins
Dillthal. Durch List gelang es, die Jungfrau
von der Burg zu entführen, und heimwärts ging's
bergauf, bergab mit der kostbaren Beute. Doch
kaum war das Edelfrüulein entführt, als der alte
Graf die Frevelthat erfuhr. Mit seinen Getreuen
fliegt er im Sturme daher, bietet unterwegs das
Volk in den Dörfern aus, um dem Räuber nach-
zujagen. Am Fuße des Vetzbergs werden die
Flüchtlinge eingeholt. Es entspinnt sich ein heißer
Kamps. Trotz der tapfersten Wehr, trotz der
innigsten Gebete um Sieg für den Geliebten, die
die Jungfrau zum Himmel entsendet, muß die
kleine Schaar der Vetzberger der Macht der Dillen-
Aus Heiurat
Hessischer G e s ch i ch t s v e r e i n. Der Verein
für hessische Geschichte und Landeskunde in Kassel
hielt Montag, den 20. Januar, im Cafö Merkur
einen zahlreich besuchten wissenschaftlichen Unter-
haltungsabend ab. An demselben war non
weittragendem Interesse ein Vortrag des Herrn
Di'. Schwarzkopf „Über die hessischen Fahnen
und Standarten im Unterstock der Kasseler Bilder-
galerie". Diese hessischen Feldzeichen befinden sich
gegenwärtig in Berlin, um von sachkundiger Hand
vor der allmählichen Auflösung geschützt zu werden.
Nun entsteht aber die Frage: wo finden die Fahnen,
wenn sie wieder nach Kassel zurück gelangt sind,
einen genügenden Aufbewahrungsraum? Das seither
dafür bestimmte Zimmer im Unterstock der Gemülde-
gallerie ist nicht mehr ausreichend, da die Fahnen
nunmehr in anderer mehr Platz erfordernden Weise
aufgehängt werden müssen. Als den passendsten Raum
dafür hat Herr Dr. Schwarzkopf den Mittelbau
des Orangerieschlosses in der Karlsaue bei Kassel
vorgeschlagen, besonders auch im Hinblick darauf,
daß aus dem vor dem Schlosse liegenden Bowling-
green so manche Parade, manche Revue von den
hessischen Fürsten abgehalten wurde, und die hessischen
Regimenter sich gerade an dieser Stelle oft im vollem
Glanze ihrer kriegerischen Schönheit und ihrer
militärischen Leistungsfähigkeit zeigen dursten. Den
Mittelbau des Orangerieschlosses hält Di-. Schwarz-
kopf überhaupt als die geeignetste Stelle für ein
kleines hessisches Arnicemusenm. wie ein solches von
allen hessischen Geschichtssrennden schon vielfach ge-
wünscht worden sei. Durch die Mnnifizenz der
Königlichen Regierung, führte der Redner weiter
aus, sei bereits eine zahlreiche Sammlung althessischer
Waffen und Uniformen käuflich erworben worden,
daran reihten sich die alten kostbaren Bestände, und
ein Appell an die althessischen Adels- und Offiziers-
familien, sowie an die Liebhaber und Sammler
hessischer Waffen und Uniformen würde jedenfalls
noch viel wertvolles Material zusammenbringen.
Sodann verbreitete der Redner sich noch über den
höfischen und militärischen Charakter der Fahnen
und legte ein in der Schloßbibliothek zu Wilhelmshöhe
aufgefundenes Heft mit sauber ausgeführten Hand-
zeichnungen althessischer Fahnen aus der Zeit
Friedrichs II. vor, es sind dies die Feldzeichen des
Leib-Füsilierregiments, sowie der Regimenter Land-
bnrger erliegen. Die Jungfrau wird zurückgeführt
und muß hinter düsteren Klostermanern ihr kühnes
Wagnis und ihre verwegene Flucht bereuen.
und Freurde.
graf, Prinz Karl, von Knyphausen, von Ditfnrth
und Jung Loßberg. Da die Jnsanteriesahnen ans
der Zeit Friedrichs II. fast gänzlich fehlen, so
erscheint dies Heft um so wertvoller. Mit Be-
sprechung dieser Zeichnungen beschloß Herr Di-.
Schwarzkopf seinen hoch interessanten Vortrag.
Armeebefehl. Am 27. Januar hat Seine
M st j e ft ä t der Kaiser einen Armeebefehl erlassen,
nach welchem die bisherigen „H e s s i s ch e n" Truppen-
teile, die Infanterie-Regimenter 80-83, dieHusaren-
Regimenter 13 und 14, das 11. Jäger-, II.Pionier-
11. Train-Bataillon, sowie die Feldartillerie-Regi-
menter 11 und 47 und das 2. Bataillon des Fuß-
Artillerie-Regiments 10 (Nieder-sächsisches) von jetzt
ab die Bezeichnung „Kurhessische" erhalten. Be-
reits am 27. Januar 1899 war bekanntlich durch
eine Allerhöchste Kabinets-Ordre verfügt worden, daß
als eins angesehen werden sollten: von den kur-
hessischen Truppen das Leibgarderegiment mit dem
Füsilierregiment Gersdorff (Nr. 80), das 1. In-
fanterie-Regiment (Kurfürst) mit dem 1. Hessischen
Infanterie-Regiment Nr. 81, das 2. Infanterie-Re-
giment (Landgraf Wilhelm von Hessen) mit dem
2. Hessischen Infanterie - Regiment Nr. 82, das
3. Infanterie-Regiment (Prinz Friedrich Wilhelm von
Hessen) mit dem 3. Hessischen Infanterie-Regiment
von Wittich (Nr. 83). das Jäger- und das Schützen-
Bataillon mit dem Hessischen Jäger-Bataillon Nr. 11,
das Artillerie-Regiment mit dem Hessischen Feld-
artillerie-Negimcnt Nr. 11, die Pionier-Kompagnie
mit dem Hessischen Pionier-Bataillon Nr. 11 und
die Train-Abteilung mit dem Hessischen Train-
Bataillon Nr. 11. Zugleich wurden die vor-
genannten preußischen Truppenteile auch zu Trägern
der Geschichte der kurhessischeu Regimenter bestimmt.
UuiversitätsNachricht. Dem Realschnl-
direktor Dr. Franz Buchenau in Bremen ist
von der Universität Marburg anläßlich feines
fünfzigjährigen Toktorjnbilüums das Ehrendoktor-
diplom verliehen worden.
Adam Trabert. In Ergänzung der biographi-
schen Angaben in Nr. 2 des „Hessenland" können
wir über die Famitienverhältniffe unseres treuen
Mitarbeiters Adam T r a b e r t in Wien noch das
— 40 —
Folgende mitteilen. Adam Trabert vermählte sich
zu Frankenberg in Knrhessen am lO. September
1859 mit Fräulein Elise Susette Henriette
H a u m a n n, Tochter des Kurfürstlichen Husaren-
offiziers, späteren Zollamtsbuchhalters Jakob Hau-
mann, eines hochgefeierten und von den Franzosen
während der Okkupation schwer verfolgten Patrioten.
Sie starb am 19. September 1887 zu Amorbach
in Untersranken, wo sie bei den Heilquellen Ge-
nesung vvn einem längeren Leiden gesucht hatte.
(Siehe das erschütternde Gedicht: „Am Friedhof
steht's zu Amorbach", „Hessenland" 1887, S 325.)
Sieben Jahre später verheiratete Adam Trabert
sich wieder. Seine jetzige Lebensgefährtin ist Amalie
geb. W i r n i tz e r, Tochter eines österreichischen,
in Ungarn gestorbenen Finanzbeamten. Sie ist ge-
boren zu Wiesmath in Oberösterreich und war, als
sie der Dichter kennen lernte, Lehrerin an einer
höheren Privat-Erziehungs-Anstalt für Töchter.
Tie Trauung fand zu Atzgersdors bei Wien am
7. April 1894 statt. Der einzige Sohn Traberts,
Dr. Wilhelm Trabert, ist gegenwärtig Professor
an der Universität Wien (Siehe „Hessenland"
1901, S. 315.)
'*x
Personalien.
Verliehen: der Rote Adlerorden 2. Klasse mit Eichen-
laub: Konsistorial-Präsident von Altenb ockum in
Kassel;
der Rote Adlerorden 3. Klasse mit der Schleife: Geh. j
Regierungsrat und Cymnasialdirektor a. D. Göbel in
Fulda; der Rote Adlerorden 3. Klasse: Oberverwaltungs- j
gerichtsrat F. W. Coester in Berlin;
der Rote Adlerorden 4. Klasse: Rechnungsrat Arts,
Regierungs- u. Banrat Beckmann, Rittmeister Freiherr
von Berlepsch, Regierungs- nnd Forstrat Brinkmann,
Rechnungsrat Dierks, Regierungs- und Landesökonomierat
Kloster m a n n , Postmeister Lipke. Postrat M örs -
b e r g e r, evang. Militär-Oberpfarrer N o a ck, Eisenbahn-
direktor Schmidt, Postdirektor Schreiber, Rechnungs-
rat Uhen und Landesbankrat Freiherr Wolfs von
G u d e n b e r g in Kassel; Hauptmann von E s ch w e g e
und Professor Dr. Kayser in Marburg; Steuerinspektor
und Katasterkontroleur Fetz und Rechnungsrat Meyer
in Hanau; kathol. Pfarrer Herzig in Rasdvrf; Rechnungs-
rat nnd Rentmeister Klusmann und Metropolitan
Nothnagel in Rotenburg a. F.; Domänenrat Moll
in Fulda; Landrat von Schwertzell in Ziegenhain;
Landes-Bauinspektor Py lau der in Hersfeld;
der Königliche Kronenorden 2. Klasse: Kammerherr und
Landeshauptmann Freiherr Riedesel zu Eisen buch
und Generalsnperintendent Werner zu Kassel;
der Adler der Ritter des Königlichen Hausordens von
Hohenzollern: Geh. Regierungs- und Schulrat Stern-
kopf in Kassel;
der Adler der Inhaber des Königlichen Hausordens
von Hohenzollern: den Lehrern B e r g e in Körle, Beyer
in Wabern, Weigand in Kempfenbrunn;
die Rote Kreuz-Medaille 2. Klasse: Staatsminister,
Oberpräsident Dr. Gras von Zedlitz-Trützschler in
Kassel;
die Rote Kreuz-Medaille 3. Klasse: Postdirektor Schlüter,
verwittwete Frau Landrat von M a r c a r d und Fräulein
W a l l st a b in Kassel; Schuldirigent Dr. Kümmel in
Rotenburg a. F.; Geh. Oberregierungsrat Eh-. Stein-
metz in Marburg; Fabrikant Wahlxr in Fulda;
Hauptlehrer Becker iu Kirchhain;
das Fürstlich waldeckische Verdienstkreuz 3. Klasse: Geh.
Postrat Schrein er und Regierungs- und Baurat Beck-
m a n u in Kassel; Geh. Archivrat Dr. Könnecke in
Marburg;
dem Rcgierungshauptkassen-Oberbuchhalter Horst und
dem Regierungssekretär R e i n s zu Kassel der Charakter
als Rechnungsrat.
Verseht: Amtsgerichtsrat T r i e s e n in Schenklengsfeld
an das Amtsgericht zu Witzenhausen; Gymuasial-Oberlehrer
Dr. Wolscht in Rinteln an das Gymnasinm zu Friede-
berg N.-M.
Geboren: ein Sohn: wissenschaftl. Hülfslehrer
F. Michels nnd Frau Alice, geb. Heussy (Kassel,
21. Januar); — eine Tochter: Kaufmann Philipp
Bechtel und Frau Kathinka, geb. Landgrebe
(Hanau, 18. Januar).
Gestorben: verw. Frau Lehrer Soeffker, geb.
Pomy, 70 Jahre alt (Kassel, 15. Januar); Frau Marie
von Sachs, geb. Schmidt (Marburg, 19. Januar);
Fräulein Do r o thea Amelung, 76 Jahre alt (Rauschen-
berg , 19. Januar); Dr. Eduard C r a m e r, außer-
vrdentl. Professor an der Universität Heidelberg (Aachen,
19. Januar); Frau Anna Hoffmauu, geb. Hoff-
man n (Fulda, 20. Januar): Frau Major Adeline
von Goldenberg, geb. Henrichs (Frankfurt a. M.,
20. Januar); Frau Kouradine Wrck, geb. Urban
(Dalbke i. W., 22. Januar).
Briefkasten.
A. T. in Wien. Besten Dank für den zum Abdruck
in voriger Nummer leider zu spät eingetroffenen Beitrag,
der wie alle seine Vorgänger sehr erwünscht kam und dem
hoffentlich noch recht viele folgen werden.
P. T. in München. Verbindlichen Dank und höfliche
Empfehlung.
M. v. E. iu München. Mit bestem Dank angenommen.
Brief folgt.
M. B. in Kiel. „Wechselwirkungen" wird in Kürze ge-
bracht werden.
6. G. in Frankenberg. Das Gedicht „Alte Akten"
eignet sich vielleicht zum gelegentlichen Abdruck.
Für die Redaktion verantwortlich: i. V. W. Bennecke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.
Zerbst-Mnung.
Stet] hin, wie die Wälder sich lichten,
wie's kferbstlaub wirbelt im wind,
wie's fällt und sich aufhäuft zu Schichten,
Die des Lenzes Grabhügel find.
Ja, der Lenz wird zu Grabe getragen,
Doch wie feierlos, klanglos, wie arm----
Hub in’s bferz schleicht ein weh, nicht zu sagen,
wie Gemahnen an künftigen lharm.
Frühlingsfarben und Lichter und Lieder,
Ach, wie fällt's euch zu missen so schwer! —
Wohl, der Lenz aufersteht ja einst wieder,
Aber du siehst vielleicht ihn nicht mehr.
vielleicht kainst Du dann schon zum Ziele
Und er schmückt nur mitleidig dein Grab,
Für den es der Winter — wie viele,
Der Lenze wie wenige gab. —
Richard Jordan ch.
Leuchtturm der Liede.
Ich weiß einen Ljafen iin Sturmgebraufe,
Den meine Seele mit Rührung nennt.
Ich weiß eine wunder-trauliche Klause,
wo lnich Treue erwartet .... wo die Lampe brennt: j
Kehr' ich abends heim auf umwehten wegen,
verbargen in Wolken die Sterne sich,
Glänzt inir ein Fenster verheißend entgegen —
wie ein Leuchtturm der Liebe grüßt es mich.........\
Tiuen Lichtschein seh' ich iu’s Dunkel fallen-------------
0 glücklich, wer so ein Fenster kennt,
Tinen Vasen, den trautesten Winkel von allen,
Wo ihll Treue erwartet .... wo die Lampe brennt!
Ravolzhausen. Sascha €lia.
Vor dem Kamin.
Die fliegenden Flammen
von: roten Kamin
Schlagen
Uber den Tinsaineil hin,
Uber den Träumer,
Der vor ihnen sitzt,
Durch dessen Seele
Tin Feuer blitzt.
Seid ihr des inneren
Widerschein?
Schlagt ihr heraus?
Schlagt ihr herein?
Feuer, du himmlisches, -
veiliger Geist,
Sei du die Flaiiline,
In deren Gluten
Aus tausend Teilen
Mein ewiges Sein sich zusaminenschweißt.
Bberklingen. Karl grnst KllOdt.
* » *
42
% < % % < < s£ < ?5 5? <
Lin Senöbrief von Johannes Schwan
an seinen Vater Daniel Schwan, Bürger zu Marburg.
Wittenberg, den 24. Februar (525.
Nach dem Originaldrnck neu herausgegeben van I)r. Eduard Wintzer in Marburg.
Einleitung.
Über die Familie, der Johann Schwan an-
gehörte, seine eigenen Erlebnisse, die besonderen
Umstände, die die Abfassung seines Sendbriefes
veranlaßten, giebt mein Aussatz im „Hessenland"
Jahrgang XV, Nr. 20—24 nähere Auskunft.
Auch ist dort S. 293 ausgeführt, aus welchen
Gründen zu vermuten ist, daß der Brief nicht
nur in Wittenberg geschrieben, sondern anch durch
Johann selbst dort gedruckt ist.
Nur eine Ausgabe dieses Sendbriefs ist bekannt
und sehr wahrscheinlich auch veranstaltet worden?)
Diese beschreibt sich folgendermaßen:
(Titel:) Ein Seudbriff ,/ Johannis / Schwan
dar / inne er anzeigt / auß der Bibel / vnd schryfft,
Warumb er Bar / fusfer orden des er etwan ym /
kloster zu Baßell gewest / verlassen.
Zu Seiten dieses Titels, der nur die obere
Hälfte der Seite einnimmt, sind zwei Randleisten.
(Adresse ans S. 1 unmittelbar über dem Text:)
Johannes Schwan, dem Ersamen Danieli/ Schwan,
Burger zu Marpurg seynem / lieben vatter.
(Datum am Ende auf S. 13:) Geben zu
Wittembcrg aufs freytag nach / Sanet Matthias,
Im Jar Tausent / Fünffhundert vnd XXIII.
Ohne Angabe von Ort und Jahr des Druckes
und ohne Nennung des Druckers.
(Format ltitb Umfang der Druckschrift:) Quart,
2 Bogen, bezeichnet mit A und B, einzelne Blätter
unten rechts mit Aij, Anj, Bij, Bus. Auf
der ersten Seite des ersten Blattes befindet sich
der Titel, die zweite Seite des ersten und die
zweite Seite des letzten Blattes sind leer. Der
Text steht auf 13 Seiten, die wir im Text, je
zu Anfang, numerieren.
Nach Weller findet sich der Sendbrief in Zürich
und Wolfenbüttel. Auch die Universitätsbibliothek
zu Marburg hat ein Exemplar aus der Bibliothek
Floß.
*) Weller, die deutsche Litteratur im 1. Viertel des
16. Jahrhunderts. Nördlingen 1864. S. 301 unter
Nr. 2684. Der Sendbrief wird auch erwähnt in I. H. Zedler's
llniversallexikon. Leipzig 1731—50 unter Schwan, Johann.
Der am 24. Februar 1523 verfaßte Brief
zeigt sich gewissermaßen als eine Nachahmung
des Lutherschen Buches „1)6 votis monasticis“
oder der Übersetzung desselben von Justus Jonas
„Urtheyl Martin Luthers von den Gelübden der
Mönche und Nonnen" von 1521 und 1522.
Beide Schriften haben die Widmung an den Vater
und die Grüße an die Mutter. Während aber
Luther dem Vater, der ihm feinen Eintritt ins
Kloster verübelt hatte, nachweist, wie er gerade
dadurch von Gott geschickt gemacht worden sei,
die Reformation zu unternehmen, sucht Johann
Schwan für seinen Austritt aus dem Kloster des
Vaters Verzeihung und willige Zustimmung zu
erlangen, indem er ihn überzeugen will, daß das
Klosterwesen nicht mit der heiligen Schrift in
Einklang zu bringen sei. Der eigentliche Zweck
beider Schriften, der offenbar dadurch erreicht
werden sollte, daß sie durch den Druck eine mög-
lichste Verbreitung erhielten, ist auch darin der
gleiche, daß beide bestimmt sind, den vielen Leidens-
gefährten aus dem Mönchsstande den Übergang
in den freien christlichen Stand vor ihrem Gewissen
zu erleichtern. An manchen Stellen des Send-
briefs kann auf eine bisweilen wörtliche Über-
einstimmung mit Luthers Schrift hingewiesen
werden. Unser Brief ist übrigens als solcher nur
kurz gehalten, während Luthers Schrift ein Buch
von ziemlich großem Umfange ist.
Ein Neudruck dieses kurzen Sendbriefs möchte
sich wohl deshalb empfehlen, weil man dadurch
ein verhältnismäßig seltener veröffentlichtes Bei-
spiel kennen lernt, wie die Reformation bis ins
Innere der Familien hinein ihre Kreise zog und
nicht allein eine Sache der Theologen und der
weltlichen Machthaber war. Als Schrift eines
Hessen und Marburgers mag sie auch dessen
heutigen Landsleuten erwünscht sein.
Abgewichen vom Originaldruck ist in folgenden
Fällen: 1) Die Interpunktion ist die jetzt übliche.
2) Alle zusammengesetzten Wörter find nicht mehr-
getrennt gedruckt wie der gleychen, gots lesterung.
3) Druck- oder sonst den Sinn entstellende Fehler
sind verbessert, aber neben Buchstaben unter dem
43
Text kenntlich gemacht. 4) Alle Abkürzungen sind
ausgelöst. 5) Die großen Initialen sind überall
da beseitigt, wo wir sie im Neuhochdeutschen nicht
mehr gebrauchen, so als Einleitung des Nachsatzes.
Es ist zu beachten, daß das Original manche
tlngleichheiten in der Schreibung der Wörter aus-
weist, die beibehalten sind, z. B. vnd, vnnd; nit,
nitt, nicht; inn, ynn; vatter, Vater; Gott, Gvt,
got, gott; hat, hatt; ehn, ein; Zuversicht, zuvorsicht;
söhn, son; nu, nun; blatten, Platten; dann, denn;
schrysft, schrifft; dyr, dir; briff, brieff; Herrn,
Hern: an, ann.
Zu unterst auf den Seiten sind einige er-
klärende Noten beigefügt.
Herr Professor Dr. Edw. Schröder hatte
die Güte, das Manuskript durchznlesen.
Ein S e n d b r i f f Johannis S ch w a n ,
darinnne er anzeigt auß der Bibel vnd schryfft,
warnmb er Barfusserorden, des er etwan ym
kloster zu Baßell gewest, verlassen.
(S. 1) Johannes Schwan dem Ersamen Danieli
Schwan, Bürger zu Marpnrg, seynem lieben vatter.
Gnad vnd srid ynn Christo. Meyll lieber vatter,
nachdem itzund eyn lange weyl, wie auch bald nach
der Aposteln zeytten sich angehoben, menschliche
satzung regirt vnd das Evangelium vnd reyn Gottes-
wortt Unterdrückt vnd alle wellt, sonderlich Bischoffe,
Prediger vnnd lerer ynn dem vnchristlichen wahn
vnd meynung gewest, als sotten pfaffen-, münch-
vnnd nonnenstandt vnd das klosterleben der vvlknm-
lichst, beste vnd heyligste standt ynn der Christenheyt
seyn, also das er viel höher vnd grösser geachtet
wer bey Gott dann ehelicher standt oder sonst
gemeyner Christlicher Wandel, were es nicht groß
wunder, ob du schon auch durch solche gleyssende
larven vnnd eusserlichen geystlichen scheyn ynn
solchen wahn vnnd gemeyn yrthum gefnret werest
vnnd dißes meyns surnemens, das' ich mich auß
dem kloster widderumb ynn gemeyn Christlich leben
gewant, befrembdnng tregest. Aber ich zweyffel
dennoch nicht, wue') ich dyr durch klare spräche
vnd gutten gründ der Heyligen schrifft vnd Biblien
werdet antzeygen ursach vnd bewegnis meyns ge-
müts, vnd wie ynn grosser ferlickeyt meyn gewissen
durch solch gleyßnerey gestanden, Du werdest deyn
Hertz zufriden stellen. Und wo du meynem^ vnter-
richt nicht vertrawen, wolts doch yhe dem klaren
gottswortt vnd den yhenigen, ßo zu vnßer zeyt
durch dasselbige nonne-münchsstandt als ferlich
vnnd vnchristlich verwerffen, glawben geben.
y wue — wie.
ch werden, d) meyner.
Es ist nicht wunder, das Gott durch sehnen zorn,
den wyr durch Verachtung seyns Heyligen wortts
vnd vnßer miß- iS. 2) trawen erreget, vns bald
seyn göttlich wort entzogen vnd durch falsche lerer,
wie der Apostel zu den Römern am letzten sagt,
durch susse rede vnd prediget der geytzigen vnd
bauchdiener hatt versnren lassen.2)
Er drawet hyn vnd Widder ynn den Propheten,
do er alßo saget: Wo yhr nit werdet volgen
meynen o> wegen vnnd bleyben ynn meynem wortt
vnnd ynn meynem getzengnis, ßo will ich ober
euch kommen lassen theurung vnd verschmachtnng,
nit Hungerd) brotts odder weynß, das ist essens
odder trinckens, sondern zuhören das wortt Gottes;
die theurung ist vber vns kommen. Dann was
haben sie vns anders geprediget dann (wie der
Apostel saget) sich selbst vnnd yhren beuttel;
Christum aber, darnusf alleyn alle Heylickeytt, alle
srumkeytt, die für Gott gilll, muß gebawet werden,
haben sie verschwigen, die Biblien, Krychische^,
vnd Hebraysche^ zungen, an wilche''^ die Biblien
nicht kan verstanden werden, haben sie ligen
lassen vnd vns ablaß, gnadbullen vnd ander
mancherley darfur geprediget, darynn ßodann nichts
anders dann yhr nutz vnd genieß gesucht. Dann
die münch haben nicht anders predigen kunnen
dann: Wer vns etwas gibt, wer vnßerem Convent
wol thutt, wer vnns das kloster bawet, odder wer
uns armen brüdern^ hilfft, der wirkt die gnad gottes
erlangen, der wirkt die ewige selickeyt erwerben ect.
Dadurch haben sie dann yhr orden vnd yhr
Patron S. Franciscum, S. Dominicum ect. alleyn
erhaben vnd hoch gelobet vnd das reyn gotswortt
vntergedruckt; dann vnter ßo viel tansent München
vnnd Pfaffen ist niemants geweßen, der das reyn
Gottiswortt leret, alle sinds bauchdiener gewest, (S. 3)
wie der Apostel zun Rö: vnd Philip: sie nennet.
Bnd eben das ist die vermaledeyung, die Gott
gedrawet durch Mosen Deutro. 18., do er sagt
von denen, die das reyn gotswort verlassen werden
vnd yhrn menschensatzungen" volgen: „Wo du nitt
wurdest hören das wort gottes, deyns Hern, vnd
wirdest thun vnd behalten alle sein gepott, so Wirt
der hymel vber dyr steelen oder deren vnd die erd
vnter btjr. eyssern seyn", das ist: Es wird nit
regen vom hymel, vnd die erde wirt dürre vnd
nnfruchtpar seyn. Es hatt vns entlich an regen
geselet, das ist an Predigern, die von Gott beruffen * e)
2) M. L. Von den Klostergel. Nr. 20. Das ist. daß
noch ihr, noch ich selbst vor gewußt haben, daß Gottes
Gebot allen mußte vorgehen. Noch herrschet die Kraft
des Irrtums unter dem päpstlichen Greuel.
e) meyne, ck) Hungers, e) brott, f) Krychischen, g) Je-
braysche, h) wilchem, i) künden, k) brüder. 1) menschen-
satzung.
44
weren, die das reyn wart gottes predigten and
alleyn seyn ehre suchten; darnmb hatt die erd kein
frucht bracht vnd sein eytel taube, nnnnntze gutte
werck geweßen ane allen glawben.
Derhalb muß man diße fachen nit also ansehen
oder richten wie vnßer vngelerte, geystloße münche
davon reden, wann sie alßo sagen: Ey, es ist
vnmüglich, das Gott seyn kirchen ßo lange hett
fallt lassen yrren; S. Bernhardsorden m) ist gantz
allt, S. Angustinß orden ist ober tausent iar
allt ect. Dann die vnnd dergleychen argumente^
muß man ynn gotts fachen nit ansehen, wie dann
anst dieselbigeo) Doctor Mart. Luther ym buch
von klvstergelnbden durch klar schrisft vnd vnverruckliche
gründe gnngsam geanttwvrtt
Göttis wercke lassen sich nicht durch vernunfft
richten, ßonderen, yhe scherffer vnnd Heller die
vernunfft ist, vnd yhe tieffer man den dingen mit
in) S. Bernhard: orden, n) argumentm,o) dieselbige anff,
menschlichen gedancken vnd liecht der vernunfft
nachtrachtet, yhe weniger man sie trifft, wie der
Apostel znn Corinthiern ain ersten Capitel weytter
antzeyget. Darnmb kan niemants dieße fachen
r erstehen, dann der sie ym glawben anficht vnd
mit geystlichen angen.
lS. 4) Alles, was Gott thutt, das muß alßo seyn,
wie alle schrifft sagt, das es die vernunfft nerrisch
dnnckt vnd yhe nicht begreysflich sey, wie er sagt:
Als weyt der morgen von abent vnd der hymel
von der erden ist, als weyt seynt meyne Wege von
eweren wegen vnd meyne gedancken von ewern
gedancken.
Der Apostel z» den Corinthiern sagt klar: Der
natürlich mensch vernympt nichts der dingeq), die
Gott angon, oder vom geyst gots. Er ist Gott
vnd Herr alleyn, mit yhme kan niemants fechten,
wie der Apostel zun Römern am 9. sagt.
p) meyn, q) dingen.
(Schluß folgt.)
Das wilhelinshöher Riesenschloß und die Lserkulesstatue
und ihre Erbauer.
Bon C. Ne über, Kassel.
(Schluß.)
Selbst von Kriegsstürmen ist der Bau nicht ver-
schont geblieben, und es wird dies besonders
aus dem siebenjährigen Kriege berichtet.
In diesem standen bekanntlich die Landgrafen von
Hessen-Kassel, erst Wilhelm VIII. und dann von
1760 an sein Sohn Friedrich II., neben nur
wenigen Fürsten des deutschen Reiches treu auf
Seiteu des großen Königs Friedrich II. von Preußen,
mußten dafür aber auch manche Unbilden er-
tragen, vor allem die Hauptstadt Kassel wieder-
holt längere Zeit in beit Händen der Franzosen
lassen, insbesondere vom 31. Juli 1760 bis zum
1. November 1762 trotz der zwei energischen
Belagerungen seitens der Verbündeten, welche
unter dem Oberbefehle des Herzogs Ferdinand
von Braunschweig standen. In diesem über
zwei Jahre andauernden Zeitraume fanden nntur-
geinäß auch verschiedene Truppenbewegungen und
Kämpfe in der Umgegend von Kassel statt, welche,
soweit sie die Örtlichkeit von Weißenstein betreffen,
auf Grund der Darstellung des wohlbekannten
Militär-Schriftstellers Karl Reno u a r d (Haupt-
mann im kurhessischen Generalstabe bis 1851)
in seinem ausführlichen Werke „Geschichte des
Krieges in Hannover, Hessen und Westfalen von
1757—1763" und zwar im Band III (Kassel1864),
welcher die Feldzüge der Jahre 1761 und 1762
behandelt st, und auf Grund der im allgemeinen
damit übereinstimmenden, in der Schloßbibliothek
zu Wilhelmshöhe (die vor einigen Jahren nach
Kassel gebracht und in der Landesbibliothek auf-
gestellt worden ist) vorgefundenen Auszeichnungen,
freilich ohne Angabe des Gewährsmannes, hier
mitgeteilt werden sollen.
Herzog Ferdinand von Braunschweig war zu
Ansang des Jahres 1761 bestrebt, gegenüber den
Franzosen, welche ihren Besitz der Hauptstadt
noch durch ein Lager zwischen dieser und Schloß
Weißenstein verstärkt hatten, das letztere zu ge-
winnen, und sein Unterfeldherr Lord Granby
besetzte deshalb den Ort Ehlen und schob von da
aus Detachements — die Stärke wird nicht an-
gegeben — bis zum Schlosse Weißenstein und
dem Wasserfalle (der Kaskade) — in den Auf-
zeichnungen heißt es „Jäger", während andere
leichte Truppen bis Wahlershausen und Kirch-
ditmold vordrangen. Es war das am 12. Februar
1761. In den Auszeichnungen heißt es weiter:
„Am 14. brach ein Teil der in Kassel liegenden
französischen Besatzung ans, die Verbündeten aus
') Renouard, Bd. III. S. 75, 137, 412, 414 fg., 591 fg.
45
dem Habichtswalde zu vertreiben. Am Fuße des
Gebirges empfing sie aber ein so heftiges Geschütz-
und Kleingewehrfeuer, daß sie nach beträchtlichen
Verlusten und unter Zurücklassung von 200
Gefangenen nach Kassel zurückweichen mußten "
Also eine empfindliche Niederlage für die Franzosen.
Ein zweites Gefecht in der dortigen Gegend
fiel zu Ungunsten der Verbündeten aus. Dieselben
hatten nach Renouard im September 1761 unter
Führung des Erbprinzen (Karl Wilhelm Ferdinand
von Braunschweig, Neffen des Herzogs Ferdinand)
den Weißenstein und die Hohe zwischen Kirch-
ditmold und dem Habichtswalde mit 2 Bataillonen
besetzt, neben denen 120 Bergschotten auf dem
Winterkasten standen. Am 22. September 1761
wurden letztere von Franzosen angegriffen und
zwar von 400 Freiwilligen der Reserve des
Generals Stainville unter Oberst Vertueil. „Vier
Abteilungen derselben, jede von 50 Mann, welche
von den übrigen 200 Mann unterstützt wurden,
erstiegen unter dem lebhaften Feuer der im Oktogon
(Tempel des Herkules) über der Kaskade postierten
Bergschotten die Treppen der Kaskaden mit auf-
gepflanztem Bajonett."
Nach den Aufzeichnungen standen die 120 Berg-
schotten in der Nähe des Riesenschlosses und mußten
angegriffen sich in dasselbe zurückziehen, da sie
ihre ganze Munition verschossen hatten. Nunmehr
mußten sie nach beiden Darstellungen der Über-
macht weichend sich aus die Plattform flüchten,
von wo sie Steine u. dgl., auch wohl einen Teil
der Figuren und Balustraden ans die anstürmen-
den Franzosen warfen, schließlich jedoch die Waffen
strecken mußten. Nach Renouard haben sie auch
da noch gefeuert und ließen 20 Soldaten und
den kommandierenden Hauptmann tot aus dem
Platze liegen, während die übrigen gefangen ge-
nommen wurden, und die Franzosen nur einen
Verlust von 12—13 Toten und Verwundeten
hatten.
Im folgenden Jahre lagerten nach der Schlacht
bei Wilhelmsthal (24. Juni 1762), in welcher
Herzog Ferdinand von Braunschweig einen glänzen-
den Sieg über die vereinigte französische Armee
erfocht, auch Heeresabteilungen am Oktogon.
Während die gedachten Aufzeichnungen weiter
nichts enthalten, berichtet Renouard, daß die
Franzosen dortselbst einen Jnfanterieposten auf-
gestellt gehabt, diesen aber am 26. Juni hätten
aufgeben müssen, wonach er seitens der Ver-
bündeten besetzt worden sei.
Nach endlich eingetretenem Frieden (1763) suchte
Landgraf Friedrich II. die Schäden des Krieges
wieder zu beseitigen. Er ließ am Schlosse Weißen-
stein gründliche Ausbesserungen vornehmen und
die große Fontäne, die Plutogrotte, das große
Gasthaus, das chinesische Dörfchen Mulang an-
legen u. dgl. Vor allem aber fanden umfassende
Reparaturen am Niesenschlosse statt. Bei dieser
Gelegenheit wurde bei der Grotte des Polyphem
hinter dessen Statue in den Felsen eine künstliche
Wasserorgel durch den Hof-Orgelbauer Georg
Peter Wilhelmi angelegt (1778), welche sieben
verschiedene Stücke spielt, die Polyphems Hirten-
flöte mit ihren 7 Pfeifen entlockt scheinen. Sechs
dieser Stücke, und davon zwei seine eigene Kom-
position, sind dann vom Hof-Organisten Becker
311 Kassel auf die Walze abgestochen worden?)
Diese Wasserorgel ist nach Erkundigung bei den
an den Wasserkünsten angestellten Beamten und
Dienern noch jetzt vorhanden, auch im vorigen
Jahrhundert mehrmals in Thätigkeit gesetzt worden,
bedarf indessen einer gründlichen Ausbesserung;
die in der nämlichen Grotte angebrachten Verier-
wasser sind noch heute im Gange und haben
schon oft heitere Szenen hervorgerufen. Von den
daselbst aufgestellten Figuren sind außer Polyphem
noch vorhanden die Liebe (Frauengestalt mit
zwei Schlangen in den Händen) und der Tod mit
Stundenglas und Hippe, während Neid und Hoff-
nung verschwunden sind.
Friedrichs II. Sohn und Nachfolger, Landgraf
Wilhelm IX., als Kurfürst Wilhelm I.,
ist wohl bekannt als Erbauer des neuen fürst-
lichen Schlosses zu Weißenstein, seit 1798 nach
ihm Wilhelmshöhe genannt, und unter ihm
sind angelegt die Löwenburg und die drei mit-
einander zusammenhängenden Wasserfälle: Stein-
höfer, Teuselsbrücke und Aquädukt. Doch mochte
er zuweilen seine Schritte weiter lenken und dem
Riesenschlosse einen Besuch abstatten. Um sich
den Aufenthalt dortselbst behaglich zu machen, ließ
er im mittelsten Stockwerk verschiedene Zimmer2),
nach anderer Darstellung einen Saal mit drei
großen Glasthüren^) ausbauen und Möbel dahin-
schafsen. Leider ist diese Wohnung jetzt nicht
inehr da. Auch sollte unter seiner Regierung un
Jahre 1803 bei einem schweren Wetter ein aus-
fahrender Blitzstrahl den Herkules etwas am
Schenkel beschädigen, auch vom Oktogon große
Steine hinabschlendern und beträchtlichen Schaden
anrichten, welcher aber wieder hergestellt ist?)
') Beschreibung von Wilhelmshöhe S. 55. — Kurze
Beschreibung von Wilhelmshöhe (Kassel, 1799) S. 25. —
Kassel und die umliegende Gegend. Eine Skizze für
Reisende (3. Auflage, Kassel 1801) S. 162. — Beschreibung
des Kurfürst!. Landsitzes Wilhelmshöhe (Kassel 1804)
S. 46.
0 Beschreibung von Wilhelmshöhe S. 56.
3) Beschreibung von Wilhelmshöhe (1804) S. 37.
h Beschreibung von Wilhelmshöhe (1824) S. 38.
46
Aus der westfälischen Zwischenherrschaft des
Königs Jsrüme Napoleon, welcher sich in dem nach
ihm umgetauften Napoleonshohe manchmal aufhielt,
ist über Oktogon und Herkules nichts zu berichten.
Auch in diesem Jahrhundert haben, wie schon
erwähnt, wiederholt Reparaturen am Riesen-
schlosse in seinen verschiedenen Teilen stattgefunden.
Doch können wir uns der Hoffnung hingeben,
daß, wenn auch manche Wetterstürme über den
Riesenbau dahingebraust und viele der herrlichen
Bäume auf den Seiten geknickt oder gar ent-
wurzelt sind, allen Borhersagungen zum Trotze
das stattliche Werk sich als dauerhaft erweise
und besonders der im Jahre 1900 von neuem
sestgenietete und ausgeputzte Herkules noch viele
Jahre ans seine Keule gestützt über den Thal-
kessel der Hauptstadt in den Hessengau hinausblicke.
B e m e r f u n g e n.
Aus den in vorstehendem Aufsätze benutzten Urkunden
ist zur besseren Würdigung der Sachlage noch Folgendes
hervorzuheben als besonders charakteristisch:
I. Aus den Archivalien des Königlichen
Staats-Archivs zu Marburg a. L. über den Bau
des Riesenschlosses mit Kaskaden und Herkulesstatue 1700
bis 1717.
1. Spécification . . 1700 . . .
39 Tagelöhner so an der Cascade gegraben f. 47 Rthlr.
3 alb. 4 Hlr.
111 Steinfuhren aus dem Steinbruch 55 Rthlr. 16 Alb.
2. Unter Aufsicht von Gio. Franc. Guernieri
50 Soldaten für Erdarbeiten an den Kaskaden
8 Tage lang 48 Thaler.
„Cinquanta soldati hanno evacati la terra
alla Cascade di Winterkasten per otto giorni
72 tese imposta quaranta otto scudi' a raggione
per ciasclieduna tese 1 fiorino i Winterk.
21 Maggio 1705.“ Darunter Quittung des Ser-
geanten Albrandt.
3. Für die Herkulesstatue an Anthoni:
a) Anno 1713 hat der Goldschmidt H. Antoni zu Herr-
schaft!. Arbeit vom Kupferhammer und Messinghof ab-
gelanget ......................Summa 2 C. 59 Pfund.
Thut achtzig vier Thlr. fünf alb. 4*/» Hlr.
(gez.) Otto Philipp Kleinschmidt.
Darunter: z. Cabinet von Hattenbach.
Bescheinige daß ich dißes oben bemelt kubfer und meßiug
empfangen.
Kassel den 5. May Ao. 1714.
Johann Jacob Anthoni.
Auf der Rückseite:
Rechnung wegen Kupfer und Meßing so Hr. Anthoni
zur herrschaftl. Arbeit abgelegt anno 1713 über 84 Thlr.
5 alb. 4h» Hlr. auf gdstem Befehl au den Verwalter
Kleinschmidt bezahlt.
Hierin specificirtes Kupfer und Mößing, so der Gold-
schmidt Johann Jacob Anthoni zu der von Uns unter
Handen habenden arbeit von Unserm Kupferhammer und
Mößiugshof nach und nach empfangen, hatt Unser Cabinets-
Secretarius Jungcurt dem Verwalter Otto Philipp Klein-
schmitt gegen quitunge mit Achtzig vier Reichsthalern
fünf alb. 44,'b H. in Vergleichung zu bezahlen undt in
ausgäbe zu berechnen. Cassel den 22teu May 1714.
lgcz.) Carl.
Darunter Quittung:
Kleinschmidt . . . „mir bezahlt und gut gethan."
Weiter in 1713:
Rach Jhro Hochfürstl. Durch!. Gnädigster Verordnung
Ist für den Goldschmitt Anthoni von Berlin folgendes
in Werckstätten erschmiedet (darin Amboße verschiedener Art).
Summa der Kosten von denen Werckstücken 55 Rth. 29 Alb. 1H.
Weiter b) 1714. 22. März zum Kopf der großen
Statue . . . Kupfer Antony geliefert s. 89 Rth.
10 Alb. */» Hl. vom Richelsdörfer Merck.
1714 Mai bis 1715 April desgl. Kupfer v. Kupfer-
hammer 110 Rth. 16 Alb. 10h» Hl.
c) Speeification denen beym Winter - Kasten - Grotten
Werck der ao. 1714 auffgewendeten Bau-Kosten:
April. Dem Goldschmidt Antoni Reise- und Zehrungs-
kosten w. Werckstücks zur großen Statue 11 Rth.
November. Dem Goldschmidt Antoni für 24 Rümpfe
1 Korb ufm Marckt verkaufte Kohlen zur großen
Statue 15 Rth. 5 Alb.
d) 1715. April: Rechnung Über verschiedene Sachen:
Nägel, Borax dem Kupfertrciber Anthoni 153 Rth.
7 Alb. 4 Hl.
Specitication . . .
1715. . . .
Juni. Dem Goldschmidt Antoni für Kohlen 13 Rth.
2 Alb.
e) 1716. . . .
Für 1717 liegt eine Rechnung nicht vor, wohl aber für
1718 über Ölung u. s. w. der Herkulesstatue.
II. Von den Küperscheu Familien-Papieren
ist der wesentliche Inhalt bereits mitgetheilt worden.
Vgl. auch Jahrgang 1900 S. 217 fg.
Auf Seite 23, Zeile 17 von unten hat sich ein Druckfehler ein-
geschlichen : 8. Juni 1707, der zu berichtigen ist in 8. Juni 1717.
Und noch einmal: Die Hessen in Amerika!
Von Carl Prefer.
(Schluß.)
Rach dieser Abschweifung kann ich mir es nicht
versagen, aus den einleitenden Kapiteln einige
Stellen herzusetzen, ans denen wir den „Stand-
punkt" für amerikanische Geschichtsschreibung näher
kennen lernen. Wein's beliebt, kann daran auch
Studien machen für „voraussetzungslose Geschichts-
wissenschaft". Mr. Lowell schreibt: „Die Land-
grafen waren Finanzmanner. Nach der Ware,
47
bie sie verkauften, war große Nachfrage im damaligen
Jahrhundert, wie in allen (!) Jahrhunderten . . .
Wir wollen etwas eingehender die speziellen Erben
aller Tugenden betrachten, welche Söldner nach
Amerika sandten. Der bedeutendste warFrie d ri ch II.,
Landgraf von Hessen..........Er soll (!!) mehr als
100 Kinder gehabt haben. Wilhelm, der älteste
Sohn Friedrichs, stand seinem Vater an Würde
nach, kam ihm aber gleich an Sinnlichkeit. Als
Wilhelm ein natürliches Kind zu unterhalten
hatte, schlug er den Preis eines jeden Sackes Salz,
den seine Unterthanen von den Salzminen brachten (!),
um einen Kreuzer auf. Als seine Nebenkinder
74 erreicht hatten, mußten die ärmeren seiner
Unterthanen mit dem Salz sparsam umgehen.
Obschon der Fürst im Jahre einige 12 000 Pfund
Sterling als Subsidien*) erhielt, so glaubt(!!)
Kapp, daß er keine Steuern erließ...................
Bauern, die einen Deserteur festnahmen, bekamen
einen Dukaten, aber wenn ein Deserteur ein Dorf
passierte, ohne festgenommen zu werden, so mußte
das Dorf für ihn bezahlen.**) Wirtshäuser, wo
Rekruten einquartiert wurden, mußten besondere
Räume haben, möglichst eine Treppe hoch und mit
vergitterten Fenstern (!).... Erschien ein Rekrut
verdächtig, fliehen 31t wollen, so mußten ihm die
Hosenträger und Knöpfe abgeschnitten werden, so
daß er die Hosen mit der Hand halten mußte. . . .
Die Bildung der Offiziere beschränkte sich im all-
gemeinen auf ein gewisses Maß von Fertigkeit im
Schreiben und auf ein wenig barbarisches Französisch...
Friedrich korrespondierte mit seinen Offizieren
in Amerika, um — allen seinen Einfluß nutz-
bringend (?!) fühlen zu lassen."
Das ist so ungefähr der Tenor einer wissen-
schaftlichen Einleitung in diese Geschichte des nord-
amerikanischen Krieges, in der wir eine Hauptrolle
spielen und dafür mit amerikanischem Hosenträger-
Humor reguliert werden. Doch die Sache ist zu
ernst, als daß ich nicht fragen sollte, wie es denn
hier um die Pflicht des Geschichtsschreibers steht,
der doch, zur besseren Erkenntnis, alle sich ihm
bietenden Quellen, auch diejenigen Hilfsmittel nicht
unbenutzt lassen darf, die ihm ganz unwillkürlich
entgegen treten müssen, namentlich wenn seine
Darstellungen, in dem Drange nach Wahrheit, eine
ganze Reihe von eigenen Urteilen wagen. Wo
aber ist hier überhaupt wissenschaftliche und un-
*) Nach Artikel XII des Vertrags betrug die jährliche
Subsidie 25,050 Thaler Banco. D. V.
**) In Österreich zahlte man drei Spezies-Dukaten
für einen gefangenen Deserteur. Wer dagegen den Deser-
teur unterstützte, der sollte „beym Kopf genohmen nnd mit
denen Unseren ansrcißern gewidmeten Strafen beleget
werden."
parteiische Geschichtsschreibung? Wo ist zwischen
allen den Schmähungen in den ersten Kapiteln dieses
Büches auch nur die Spur von einer Untersuchung der
reichsrechtlichen und landesrechtlichen Grundlage für
die Handlungsweise Friedrichs II. zu finden? Wo
werden wir aufgeklärt über die behauptete „Politik
des Kaiserreichs (!)", mit der „die Handlungsweise
des Landgrafen nicht im Einklänge stehen" soll?
Warum ist das Werbesystem in Hessen getadelt,
während es doch, bis hinab zur Donau, in kaum
einem anderen deutschen Lande milder gehandhabt
wurde? Und wo ist auch nur eine Idee aus-
gesprochen über die Bedeutung des damaligen
deutschen Heerwesens, als eines Durchgangspnnktes
in der Fortentwicklung desselben vom alten Lands-
knechtssystem bis zum stehenden Heere des modernen
Staates mit der allgemeinen Wehrpflicht? Wo
ist ein Vergleich zwischen den hessischen Allianz-
Verträgen nnd den Subsidien-Vertrügen anderer
Länder und Staaten bis hinaus zum größten? oder
war es für Hessen eine Sünde, zu thun, was auch
die Anderen thaten, und nach Reichsrecht zu thun
berechtigt waren? Und wie kann Mr. Lvwell,
der doch anstandslos die Tagebücher hessischer Offiziere
benutzt, die Bildung des hessischen Ossiziercorps
bis aus „ein gewisses Maß von Schreibfertigkeit"
herabsetzen? Er, der wegen seiner Herabsetzung
des Landgrafen Friedrich weit in die Geschichte
zurückgreift, sollte er nicht gefunden haben, wie
schon Landgraf Moritz (1618), Landgraf Karl
(1710) und gerade Friedrich (1764) aus die
kriegswissenschastliche Ausbildung ihres Offiziercorps
bedacht waren? Er hebt hervor, daß^Friebrich II.
als katholischer Fürst ein protestantisches Land
regiert habe, aber welchen Dank das evangelische
Deutschland, nnd namentlich Preußen, diesem Fürsten
für seine „unschätzbaren Dienste" schuldet, davon —
ist einfach keine Rede. Und doch sagt v. Stamsord
sehr richtig: „Es ist unzweifelhaft, daß Friedrich
der Große im siebenjährigen Krieg ohne das alliierte
Heer .... feine Existenz nicht hätte bewahren
können, ohne das hessische Corps wäre
aber das alliierte Heer--------------ohnmächtig
gewesen."
Was der Geschichtsschreiber, nach seiner Quelle
„es wird erzählt", aus Seite 41, aus einer
angeblichen Unterhaltung zwischen dem Landgrafen
und dem General-Leutnant von Heister mit-
teilt, darf füglich bezweifelt werden, denn erstens
ist die ganze Form der Unterhaltung unglaub-
würdig und dann steht sie nicht im Einklang mit
Heisters Schreiben vom 23. Januar 1776, das
ich, nach dem im Marburger Staatsarchiv befind-
lichen Originale, in meinem „Soldatenhandel"
mitteilte. Lückenhaft erscheint auch die Abberufung
48
Heisters. Nicht im Falle Trenton lag ein Vor-
zeichen dieser Abberufung, denn als Snsfolk seine
dieserhalb nach Kassel gerichtete Bitte vom 3. De-
zember mit Schreiben vom 9. Januar 1777 bei
Schliessen, unter den unwürdigsten Gründen
wiederholte, da konnte in London vom Falle
Trentons noch gar keine Nachricht ein-
gegangen sein. Ter Widerwille des englischen
Generalissimus Howe gegen Heister datierte
vielmehr schon vom 27. August 1776, von der
ersten Schlacht, in welcher die Hessen mitfochten,
aber von Howe verhindert wurden, an demselben
Tage noch „die Hanptbesestigung in Brooklyn an-
zugreifen". von Heister bezeichnete diese Ver-
zögerung als einen Fehler, und „machte daraus
dem englischen Oberbefehlshaber gegenüber so wenig
Hehl, daß zwischen Beiden eine Spannung entstand,
welche nicht wieder zu beseitigen war".
Freiherr von W e r t h e r n hebt dies in seinem
bekannten Kriegsvortrag (Kassel 1895) hervor, und
es ist eine Ironie des Schicksals, wenn er diese
Stelle mit den Worten schließen muß: „Der An-
griff mußte aber auch am folgenden Tage wegen
heftigen Regens unterbleiben und ans diesen folgte
ein dichter Nebel, unter dessen Schutz sich die
Amerikaner freiwillig davon machten." Meintaber
Mr. Lowell (S. 88) es sei nicht mehr möglich,
zu entscheiden, wie weit bei der Abberufung H eisters
„der Argwohn gerechtfertigt sei, daß Heister zu
sehr ans Erhaltung der unter seinem Befehle
stehenden Truppen bedacht war", so wird dieser
Argwohn*) schon allein beseitigt durch die von
Lord Howe verhinderte Lust des „Draufgehns",
die sich für Heister iu „dichtem Nebel" auflöste!
Groß erbaut bin ich hiernach von dem Buche
nicht, mögen Andere davon mehr erbaut sein. Hätte
jedoch Mr. Lowell befolgt, was er an Elking
rügt, d. h. hätte er „so viel Sorgfalt im Ge-
brauche des Materials entwickelt, als in der
Sammlung dieses Materials", so würde sein Buch
zweifellos wertvoller sein, denn gegen die Darstellung
der eigentlichen Kriegsereignisse ist, trotz verschiedener
überflüssiger Breiten nichts einzuwenden. Freilich
wird das umfangreiche Werk Bancrosts, dem
auch manche Ideen entliehen sind, immer ein be-
deutender Konkurrent bleiben.
Was endlich Lowell (S. 7) mit den „Worten
einer Dame aus Kassel" als „unentbehrlichen Bor-
teil", nicht des Landgrafen, sondern anderer Leute
anführt, das habe ich in den mitgeteilten Proben
seiner Charakterisierung unseres Landgrafen fallen
lassen, weil es mir einfach über die Hutschnur ging.
*) Diesen Argwohn spricht auch schon Bancroft in
der Geschichte der amerikanischen Revolution aus. D. V.
Und nun zum Schlüsse. Mr. Lowell leitet
denselben mit den Worten ein: „Dem Landgrafen
von Hessen hat es nicht an Leuten gefehlt, die ihn
in Schutz genommen haben", — und schließt dann,
„der Landgraf ließ sich in einen nicht zu recht-
fertigenden Handel ein, und in dem Lichte dieses
Handels muß er beurteilt werden". Das stimmt
nicht, das ist ein sehr arger Irrtum. Kein Mensch
„muß" nach einer einzelnen Handlung beurteilt
werden. Und auch Regenten pflegt man sonst nur
im Lichte des summarischen Ergebnisses ihrer
Regierung zu beurteilen, nicht im Lichte einer
einzelnen That, noch dazu, wie im vorliegenden
Falle, einer That, bei der ihm das positive Recht
zur Seite steht. Räumt aber Mr. Lowell ein,
daß es Leute giebt, die den Landgrafen Friedrich
in Schutz nehmen, so hätte er als unparteiischer
Geschichtsschreiber die Dummheit dieser Leute er-
- weisen müssen, um seine eigenen Angaben „im
Lichte" der Wahrheit erscheinen zu lassen, oder
aber, er mußte, wie Kapp, bekennen: „Daß er in
der hessischen Geschichte und ans dem Friedrichs-
platz in Kassel eine Fülle von Thatsachen
gefunden habe, welche die Regenten-Eigenschaften
des Landgrafen viel höher stellen, als er (und
Bancrost!) sie charakterisiert habe."
Im übrigen wiederhole ich, was ich an anderer
Stelle einst hervorhob: mögen wir noch so viel Miß-
fallen an Snbsidien-Verträgen oder Werbesystemen
habe», es ist und bleibt ein kühnes Beginnen, im
Geiste moderner Zeit darüber den Stab zu brechen.
Wir begehen ein Unrecht ohne Gleichen, wenn wir,
das Werden und Sich-Entwickeln der staatsgesellschast-
lichen Verhältnisse vergessend, Personen oder Ein-
richtungen verdammen, die der Zeit eines Rechts-
zustandes angehören, ans dem der unsrige naturgemäß
erst /hat werden müssen.
Auch hier gilt, wie schon der alte Pözl sagte,
„die große Lebensweisheit: ein jedes Ding hat
seine Zeit."
* * >
*
Während der Korrektur erhalte ich unter Kreuz-
band, mit dem Poststempel „Marburg", das zweite
Blatt der „Hess. Landeszeitung" vom 9. d. M.
mit einem Leitartikel von „Pfr. Horbach", in
welchem der angeblich vom Landgrafen Friedrich
geschriebene Brief vom 8. Februar 1777 behandelt
wird. Der Herr Pfarrer hat darin triumphierend
ausgerechnet, daß dieser Brief also „genau
vor 1 V* Jahrhundert v o m Landgrafen
geschrieben" worden sei. Sollte denn aber
wirklich Herr Pfarrer Horbach nicht wissen, daß
dieser Brief überhaupt niemals geschrieben
49
wurde? seiner „Albernheit und Erbärmlichkeit"
wegen (Grotefeud) von einem hessischen Fürsten
auch niemals geschrieben sein kann? Sollte
der Herr Pfarrer nicht wissen, daß der angebliche
Adressat unter den „hessischen Truppen" gar
nicht existierte? und daß selbst Kapp dies
Pamphlet als eine Fälschung bezeichnete, die als
solche seiner Zeit sogar im preußischen Abgeordneten-
hanse eine Rolle spielte? Sollte er nicht wissen,
was darüber Stamford in seiner hessischen Ge-
schichte (S. 406) sagt? Wenn er das alles wirklich
nicht weiß, so empfehle ich ihm nachzulesen, was
darüber unser seliger Grotefeud im „Hessenland"
1895, S. 70 u. 71, sowie 1900, S. 96 u. 251
schrieb, und was ich selbst darüber geschrieben habe
in meinem „Soldatenhandel", S. 89. Und hat
er das gelesen, so darf ich dies Kapitel wohl hier
schließen mit Grotefends Urteil: „Der Durchschnitt
der litterarischen Vertreter der Schmähungen ans
Landgraf Friedrich und seine Hessen, hat sich
so wenig über die Angelegenheit, über welche sie
in maßgebender Weise mitreden wollen, unterrichtet,
daß es ihnen entgangen ist, wie die alten Laden-
hüter, die immer wieder vorgebracht werden, bei
Kapp zum Teil längst schon widerlegt sind. . . .
So schlecht ist es »och mit den studierten deutschen
Litteraten der Gegenwart bestellt, wo bleiben da
aber erst die weniger Gebildeten?"
$a$cl)ina$$mik in Mweimsldai.
Lange schon die Sonnenrosse
Halten ihr ambrosisch Mahl, —
Tiefe Ruhe herrscht im Schlosse
Und im Park von Wilhelmsthal.
Da beginnt ein heimlich Regen,
Schrill die Fahne kreischt vom Dach,
Und im schaurigen Bewegen
Werden alte Geister wach.
Dumpfes Durcheinanderwogen —
Aus dem Walde naht cs schon —
Mit der Freunde Schar gezogen
Kommt Jerome Napoleon.
In dein prächt'gen Schönheitssaale
Reiht sich fröhlich Mann an Mann,
Daß an einem Göttermahle
Jeder sich erquicken kann.
Da — die Speisen sind verschwunden,
Und verschwunden ist der Wein, —
Ihre Strafe ist gefunden.
Konnt' nicht schreckensvoller sein.
O b e r h o n e.
Jetzt der König hebt den Becher
Leer empor im Kerzenschein:
„Auf, ihr nimmermüden Zecher,
Wollen lustig, lustig sein!"
„Lustig! Lustig!" hallt es wieder
Aus der durstigen Zecher Reih'n -
„Lustig! Luftig!" ans und nieder.
Doch es fehlt die Lust, — der Wein!
Hohle Augen — durst'ge Kehlen —
Flaschen, Flaschen überall.
Doch kein Tröpfchen will sich stehlen
In den funkelnden Krystall.
Die im Karneval des Lebens
Endlos schlürften Zug ans Zug,
Ach, sie jammern jetzt vergebens
Nur nach einem vollen Krug. -- -
Mitternacht — int Nu zerflossen
Sind die Schemen, frei der Qual, —
Und vom Mondlicht übergössen
Still im Park ruht Wilhelmsthal.
Renatus Rarl
Von A u g. R e
^ie Jahrhundertwende hat bei der Gießener Hoch-
"schule das Andenken eines Mannes erneuert,
dem sie dauernde Dankbarkeit schuldet. Renatus
K a r l F r h r. v. S e n ck e n b e r g hatte testamentarisch
seine Bibliothek, welche über 15 000 Bände, über
900 Handschriften und eine Sammlung von Ur-
kunden umfaßte, der Ludoviciaua vermacht, ilnd
diese Bestimmung trat mit dem 18. Oktober 1800,
seinem Todestage, in Kraft. Ter Bestand der
v. Senckenberg.
lter, Marburg.
akademischen Büchersammlnng wuchs damit um das
Doppelte; Grund genug, daß die Nachfahren des
hochherzigen Stifters sich erinnern. Es ist dies
durch eine Festschrift der Universität geschehen, in
welcher ihr Oberbibliothekar. Professor Hermau
Haupt, den Lebensgang Seuckenbergs in höchst
anziehender und lichtvoller Weise schildert.*) Es
*) Renatus Karl Frhr. v. Senckenberg. (1751—1800.)
Akit einem Porträt. Gießen 1900. 60 S. 4".
50
sei gestattet diesem fein ausgearbeiteten Bilde des
Menschen und Gelehrten eine anspruchslose Skizze
nachzuzeichnen.
Karl Renatus wurde am 23. Mai 1751 als
der älteste Svhu des bekannten Juristen Heinrich
Christian v. Senckenberg in Wien geboren. Sein
Vater bekleidete die Stelle eines Reichshofrats, für
einen Frankfurter und Protestanten, der er war,
eine seltene Auszeichnung. Trotz der Geschästslast,
die ihn drückte, fand er Muse zu wissenschaftlicher
Thätigkeit in der Jurisprudenz und der mit dieser
eng verschwisterten Historie. In diese Fächer seinen
Ältesten so früh als möglich einzuführen war des
Reichshofrats eifriges Bemühen. Bis zum neunten
Jahre alte und neue Sprachen, Geographie und
Mathematik, dann neben und über diesen allen die
Rechte: das war der inhaltsreiche Stndienplan, bei
dem es nichts verschlug, daß der jugendliche Schüler
geistig überfüttert, körperlich geschädigt wurde. Eine
Reise, welche Vater und Sohn zur Krönung
Josephs II. nach Frankfurt führte, durste nicht
zur Erholung dienen, sie bot dem alten und jungen
Juristen erwünschten Anlaß in die düstern Ge-
heimnisse des Teutschen Staatsrechtes tiefer ein-
zudringen. Erst der Tod des Reichshofrats im
Mai 1768 bereitete dem gewaltsamen Lehrbetrieb
ein Ende. Im Herbst d. I. bezog Renatus die
Universität Göttingen, die damals noch in frischer
Jugend blühende Stiftung Münchhausens. —
Zart und schwächlich, ein Büchermensch freund-
lichen Sinnes, ein wenig altklug: so tritt der
kleine neunjährige Gelehrte uns ans dem Titelbilde
der Hauptschen Festschrift entgegen. Nicht viel
anders wird der siebzehnjährige Student geartet
gewesen sein; eine hoffnungssrohe Prognose können
wir seinem Leben nicht stellen. —
Von dem studentischen Leben zog er sich, wie
wir hören, in Göttingen scheu zurück; studieren,
nur studieren! Ebenso wird er es in Straßburg
gehalten haben, wohin er sich 1771 aus Gesundheits-
rücksichten begab. Auch in Wetzlar, wo er als
Rechtspraktikant beim Reichskammergericht im Herbst
1772, dann von Mai bis Oktober 1773 sich aus-
hielt , gehörte er schwerlich der Rittertasel an, in
welcher sein Kollege Goethe sich vor kurzem über-
mütig getummelt hatte. Es trat damals eine nicht
leichte Aufgabe an ihn heran. Sein Oheim, der
Frankfurter Arzt Johann Christian S., der jüngste
Bruder seines Vaters, starb im November 1772.
Er hatte fast sein ganzes Vermögen den von ihm
begründeten Stiftungen vermacht, die heute noch
sein Andenken rühmen, und der junge juristische
Neffe sollte die schwierigen Geschäfte führen, die
der Tod des Erblassers unvermeidlich machen würde.
Renatus hat btefen Auftrag mit Aufopferung von
viel Zeit und Kraft treulich ausgeführt.
Den Abschluß seiner Vorbereitung für den Lebens-
beruf fand Renatus in einer Reise nach Italien,
die ein volles Jahr in Anspruch nahm. Hier sind
es nicht die Wunder der Natur und die Schütze
der Kunst, die ihn entzücken oder gar begeistern:
nein, er schwelgt in historisch-antiquarischen Remini-
scenzen. „Horaz und Virgil waren bei Besuch der
von ihnen erwähnten Örter meine steten Begleiter."
„Die Erinnerung an die alte Geschichte Roms hatte
etwas unaussprechlich Süßes für mich." Daneben
werden höchste, hohe und Standespersonen besucht.
Es ist lehrreich zu sehen, in welcher Stimmung
und zu welchen Zwecken ein sehr gebildeter Durch-
schnitts-Deutscher in den Tagen Winckelmanns und
Goethes zu den klassischen Städten pilgert. —
Nach der Rückkehr in die Heimat (Januar 1775)
erhielt Renatus ein Amt: er wurde Beisitzer bei
der landgräslichen Regierung 511 Gießen. Anderthalb
Jahre darauf verheiratete er sich mit Anna
Margaretha von Ranen. 1777 ward ihm eine
Tochter geschenkt; sie ist das einzige Kind ge-
blieben.
Im folgenden Jahr tritt das Schicksal furchtbar
in sein Leben. Es ist eine Tragödie, die sich ab-
spielt; leider nur ist er kein Held.
Bei den Ansprüchen, die Österreich gelegentlich
des Todes von Maximilian Joseph (1777) ans
einen großen Teil des Kurfürstentums Baiern er-
hob und die von dessen Nachfolger, Karl Theodor
von der Pfalz, anerkannt wurden, hatte eine Ur-
kunde, nach welcher 1426 Herzog Albrecht von
Österreich von Kaiser Sigmund mit jenen Gebiets-
teilen belehnt war, die entscheidende Rolle gespielt.
Die Echtheit der Urkunde und die Ansprüche Öster-
reichs wurden von Herzog Karl von Zweibrücken
und vor allem von Friedrich dem Großen bestritten.
Es kam am 3. Juli 1778 zur Kriegserklärung
Preußens an Österreich.
Nun hatte Renatus unter Anleitung seines Vaters
vor Zeiten eine Urkunde abgeschrieben, die in
direktem Widerspruch stand zu der von Österreich
präsentierten. Nach diesem Dokument hatte der
nämliche Herzog Albrecht am 30. November 1429
ans die fraglichen baierischen Gebiete verzichtet.
Darnach also waren die österreichischen Ansprüche
schon seit 350 Jahren null und nichtig. Eine
Abschrift dieses Instrumentes teilt Senckenberg am
21. Juni, also noch v 0 r erfolgter Kriegserklärung,
dem ihm befreundeten baierischen Rat Lamey in
Mannheim mit. Sie wird dem preußischen Hose
bekannt, Friedrich benutzt sie bei diplomatischen
Verhandlungen schon am 17. Juli und bringt sie
wenige Tage später dem Regensburger Reichstag
51
zur Kenntnis. Nun dringt auch der Name des >
Entdeckers der Urkunde an die Öffentlichkeit: Preußen
macht Senckenberg Anträge in seine Dienste zn 1
treten. Er. der geborene Österreicher und loyale
Unterthan Maria Theresias weigert sich. Auch
dem Ansinnen über die Herkunft des Schriftstücks
vor seinem vorgesetzten Minister, v. Moser, Zeugnis
abzulegen, entzieht er sich und begiebt sich — in
des Löwen Rachen, nach Wien. Dort, wo mau
den Zusammenhang zwischen dem Sohn des Reichs- !
hosrats und der unbequemen Urkunde noch nicht
ahnt, verrät er sich durch unvorsichtige Äußerungen.
Amtlich vernommen, wird er durch einen vergeblichen
Fluchtversuch doppelt verdächtig. Man verwickelt
ihn in eine Untersuchung, in der er seinen Anteil
an der für Österreich peinlichen, ja gefährlichen
Publikation gesteht. Als nun am 14. Dezember
eine zweite preußische Staatsschrift die Echtheit der
Urkunde 311 erweisen sucht und dabei sich ans
Senckenberg als Gewährsmann Lernst, wird gegen
diesen eine zweite, verschärfte Untersuchung an-
gestrengt. Man bemüht sich in ihn hinein zu
verhören, was man zu erfahren wünscht: eine be-
wußte Fälschung zn Gunsten der Gegner, zum
Schaden Österreichs. Senckenberg bleibt standhaft
bei der Aussage, daß er, von der Echtheit des
Schriftstücks vollkommen überzeugt, durch dessen
Preisgabe an die Öffentlichkeit nur den einen
Zweck im Auge gehabt habe, den Frieden zwischen
den streitenden Parteien wieder herzustellen. Bis
wenige Tage vor dem Ende des Krieges zieht sich
die schmach- und qualvolle Inquisition hin; dann
wird die Untersuchung, „aus ganz besonderer Milde"
niedergeschlagen. Doch muß Senckenberg Wien und
die österreichischen Lande in kürzester Frist ver-
lassen ; er soll nie wieder dahin zurückkehren. Der
Eifer einflußreicher Freunde, besonders des Geheim-
rats Grolmann in Gießen, hatten diesen ver-
hältnismäßig günstigen Ausgang herbeigeführt.
(Schluß folgt.)
-------------------
Der innere Appell.
Novellette von E. Mentzel.
(Schluß.)
War es stille väterliche Sehnsucht, war es das
Verlangen, doch endlich auch kennen zu lernen, was
die Tochter denn eigentlich zu leisten vermochte, die
den Bater so willfährig stimmten? — Er erklärte
sich sofort bereit, den Wunsch der Gattin 311 er-
füllen, und ließ sich sogar bestimmen, anstatt des
altmodischen schwarzen Halstuches ins Konzert eine
moderne dunkle Kravatte vorzubinden. Nur die
Handschuhe zog er nicht an, er trug sie aber in
der Hand und nahm sogar einige Weisungen für
sein Verhalten ruhig hin.
Als Konstanze am Könzertabend in schlichter,
aber hochfeiner Toilette aus weißem Atlas aus
ihrem Platz vor dem Orchester in den glänzend
erleuchteten Saal trat, weiteten sich die Augen des
alten Mannes so, als sähe er eine überirdische
Erscheinung. Dann begann es in seinem Gesichte
zu zucken, bewegte er den Oberkörper mehrmals
hin und her, als suche er einen Sturm in seinem
Innern gewaltsam nieder zu meistern. Nachdem
Konstanze, die an diesem Abend sehr gut bei Stimme
war, eine Arie und verschiedene Lieder in großer
Erregung hinausgeschmettert hatte, konnte sich Meister
Müller nicht länger beherrschen. Frau Betty sah,
daß ihm zwei Thränen in den grauen Bart kollerten.
Sie that aber, als merkte sie nichts davon, und
freute sich alsbald über die stolzen Blicke, die der
Meister nach dem Überwinden weicher Empfindungen
zu der Tochter hinüber sandte. Wie aber strahlte erst
sein Gesicht, während diese am Schluß des Konzertes
immer wieder gerufen wurde und sogar einen
prächtigen Lorbeerkranz erhielt, den ihr ein hoher
Beamter der Provinz überreichte. Meister Müller
schüttelte immer wieder den Kops; denn er begriff
jetzt selbst nicht mehr, daß die gefeierte Dame seine
Tochter Stanzchen sei. In die stolze Baterfreude
mischten sich aber auch solche tiefe Empfindungen
von Achtung und Bewunderung, wie sie der alte
Mann noch nie für ein weibliches Wesen empfunden
hatte. Da gab's keine Selbsttäuschung mehr, er
mußte zugeben, daß Stanzchen Recht behalte und
aus eigner Kraft mehr geleistet hatte, wie ein paar
tüchtige Söhne zusammen.
Nachdem die Sängerin den Konzertsaal verlassen
hatte und in einen angrenzenden Raum getreten
war, wurde sie von allen Seiten umringt und mit
Huldigungen wahrhaft überschüttet. Es hielt sie
aber keine Minute länger zwischen all den fremden
Menschen, sie machte sich frei, um in einem anderen
Zimmer Vater und Mutter zu begrüßen, die bereits
auf sie warteten.
Die tief ergreifenden Eindrücke des Wiedersehns
wollten sowohl den alten 'Mann als auch die beiden
Frauen überwältigen. Allein Konstanzens glückliche
Gabe, durch unmittelbare humorvolle Einwürfe der
Rührung eine Grenze zu ziehen und dem erschütternden
Ernst durch heitere Wendungen jegliche Wehmut 311
nehmen, erhielt dem Wiedersehn den Schimmer der
Freude und ließ es' ohne Thränen, ohne störende
Erschütterungen vorübergehen.
VI.
Dieselbe Hand, die das trotzige Stanzchen einst
von der Schwelle des Vaterhauses wies, hat Kon-
stanze viele Jahre später, vor Erregung zitternd, j
wieder in ihr altes Heim eingeführt. Der große Er-
folg ließ auch bei den Leuten in der Stadt ihre einstige
Handlungsweise mit einemmale in ganz anderem
Lichte erscheinen. Es war ein solcher Umschwung
in der Stimmung der Verwandten und Bekannten
eingetreten, daß man es sogar als eine hohe Ehre
betrachtete, wenn die berühmte Sängerin da und
dort einen Besuch machte. Sie sah denn auch nach
all den alten Freundinnen, die teuere Jugend-
erinnerungen mit ihr teilten, und trug ihnen die
einstigen Vorurteile nicht nach. Freilich waren es
stets nur sehr kurze Besuche; denn Konstanze wollte
die wenigen freien Tage zum innigsten Verkehr mit
ihren Familienangehörigen ausnutzen.
Namentlich bereitete ihr das Zusammensein mit
dem Bruder herzliche Freude. Er war ein begabter
Junge, gleichfalls musikalisch veranlagt und so be-
geistert für alles, was echte Kunst hieß, daß er in
der geliebten Schwester seine höchsten Ideale ver-
körpert sah. Da Bernhard das Gymnasium be-
suchte, empfing er von früh an eine bessere Bildung.
Mit dieser paarte sich aber ein großes technisches
Geschick, das ihn nach dem Verlassen des Gymnasiums
bestimmte, der Gelehrsamkeit zu entsagen und einen
praktischen Beruf zu wählen. Bernhard ist Elektro-
techniker geworden,, er hat die Absicht, die Schlosser-
werkstätte des Vaters zu einer großen Fabrik aus-
zugestalten. Sein eiserner Wille, seine reichen Gaben
und sein angeborenes Erfindertalent werden ihn sicher
an ein schönes Ziel führen.
Meister Müller ist so weit gekommen, sogar offen
zu bedauern, daß er einst gegen Stanzchen zu hart
gewesen sei. Freilich, wie er stets hinzufügte, war
das ja nur geschehen, weil sie ein Mädchen war, das
nach gut bürgerlicher Anschauung nun einmal keinen
Willen haben durste. Ost hat sich der Mann sogar
später selbst als warnendes Beispiel hingestellt, wenn
in ähnlichem Falle die Eltern eine Tochter mit Gewalt
vom selbst erwählten Wege hinweg zwingen wollten.
Deshalb wird Meister Müller auch nicht böse
werden, sollte ihm jemals diese Geschichte vor Augen
kommen. Er weiß ja, daß Konstanze Eberhard,
die als Bühnenkünstlerin seinen Vornamen als
Zunamen erwählte, heute noch so treu an ihm
hängt wie einst Stanzchen Müller. Was der
Mann that, entsprang ja nicht böser Gesinnung,
sondern alten tieseingewnrzelten Vorurteilen. So-
genannte hochgebildete Leute kämpfen ja auch oft
dagegen vergeblich, besonders, wenn ihnen von der
wohlmeinenden Ansicht guter Freunde die Waffen
ans der Hand gewunden werden.
Stanzchens Vater weiß jetzt, eine andere Zeit
ist angebrochen, nach den alten verknöcherten An-
schauungen kann man heutzutage die Menschen
nicht mehr beurteilen, ohne hart und ungerecht
zu werden. Daß die begabte Tochter einer Ver-
wandten eine Kunstschule besuchen darf, ist Meister-
Müllers Werk, weil er die Kosten dafür bezahlt.
Er bespricht jetzt auch alle wichtigen Dinge mit
seiner Frau und duldet sogar deren Widerspruch.
Obwohl Meister Müller noch frisch wie früher
ist, hat er als fürsorglicher Mann doch bereits sein
Testament gemacht. In einer Verfügung desselben
vermachte er dem Konservatorium, das seine Tochter
ausbildete, eine sehr ansehnliche Summe. Was ihn
immer gedrückt, wollte er damit ausgleichen; denn
er hatte sich nie anders wie als stillen Schuldner
der Anstalt gefühlt und besaß viel zu ehrenhafte
Gesinnungen, um die Sache ohne Ausgleich zu lassen.
Frau Betty ist das stille gefügige Wesen von
einst nicht mehr. Erlebnisse und Erfahrungen, ganz
besonders aber der Einfluß der Stieftochter, haben
sie längst zu einer entschiedenen Frau erzogen und
ihr den Mut zur eignen Überzeugung eingeflößt.
Heute noch ist Frau Betty die beste Freundin
Konstanzens. Nie hat ein Mißverständnis das
Einvernehmen zwischen den zwei sonst so ungleichen
Frauen getrübt. Für Frau Betty giebt es wie für
ihren Sohn nichts Höheres, nichts Schöneres als
Konstanze, die stets für beide das alte Stanzchen
bleibt, einmal singen zu hören. Und über die
Sängerin kommt stets eine eigene Weihe, wenn sie
Mutter und Bruder unter den Zuhörern weiß. Der
Mutter ist sie doch unter allen Menschen den meisten
Dank schuldig. Das möchte sie zum Preise der
treuen Seele stets jubelnd in alle Welt hinaus singen.
Tie Zeiten ändern sich; wie die Ideale, so
wandeln sich auch die Ansichten über die Rechte der
Persönlichkeit. Jedoch Kämpfe für den Einzelnen,
der aus engem Gehege hinaus auf eine freiere Höhe
strebt, wird es wohl stets geben. Hier liegt die
tiefste Tragik des Lebens verborgen; denn wer nicht
oben ankommt und wieder in die Tiefen zurückfällt,
darf aus den Glauben der Menschen an seine Be-
rufung 31t Besserem nicht rechnen, muß vielmehr
darauf gefaßt sein, die grausamen Seiten der
menschlichen Natur gründlich kennen zu lernen. Es
ist oft kein Verdienst, sich durchzuringen, und keines-
wegs Schuld oder Alangel an ernsten Willen, aus
dem Kampf nicht als Sieger hervorzugehen.
Wohl dem, der gesund ist, dem die innere Stimme
immer wieder neu den Mut stählt und genau anzeigt,
was zu ergreifen ist und was zu fliehen. Heute,
wo die Errungenschaften der Künstlerin in Wider-
streit gerieten mit alten Herzenswünschen des Weibes,
heute hört Stanzchen Müller wieder still beglückt
auf den inneren Appell und folgt ihm mit fröhlicher
Zuversicht.
Nachwort der Herausgeberin.
Dieser wahren Geschichte habe ich nur noch eine
Mitteilung hinzuzufügen. Konstanze Eberhard — die
unvergleichliche Nachtigall nuferer Oper — ver-
lobte sich vor einigen Wochen mit dem berühmten
Geigenspieler Professor Mellinor, ihrem ehemaligen
Gesangslehrer in der Mädchenschule der kleinen
hessischen Stadt. Beide haben Jahre laug nicht mit-
einander in Verbindung gestanden. Entscheidende,
meist traurige Verhältnisse machten es Mellinor un-
möglich, persönlich in den Entwicklungsgang seiner
einstigen kleinen Freundin einzugreifen. Aus der
Ferne freilich hatte er ihn immer mit Teilnahme
verfolgt und ist, wie er mir selbst sagte, stets im
Stillen glücklich darüber gewesen, daß Andere dem
großen Talente die Wege ebneten, dessen Förderung
ihm selbst nicht vergönnt war.
Vor mehreren Monaten wirkte das Künstlerpaar
in einem Museumskonzerte in Frankfurt am Main
--*»■
Kasseler
Von W. n
I. Der Lieutenant und der Schreiner.
Vor der großen Erweiterung Kassels nach allen
Himmelsrichtungen hin, also vor dem Jahre 1866,
nahmen Offiziere nicht selten in der Altstadt ihr
Quartier, besonders die Jüngeren, und so kam es.
daß in der Mittelgasse ein Premierlieutenant vom
Leibregiment wohnte, ja sogar ein adeliger Premier-
lieutenant — wir wollen ihn von Cardinal nennen.
Obgleich die „Konräderchen", wie das Leibregiment
bekanntlich genannt wurde, im Verhältnis zur Garde
aus kleineren Leuten bestanden, so war Lieutenant
von Cardinal, wie auch noch viele andere seiner
Kameraden im Regiment, von ansehnlicher Körper-
länge, aber dabei von einer Magerkeit, die ihres-
gleichen suchte. Hatte er keinen Dienst, so liebte
es Herr von Cardinal des Morgens eine Stunde
im Fenster seiner au premier befindlichen Wohnung
zu liegen und seinen mit seidenem Band umwickelten
Tschibuk zu rauchen. Wenn er so im grauen
Schlasrock aus dem Fenster schaute, mit dem hageren,
todblassen Gesicht, in das rechte Auge ein Glas
geklemmt, aus dem Haupte einen roten Fes mit
blauer Quaste, so sah er wirklich selbst im hellsten
Sonnenschein ein wenig gespensterhast aus, wodurch
es kommen mochte, daß die Jungen einen so heil-
losen Respekt vor ihm hatten, und wenn sie vor
seiner Wohnung Soldaten spielten und es ihm Spaß
machte, sie zu kommandieren, ihm aufs Wort gehorchten.
zusammen. Diesem beglückenden Wiedersehn folgte
alsbald die Verlobung. Der Professor ist seit etwa
anderthalb Jahren Wittwer. Er war mit der
berühmten Pianistin Ernestine Degner vermählt, die,
wie bekannt, in bereits sehr vorgerückten Jahren
mit ihrem Jugendgeliebten, dem genialen Schauspieler
Börner, gemeinsam in den Tod ging. Schon hieraus
dürfte ersichtlich sein, daß die Ehe keine glückliche
war. Die Frau soll ihrem Manne eine Reihe
schmerzlichster Enttäuschungen bereitet und ihm die
Ausführung seines Berufes oft sehr erschwert
Wer Stanzchens Geschichte aufmerksam las, weiß,
daß Koustanze Eberhard auch bei ihrer Wahl dem
Inneren Appell" folgte, llnbewußt hat sie Mellinor
schon als ganz junges Mädchen geliebt und ihn nie
vergessen können. Sie wird ihm deshalb auch nach
so viel bittern Erfahrungen ein echtes Glück schenken
und sicher selbst glücklich werden. Die Verheiratung
erfolgt binnen kurzem. Koustanze Eberhard ver-
läßt die Bühne, um später nur noch in Konzerten
ihre schöne Stimme hören zu lassen.
-------------
Skizzen.
8 en necke.
Einige Monate lang hatte von Cardinal in der
Mittelgasse gewohnt und morgens im Fenster ge-
legen und den Spielen der Nachbarskinder zugesehen,
als ihm auffiel, daß an der gegenüber befindlichen
Straßenseite allmorgendlich ein Mann stand, der
ihn aufmerksam zu beobachten schien. Der Kleidung
nach konnte es ein Handwerksmeister sein — was
aber hatte dieser für ein Interesse an dem Lieutenant,
der doch keinen eigenen Hausstand besaß und auch
nicht auf Freiersfüßen ging, sodaß er etwaige
Bestellungen hätte machen wollen. Lauge grübelte
Cardinal darüber nach, während er die blauen
Wölklein aus seinem Tschibuk emporsandte und
dazwischen den exerzierenden Jungen hin und
wieder ein „Schritt gehalten, Ihr Himmelhunde!"
zurief, ohne durch sein Nachgrübeln jedoch klüger
zu werden.
Nachdem acht Tage so verflossen waren, und
der Meister da drüben eben so regelmäßig auf
seinem Beobnchtuugsposten erschienen war, als der
Lieutenant am Fenster, sing den letzteren doch
die Neugierde zu plagen an und er befahl seinem
Burschen den Mann in unverfänglicher Weise aus-
zuforschen. Da der Bursch für diesen Auftrag
passender war als der Bruder Bouafides im „Nathan
den Weisen", so konnte er seinem Lieutenant gar
bald berichten, daß der Handwerksmeister ein Schreiner-
aus der Nachbarschaft sei, der im Hinblick aus das
so überaus schlechte Aussehen des Herrn von Cardinal
54
auf dessen baldige Abfahrt zur grüßen Armee
rechnete und sich die Gelegenheit nicht entgehen
lassen wollte, der erste am Platze zu sein, ihm
das Maß zum Sarge zu nehmen, denn Sarg-
magazine wie heutzutage gab es damals noch nicht.
Donnerwetter noch' mal! Als das der Lieutenant
hörte, wollte er fast bersten vor Lachen, denn er
fühlte sich so gesund wie ein Fisch im Wasser,
und als er sich einigermaßen erholt hatte, rief er:
„Sag' dem Teufelsbraten, ich that' schon seit zehn
Jahren sterben, das sei eine meiner Liebhabereien,
aber nun wär' durch das verd.......Rauchen es
bald Matthäi am Letzten, und ich roch' nach Tannen-
holz von oben bis unten!" Und dann entwarf
er einen Plan, der denn auch bis zu Ende aus-
geführt wurde. An einem der nächsten Tage er-
schien der Lieutenant ohne Tschibnk am Fenster,
dann einige Tage lang mit einem dicken wollenen
Shawl um den Hals, dann hinter dem geschlossenen
Fenster und zuletzt wurde er gar nicht mehr sichtbar.
Der Meister hatte dies alles wohl beobachtet und
nicht ermangelt bei seinem neuen Bekannten, dem
Burschen, Erkundigungen über das Befinden des
Herrn Lieutenants einzuziehen, die aber immer
------------8-
Aus Heirnat
Hessischer Geschichtsverein. Der Verein
für hessische Geschichte und Landeskunde in Kassel
hielt Montag, den 3. Februar, im Evangelischen
Pereinshanse seine Monats-Versammlung ab. Nach-
dem der erste Vorsitzende, Herr General Eisen traut,
die Anwesenden begrüßt und einige geschäftliche
Mitteilungen gemacht hatte, kam eine Angelegenheit
zur Sprache, welche den letzten wissenschaftlichen
Unterhaltungsabend betraf. An demselben war aus
der Mitte der Versammlung auf das im Verlag der
Vietorschen Hosbuchhandlnng in Kassel erschienene
Buch „Die Bilstein er" von Lotte Gubalke
aufmerksam gemacht worden, da dasselbe „einen
schweren sittlichen Vorwurf gegen das hessische
Landvolk enthalten solle". Unter der Voraus-
setzung, daß dies der Fall sein könne, hatte die
Versammlung Protest gegen die Anschuldigung
unseres ehrbaren Bauernstandes erhoben. Dieser
Protest, betonte Herr General Eisentraut, sei
hauptsächlich durch die in dem Buch enthaltenen
Ortsbezeichnnngen „Bilstein" und „Boineburg"
hervorgerufen worden, die ans bestimmte Ört-
lichkeiten in Hessen hinzudeuten scheinen. Eine
Richtigstellung des Sachverhalts gab nunmehr
Herr Ober-Bibliothekar Di-. Brunner vermittels
eines Briefes der Verfasserin, in welchem dieselbe
ausführt, daß der Schauplatz ihrer Erzählungen in
schlechter lauteten, bis der Bursche eines Morgens
die Trauerbotschaft brachte, daß sein Lieutenant
in der Nacht gottselig entschlafen sei. Schnell wie
der Wind sprang nun der Schreiner die Treppe
hinaus, denn daß kein anderer als er dem Lieutenant
den Sarg machen solle, hatte er mit dem Burschen
in der „Stadt Stockholm" feierlich verabredet.
Neben der Stube des Lieutenants befand sich ein
Alkoven durch ein Gntlicht erleuchtet und da
lag nun der Cardinal lang und steif im Nacht-
hemd ans dem Bett, säst schon wie ein Skelett
anzusehen, so schrecklich mager war er. Der Meister
zog sein Maß hervor und fing nun an herum-
zuhantieren, als er aber im besten Messen war,
richtete der Lieutenant sich plötzlich himmellang im
Bett in die Höhe und schrie, einen Ausklopfer
hervorziehend mit hohler Stimme: „Was störst Du
mich in meinem ersten Schlaf?" daß der erschrockene
Meister alles stehn und liegen ließ und Hals
über Kopf davon rannte.
Am andern Morgen lag der Lieutenant seinen
Tschibnk rauchend nach wie vor im Fenster; der
Meister Schreiner aber ward nicht wieder vor
ihm sichtbar.
-------------
uirö Freinde.
Hessen nicht zu suchen ist. Auch erwähnte Herr
Ober-Bibliothekar Dr. Brunner, daß bereits eine
ähnliche Erklärung in einer Sitzung der Kasseler
Schriftstellervereinignng „Freie Feder" abgegeben
worden sei. Der Geschichtsverein spreche seine volle
Befriedigung über die erhaltene Erklärung aus,
wodurch der unter Vorbehalt ausgesprochene Protest
zurückgezogen werde. Noch kurz das Buch als
litterarische Erscheinung streifend, bemerkte Herr
Dr. Brunner, daß sein Inhalt eine Fülle poetischer
Gedanken aufweise. Nunmehr erteilte der Vor-
sitzende dem Herrn Oberlehrer Grebe das Wort
zu dem angekündigten Vortrag: „Ludwig der
Fri edsame". Herr Grebe hatte schnell für Herrn
Dr. Krollmann einspringen müssen, welcher durch
Unwohlsein verhindert war, den in Aussicht gestellten
Vortrag über die „Sittenzustände in den hessischen
Ritterburgen zur Zeit des ausgehenden Mittelalters"
zu halten. Wohl der hauptsächlichste Grund, aus
welchem der „princeps pacis“ und seine Zeit ge-
schildert wurde, war darin zu finden, daß am
6. Februar d. I. die 500. Wiederkehr des Geburts-
tages dieses bedeutenden Hessenfürsten verzeichnet
werden konnte. Außerordentlich sympathisch berührte
die Einleitung zu der Geschichte Ludwigs, in der
Herr Oberlehrer Grebe der Sehnsucht, welche die
deutschen Kaiser und ihre Völker nach Italien ge-
zogen hatte, einen sehr warmen, ergreifenden Ansdruck
gab. Als Ludwig, mit 14 Jahren mündig ge-
worden, die Regierung antrat, war von dem poetischen
Hauche, welcher die Römer- und Kreuzzüge dnrch-
weht, nichts mehr zu spüren, vielmehr mußte es
eine seiner Hauptsorgen sein, die Ilnmäßigkeit in
seinem Lande und vorzüglich in seiner Residenzstadt
Kassel zu bekämpfen. Reben diesem internen blauen
Kreuzzug stritt er aber auch mannhaft gegen die
äußeren Feinde seines Gebietes und besiegte den
Grafen Johann mit der Haube von Nassan-Tillen-
bnrg und den Erbfeind Hessens, den Bischof von
Mainz. Die Schlacht bei Englis mit dem Feld-
ruf: „Heute Landgraf oder keiner mehr!" und ihr
siegreicher Ansgang für Ludwig ist ein unvergilbtes
Blatt in der hessischen Geschichte. Und diesen
thatkräftigen, wenn auch im Gegensatze zu seinem
Bater, Hermann dem Gelehrten, des Lesens un-
kundigen Fürsten hatte man böswilligerweise als
zum Regieren unfähig hinstellen wollen, sodaß er mit
000 Pferden zum Kaiser Sigismund nach Kostnitz
zog, worauf er von diesem am 25. Mai 1417 die
Reichsbelehnung empfing, da der schöne Sigismund mit
scharfem Blick die natürlichen Fähigkeiten Ludwigs
im Umgänge mit ihm bald erkannt hatte. Da die
Geschichte des Landgrafen Ludwig im „Hessenland"
bereits mehrfach geschildert worden ist (Jahrgang
1887, Seite 266 ff. „Ein Fürst des Friedens"
von F. Zw eng er, und in demselben Jahrgang
Seite 154 ff. „Die Pilgerfahrten der Landgrafen
Ludwig I. und Wilhelm I. von Hessen nach dem
heiligen Grabe" von C. v. Stamford), so sei nur
noch bemerkt, daß unter seiner Regierung die Graf-
schaften Ziegenhain und Nidda an Hessen fielen, der
Bau der großen Kirche in Kassel vollendet und gegen
die Mißbräuche in den Klöstern eingeschritten wurde.
Vom Papste Nikolaus V. erhielt er bei feierlicher
Übereichung der goldenen Rose den Namen „princeps
pacis“. Vermählt war dieser hessische Friedensfürst
mit einer Tochter Friedrichs des Streitbaren. Er
starb 17. Januar 1458 zu Spangenberg, nachdem
er ans dem Sinnfelde gegen westfälische Dynasten
eine Niederlage erlitten hatte. Mit seinem Tod ging
eine ihm gewordene astrologische Weissagung in
Erfüllung, daß er fünfzig Jahre lang glücklich
regieren werde, dann nicht mehr. Was die Ursache
seines Ablebens gewesen ist, erscheint in Dunkel
gehüllt, es ist zweifelhaft, ob er bei chemischen
Bersuchen zufällig oder in einem Kloster durch
Vergiftung seinen Tod gesunden hat. Der
interessante Vortrag des Herr Oberlehrer Grebe
wurde von den Anwesenden mit vielem Beifall
ausgenommen.
Der Verein für hessische Geschichte in Marburg
hielt am 7.Februar im Museum eine Sitzung ab, auf
deren Tagesordnung kleinere historische Mitteilungen
standen. Zunächst gab Herr Hanptlehrer Schneider
Auskunft über den Verbleib des Riesenhöschens auf
dem Ringwalle der Eubenhardt. Dieser Ringwall
zeigt eine doppelte Anlage, eine äußere und eine
innere; er besteht aus Steinen und Erde. Er war
450 Schritte lang und 20 Schritte breit. Ein
Graben fehlte an der äußeren Seite. Die Anlage
ist als Verteidigungsstätte aufzufassen. Innerhalb
des äußeren Walles befand sich ein innerer Stein-
wall, der die Gestalt einer Ellipse hatte. Der zwei
Meter breite Eingang lag an der westlichen Seite.
700 Schritte südlich befand sich ein Brunnen, der
jetzt zerstört ist. Seit drei Jahren besteht das
Riesenhöfchen nicht mehr. Tie Steine sind zum
größten Teil zum Bau eines Wirtshauses in Sarnau
verwandt worden. Ähnliches berichtete Herr Apo-
theker Strippet von der Kapelle hinter Lüders-
dorf bei Rotenburg. — Herr Archivar Dr. Reimer
teilte dann Verschiedenes aus das Jahr 1818 Be-
zügliche aus dem Tagebuch des späteren Wolfhager
Landrates Karl Bickell, des Vaters des ver-
storbenen Konservators Dr. Bickell, mit, das sich
in dessen Nachlaß gefunden hat. Karl Bickell
studierte damals in Marburg Forstwissenschaft und
schildert die bei der Vertreibung der Franzosen aus
i Hessen und dem Einrücken der Befreier in Marburg
I herrschende Stimmung, namentlich die unglaublich
hoch gestiegene Begeisterung bei der Durchreise des
Kurfürsten am 25. November. — Schließlich legte
Herr Archivar Dr. Küch Briese von den drei
bedeutendsten hessischen Humanisten Mutianus Rufus,
Eobanus Hessus (von diesem das einzige Schreiben
in deutscher Sprache, das erhalten ist) und Euricins
Eordus vor, deren Inhalt er ausführlich besprach.
Ein eigenhändiger Brief Mutians an den hessischen
Kanzler Johann Feige vom 15. Mai 1528 enthält
die Bitte, die seiner Gerstunger Pfründe zehnt-
pflichtigen Einwohner des Amtes Friedewald zur
Zahlung zu veranlassen. Ungefähr in dieselbe
! Zeit gehört das undatierte Schreiben des hessischen
! Dichterfürsten Eobanus Hessus an den landgräs-
' lichen Registrator Johann von Sachsen, das auf
die Sickingische Fehde Bezug hat. Auf Euricins
! Cordus schließlich beziehen sich zwei Schreiben.
! Das eine von des Dichters geistig hervorragender
I Frau Kunigunde vom 12. März 1527 behandelt
seine Berufung an die neu zu gründende Universität
; Marburg, das andere von Cordus selbst ist 1538
unmittelbar vor seinem Abzug nach Bremen ab-
gefaßt und enthält die Bitte um Ersatz der Bau-
kosten seines ihm zur Nutznießung überlassenen am
Pädagogium gelegenen Marbnrger Hauses, sowie
um Weiterbezug seiner Rvtenbnrger Pfründe. Zum
Schlüsse der Sitzung erörterte der Vorsitzende,
zurückgreifend auf die Mitteilungen über die Zer-
störung des alten Ringwalles, die mit Bewilligung
einer staatlichen Behörde geschah, die Gründe, die
in unserer Zeit vielfach die zum Schutze der Denk-
malspflege erlassenen amtlichen Verordnungen ver-
eiteln. Er fand diese Gründe n. A. auch darin,
daß den amtlich bestellten Knnstkvnservatvren zu
wenig ausführende Gewalt verliehen sei, daß diese
oft zu spät oder gar nicht von der Gefährdung
eines Denkmals unterrichtet würden, und daß auch
häufig keine Gelder zum Ankaufe, zur Herstellung
oder Konservierung in ihrem Bestände bedrohter
Kunstdenkmäler vorhanden seien.
Universitätsnachrichten. Der bisherige
außerordentliche Professor Dr. Walter Tröltsch
an der Technischen Hochschule zn Karlsruhe wurde
zum ordentlichen Professor der philosophischen
Fakultät der Universität Marburg ernannt. -
Der Oberbibliothekar an der Universitätsbibliothek
zu Marburg Dr. jur. Paalzow ist in gleicher
Eigenschaft an die Königl. Bibliothek in Berlin
versetzt worden.
Todesfall. Zn Kassel verstarb am 10. Februar
der Geheime Sanitätsrat Dr. Theodor Gießler,
königlicher Kreisphysikus a. T. Derselbe war am
8. März 1833 zn Hoheneiche im Kreise Eschwege
geboren und hat somit ein Alter von nahezu
69 Jahre erreicht. Er studierte von 1851—56
in Marburg, Würzbnrg und Berlin, wurde sodann
Amtsphysikus in Lichtenau und Kreisphysikus in
Fritzlar. 1875 wurde er in gleicher Eigenschaft
nach Kassel versetzt, wo er von da an dauernd wirkte.
1892 erhielt er den Charakter als Geheimer Sanitäts-
rat. Als er am 1. April 1901 in den Ruhestand
trat. wurde ihm der Rote Adlerorden III. Klasse
verliehen, nachdem er die IV. Klasse desselben bereits
1894 erhalten hatte. Der Dahingeschiedene hat
sich um das Gesundheitswesen Kassels und das
Impfwesen große Verdienste erworben.
Zur Besprechung eingegangene Bücher:
Vom Bayerwalde. Vier kulturgeschichtliche Erzäh-
lungen von Karl von R e i n h a r d st ö t t n e r.
2. Folge. Berlin (Hugo Bermühler Verlag) 1902.
H e i m a t k l ä n g e a u s deutschen Gaue n. Ausgewählt
von Oskar DähnHardt. II. Aus Rebenflur und
Waldesgrund. Mit Buchschmuck von Robert Engels.
Leipzig (Druck und Verlag von B. G. Tenbner) 1902.
Personalien.
Verlieben: der Stern zum Noten Adlerordeu 2. Klasse
mit Eichenlaub: Generalleutnant und Inspekteur der
2. Fußartillerie-Divisi-on Bes; zu Köln;
der Rote Adlerordeu 2. Klasse mit Eichenlaub: General-
major ä la suite der Armee und militärischem Mitglied
des Reichs-Militärgerichts von Kalteuborn-Stachau
zu Berlin;
der Rote Adlerorden 3. Klasse mit der Schleife: Oberst
und Kommandeur des Feldartillerie-Regiments Nr. 51
von Cochenhausen zu Straßburg i. Elsaß; Ober-
verwaltungsgerichtsrat F. W. Coester zu Berlin; Senats-
präsident am Oberlandesgericht Eving zu Celle; Oberst
und Kommandeur des Jnsanterie-Regimeuts Nr. 66 v o n
Dehn-Rotfelser zu Magdeburg; Oberst und Kom-
mandeur des Infanterie-Regiments.Nr. 158 von Kuh-
le b e n zu Paderborn;
die Krone zum Roten Adlerordeu 4. Klasse: Major
ä la suite des Infanterie-Regiments Nr. 150 von Dehn-
R o t f e l s e r, kommandiert beim Militärkabinet, zu Berlin;
der Königliche Kronenorden 3. Klasse: Regierungs-und
Baurat B o h n st e d t zu Kassel;
die Krone zum Ritterkreuz 1. Klasse des Verdienstordens
Philipps des Großmütigen: Laudgerichtsrat Dr. Möbius
in Gießen.
Ernannt: Oberverwaltungsgerichtsrat F. W. E o e st e r
in Berlin zum richterlichen Beisitzer des Reichs-Aufsichts-
amtes für Privatversicherung im Nebenamt; kgl. Bau-
gewerkschullehrer Baumann zu Kassel zum Oberlehrer.
In den Ruhestand getreten: Oberlandesgerichtsrat,
Geheimer Justizrat Reimer des in Kassel; Landgerichts-
rat Dr. Möbius in Gießen.
Geboren: ein Sohn: Kaufmann Erd mann Jung-
nickel und Frau Frieda, geb. Landgrebe, Kassel,
12. Februar; — eine Tochter: Bankier Ludwig Streit
und Frau Clara, geb. Herzog, Kassel, 12. Februar.
Gestorben : verw. Frau Dorothea B o d e, 82 Jahre
alt (Kassel, 31. Januar); Rentier Wilhelm Hassel-
bach, 82 Jahre alt (Kassel, 8. Februar); verw. Frau
Geh. Regierungsrat A g n e s R u m p e l, geb. Kähne
(Kassel, 6. Februar); kgl. Eisenbahn-Hauptkassenbuchhalter
a. D. Rechnungsrat Joh. I u n g, 82 Jahre alt (Kassel,
7. Februar); Sprachlehrerin Frl. Auguste Schlegel
(Kassel, 8. Februar); Geh. Sanitätsrat Dr. mecl. Theodor
Gießler, 68 Jahre alt (Kassel, 10. Februar); Frau
Marie B a ch f e l d - H a a ck, geb. H o t o p , 67 Jahre
alt (Kassel, 11. Februar); Frau Elisabeth Hassebrauck,
geb. Lin gelb ach (Kassel, 11. Februar): Frau Susanne
Scheel, geb. Reintjes, 74 Jahre alt (Kassel, 13. Februar);
Frau Emilie Sperber, geb. Nickling, 74 Jahre alt
(Allendorf a. W., 13. Februar); Gerichtsassessor Hans
Wendel, 29 Jahre alt (Kassel, 16. Februar).
Ilericbtigung.
In den „Ritorneilen" von A. Tra bert. Nr. 3 des
„Hessenland" Seite 38, ist ein sinnentstellender Druckfehler
vorgekommen. In der 3. Zeile der 3. Strophe ist zu
lesen, statt: „Verwandelt mir die Liebe sich in Rene"
„Verwandelt nie die Liebe sich in Reue."
Briefkaste n.
v. R. in Wunstorf. Ein Abriß der Geschichte der
kurhessischeu Regimenter ist im Verlage von W. Hopf,
Melsungen, 1900, erschienen.
Dr. F. in Posen. Mit dem Abdruck eines Ihrer Auf-
sätze wird in nächster Nummer begonnen werden.
V. T. in Rauschenberg. Besten Tank. Zum gelegent-
licheu Abdruck angenommen.
Für die Redaktion verantwortlich: i. V. W. Bennecke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.
Wechselwirkung.
Rings offenbart sich — still und leise
Rastlosen Lebens reiche Spur,
Und tausend wundervolle Kreise
Beschreibt die schaffende Natur!
Jetzt weinen Wolken um die Mette,
Mas lächelnd atmete das Meer.
Ls zieht sich eine Zauberkette
Bon Wechselwirkung um uns her.
Und Wechselwirkung muß sich finden,
Wo sich die Menschen nur versteh'».
Es braucht dazu kein laut' Verkünden,
Kann im Verborgenen gescheh'n.
So schläft in jedem wassertropfen
Die stumme Krast, die einst beschwingt
Weiß an die fernste Thür zu klopfen
Und dann beredte Kunde bringt.
Und wenn die zarten Blumen sterben,
Wird nicht ihr Same nur ersteh'».
Nein, junge pstanzeuleiber erben,
Was sie versenken im vergeh'».
— D'rum schweig, du 6erz, das sich verblutet,
Das Gott mit Einsamkeit umschloß.
Die weite See selbst ebbt und flutet,
Weil fern das Mondlicht sich ergoß.
Ai kl. IN. Hehn.
Soniiciiabschied.
Die Sonne sagt „Ade", mein Kind, —
Mich tröstet ihr „Ade",
Weil wir so froh beisammen sind,
Weil ich in Dir noch lange seh'
Die Sonne, Du mein Kind.
Die Sonne sagt „Ade", mein Kind, —
„Sie hat ja keinen Mund",
So fällst Du lachend ein geschwind, —
Ich lache mit aus Herzensgrund,
Du liebes Schelmenkind.
Die Sonne sagt „Ade", mein Kind; —
Es hüllt ihr letzter Schein
Verklärend Dich, mein Sonnenkind,
In Deinem kleinen Bettchen ein, — —
Nun schlaf und träum' geschwind.
München. Gustav Adolf Müller.
Genua*
Ich will Dich nicht um Deine Lsuld erweichen,
Will keinen Druck von Deiner lieben ksand,
Ich will Dir nicht die zarten Wangen streichen,
Will keinen Kuß als treues Unterpfand.
Ich will nicht Antwort auf mein stürmisch Fragen,
Will keine Liebesgabe, groß noch klein,
Nur mögst Du mir dies eine nicht versagen —:
Ich will ja weiter nichts, als bei Dir sein.
München. Henri du Zais.
# # #
58
«««««««
(Ein Senöbries von Johannes Schwan
an seinen Vater Daniel Schwan, Bürger zu Marburg.
IVittenberg, den 2<\. Februar (525.
Nach dem Originaldruck neu herausgegeben van Dr. Eduard Wintzer in Marburg.
(Schluß.)
Wer »u die grossen trefflichen werck gvttes ynn
der Biblieu ansieht vnd yin gehst vnd glawben
betrachtet, wie dann auch die sintflutt vnd anders
Sauet Peter 2 Pet. 2. antzeyget, der verwundert
sich des weniger, das er tausent iar ynn zorn
seyn wortt vns verporgen hat; seyn kirchen lest
Got der Herr nicht yrren.
Aber sein kirche^ ist nichts anders denn die
versamlung deryhenigen, die das reyn gottswortt
haben, prediget treyben, recht an Christum glewben
mit Hertzen, vnnd kurtz, wie ynn dem Buch Widder
Catharinum der Doctor Luther klerlich gnug
angetzeygt, das bißher keyner hatt kunnen antwortten.
Es hat Gott wol ehr eyn solch groß werck ge-
than, darumb reden vnßer münd) darvon als die
yrrigen, die Biblien nie gelesen, sondern yn yhrem
Aristoteln vnd menschenleer veraldet.
Zu Helios zeytten hat eyn solch mercklich volck,
der ettlich hunderttansent waren, Priester, Phariseer,
Saduceyer vnd das gantz volck geyrret vnnd sind
nur sibentausent behalten, die nit angebet haben
den abgott Baal, das auch der Apostel zun Römern
am 11. antzeyget. Dann es schleust hie Sanct
(S. 5) Paulus wortt nit anders, dann das er die-
selbigen hystorien als eyn prophecie eynsnret, das
eben ynn der kirchen auch alßo werde zugehen wie
ynn der Synagogen; da die gleyssende larven am
meysten vnd grösten seyn werden, do würd die
kirch am wenigsten seyn. Kurtzumb, Moses, alle
prophecey vermelden, der Herr Christus selbst vor
Pylato hat gesagt, das seyn reych werde eyn geyst-
lich reych sein ynn glawben vnd gehst. Darumb
a) kirchen.
') Catharinus Ambrosius, geb. 1487 zu Siena, f 1553
zu Neapel, Dominikaner, zuletzt Erzbischof zu Conza,
schrieb 1520 5 Bücher gegen Luther u d. T. Apologia
pro veritate cath. et ap. fidei ac doctrinae adversus
impia ac valde pestifera M. Lutheri dogmata Florent.
1520, dem Kaiser Karl V. gewidmet, und Excusatio dis-
putationis co. Lutherum ad univ. ecclesias. Flor. 1521.
Letztere war die Antwort auf Luthers: Ad librum eximii
magistri nostri, maasty A. C. defensoris Silv. Prie-
ratis acerrimi Responsio M. L. Wittemb Mense Aprili
in fine. Witt. 1521.
nennet die sch risst die kirchen eyn verporgene brantt,
dann eygentlich ist sie verporgen.
Darumb, lieber vatter, das sie sagen, die kirche
hab den Heyligen gehst vnd könne nicht yrren, vnd
Got hab seyn kirchen entlich nie ßo lang verlassen,
ist Ware. Es haben aber unser gleyßnerische mnnch
nie verstanden, was kirche odder Evangelium sey,
wie noch wol an dem mynistro Barfusserordens
Sasgero *) erscheynt. der sich vnterstanden hatt,
l). Mart. Luthers buch von klostergeltibden nydder-
znlegen, so doch klar an seynem schreyben erscheynt,
das er eyn vngelerter Papist ist, der ynn der
sophisterey ersoffen, viel vngelerter ist, dann das
er solt etwas tägliches können Widder ßo starcken
grundt auffbringen, schweyge dann, das er wissen
solt oder an tag bringen, was das Evangelium sey
oder gesetz, glawb, gnad oder zusagung Christi eot.
Darumb, wann die suppenbrüder mikt yhren
argumenten kommen von allter^ gewonheyt, alltem''^
geprauch, ßo laß Dyr das klar gotswortt surlegen,
oder glawb yhnen nicht. Würdest du aber des
artickels halben weyter zweyffel oder Mangel haben,
so wollest myr schreyben. erbiete ich mich des gnuog-
snm zu unterrichten vnd alßo klar antzuzeygen, das
auch vernunfft nit anders sagen muß, dann das
wyr (S. 6) ynn vortzeytten iemerlich versuret sind.
Inn dißer knrtzen schrifft, darynne ich dyr, als
meynem lieben Vater, vrsach meynes furnemens hab
wollen antzeygen, kan ich von demselben^ Artickel
nit ßo volkomlich schreyben; wann dyr geliebt, er-
biete ich mich weytter Unterrichtung zu thun.
a) allten, d) allteu, c) denselben.
') Kaspar Schatzger, von Luther Schatzgeyr und thesauri-
vorus genannt, Provinzial-Minister des Barfüßerordens,
schrieb noch 1522 im Sommer eine Replica gegen Luthers
Schrift De votis monasticis. Luther übertrug die Er-
widerung dem früheren Barfüßer D. theol. Jvh. Bris-
manu und schrieb selber zu dessen Buch Ad <4. LcfiatL-
geyri iVlinoritae plica» respon8io, Wittenberg 1523,
eine Praefatio. Sasger antwortete auf diese auch 1523
mit Examen novarum doctrinarum. Ulmae. Siehe
Al. Luthers Werke. Kritische Gesammtausg. Weimar 1889.
8. Band, S. 561 f.
59
Das ich zum Principal') fum, ist diß der grundt
meyns furnehmeus: Es ist yhe gewiß, das keyn
mensch von anbegyn der wellt yhe rechtfertig vnd
frnm ist worden dann alleyn durch den glawben,
wie der Apostel zun Römern krefftig erweyßet,
der gerecht werde auß seynem glawben leben, vnd
wie er zun Hebreern am 11. ertzelet, die alle durch
den glawben behalten seyn. Dann Got hat von
anbegynn 'der wellt seyn zusage von Christo ge-
than, wie ym buch Genesis erscheynet und sonderlich,
do er ynn Abrahams samen, das ist ynn Christo,
I)attd) zugesagt benedeyung aller völeker. Darnmb
dieweyl wyr von artt vnnd natur seyn linder des
zorns, zu den Ephesiern am andern Capitel, ßo ist
keyn ander weyß ynn Hymel noch aufs erden, Gott
zu versnnen oder Gnad zu erlangen, dann alleyn
glawben an die zusagen vnnd wortt Gottes, wie
der Herr Christus sagt: Wer nicht glawbt an den
svn, ober den bleybt der zorn Gottes.
Wann derhalb man fragt, wie man möge frnm
werden vnnd Gott gefallen, Ist keyn ander weeg,
dann das ich glawb, das Gott snr mich geben hatt
sehnen svn Christum, vnd das der myr znv gnvtt
gehörn, gestorben vnd aufserstanden ist, das ich
durch yhnen anß lautier gnaden Got versünet, der
fünde ledig sey vnd nu eyn gnedigcn Gott hab,
wie der Apostel zun Römern klar am 3. davon
sagt (S. 7): Sie seyn altzumal sünder vnd mangeln
des preyses, den Gott an yhn haben sollt, vnnd
werden vn verdienst gerechtfertiget anß seyner gnad
durch die erlößung, so durch Christum e) geschehen
ist, wilchen got hatt surgestellet zu eynem gnaden-
stuell durch den glawben ynn seynem bluott. damit
er die gerechtigkeyt, die für yhm gillt, beweyße,
ynn dem, das er vergibt die fund, die zuvor sind
geschehen, vnter göttlicher gednlt, die er trnog, das
er zu dißen zeytten beweysete die gerechtickeyt, die
für yhm gillt, aufs das er alleyne gerecht sey vnnd
rechtfertige den, der da ist des glawbens an Jhesum.
Der Glawb erwyrbt den Heyligen Gehst, das wyr
alletzeyt ynn eyner fruntlichen" kintlichen zuvorsicht
stehen gegen Gott vnd schreyen zu yhm: Lieber
vatter. Datier! (Gal. 4.) vnd solcher Glawben^,
nemlich, das ich nicht alleyn nach der hystorien hie
weyß, das Christus geborn, gelyden, gestorben,
anfferstanden, — dann das ist ein wahn vnd nicht
ein glawb — sondern das ich weyß, das seyn todt
meyn ist, seyn leyden vnd aufferstehung meyn ist,
macht mich alßo reych, das ich weytter keynes
eusserliches dinges bedarfs zur srnmkeytt, es sey
fasten, blatten, kleyder oot.., was es wolle.
d) hatt er. e) Christo, f) —er, g) vnd solchen glawben.
') Zur Hauptsache vergl. Luthers Vorrede zum Römer-
brief: „Dise Epistel ist das rechte Hawbtstnck des newen
Testaments".
Also redt der Apostel ynn der Epistel zun Römern
vnd Galat., die vnßer manche vnd bauchdinner nie
recht verstanden haben. Denselbigen Glawben^, das
ist die lebendige Zuversicht ym hertzen anst die zu-
sage gottes und des") Evangelij, dadurch myr Ver-
gebung der fund verkündiget ist, nennet der Apostel
erkentnis Christi.
Vnd darnmb bitt er ynn allen epistolen, das gott
allen glewbigen wol geben vnd teglich wolle mehren
das erkentnis Christi; wie er auch zun Philip, am
3. sagt, das er alle seyn ensserlich srnmkeytt snr
(S. 8) dreck acht gegena) * c) * erkentnis Christi vmbsonst,
vnd solch erkentnis Christi hellt vnns der Apostel
snr das gantz Evangelium durch vnd durch, wie
wyr"' deit Herr» Christum erkennen, was er nutz
sey, wartzuo^ er kummen sey, nemlich das er sey eyn
mitler zwischen Gott [imb] vns, eyn gnadenstncll,
eyn heylandt vnnd seligmacher, der darnmb kommen
sey, das er den umbsonst hülst, die yhr gewissen
engest, yhr fünde drucket, die sich für snnder er-
kennen wie der Apostel 1. Tim. 1.
Darnmb ßv malen yhnen die Evangelisten allent-
halben alßo, das er on allen verdienst, anß gnaden,
außsetzige reyniget, betrübtef> tröstet, krancke^' gesandt
macht, todte'" erwecket vnnd allenthalben den hilfst,
die nichts darnmb geben haben, nichts verdienet,
das der heylig gehst vns lernen will, das durch
Christum umbsonst Hehl vnd selickeyt geben wirtt,
wie" der Apostel zun Corinthern sagt 1. Cor. 1.:
Wilcher vns gemacht ist von Gott zuo Heiligung,
! zu erlößung oet.
Darnmb nennets der Apostel zun Ephesiern den
Überschwang der gnaderkentnis Christi, Philippenssern
am dritten, das wyr yhn alle, ßv wyr gnot werck
thun wollen vnd Gott gefallen, erst wol lernen
müssen, das alles, was vnns ynn srnmkeytt, selickeyt,
heylickeyt dienet, uberschwencklich geben ist umbsonst,
auß lautier barmhertzickeyt vnd gnaden, alleyn'"
durch vnd mit dem son Christo, vns allen, die an
yhn glewben, wie der Apostel zun Römern am
achten sagt: „Der seynes eygen sohns nicht ver-
schonet hatt, wie sollt er nicht alles vnns mit
yhme geben." Wo nn das erkentnis Christi ym
hertzen ist, wo der glawb im hertzen lebt, dv ists
unmöglich, (S. 9) das gnotte werck, Casteynng des
leybs, lieb, sanfstmütickeytt, geduckt oet. sollten
aussen bleyben. Tann als wenig es müglich ist,
das sewer ane hitz vnnd licht sey, als wenig ist
solcher glawb ane gnotte werck.
Ist nun nicht müglich ynn eyner kurtzen epistolen
zu begreyfsen, ßondernn yhr mögents ynn dem
a) Derselbige glawb, b) das Evangelij, c) gcgem, d) durch
das wie yhr, e) im Orig, stets für uo ein o über dem u; so
ist auch oben S. 43 u. 44 zuo, guotten, zuofriden, guuogsam
zu lesen; f) betrübten, g) standen, h) todten, ijvud wie, k)alten.
60
theuren büchlin von der Christlichen freyheytt ^
weytter sehenn. Doch damitt yhr keynem menschen,
wie groß der sey. ßondernn allein'" gotts wvrtt
glewbt, ßo möget yhr die Epistel zun Römern, die
ich euch hiemitt, kleyn gedruckt* 2 a)), uberschicke, leßen,
die das ynn allen orten tzwinget vnud dringet.
Nun, das ist der weeg tzur selickeytt, den Gott
geheyget hatt, vnnd ist kurtzumb keyn anderer, vnud
wenn alle enget vom hymel vdder der Apostel
Paulus ettwas anders prediget, sollt mau es dennocht
nicht annehmen. Das bedeutt unßere taust, die
eyn sigel ist der göttlichen zusagung vnd Versicherung,
das Christus leben vud todt vnßer sey, wie der
Apostel zun Römern am sechstenb) sagt. Wer nun
den glawben ynn Christo hatt, der ist schon srum
vnd kau durch keyn klostergelübd, kappen, platten,
stryck odder gürttell oot. srümer werden, ßondern
hat schon volkomlich alles durch seyn glawben.
Was er aber ernach für guoter werck thutt, do müsse
er. wissen, das sie yhm nichts zur selickeyt dienen;
denn die rechtfertigung muß Christus vnd der glawb
alleyn außrichten. Thut er aber guote werck, so
thu ers nur darumb, das sie nütze werden seynem c)
nehsten vnd [er] yhme also thu, wie yhm Christus
gethan hat. Das seyn die wäre guotte werck vnd
fruchte des glaubens, do S. Paulus Ro. 12., Gal 5
von redet.
(S. 10) Do wissen nu müuch vnud nonue, ßo bey
vußern zeytteu seyn, wenig von zuv sagen, die das
reyne wortt gottes uit hören wollen vud alle Evan-
gelische Prediger lßo sie uit nach yhrem gefallen
yuu die küchen predigen) vertribeu, dieweyl dann
zu besorgen ist, ya wol gantz vnd gar gewiß, das
unter tausent München uit eyuer yns klvster gangen
ist, der uit solichen wahn vnnd meynung gehabt
hatt, das seyn leben ettwas bessers were dann ge-
meyn Christlich leben, der uit das gesucht hatt,
das er dadurch srum, gottgefellig vud selig würde,
wie sie daun noch heutiges tages sagen öffentlich:
Wann ich das nit hoffen sollt, was sollt ich dann
ym kloster thun? So ist es yhe am tag, das
yhr wesen ist von art vnd natur widder Christum,
vnd ist ein gesencknis der gewissen ane alle gots-
wvrtt; dann Christlich gewissen können initt keynem
gesetz gebunden werden, dann alleyn durchs wortt gottis.
Darumb, lieber vatter. ßo ich vermercket auß
den schrifften (ßo bey unßeren zeytteu von kloster-
a) allem, b) sechten, e) seynen.
') Von der Freiheit eines Christenmenschen. 1520.
2) Diese Sonderausgabe des Römerbr. ist bei Panzer,
Gesch. der Bibelübers. Luthers, nicht angeführt. Das
läugere Citat von Röm. 3. 23—26. zeigt genau den Wort-
laut der Septemberbibel Luthers von 1522, mit einigen
orthogr. Abweichungen, weil die Stelle wahrscheinlich aus
dem Gedächtnis geschrieben ist.
gelübden seyn außgaugen), das alle klostergelübd'"
vnud müncherey von art vnnd natur widder das
Evangelium vud Christum sey vnd schwerlich ane
gotslesterung kunne gethait oder gehalten werden,
ist meyn gewissen ynn dem öffentlichen gotswort
gefangen vnd hab die klostersecten vnd -rotten ver-
lassen, dartzu dnnit mich beweget hatt dieße Ursachen.
Erstlich, das ich weyß vnd meyn gewissen mich
höchlich beschuldiget, das ich ynn eyneu'" solchen
vnchristlichenc) wahn vnd meynung byn eyugangcn,
als wer die trafst meyner taust nu auß. x)
Pbcr das hab ich gesehen, das der meyst Hauff
(S. 11) der müuch noch ßo verblendet vnd gar
vnd gantz »erstarret [ist], das sie das reyn Evan-
gelium ynn predigen uit leyden mögen, sondern
das wortt gottis vnd die Evangelische warheytt
verfolgen, lesteren, schenden, verspotten vnd die-
selbigen Prediger veriagen mit tyranney vnd straffen,
mit gesencknis vnd türnen. Darumb so all yhr
heylyckeyt stehet aufs lautier linder-, vnd saßuacht-
spiel, also das sie gar vn glawben sind vnd wollen
mit yhren kappen vnd platten selig werden, lassen
yhnen alle Welt gnuog zutragen, auß allen ortteu
yhn dienen, noch helffen sie widerumb niemants,
sondern leben vuter solchem heyligenscheyn ynn
fressen, sausten, geytzen, neyden, hassen, huren vnd
buoben vud ander erschreckliche lasier, das es nur
iamer ist. Wie dann solchs weytter vud besser ym
buch der klostergelübd ist abgemalet vnd die teg-
liche erfarung gibt, das man yhr Phariseysche tyst
vnud büberey wol greyffen möcht. Hab ich mich
derhalben von yhnen abgewandt vnnd hoff uitt
alleyn von dyr, sondern auch ynn meynem gewissen
für Gott diß suruehmen zu vernutwortten.
Darumb bitt ich durch Christum, lieber vatter,
du wollest myr nu ynn eynen Christlichen staubt
helffen, darynne ich sonst meyn leben gotlich vnd
Christlich müge hynbrengen. Vnd wollest dich uit
bewegen lassen, das meyn Profession ist geschehen
ynn beywesen unßers gnedigisten surften vnnd Herrn
Landtgraffen zu Hessen vatter löblicher gedechtnis^'
verscheyden, vieler Ritterschafft vnd ander erbar
leutt, als sollt dyr das nu houlich seyn. Es sind
eytel menschliche gedaucken, die man ynn gottes
fachen uit muß ansehen.
Es darfst auff die zeytt der Gardian öffentlich
(S. 12) auff der kantzel außruffen, er wolt mich
gott opffern vnd mit dreyen negeln ans crentz
schlagen. Was das für eyn opfferung gewest, ist
nun verstanden, ßo der Münch falsch geystlicheyt
a) klostergelübd, b) ehnem, c) —em, d) gedechuis.
h Klostergelübde S. 87. „Sie wähnen, die Kraft der
Gnade, der Taufe, sei durch die Sünde, so hernach gethan,
zu nichte geworden."
61
tont an tag kamen. Wie auch die münche der
welt gestorben and mit Christo ans ereutz geschlagen
sind, gibt die erfarung, ßa niemants gar nahe
weniger ereutz hatt, weniger den alten Adam
dempffet and nidertruckt dann eben die münch,
wilche sich ynn müssigang von andern leutte gütter
nit anders dann die schweyn mesten and erneeren.
Wann sie es hoch treyben, so müssen sie dennoch
yhr weßen and leben menschensatzuug bleyben lassen.
Das got hat müncherey ynn lehnen schrisften be-
volen oder gepoten, ist öffentlich, das sie von
menschen erfunden vnd errichtet sind.
Nu wie hoch vnd fleyssig der Apostel dafür vns
warnet, darnmb das die Menschensatzungena) alletzeitt
den glawben Unterdrücken, erscheynet 1. zu Timo. 4
vnd 2. Pet. 2, wie denn auch die Propheten vnd
der Herr Christus Matt. 15 darauff schildet also
die gleyßner: Warumb vbertrettet yhr gottes ge-
pott umb ewer ansfsetze willen, yhr Heuchler? Es
hat wol Jsaias von euch weyssagt vnd gesprochen:
Diß volck nehet sich zuo myr mit seynem mund
vnd ehret mich mitt sehnen tippen, aber yhr Hertz
ist weht von myr. Aber vergeblich dienen sie myr,
dieweil sie leeren solche lere, die nichts den
menschenleer vnnd gepott sind.
Dißes, lieber Vater, hab ich dyr wollen antzeygen,
meynen brüdern vnd andern meyn guotten freunden
vnd günnern, damit sich niemant an meynem anß-
gang (den ich, als ich hoff, mit gott vnd guottem
gewissen gethan) ergeren^ müge.
Wirt auch yemants sein. der diß meyn Unter-
richtung nicht begnügig ist, erbiete ich mich alletzeytt
(S. 13) Christlich vnd brüderlich yhn zu unterrichten.
a) menschensatzung, b) ergere.
Und nachdem ich byß anher von der armen
schweyß vnd blut ynn müssigang mit meynen
brüdern gelebt *), die aufs heutigen tag sich alßo
neeren lassen vnd das Evangelium dennoch nit
predigen, so doch der Apostel Paulus, wiewol er
prediget, das brott nit wollt von yemants umbsonst
nemen, sondern erbeita) mitt seyn henden, das er
niemants beschweret 2. Tessa. vlt.
So bitt ich nu, lieber vatter, du wolst thun,
als rechten eldern gezympt, vnd helssen, das ich
eyn besser göttlicher leben vnnd staubt möcht an-
sangen. Itzt wil ich in dissem kortzen sendbrieff
dich nit lenger ausstatten, sondern wollest gott
bitten, das er von tag zu tagen mehr sein heylig
lautier gotswortt ynn den hertzen der glewbigen
lvider die teufselsleer eröffnen vnd durch sehnen
gehst erwecken will. Gottes sryde^> stercke dir dehn
glawben vnd geb uns allen reychlich erkentnis unßers
Herrn Jhesn Christi.
Meyne lieben muvtter wvlstn grüssen, der-
gleychen meyn brüder^ vnd unßer ver-
wanten ynn Christo dem Herrn,
Wilchem sey Preiß vnd lob
ynn ewickeytt. Amen.
Geben zu Wittemberg aufs freytag nach
Sanct Matthias^) im Jar. Tausent
Funffhundert vnd Hiij.
a) erbet, b) fryds. c) Im Original statt ü, ö meistens
ein e über dem Vokal.
ff Klostergel. 301. „Das heißt Gott und die Menschen
verspotten, wenn sie also die Gelübde der Armut vor-
geben und doch — von anderer Leute sauerer Handarbeit,
Blut und Schweiß im Sause leben und gleichwohl arme
Brüder, arme Klöster, arme Convent im Mnnl haben."
ff 24. Februar 1523.
Das Beuerholz.
Ein Beitrag zur Geschichte der
Von Dr.
0" stlich vom Heiligenberg erstreckt sich in einer
Größe von 2778 Kasseler Morgen das B euer -
holz, auch Markwald geheißen, seit 1360 im
Besitze der Stadt Felsberg, deren jeweiliger
Bürgernieister Obermärker ist, sowie der Dörfer
Gensnngen, Beuern und Helms hausen.
Die Aussicht führt wie bei allen Privatwaldungen
der Staat. Freilich hat dieser mehr als einmal
versucht, dies Aussichtsrecht in ein Eigentumsrecht
zu verwandeln, aber es ist den Markgenossen
stets gelungen, die Angriffe aus ihr verbrieftes
Eigentumsrecht abzuschlagen. Durch das ebenso
hessischen Markgenossenschaften.
F e n g e.
umfangreiche wie gründliche und gelehrte Urteil,
mit dem die Generalkommission zu Kassel am
22. Mai 1872 den Prozeß des preußischen Fiskus
gegen die Märkerschast entschieden hat, ist es uns
möglich geworden, die Rechtsverhältnisse des Beuer-
holzes von der Begründung der Mark bis in die
neueste Zeit zu verfolgen.
Am Sonntage Misericordias Domini des
Jahres 1360 wurde die Markgenossenschaft Beuer-
holz gegründet durch die Schenkungsurkunde Land-
graf Heinrichs des Eisernen, die (in' heutiger Recht-
schreibung) also lautet:
62
„Wir Heinrich von Gottes Gnaden Landgraf
zu Hessen, und Wir Otto, sein Sohn, bekennen
mit Unseren Erben öffentlich an diesem Briefe,
daß wir Unseren lieben Getreuen, den Burg-
männern und Bürgern gemeiniglichen Unserer
Stadt zu Felsberg und Unseren Leuten zu Gensungen,
Sundheim, Beuern, Heßlar und Melgershausen,
die zu Felsberg gehören, haben befohlen und be-
fehlen an diesem Briefe Unser Holz, genannt Hasen-
winkel, Beuerholz, Hilgenberg und Gassenstruth,
die da antreten an dem Wege von Melgershausen
bis an den Weg gegen Milsungen von dem Kessel
auf und an das Elfershäuser und Hilgershäuser
Holz, und sie sollen die Holze getreulich hegen
und sollen es nicht roden noch verkaufen, noch
fremden Leuten geben, sondern sie sollen ihre
Mark darinnen haben und das gebrauchen zu
ihrer Notdurft nach möglichen Dingen, und was
Unsere ehegenannten Bürger einträchtiglich über-
(ein)kommen, um die Holze zu hegen oder zu
ihrer Notdurft zu hauen, das sollen Unsere Burg-
mannen und Landleute ehegenannt gefällig sein
und das also halten; auch sollen sie keine Wellen
zu Wehren darinnen hauen, noch niemals ge-
statten zu hauen.
Wo sie das nicht thäten noch hielten, als vor-
stehet geschrieben, so wollen Wir und mögen Uns
des Holzes wieder unterwinden, als vor, ohne
Widerrede. Hierum sollen Unsere Bürger und
Leute der ehegenannten Dörfer Uns jährlich aus
St. Martini-Tag geben 12 Malter Hafer, auch
sollen die vom Eppenberge ihre Mark in diesen
Holzen behalten, als sie die vorgehabt haben, und
sollen es mit allen Stücken halten, als Unsere
Burgmannen, Bürger und Leute vorgenannt das
halten, und sollen Uns jährlich davor geben, als
sie vorhin gethan.
Des zu Urkund geben Wir ihnen diesen Brief,
versiegelt mit Unserm Jnsiegel, nach Christi Geburt
dreizehnhundert in dem sechzigsten Jahre, an dem
Sonntage Niserieoräms Domini."
Diese Urkunde bildet die unerschütterliche recht-
liche Grundlage bei der Abweisung der im Lause
der Jahrhunderte vom Fiskus oft wiederholten
Versuche, das Beuerholz in seinen Besitz zu bringen.
Es ist das Verdienst der Generalkommission zu
Kassel, in dem erwähnten Urteil eine aus wissen-
schaftlichen Grundlagen beruhende Auslegung der
landgräflichen Urkunde in juristisch unanfechtbarer
Form gegeben zu haben, so daß nunmehr für alle
Zeiten ein Eingriff in die Rechte der Mürkerschaft
ausgeschlossen erscheint. Es verlohnt sich der Mühe,
aus einige Punkte dieser Urteilsbegründung näher
einzugehen.
Der königlich preußische Forstfiskus, der am
23. Februar 1868 auf Ablösung der der Märker-
schaft zustehenden Berechtigungen klagte, sah in der
landgrüflichen Verordnung von 1360 nur die Ver-
leihung von bestimmten Holz-, Hute- unb Mast-
berechtigungen und nahm für sich das alleinige
Eigentumsrecht in Anspruch. Das Urteil der
Generalkommission weist aber in scharfsinniger
Weise nach, daß der Landgraf den vier Gemeinden
den Wald als unumschränktes Eigentum gegeben
habe. Es handelt sich bei der Auslegung der
Urkunde zunächst und hauptsächlich um das Wort
befehlen.
. . . „Wir haben besohlen und befehlen Unser
Holz . . Unseren lieben Getreuen. ." Im Urteil
wird dazu folgende sprachlich unanfechtbare Be-
merkung gemacht: der Ansdruck „befehlen" mit
dem nachfolgenden Accusativ der Sache und Dativ
der Person bedeutet >mch der Sprache der damaligen
Zeit — wie Grimms Deutsches Wörterbuch be-
zeugt — nicht ein Gebieten, sondern ein Über-
gebe». Der Landgraf hat ihnen also den Be-
sitz des Waldes übergeben, wie auch dadurch bestätigt
wird, daß er zum Schluß erklärt, er würde sich,
falls die Beliehenen die ihnen auferlegten Be-
dingungen nicht erfüllen sollten, des Holzes unter-
winden; denn „sich der Sache unterwinden"
heißt nach „Eichhorns deutschem Privatrecht § 157"
sowie nach „Albrechts Geweren S. 26 und 70"
nichts anderes als die Revindikation und Reap-
prehension der Sache. — Diese sprachliche Aus-
legung, namentlich des Wortes befehlen, entscheidet
ein für alle Mal die Streitfrage.
Das Urteil begnügt sich aber mit dieser Beweis-
führung nicht; es findet für die Übertragung des
Eigentums noch andere Gründe. Die Urkunde
sagt: . . . „sie sollen ihre Mark darinnen haben
und das gebrauchen zu ihrer Notdurft nach mög-
lichen Dingen." Der Wald soll also eine Mark
bilden, die Bürger sollen darin märkerschastliche
Rechte ausüben. Mit dem Begriffe Mark ist
aber der Begriff des Eigentums unauflöslich
verbunden. Wenn ein Markwald vorhanden ist,
so ist dadurch so ip8o das Eigentum der Mark-
genvssen oder Märker erwiesen. Das Urteil stützt
sich bei dieser Auslegung auf Maurers Geschichte
der Markenverfassung in Deutschland (Erlangen
1856) und auf Kramers Wetzlarsche Nebenstunden.
Wenn der Landgraf fortfährt, daß sie sich des
Waldes „zu ihrer Notdurft nach möglichen Dingen
gebrauchen sollen", so liegt darin nicht bloß die
Einräumung bestimmter Gebrauchs-Rechte —
wie der Fiskus annimmt —, sondern es wird
ihnen dadurch im Gegenteil aller nur mög-
liche Gebrauch zugestanden, zwar nur zu ihrer
63
Notdurft, aber das ist gerade das Charakteristische
der Markgenossenschaften, daß sie eine Vereinigung
bilden, lediglich zu dem Zwecke, ihre wirtschaft-
lichen Bedürfnisse aus den Erträgnissen
der nngeteilten Mark zu decken (an Nicht-
märker darf dem Wesen der Mark und der aus-
drücklichen Bestimmung der Urkunde nach kein
Holz, welcher Art es auch sei, abgegeben werden).
Ein weiteres entscheidendes Kriterium für das
Eigentumsrecht der Gemeinden an dem ihnen ver-
liehenen Walde ist das folgende Moment.
Nachdem der Landgraf durch die Worte . . „sie
sollen die Holze getreulich hegen" Bestimmungen
über die Erhaltung des Waldes getroffen hat,
Bestimmungen, die beweisen, daß der Wald selbst
den Märkern zum Besitz, zur Nutzung und Ver-
waltung und zur Verfügung übergeben worden ist,
überträgt er durch die Worte . . „und was Unsere
ehegenannten Bürger (zu Felsberg) einträchtiglich
über(eiu)kommeu, um die Holze zu hegen oder zu
ihrer Notdurft zu hauen, das sollen Unsere Burg-
mannen (zu Felsberg) und Landleute ehegenannt
(zu Gensuugeu, Beuern und Helmshausen) gefällig
sein und das also halten" den Bürgern oder viel-
mehr dem Bürgermeister und Rat der Stadt Fels-
berg das Markvorsteher- oder Obermärker-Amt,
denn was sie über Hegung (Kultur) und Hauung
des Waldes beschließen, das sollen die sämtlichen
Märker als zu Rechte bestehend anerkennen.
Der Landgraf entäußerte sich also der
Obermür kerschast und übertrug dieselbe
einer der markberechtigten Gemeinden
(s. Maurer a. a. O. 8 57).
Schließlich geht auch aus den landgräslichen
Worten . . . „Wo sie das thäten . . ., so wollen
Wir und mögen Uns des Holzes wieder nnter-
winden" klar und deutlich hervor, daß wir es
mit einer Schenkungsurkunde zu thun haben.
Es bedarf zum Verständnisse der Urkunde noch
der Erwähnung, daß die darin genannten Dörfer
Heßlar und Melgershausen bereits vor dem
17. Jahrhundert aus der Märkerschast dadurch
ausgeschieden sind, daß ihnen ein bestimmter Teil
des Beuerholzes zu ihrer alleinigen Benutzung
überwiesen worden ist, und daß an Stelle des
(Schluß
-------------<«--
untergegangenen Dorfes Sundheim das Torf
Helmshausen getreten ist.
Summa Summarum: Landgraf Heinrich der
Eiserne hat durch seinen „Brief" vom Sonntage
Misericordias Domini des Jahres 1360 das
Beuerholz den Bürgern zu Felsberg und den Leuten
zu Geusungen, Beueru und Helmshausen in Gestalt
einer Mark als Eigentum verliehen, mit dem
Recht eigener Verwaltung.
Daß im Lause der fünfeinhalb Jahrhunderte, die
seit dem Schenkungsjahre verflossen sind, manche
Veränderungen in der Verfassung der Mark
Beuerholz eingetreten sind, ist selbstverständlich,
sind doch im Kampfe gegen die eine vollständige
Territorial - Herrschaft anstrebende Landeshoheit
viele Marken überhaupt eingegangen liub in das
Eigentum des Laudesherru übergegangen. Vor
diesem Geschick hat der unzweideutige Wortlaut
der Schenkungsurkunde den Markwald Beuerholz
bewahrt. Freilich sind Streitigkeiten mannigfacher
Art sowohl mit nicht märkerschaftlichen Gemeinden
als mit der herrschaftlichen Forstverwaltung nicht
ausgeblieben.
Aus einem landgräflichen Bescheide des Jahres
1534 (unter der Regierung Philipps des Groß-
mütigen) geht hervor, daß, wie oben erwähnt, den
Dorsfchaften Heßlar und Melgershausen ein Teil
des Beuerholzes zugefallen ist. In diesem Teile
sollen sie zwar das Recht haben zu pfänden, aber
verpflichtet sein, die Pfänder an den Obermürker
zu Felsberg abzuliefern. Im übrigen erkennt
der Bescheid den vier Gemeinden das Recht des
Eigentums, der Gerichtsbarkeit und der Verwaltung
ohne Widerrede von neuem an.
Unter der Regierung Landgraf Wilhelms
(1567—1592) ist an Stelle des in der Schenkungs-
urkunde vorgesehenen Haserzinses (12 Malter —
48 Viertel) die Geldabgabe des halben Forstes
vom Brennholz (— 3 Albus) und des vollen Forst-
geldes von der Eichelmast getreten, während das
Bauholz unentgeltlich verabfolgt werden sollte.
Zwar hatten die Förster 1586 sich bemüht, auch
das Bauholz mit Forstgeld zu belegen, aber Land-
graf Wilhelm hatte gnädiglich resolvieret, es solle
beim Alten bleiben,
folgt.)
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Römische Erinnerungen.
Von Louis Katzen st ein.
7Ius der Zeit meines römischen Aufenthaltes in
den vierziger Jahren ist mir ein Erlebnis so leb-
haft im Gedächtnis geblieben, daß ich es heute, nach-
dem mehr als ein Menschenalter darüber hingegangen,
mit voller Klarheit und Deutlichkeit vor die Seele
rufen und gleichsam wieder erleben kann.
Mehr als heute war Rom zu jener Zeit das
Eldorado für Künstler, denn nicht nur die un-
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erschöpflichen Kunstschätze der ewigen Stadt, die
Trümmer und Ruinen einer großen Vergangenheit,
die großartige Landschaft hielten den Sinn gefangen,
es kam dazu die Ungebnndenheit und heitere Sorg-
losigkeit des Lebens, wie es keine andere Stadt aus-
zuweisen hatte. Wie dem Auge des Künstlers das
malerische Volksleben mit seinen farbenprächtigen
Trachten, seinen Mönchen und Bettlern und Modellen
eine unerschöpfliche Quelle des Studiums bot, so
machte der gesellige Verkehr, der noch nichts kannte von
nationalen Antipathien, die Stunden der Erholung
zu wahrhaft genußreichen. Auch arbeitete man nicht
übermäßig stark; manchen Tag brachte man auf
den Gassen zu oder man studierte die klassischen
Linien der Campagua, das Skizzenbuch in der Hand.
Lernte man doch im Spazierengehen, man war
za in Rom, in Rom, dem Ziele unseres Sehnens.
Wie manche prächtige Skizze, welche die Wände
des Ateliers schmückte, verdankte ihr Entstehen der
Reminiscenz an einen Abend- oder Nachtspaziergang.
Freilich, mancher von den jungen Künstlern, die
mit den besten Vorsätzen herkamen, gingen zu Grunde
an seiner berauschenden Atmosphäre, vermochte sich
zu energischer Arbeit nicht aufzuraffen oder verzettelte
sich in unbedeutenden Farbenspielereien. Ihnen
galt das damals oft zitierte Wort eines deutschen j
Landschaftsmalers: „Rom ist das Paradies der
Mittelmäßigkeit". Es wurde viel Schönes geplant,
aber es kam sehr wenig zu stände.
Non den steifen Formen und den Regeln ge-
sellschaftlicher Etikette, welche die sogenannte „Gesell-
schaft" in anderen modernen Städten um sich gezogen,
kannte man in Nom nichts. Jeder ließ sich gehen,
wie er es eben für gut fand, besonders Kleider-
luxus war unbekannt. Die Parole des Tages schien
zu sein: ..ich geniere mich nicht und niemand geniert
mich". Daher denn auch die Menge von originellen
Gestalten, denen man in den Straßen begegnete,
die aller modernen Eleganz den Krieg erklärt zu
haben schienen.
In säst allen Fällen waren es Künstler, Malet,
Bildhauer oder Musiker. Aber weit entfernt das
Auge zu beleidigen, paßte diese Vernachlässigung
des äußeren Menschen ganz vortrefflich zu den
römischen Straßen und Lokalitäten jener Zeit.
In den Kaffeehäusern lind Restaurants, welche
vorzugsweise von Künstler» besucht wurden, herrschte
eine ewige Dämmerung, welche in wohlthuender
Weise die landesübliche Unsauberkeit verhüllte.
Elegante und modische Toiletten sah man da selten,
fast nie; die Habitues' des Cafe Zelle belle arti
im Korso kamen in ihrem Atelierkostüm, nicht selten
in Pantoffeln, um ihre gewohnte Ecke einzunehmen.
Aber klangvolle Namen waren es, die diese Räume
füllten, Namen, geweiht vom Genius der Kunst.
„Tretet ein, auch hier sind Götter."
Der alte Herr mit dem weißen Bart, angethan
mit einer alten Sammetjoppe von ganz undefinierbarer
Farbe, einen großen Hund an der Kette nach sich
ziehend, ist der berühmte Landschaftsmaler Rein-
hardt, ein Baier, der noch mit Schiller im
Körnerschen Hanse in Dresden verkehrte und in
seinen Skizzenbüchern köstliche Zeichnungen aus
jener Zeit bewahrte. Neben ihm der Mann mit
den harten energischen Zügen, der stark gebogenen
Nase und dem vollen starken Bart ist der Maler
der zu ihrer Zeit so hoch geschätzten italienischen
Genrebilder, Riedel; beide sind in eifrigem Ge-
spräch mit einem Herrn von imponierender Er-
scheinung. Der prächtige Kopf mit dem blonden Voll-
bart und den gesundheitstrotzenden Wangen ruht aus
einer wahren Hünengestalt. Die geistvollen Züge
belebt ein jovialer Zug, sie lassen den bedeutenden
Menschen aus den ersten Blick erkennen. Das ist
der Österreicher Ra hl, damals wohl der hervor-
ragendste Künstler der deutschen Kolonie. Daß er
eben Schiukeuschuitte aus der Westentasche hervor-
zieht und mit Behagen verzehrt, thut der Würde
seiner Erscheinung nicht den geringsten Eintrag.
Im denkbar stärksten Kontrast zu ihm steht ein
anderer hier selten gesehener Gast. In der schmächtigen
Gestalt, in der priesterlich zugeschnittenen schwarzen
Kleidung, m dem schmalen, bartlosen Gesicht mit
den erustblickenden Augen wäre man versucht einen
deutschen Dorfschulmeister zu sehen. Das ist
Overbeck, der geniale Zeichner biblischer Ge-
schichten.
Man traf in dem dunklen kleinen Cafe am Korso
zu allen Tageszeiten Künstler, und wer gern ein
paar Stunden herumschlendern wollte, konnte hier
sicher daraus rechnen, Gesellschaft zu finden. Mich
interessierte es besonders, in den ersten Wochen
meines Aufenthalts hier Künstler aller Länder kennen
zu lernen, und der Verkehr machte sich leicht und
in der angenehmsten Weise. Noch ahnte man
nicht, welche Stürme in wenigen Jahren über die
europäische Welt losbrechen würden, und die Unter-
haltung in diesen Kreisen drehte sich fast aus-
schließlich um künstlerische Dinge oder um pikanten
römischen Stadtklatsch, um Theater, Modelle oder
Neuangekommene interessante Persönlichkeiten.
Als täglicher Gast hatte ich mir bald ein be-
stimmtes Plätzchen an einem der kleinen Marmor-
tischchen ausgesucht und meine mezza-crema, Kaffee
mit Rahm — wurde bei meinem Eintritt von dem
aufmerksamen Kellner bald ohne weiteres serviert.
Ein orgineller Bursch war dieser Kellner, der alte
Pietro. In meinem Skizzenbuche steht das runzlige
Gesicht mit der ungeheuren Nase und den freund-
lichen verschmitzten Augen wiederholt verewigt. Er
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kannte alle Lente und war die lebendige Chronik
seines Stadtviertels. Die Besucher des Cafes redete
er nach italienischer Weise immer mit ihren Vor-
namen an, und ich brauchte mich nur an ihn zu
wenden, wenn ich näheres über einen Gast wissen
wollte. Sv hatte schon seit einigen Wochen eine
Persönlichkeit mein lebhaftes Interesse erregt, und
doch hielt mich eine gewisse Scheu ab, dem all-
wissenden Pietro meine Neugier zu verraten, ich
mochte den Zauber nicht zerstören, den die eigen-
tümlich sesselnde Erscheinung des Fremden um mich
gewoben hatte.
Es war ein Mann in den Vierzigen, die hohe
Gestalt ein wenig nach vorn gebeugt, ein schwarzer,
schon leichtergrauter Bart umrahmte das ernste
blasse Gesicht, und das wirre, wenig gepflegte Haupt-
haar fiel säst bis auf die Schultern herab. Ten
langen schwarzen, aus einem dünnen Stoff gefertigten
Mantel legte er trotz der Wärme nicht ab. Wie
säst alle Besucher hatte er seinen bestimmten Platz,
aber nie sah ich ihn in Unterhaltung mit Andern,
man schien ihn gern sich selbst zu überlassen.
Mußte der schöne Kops mit dem großen traurigen
Augen das Interesse des Malers erwecken, so zog
mich ein wirkliches Mitgefühl für den offenbar
Leidenden noch mächtiger an. — Der Zufall ver-
mittelte endlich die Bekanntschaft und ließ mich
ihm näher treten. Er hatte die Gewohnheit, so
bald er sich an seinem Tische niedergelassen, ein
kleines abgegriffenes Notizbuch neben sich zu legen
und dann und wann mit dem Bleistift hastig kurze
Sätze niederzuschreiben. Eines Nachmittags - ich
war in meine Zeitung vertieft gewesen und hatte
------«8»
Renatus Karl
Von A u g. N e i
(Schi
ohl dürfen wir Haupt in dem Urteil bei-
stimmen, daß Senckenberg nicht aus Gewinnsucht
und mit betrügerischer Absicht jenen verhängnisvollen
Schritt gethan hat. Aber nach meiner Ansicht
zeugt es doch von einer schwer entschuldbaren Selbst-
überschätzung, daß der Mann der Bücher und Akten
glaubte, durch Veröffentlichung einer vergilbten
Urkunde den Stein, der ins Rollen gekommen war,
aushalten zu können, ja zu müssen. Der klare
Blick für die Folgen seines Schrittes hat ihm ge-
fehlt, weil er sich durch einen Ehrgeiz, den wir
sonst nicht an ihm gewahren, blenden ließ. Als
er anfängt zu begreifen, wie sich Konsequenzen, die
er nicht vorausgesehen hat, unerbittlich ergeben,
da verliert er völlig den Kops. Erst die un-
fein Fortgehen nicht bemerkt — sah ich das Notiz-
buch an der Erde liegen und beeilte mich, es in
Sicherheit zu bringen, denn es konnte ja einen
wertvollen Inhalt bergen, und es schien mir nicht
ratsam, es einem Kellner zur Rückgabe anzuvertrauen.
Auf meine Erkundigung bei Pietro erfuhr ich, daß
man den Gast nur schlechtweg den Schweden nannte
und daß er irgendwo am Monte Pincio wohne.
Es konnte mir nicht schwer fallen, ihn dort zu er-
fragen, und ich beeilte mich, ans dem nächsten Wege
dorthin zu gelangen. Ich hatte kaum die ersten
Stufen der spanischen Treppe erstiegen, als ich meinen
Mann langsam von oben herab kommen sah. Er
wußte offenbar noch nichts von seinem Verlust und
sah mich, als ich direkt zu ihm hinschritt, etwas
verwundert an. Ich hatte das kleine Buch in ein
Zeitnngsblatt geschlagen und beeilte mich, es ihm
zu überreichen und zu sagen, wo ich es so eben ge-
funden. Er griff hastig an seine Taschen, gleich-
sam um sich zu überzeugen, daß er es wirklich ver-
loren habe, und nahm es dann mit den lebhaftesten
Dankesworten entgegen. Er zog das Buch rasch
ans der Umhüllung, öffnete es, wie um sich zu über-
zeugen , daß nichts von dem Inhalt abhanden ge-
kommen. „Verzeihen Sie," sagte er mit der eigen-
tümlich scharfen Silbenbetonnng der Nordländer,
„das Buch enthält nichts, was für einen Andern
von dem geringsten Wert wäre, neben abgerissenen
Gedanken, die ich gelegentlich zu Papier bringe,
bewahre ich darin einige Briefe aus, die ich um
nichts in der Welt missen möchte. Wie lieb ist es
mir, daß gerade Sie es finden mußten."
(Fortsetzung folgt.)
•<&>----
v. Senckenberg.
lter, Marburg.
' ß-)
barmherzige Peinigung durch seine sogenannten Richter
giebt ihm Kraft und Klarheit wieder. —
Aus diese schmerzlichste Zeit seines Lebens, —
die, nebenbei bemerkt, ihn von einer großen Carriere
dauernd ausschloß, — folgen einige Jahre amtlicher
Thätigkeit. — 1780 wird er Regiernngsrat,
daneben juristischer Schriftsteller und Ansang 1784
quittiert er den Dienst. Das Amtszimmer, in dem
es gilt fremden Interessen sich zu widmen, fordert
gerade von dem wissenschaftlich interessierten Manne
eine stete Selbstverleugnung, wie Senckenberg sie
nicht üben will oder kann. Da seine finanzielle
Lage es gestattet, zieht er sich, — im Alter von
dreinnddreißig Jahren, — in das otium cum
dignitate zurück.
66
Und wahrhaft würdig hat Senckenberg die
sechzehnjährige Muse seines noch übrigen Lebens
verwendet. Vor allem nahm ihn die Ausarbeitung
zahlreicher juristischer Arbeiten in Anspruch. Sie
können hier nicht alle angeführt werden. Erwähnen
will ich nur seine Hauptwerke: die Fortsetzung der
Teutschen Reichsgeschichte von Häberlin, die in
sieben Bänden das 17. Jahrhundert behandelt, und
die Fortführung der von Lipenius begründeten um-
fassenden juristischen Bibliographie.
Das zweite Werk zeigt ihn als den passionierten
Bücherfreund, der er war. Vom Vater hatte er
eine umfangreiche Büchersammlnng überkommen.
Sie zu mehren und zu bessern war sein stetes
Bemühen. Im Verkehr mit den stummberedten
Freunden des Gelehrten wird er manche genuß-
reiche Stunde verlebt haben.
In jungen Jahren war er zu Nom in die
Akademie der Arkadier ausgenommen worden. Unter
dem Namen Polydorus Nomeaeus, mit dem ihn
damals die modernen Arkadier begabt hatten, ver-
öffentlichte er 1785 griechische und lateinische
Gedichte. Diesen folgten 1787 „Gedichte eines
Christen", 1796 gar eine Tragödie Charlotte
Corday; diese Heldin besang er gleichzeitig in
lateinischen Versen. Nicht ganz also blieb Sencken-
berg von dem poetischen Geiste, der seine Zeit
durchwehte, unberührt; aber er gehörte nicht zu
den Wiedergeborenen dieses Geistes: das zeigt seine
Ablehnung des „süßen Werthergistes" und seine
Empörung über die Genien, „den Schimpf-Musen-
Almanach". Bedeutender als seine Pvesieen scheint
eine Schrift, in der er sich um die grammatische
Regelung der Muttersprache bemühte: „Gedanken
über einige Gegenstände, die Teutsche Sprache
betreffend" (1798). Dennoch galt ihm das Deutsche
nicht für würdig die Geheimnisse der Jurisprudenz
zu verkünden; für die Wissenschaft war ihm Latein
das einzig angemessene Ausdrncksmittel.
So hat Senckenberg vorwiegend als Gelehrter
und Litterat dahingelebt. Aber ein warmes Inter-
esse für das Ergehen der Mitmenschen und für
das große Ganze hat er dabei bewahrt und nicht
selten durch die That bewiesen. Wenn wir von
der an ihm gerühmten steten Fürsorge für die
Armen absehen, so zeigte er Mut und aufrichtiges
Wohlwollen, als er 1796 nach dem Abzug der
Franzosen für die am meisten geschädigten ober-
hessischen Städte mit einem Schristchen eintrat;
er verlangte Ersatz aus öffentlichen Mitteln. Für
die bedrängte Lage der hessischen Schulen, welche
besonders finanziell viel zu wünschen übrig ließ,
hätte er gern etwas Durchgreifendes gethan. Er,
als Privatmann, veranstaltete eine Art Enquote,
die die Grundlage für Resormvorschläge bilden
sollte. Zu diesen selbst ist es freilich nicht ge-
kommen. Zur Oberaufsicht über die Anstalten
seines Oheims in Frankfurt war er durch dessen
Testament verpflichtet, er hat diese Pflicht uner-
müdlich geübt. ohne sich durch den Widerspruch
und die Undankbarkeit der dortigen Verwaltung
beirren zu lassen. —
Tie zärtliche Liebe zu seiner einzigen Tochter
veranlaßte Senckenbergs frühen Tod. Während er
in Frankfurt in ärgerlichen Geschäften sich aufhielt,
erkrankte sie in Gießen an den Pocken. Er eilte
an ihr Sterbebett und erlag bald darauf derselben
Krankheit. (11. Oktober 1800.) —
Diese Zeilen haben ihren Zweck erfüllt, wenn
sie dazu dienen das Interesse an dem trotz mancher
Schwächen edlen und verehrungswerten Manne zu
beleben. In dem von ihm so sehr geliebten Gießen
wirkt er durch seinen Bücherschatz weit über sein
Erdendasein hinaus.
Dom Kasseler Hoftheater
Ich schloß meine letzte Betrachtung mit beut November
ab, — begonnen hatte ich sie mit einer Klage über das
wenige Neue, das zu berichten war über die letzten Monate.
Was die Oper anlangt, so hat diese Klage auch heute noch
ihre Bercchtiguitg, denn außer zwei einaktigen Opern
haben wir auch bis jetzt noch nichts Neues wieder erlebt.
Die eine derselben: „Ein Stücklein vom Schill" von
Gustav von Rößler ist ein harmloses und linbedeutendes
Machwerk, sowohl,, was Handlung wie Musik anlangt.
Die andere: „Der Überfall", deren Text nach einer Wildeu-
bruchschen Novelle bearbeitet ist. behandelt den tragischen Zwie-
spalt. den die Vaterlandsliebe und die Liebe zum Manne in
der Seele eines Weibes aufreißen und der sie schließlich in den
Tod treibt; die hochdramatische Musik Heinrich Zöllners
bietet viel Interessantes und Fesselndes. Bei der Anfführnng
fand besondereit Beifall bei Kritik und Publikum Frau
M o r n y als die Darstellerin der französische» Bäuerin.
Erwähnung dürfte hier wohl noch finden das Ballet
„Phantafieen im Bremer Ratskeller", eine freie Be-
arbeitung des Hanffschen Werkes, das in farbenprächtiger
Ausstattung und geschickter Inszenierung zu den flotten
Tanzweisen der dazu gehörenden Musik von Ad. Steinmann
aufgeführt wurde und sehr gefiel. Sonst wurde das
Rcpertoir vielfach durch die leidigen Gastspiele beeinflußt,
die ja nicht zu umgehen sind, immerhin kamen eine Reihe
von bewährten Tonschöpfungen zu guten Aufführungen
wie „Troubadour", „Fidelio". „Carmen", „Walküre",
„Hans Helling", „Tristan und Isolde", „Rienzi" u. a. m.
Für den schon längere Zeit unpäßlichen Herrn Bartram
ist eine zeitweilige Vertretung in Herrn Marsano ge-
funden worden. Eins der drei Abonnementskonzerte in
dieser Zeit bot besonderes Interesse durch das Auftreten
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des Herrn Or. Zulauf, eines Kindes unserer Stadt, der
sich zu einem sehr gewandten und feinfühligen Pianisten
entwickelt hat.
Mehr Leben herrschte ans dem Gebiete des Schauspiels.
Zunächst erlebte seine Erstaufführung „Florio und Flavia"
van Schönthan und Koppel-Elfeld, ein armseliger Ableger
von der beiden Autoren einst mit soviel Leifall aufge-
nommenem Lustspiel „Renaissance", der ein krasses Beispiel
dafür ist, wohin die Manier schließlich führen kann. Selbst
die mit trefflichem Humor beseelte Darstellung unserer besten
Lustspielkräfte, wie der Herren Dem me, Ko the und
Jürgensen, konnte das Stück nicht retten, das hoffentlich
nicht noch einmal erscheinen wird. Die Weihnachtszeit brachte
ein dramatisches Kindermärchen „Wie Klein-EIschen das
Christkind suchen ging". Man ist diesmal von der Gewohn-
heit abgegangen, den Kindern eine jener allen bekannten
Perlen ans dem deutschen Mürchenschatz auf der Bühne vorzu-
führen —, ob es so besser ist, möchte ich bezweifeln, denn
da es ja so unendlich schwer ist, sich vollkommen in das
Gemüt und die Denkweise des Kindes hineinzuversetzen,
bringen meistens diese erfundenen Märchen etwas dem
Kindersinne Fremdes mit und das Kind hat mehr Freude,
wenn es seine alten Bekannten auch auf der Bühne wieder-
sieht. Therese Haupt, die Verfasserin dieses Weihnachts-
märchens, hat sich ja alle Mühe gegeben. sich der kind-
lichen Auffassungsfähigkeit anzupassen; ganz ist es ihr
nach meinen Beobachtungen in zwei Aufführungen nicht
gelungen, denn die geradezu gierige Aufmerksamkeit, mit
der die Kinder sonst den Schicksalen Aschenbrödels oder
Schneewittchens folgten. habe ich nicht bemerken können,
Aus Heirnat
Universitätsnachricht. Dr. Karl Kaiser -
ling aus Kassel, bisher Assistent Rudolf Virchows,
wurde als Privatdozeut in der medizinischen
Fakultät der Universität Berlin zugelassen. In
seiner Antrittsvorlesung behandelte Or. Kaiserling
das Wesen der Gicht.
Jubiläum. Am 25. Februar feierte Herr Ge-
heimer Sanitätsrat Or. Führer in Wolfhagen
das 50 jährige Doktorjubilüum, ans welcher Ver-
anlassung ihm viele Ehrungen zu Teil wurden. Die
Stadt Wolfhagen machte den verdienten Jubilar
zu ihrem Ehrenbürger. Ferner wurde unter Be-
teiligung des Kreises und der Stadt Wolfhagen
eine Führer-Stiftung ins Leben geritfen.
Oberkonsistorialrat Habicht. Am 5. Fe-
bruar vollendete der erste evangelische Geistliche
des Großherzogtnms Hessen, der Oberkonsistorial-
rat und Prälat Or. Viktor Habicht in seltener
Rüstigkeit sein 80. Lebensjahr. Seit 1875 ge-
hört er dem, Oberkonsistorium in Darmstadt an,
und zehn Jahre später kam er an die Spitze der
evangelischen Geistlichkeit in Hessen, indem er zum
Prälaten der Landeskirche ernannt wurde. Sein
sondern beobochtet. daß sie sich vielmehr durch das neben-
sächliche Beiwerk der Aufführung ablenken ließen. Als
weitere Neuheit hatten wir Felix Philippis neuestes Werk:
„Das große Licht", eine Künstlertragödie, in der ein
junger talentvoller Maler durch grenzenlosen Ehrgeiz,
Neid und Eifersucht in Wahnsinn und Tod getrieben
wird. Wie alle Philippischen Stücke ist auch dies mit
glänzender Beherrschung der Bühnentechnik geschrieben
und ist wirksam von Anfang bis zu Ende, hinterläßt
aber doch einen kleinen Rest unbefriedigter Gedanken.
Bei der Aufführung traten namentlich hervor Frl. Ellmen-
reich und die Herren Volk»er, Jürgen sen und Le Senr.
Auch im Schauspiel wurde viel gastiert, znm Theil auch
mit Erfolg. Für Herrn Le Senr, der nach nur ein-
jähriger Thätigkeit schon wieder aus bcm Verbände scheiden
wird, führte das Gastspiel des Herrn Bohnöe, eines
tüchtigen Künstlers aus Köln, als Karl Moor, Teil und
Philipp Derblay zum Engagement. Für Frl. H a r t -
mann, unsere Nichtsalsnaive, wurde Frl, Wäbr nach
ihrem Auftreten als Franziska in „Minna von Barnhelm"
und in „Cornelius Voß" verpflichtet, während verschiedene
Gastspiele für die Herren Volkner, Binder und Demme
und eines für Frl. Schweighofer noch nicht zum
Engagement führten, teilweise sogar schon vor der Be-
endigung abgebrochen wurden.
Die so überaus löblichen Volksvorstellungen an Sonntag-
nachmittagen wurden fortgesetzt und es gelangten zur
Aufführung: „Othello", „Wie Klein-Elschen das Christ-
kind suchen ging", „Inspektor Bräsig", „Nathan der
Weise" und „Preziosa". W. A«. (¿.
und Freinde.
50 jähriges Jubiläum als Geistlicher feierte er
schon vor sieben Jahren.
Todesfall. In Wien starb am 28. Februar
Professor Max B ü ding er. Derselbe war am
1. April 1828 in Kassel geboren und hatte in
Marburg, Bonn und Berlin Philologie und Ge-
schichte studiert. 1851 habilitierte er sich in Marburg,
siedelte dann aber nach Wien über. 1861 folgte
er einem Ruf als Professor der Geschichte nach
Zürich; 1872 wurde er Professor an der Wiener
Universität, an welcher er bis 1899 wirkte. Er
verfaßte zahlreiche geschichtliche Werke, gab mit
Grunauer „Älteste Denkmale der Züricher Literatur"
heraus und suchte in einer 1859 erschienenen
Schrift die Unechtheit der Königinhoser Handschrift
nachzuweisen. Sein bedeutendstes Werk behandelt
die englische Versassungsgeschichle unb ist 1880
erschienen.
„Freie Feder". Tie in Kassel im September
v. I. gegründete Schriftsteller-Vereinigung „Freie
Feder" hatte Donnerstag den 18. Febrliar im
Central-Hütel einen Vereinsabend verailstaltet, an
welchem zum erstenmale Damen als Gäste zu-
68
gegen waren. Ter Vorsitzende des Vereins Pro-
fessor Dr. Kreßner hielt einen Vortrag über
Arnold von Brescia, an welchen sich eine
Vorlesung der Hauptszenen ans dem gleichnamigen
Drama von Ernst Strüfing, das in Leipzig im
Verlag von Breitkopf und Härtel erschienen ist,
anschloß. In einer früheren Versammlung der
„Freien Feder" war bereits das Schauspiel „Mira-
beau" des genannten, in Kassel lebenden Autors
zum größten Teile vorgelesen worden. In der
am 20. Februar stattgefnndenen Versammlung
schilderte Herr Rosenthal das Erdbeben an der
Westküste von Südamerika im Jahre 1868 nach
eigener Anschauung. Der Centennarseier Viktor
Hugos war der Abend des 27. Februar gewidmet,
an welchem der Vorsitzende den französischen Dichter
als Lyriker würdigte und Herr Max Müller das
Gedicht „Die Sühne" von Viktor Hugo, in der
Übersetzung von Hartmann, vorlas. Ferner ge-
langte in den verschiedenen Versammlungen eine
Anzahl ernster und humoristischer Gedichte von
den Herren von Bodenhansen, Dietz, Heidelbach,
Jonas und Lampmann zum Vortrag.
A n s g r a b u n g e n. Aus Veranlassung des
Hanauer Geschichlsvereins finden in der Gemarkung
Eichen Ausgrabungen statt, die den besten Fort-
gang nehmen. Es wird vermutet, daß eine größere
Anzahl Gebäude vorhanden ist. Die vormalige
Ansiedelung dürste sonach eine recht große ge-
wesen sein.
In der „Lindener Mark" (Wald in der Ge-
markung Großen-Linden) bei Gießen haben eben-
falls Ausgrabungen stattgefunden. Am reichhaltigsten
war ein Grab, das allem Anschein nach einem
Häuptling ans der „Hallstattzcit", etwa 700 v. Chr.,
angehörte. Es wurden im ganzen etwa 14 Urnen
gezählt, die teilweise noch vollständig erhalten
waren. Eine der Urnen hatte eine intensiv rote
Färbung und war ringsum mit schwarzen, drei-
eckigen Figuren verziert. Sämtliche Urnen hatten
eine schiefe, geneigte Stellung, was z. T. auf den
Bodendruck, z. T. aus das Sichsetzen der Brand-
schicht und unzweifelhaft auch auf einen Erdstoß
zurückzuführen ist. Die Funde wurden dem Museum
in Gießen einverleibt.
Personalien.
Ernannt: Landrichter Schmidt in Hanau zum Land-
gerichtsrat daselbst; Gerichtsassessor Plitt in Biedenkopf
znm Amtsrichter in Battenberg; Gerichtsassessor Wen be-
rath in Oberkaufungen zum Amtsrichter in Oberaula.
Verliehen: dem zweiten Staatsanwalt am Land-
gericht zu Hanau von Jbell der Charakter als Staats-
anwaltschaftsrat ; dem Rechtsanwalt und Notar Justizrat
Eberhard in Hanau der Note Adlerorden 3. Klasse mit
der Schleife; dem Bezirksvorsteher a. D. Dionysius
Neuß zu Fulda der Kronenorden 4. Klasse.
Versetzt: Landgerichtsdirektor Ahle mann zu Pader-
born in gleicher Eigenschaft an das Landgericht zu
Kassel.
Vermählt: prakt. Arzt 1)r. med. Gottfried Rol-
land zu Ziegenhain mit Fräulein Anna Matthäi
(Marburg, 15. Februar).
Geboren: ein Sohn: Oberlehrer Sand rock und Frau
(Kassel, 18. Februar); Amtsrichter Avenarius und Frau
(Abterode, 21. Februar); Engen Frederking und Frau
Tilli, geb. Gunzelmann (Veendam, Niederland,
21. Februar); Kaufmann August Herwig und Frau
Frida, geb. Bartel (Kassel, 24. Februar); Or. Otto
Brunne r und Frau (Neuemühle, 26. Februar); —
eine Tochter: Hauptmann Engelhard und Frau (Kassel,
18. Februar); Pfarrer Eisenberg und Frau (Kassel,
26. Februar).
Gestorben: Frau Geh. Negiernngsrat Ernestine
Kind. geb. Uloth (Wiesbaden, 4. Januar); Zuckerfabrik-
Direktor a. D. Julius Weinzierl, 60 Jahre alt
(Kassel. 16. Februar); Fräulein Bertha Grandidier,
53 Jahre alt (Kassel, 17. Februar); Oberstleutnant z. D.
Rudolf Hofmann. 82 Jahre alt (Fulda. 17. Februar);
Frau Dorothea Heyken, geb. Schwabedisse, Wittwe
des König!. Wasserbau-Inspektors. 77 Jahre alt (Kassel,
17. Februar); Professor l)r. Lahr, 62 Jahre alt (Mar-
burg, 20. Februar); Maurermeister S i e g m ii n b Land-
Hardt, 67 Jahre alt (Kassel, 22. Februar); Professor
Max Büdinger, 83 Jahre^alt (Wien, 23. Februar);
Frau Elise Sand rock, geb. Stilb in ger, 69 Jahre alt
(Kassel, 24. Februar); Postverwalter a. D. Heinrich
Schlarbaum, 73 Jahre alt (Rauschenberg, 24. Februar);
Fräulein Anna Wall stab (Kassel, 24. Februar).
Briefkasten.
v. R. in W. „Portrait - Gallerte der Regenten des
Kurfürstentums Hessen. 23 Lichtdrucke nach den in der
Schloßkuppel zu Wilhelmshöye befindlichen Gemälden.
Kassel 1893. Verlag von Gustav Klaunig, Hofbuch-
handlung" (jetzt Victor). Diese Portraits sind auch ent-
halten in der „Geschichte von Hessen von K. Hehler.
Kassel 1891" (obiger Verlag). Ferner dürfte zweck-
entsprechend sein: „Röth-Stamford, Geschichte von
Hessen". — Einen Abriß der Geschichte des Hessenlaudes,
zum Gebrauche der Schule zusammengestellt, hat Professor
Karl Wagner in Kassel im Verlag der Hühnschen
Hofbuchhandlung daselbst herausgegeben (2. Auflage
1896).
L. a. m. Antwort wird brieflich erfolgen, da die
Sendung erst kurz vor Redaktionsschluß eintraf. Vor-
läufig besten Dank.
.1. L. in Kassel. Dankend erhalten.
Für die Redaktion verantwortlich: i. V. W. Benuecke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel. Kassel.
€r$te Lerche.
Über der Miese am einsamen Hage
Erster jauchzender Lerchenton-----— —
„Flügel - getragene Sängerin, sage:
Kündet Dein Lied den Frühling schon ? ?
Ist er schon nahe, der Blütenbringer,
Dem aus den Locken das Sonngold tropft. . . ?"
„Ja, schon hat er mit tastendem Finger
An die Pforte des Waldes geklopft . . . !
Heute taumelt er noch am Stabe
Schlummertrunken einher und blind;
Bald aber schenkt er Dir Wonne und Labe,
Wenn ihm die Augen geöffnet sind! —
Hörst Dn wohl rings das Regen und Raunen?
Schmeckst Du die Süße der Lüfte nicht?
Fühlt es Dein Herz mit Entzücken und Staunen,
Wie schon von Wundern der Brunnquell spricht? ..."
Lange noch seh' ich die Lerche fliegen,
Bis sich im Blauen ihr Lied verlor:
Höher und höher ist sic gestiegen,
Hymnen zu singen am Himmelsthor. . .
Ravolzhausen. §38(1)2 €lf3.
¥ ¥ ?
Jenseits der Liebe.
Jenseits der Liebe fließt der Lethestrom,
Der dunkle Strom, der mir Dein Bild nicht zeigt,
Jenseits der Liebe liegt das stille Land,
In dem die laute Sehnsucht endlich schweigt.
Jenseits der Liebe wächst Eypreffennacht
21ns stummen Gräbern, wohnt verblichner Schar.
Das Schweigen lastet wie ein Marmorstein
Auf dem, was einst voll Lust am Leben war.
Jenseits der Liebe! Welch ein Wort der Rot!
Jenseits der Liebe! Ach, mein Herz versteint!
Dort sitzt auf einem schwarzen Thron der Tod,
Der bleiche Schatten, der nicht lacht, noch weint.
RegciiLburg. Clicresc Keiler Kellner.
¥ ¥ ¥
Abschied von Marburg.
Marburg, wir sah'n uns zum ersten Mal,
Als Rauhreif die Zweige deckte,
Als in der Sonne Frühmorgenstrahl
Dein Bergschloß die Mauern reckte.
Marburg, wir sah'n uns zum andern Mal,
Als Frühling durchritt die Lande,
Als mailufttrunken rauschte durchs Thal
Der Lahnftronl im Silberbande.
Marburg, und hör' ich zum letzten Mal
Die fröhlichen Burschenlieder —
Marburg, Dir gilt der letzte Pokal:
Marburg, wann seh'n wir uns wieder?
Marburg, ,902. M. KCttlei*.
70
%««<««««
Beitrag zur Charakteristik -es letzten Kurfürsten
von Hessen.
Vortrag, gehalten von dem Wirkt. Geheimen Rat v. Weyrauch in der Sitzung des Hessischen
Geschichtsvereins zu Marburg am 24. Januar d. I.
7lm 20. August d. I. werden es 100 Jahre !
sein, daß Friedrich Wilhelm, der letzte
Kursürst von Hessen, geboren wurde. Das Bild
dieses viel verlästerten Fürsten wird somit mehr
und mehr in die geschichtliche Entfernung gerückt,
in der dem Auge des ohne Voreingenommenheit
herantretenden Beschauers die wesentlichen Züge
klar und deutlich erkennbar bleiben, während was
mehr zufällig ist oder was Unwahres hinzugethan
wurde, vor der Leuchte ehrlicher Forschung nicht
Stand hält.
Die Geburt Friedrich Wilhelms fiel in die
Zeit, in der sein Großvater Landgraf Wilhelm IX.,
der nachherige Kllrfürst Wilhelm 1., ein nur noch
durch den Schein einer Reichsgewalt beschränktes
absolutes landesherrliches Regiment führte und
sich eben anschickte, seinen Thron mit dem durch
die Kursürstenwürde bedingten größeren äußeren
Glanz zu umkleiden. Kaum aber war in dem
vierjährigen Knaben die Fähigkeit erwacht, mit !
Bewußtsein zu leben und den Reiz der reichen
fürstlichen Hofhaltung zu empfinden, in der er
aufwuchs, da brach die ihn umgebende Herrlichkeit
jählings zusammen und er mußte den Eltern in
die siebenjährige Verbannung folgen. Nach der
Rückkehr des Großvaters und Vaters in das
wieder erstehende Kurfürstentum war der mit
scharfer Beobachtungsgabe ausgerüstete Knabe
Zeuge der rücksichtslosen, ohne jeden ernstlichen
Widerstand durchgeführten Restauration, mit der
Wilhelm I. alle Spuren der westfälischen Zwischen-
herrschaft zu vertilgen.strebte. Dann folgte nach
des Großvaters Tod von 1821 bis 1831 die
Periode der Regierung Wilhelms II., in welcher
die ganze Organisation der Staatsverwaltung
umgestaltet und mit der Verfassnngsurknnde vom
6. Januar 1831 dem Land das längst ersehnte
Staatsgrundgesetz gegeben wurde.
In der Verkündigungsformel der Verfassung
hieß es nach einigen einleitenden Sätzen folgender-
maßen: „So erteilen Wir nunmehr in vollem
Einverständnisse mit den Ständen, deren Einsicht
und treue Anhänglichkeit Wir hierbei erprobt
haben, die gegenwärtige Verfassnngsurknnde mit
dem herzlichen Wunsche, daß dieselbe als festes
Denkmal der Eintracht zwischen Fürst und Unter-
thanen noch in späteren Jahrhunderten bestehen
und deren Inhalt sowohl die Staatsregierung in
ihrer wohlthätigen Wirksamkeit unterstützen, als
dem Volke die Bewahrung seiner bürgerlichen
Freiheiten versichern und dein gesamten Vater-
lande eine länge segensreiche Zukunft verbürgen
möge."
Leider sollten die hier zum Ausdruck gebrachten
guten Wünsche und schönen Hoffnungen nicht in
Erfüllung gehen!
Zunächst zeigte sich bald, daß — haupt-
sächlich infolge des Kurfürsten unseligen Verhält-
nisses zu seiner Maitresse, der Gräfin Reichen-
bach — ein nicht mehr heilbarer Riß zwischen
Fürst und Volk entstanden war. Noch im
Laufe des Jahres 1831 kam es zu so schweren
Zerwürfnissen zwischen der Bürgerschaft Kassels
und dem Kurfürsten, daß dieser die Residenz
verließ, um nie wieder in dieselbe zurückzukehren,
und im September desselben Jahres entschloß er
sich sogar, die Regierung in der Form der Er-
richtung einer Mitregentschaft an seinen einzigen
Sohn Friedrich Wilhelm abzutreten.
Der Kurfürst enthielt sich fortan jeder Teil-
nahme an den Regiernngsgeschäften, und so wurde
der 29jährige Kurprinz thatsächlich alleiniger
Regent des Knrstaates.
Die Signatur seiner Regierung war von Ansang
an das Bestreben, die von seinem Vater dem
Land gegebene Verfassung so auszulegen und zu
handhaben, daß die Kronrechte möglichst wenig
beschränkt erschienen. Der Regent war in den
Anschauungen eines Trägers unbeschränkter Sou-
veränität aufgewachsen, er hatte beobachtet, wie
besonders sein Großvater die Machtbefugnisse
eines solchen rücksichtslos geübt hatte. Diesem
Vorbild folgte der Enkel, wo es nur möglich war.
Der ihn dabei leitende Gedankengang war immer
der, daß alle durch eine Verfassungsbestimmung
nicht ausdrücklich abgetretenen oder eingeschränkten
Rechte des Landesherrn demselben ungeschmälert
geblieben seien. Diesem bei jeder Gelegenheit
71 —
mit unerschütterlicher Festigkeit vertretenen Stand-
punkt des Regenten trat die grade entgegengesetzte,
alle Konsequenzen der konstitutionellen Theorie
ziehende Tendenz der Volksvertretung gegenüber,
und so konnte es nicht ausbleiben, daß zwischen
Regierung und Stünden immer uoit neuem
Reibungen und Konflikte entstanden, die sich
schließlich bis zu dem bekannten verhängnisvollen
Versassungskampf verschärften.
Es würde über den Rahmen der Aufgabe, die
ich mir gestellt habe, hinausgehen, wollte ich in
eine nähere Erörterung der Verfassungs-Streitig-
keiten und -Kämpfe eintreten; es kann mir heute
nur darum gelten, au diejenigen geschichtlichen
Thatsachen kurz zu erinnern, die für eine Würdi-
gung der Persönlichkeit des Kurfürsten Friedrich
Wilhelm von besonderer Bedeutung sind und die
es erklärlich machen, daß bei der Beurteilung
dieses Fürsten der Einfluß der Parteileidenschast
zu Übertreibungen und Entstellungen geführt hat.
Die eine Zeit laug landläuflge und von manchen
Seiten geflissentlich genährte Vorstellung, die
Regierung Friedrich Wilhelms sei eine vollständige
Mißregieruug gewesen, unter der das ganze hessische
Volk als unter einem schweren Druck geseufzt
habe — diese Vorstellung ist von Dr. Otto
Bähr in feiner Schrift „Das frühere Kurhesfeu"
als völlig unhaltbar erwiesen und gründlich wider-
legt worden. Die Ausführungen dieses als be-
deutender Jurist rühmlich bekannten Schriftstellers
sind um so bemerkenswerter, als sie aus der
Feder eines entschiedenen Gegners des politischen
Regierungssystems des Kurfürsten geflossen sind.
Bähr hat dargethan, daß sich der Kurstaat bis
in die letzte Zeit seines Bestehens einer trefflichen,
wohlfeilen, raschen und völlig unabhängigen Rechts-
pflege erfreute, daß seine Verwaltung — besonders
auf kommunalem Gebiet — eine gesetzlich streng
geregelte war und daß seine finanziellen Verhält-
nisse vorzügliche waren. Bähr hebt ferner hervor,
wie grade unter der Regierung des letzten Kur-
fürsten der hessische Bauernstand durch Ablösung
der Grundlasten und Errichtung der Landeskredit-
kasse gehoben, wie Handel und Gewerbe durch
zeitigen Beitritt Kurhessens zum Zollverein und
durch Eisenbahnbauten gefördert wurden und wie
wenig die ganze Bevölkerung mit Steuern be-
lastet war.
Auch der Person des Kurfürsten läßt Bähr
im wesentlichen Gerechtigkeit widerfahren. Den
Hauptcharakterzug Friedrich Wilhelms nennt er
dessen unbegrenzten Fürsteustolz. In der That
gab dieser Stolz die unerschütterliche Festigkeit in
der Abweisung aller Versuche, maßgebenden Ein-
fluß zu üben, und war der letzte Grund einer-
völligen Gleichgültigkeit gegen die Volksmeiuuug
und gegen die als deren Organ sich gerireude
Presse des In- und des Auslands. Er war aber
auch die Wurzel der Meuschenverachtung, die
gelegentlich in dem schroffen Wort zum Ausdruck
kam: „Meine Diener, hoch wie niedrig, sind in
meine Hand gegebene Schwämme, die ich nach
Gefallen ausdrücke und daun wegwerfe." Nicht
weniger war es Ausfluß dieses Fürstenstolzes,
wenn Friedrich Wilhelm auf einen Vorschlag,
durch veränderte Einrichtungen in der Hofverwal-
tung Ersparnisse zu machen, kopfschüttelnd er-
widerte: „Das paßt sich nicht für mich, ich führe
ja keinen Haushalt, ich führe eine Hofhaltung,
von der die Leute leben sollen."
Bähr hebt anerkennend hervor, daß der Kur-
sürst durchaus keine Günstlinge (weder männliche
noch weibliche) gehabt habe, daß ihm persönliche
Unterwürfigkeit zuwider gewesen, daß deshalb
unter seiner Regierung das Land frei geblieben
i von Nepotismus und Protektion und daß man
ein Streberthum nicht gekannt habe. Er rühmt
vom Kurfürsten, daß er von Hans aus durchaus
! nicht geizig, daß er wohlthätig gegen Arme ge-
wesen und daß es ihm nicht an Gewissenhaftigkeit
in solchen Dingen gefehlt habe, wo er sich bewußt
gewesen, eine Pflicht erfüllen zu müssen.
Weiter giebt Bähr zu, daß es dem Kurfürsten
auch an Rechtssinn nicht gefehlt habe, der sich
freilich vor allem in eifriger Bewahrung seiner-
eigenen Rechte, dann aber doch auch in der Achtung
vor einem Richterspruch — selbst wenn er ihm
persönlich ungünstig war — sowie darin gezeigt
habe, daß der Fürst bei Ausübung des Begnadi-
gungsrechts, namentlich bei ihm vorliegenden
Todesurteilen, mit der größten Sorgfalt, ja
Ängstlichkeit zu Werke ging, und daß es sein
eifrigstes Bemühen war, in den Fall einzudringen
und sich selbst ein Urteil zu bilden.
Den Schlüssel dazu, daß solche unzweifelhafte
Regententngenden auf die herrschende Vorstellung
von der Persönlichkeit Friedrich Wilhelms so
wenig Einfluß gehabt haben, sucht Bähr in der
alten Erfahrung, daß dem Menschen am wenigsten
persönliche Unliebenswürdigkeit verziehen werde,
sowie darin, daß dem Kurfürsten vor allem das
gefehlt habe, was man doch von einem Fürsten,
in dessen Hand das Geschick von Hunderttausenden
gelegt sei, noch mehr als von jedem Andern er-
warte: das menschliche Wohlwollen.
Beide Vorwürfe der Unliebenswürdigkeit und
des Mangels an menschlichem Wohlwollen sind
in der Uneingeschränktheit, in der sie erhoben
werden, keineswegs begründet.
72
Allerdings läßt sich nicht leugnen, daß Friedrich
Wilhelm infolge mancher verbitternder Lebens-
erfahrungen dazu gekommen war, den Grundsatz
zu befoigen und auch gelegentlich offen auszu-
sprechen, er wolle lieber gefürchtet als geliebt fein.
Mit diesem Grundsatz war denn freilich eine
öffentliche Bethätigung von Liebenswürdigkeit und
Wohlwollen nicht vereinbar. Die in häufige
nähere Berührung mit dem Monarchen kommen-
den Personen, wie Minister, Hofchargen, Adjutanten
konnten aber ans ihren Erfahrungen immer mir
bezeugen, daß ihnen der allerhöchste Herr regel-
mäßig höflich und rücksichtsvoll begegnete und
daß er es keineswegs an Beweisen freundlichen
Wohlwollens fehlen ließ. Aus eigener, allerdings
nur einjähriger Erfahrung als Generalsekretär
des Gesamt-Staatsministeriums, als welcher ich
mit den Funktionen eines Kabinetsrats betraut
war, kann ich selbst das nur vollauf bestätigen.
Der vorhinnige Geh. Legationsrat, frühere
Geh. Kabinetsrat von Goeddaeus hat in
seiner kleinen Schrift „Aus dem Leben des Kur-
fürsten Friedrich Wilhelm von Hessen" eine ganze
Reihe von Belegen mitgeteilt für die Gewissen-
haftigkeit und Menschlichkeit Friedrich Wilhelms
bei Führung seiner Regierung, für seine Mild-
thätigkeit und Freigebigkeit, für seine Fähigkeit,
sich liebenswürdig und gütig zu erweisen. Ich
mochte diesen Mitteilungen einiges aus meinen
eigenen Erlebnissen und Erinnerungen hinzufügen.
(Schluß folgt.)
—
Das Beuerholz.
Ein Beitrag zur Geschichte der hessischen Markgenossenschaften.
Bon Dr. Fenge.
(Schluß.)
TIls im Jahre 1607 die herrschaftlichen Förster
der benachbarten fürstlichen Reviere Kessel und
Quiller den Bewohnern von Hilgershausen und Mel-
sungen gestattet hatten, im Markwalde Holz zu
hauen, Kühe und Schafe auf die Hute, die Schweiue
in die Eichelmast zu treiben, da beschwerte sich über
diese Besitzstörungen der Magistrat zu Felsberg
bei dem Jägermeister Wolf Philipp von Uhrbach.
Infolge dieser Beschwerde wurde, unter Landgraf
Moritz, am 24. September 1608 zu Heßlar
zwischen der Forstverwaltung einerseits und dem
Bürgermeister und Rat zu Felsberg andererseits
ein — durch fürstliche Verordnung vom 19. Januar
1695 ausdrücklich bestätigter — Kontrakt geschlossen,
der in mehrfacher Hinsicht für die Geschichte des
Markwaldes von Bedeutung ist. Er enthält be-
züglich der Verwaltung und Aufsicht über das
Beuerholz sehr wesentliche Neuerungen. Während
bisher der Obermärker zu Felsberg allein die Macht
hatte, in dem Wald zu forsten und zu pfänden
und alle Pfänder und Bußen allein zu beziehen,
sollen von nun an die herrschaftlichen Förster „auf
das Beuerholz mit zu sehen und zu pfänden haben,
und was sie an Mißfälligen bekommen, Ihrer
Fürstl. Gnaden zur Forst einbringen; was dagegen
der Stadtförster pfändet, soll der Stadt verbleiben,
bei gleichzeitiger Pfändung hingegen sollen die
fürstlichen Forstknechte den Vorrang haben".
In Bezug ans die Holznutznng wurde bestimmt,
„daß das Holz zu Klaftern gelegt, und in Wellen
gebunden, danach von den fürstlichen Beamten (d. h.
dem Rentmeister und dem Schultheiß zu Felsberg)
im Beisein der Förster aufgeschrieben werden sollte,
damit Unserem gn. F. und H. nichts unterschlagen,
sondern mit halbem Forst eingebracht werde, wie
herkommen".
Die Ansprüche von Melsungen und Hilgers-
hausen an den Markwald wurden rundweg ab-
gewiesen. — So war also — und das ist das
Wichtigste aus diesem Kontrakte — den land-
gräflichen Forstbeamten das Mit-Verwaltungs-
und Aufsichtsrecht eingeräumt worden; im übrigen
aber war der Markgenossenschaft das Eigentums-
recht ausdrücklich zugestanden worden.
Wie in diesem Falle die Markgenossenschaft
einen Teil ihrer Befugnisse an den Staat ver-
loren hatte, so gelang es endlich auch den hart-
näckigen Hilgershäusern festen Fuß im Markwald
zu fassen, freilich nur was die Hute angeht. Durch
einen in Felsberg am 21. Juli 1656 abgeschlossenen
„Rezeß" wurde eine bestimmte Hute im Beuerholze
abgegrenzt und den Bewohnern von Hilgershausen
zugewiesen gegen eine jährliche Abgabe von 2 Thlr.
16 Alb. an jeden der beiden Förster und von
einem Kopfstück (= 7ljs Albus) an den Förster des
Ouillers. Das Huterecht der Hilgershüuser tritt
in diesem Kontrakt recht deutlich als Servitut an
die Mark und diese selbst dadurch als Eigentum
der Märker hervor.
73
Am 2. Mai 1659 fand um das Beuerholz
ein Grenzbegang statt, an dem sich die herrschaft-
lichen Beamten und Forstbedienten, sowie Bürger-
meister und Rat von Felsberg samt der ganzen
Bürgerschaft, auch sämtliche Mitmärker beteiligten.
Der mürkerschaftliche Vorstand scheint aber um
jene Zeit seine Pflichten bezüglich der Auf- und
besonders der Abforstung stark vernachlässigt zu
haben, denn unterm 20. Juni 1680 haben —
vermutlich aus starken Druck der Forstverwaltnng
hin — Bürgermeister und Rat zu Felsberg sowie
abgeordnete Mitmärker auf dem Rathause zu Fels-
berg eine Holzordnung unterzeichnet und veröffent-
licht, die strenge Bestimmungen enthält, um der Ver-
wüstung des Waldes zu steuern. Es muß sehr arg im
Walde gehaust worden sein, denn es heißt in der
Ordnung einleitend: „Nachdem Bürgermeister und
Rat zu Felsberg mit nicht geringer Bestürzung
vernehmen müssen, daß durch ihre Unachtsamkeit
das Beuerholz in Weghauung der tragbaren Bäume,
sowie des Brennholzes durch die Bürger und Mit-
mürker, indem jeder, wie und wann es ihni beliebt,
in das Holz fahren und daselbst füllen, also das
Beuerholz deteriorieren und verwüsten sollte
Auf die Holzordnung im einzelnen einzugehen,
hat keinen Wert; doch ist sie insofern wichtig,
als sie erkennen läßt, das die Mit-Aussicht uud
Verwaltung der herrschaftlichen Beamten und
Förster sich zu jener Zeit noch nicht in erheblichem
Maße entwickelt hatte, daß vielmehr die eigent-
liche Verwaltung und Verfügung über die Mark
nach wie vor fast ausschließlich iu den Händen
der Markgenossenschaft lag, daß diese also alleinige
Eigentümerin des Waldes ist, dessen Nutzungen
sie allein bezieht.
Wie 1656 der Gemeinde Hilgershausen die
Huteberechtigung in einem Teile des Waldes zu-
gestanden worden war, so erhielt 1692 Elsers-
hausen und 1719 Heßlar ein Stück Hute für
das Vieh angewiesen „gegen Recompens".
Im Jahre 1682 macht Landgraf Karl sein
Mit-Aussichtsrecht über das Beuerholz in nachdrück-
licher Weise geltend, indem er unterm 15. Februar
dem Rentmeister Zielfelder zu Felsberg anbefiehlt,
„daß die Beamten zu Felsberg der Anweisung
des Bau- und Brennholzes, sodann der Austeilung
desselben beiwohnen, folgends das ausgeteilte Bau-
und Brennholz im Beisein der Förster ausschreiben
sollen, damit Uns an dem gebührenden halben
Forste nichts unterschlagen/ das Beuerholz auch
nicht veröset*) noch deteriorioret werden möchte".
Die Beamten sollen daraus sehen, daß das Beuer-
holz nicht ferner, wie bisher zum höchsten Miß-
fallen des Fürsten geschehen, gleichsam liederlicher
Weise ruinieret und ganz kahl gemacht werden
möge. Sie sollen an die Regierung berichten,
wenn ohne der Beamten und Förster Vorwissen
und Beisein Bürgermeister uud Rat Holz anweisen,
damit sie exemplariter bestraft werden.
Einen bemerkenswerten Schritt weiter in der
Entwicklung des Benerholzes bedeutet die Resolution
des Landgrafen Karl vom 19. Januar 1695.
Die von den Märkern selbst im Jahre 1680 er-
lassene Holzordnung hatte es nicht vermocht, die
Holzverwüstung im Beuerholze abzustellen, und
da sich Bürgermeister und Rat zu Felsberg, den
wiederholten landesherrlichen Befehlen entgegen, der
Aufsicht und Mitwirkung der fürstlichen Beamten
und Förster bei Feststellung, Anweisung uud Ver-
teilung des Holzes zu entziehen suchten, auch vielfache
Uuterschleife und Excesse vorgekommen waren, sah
sich Landgraf Karl unterm 19. Januar 1695
veranlaßt, selbst eine Holzordnung für das Beuer-
holz zu erlassen. Diese Holzordnung schildert in
der Einleitung die schlechte Wirtschaft des märker-
schastlichen Vorstandes, wie sie den Wald von
Nutz- uud Brennholz fast ledig gemacht, keine jungen
I Eichen wieder anpflanzen, das Markholz unordentlich
. hauen lassen, die jungen Pflanzungen nicht gehörig
! einhegen u. s. w. dermaßen, daß der Fürst wohl das
Recht habe, das Beuerholz wieder in sein Eigentum
! zu übernehmen, wie es in der Verleihungsnrkunde
angedroht sei; daß er aber die Märkerschaft in
Gnaden bei den vormals erlangten Privilegien
j belassen wolle. Der iu fvrsttechnischer Beziehung
wichtigste Punkt dieser Holzordnuug ist wohl das
Gebot, iu Zukunft schlagweise zu hauen uud nicht,
wie es üblich war, plänterweise*), d. h. den Wald-
bestand durch Aushauen einzelner Bünme zu
lichten. Im übrigen hat diese Verordnung aus-
gesprochenermaßen nur den Zweck, die Admini-
stration zu ändern, nicht aber die althergebrachten
Eigentumsrechte anzugreifen. Wie die Kosten der
Verwaltung sich steigerten, so war man bestrebt,
auch die an den Staat zu entrichtenden Abgaben
j zu erhöhen. Insbesondere soll in Zukunft das
Werk holz, von dem bisher neben Bau- und
Brennholz nicht die Rede gewesen war, völlig ver-
forstet werden. Was die Mast betrifft, die eben-
falls völlig zil versorsten ist, so nimmt der Land-
graf diese für sich allein in Anspruch und gesteht
i den Märkern bei Betreibung der Blast nur den
*) „Verösen" (— althochd. öshan) ein heute nicht mehr
verstandenes Zeitwort in der Bedeutung: öde machen,
verderben, vernichten.
*) Uber „pläntern", das den Gegensatz zu dem „schlag-
weisen Betriebe" bildet, s. Zeitschr. des Allg. Deutschen
Sprachvereins. 1901. Spalte 289.
74
Vorrang vor Andern zu. Eme weitere Aus-
dehnung der staatlichen Aufsichtsrechte ist in der
Bestimmung zu erblicken, nach der in Zukunft bei
Annahme eines Stadtförsters dieser im Beifein
eines fürstlichen Forstbeamten auf die fürstlichen
Interessen mit zu verpflichten rst.
Noch oft hatte die Märkerschaft Klage zu
führen gegen die herrschaftlichen Förster, die im
fiskalischen wie in ihrem eigenen Interesse nicht
bloß ihre Machtbefugnisse, sondern insbesondere
auch die ihnen und dem Staate zustehenden Ge-
bühren zu erhöhen bemüht waren. So mußte
im Jahre 1738 dem Förster Grebe zu Melgers-
hausen von seiner vorgesetzten Behörde selbst
entgegengetreten werden, weil er aus dem Mark-
oder Brennholze, von dem bloß halber Forst gezahlt
wurde, alles Stangen- und Werkholz heraus-
warf, um davon den vollen Forst für den Staat
herauszuschlagen und außerdem noch die höheren
Accidenzien. Diese galten ursprünglich als eine
für die fürstlichen Förster bestimmte Verwaltnngs-
gebühr, flössen aber seit 1752 in die herrschaft-
liche Kasse, waren also eine Realabgabe geworden.
Auch ein Bescheid des fürstlichen Oberforstamts
zu Kassel vom 11. November 1805 behandelt
den Übergriff eines fürstlichen Försters und zwar
bei Aufstellung der Liste der berechtigten Holz-
empfänger aus bem Beuerholze. Als sich nämlich
der Magistrat zu Felsberg weigerte, die Namen
der Holzempfänger für 1806 bem Förster ab-
zuliefern, ordnete das fürstliche Oberforstamt an,
daß es in Ansehung der genannten Waldung bei
der bisherigen Verfassung, wonach der Magistrat
die Listen selbst aufstellt, belassen werden solle.
Durch den siebenjährigen Krieg waren die
Waldungen auch in Hessen vielfach verwüstet
worden. Zur Wieder-Aufforstung der Wälder
hatte daher die fürstlich hessische Kriegs- und
Domünen-Kammer zu Kassel unter der Regierung
Landgraf Friedrichs II. durch das Regulativ vom
0. April 1764 die Anordnung getroffen, daß von
allen Waldnutzungen die zur Bepflanzung bezw.
Besamung erforderlichen Pflanzkosten unter der
Form eines „Pflanzaussatzes" als Zuschlag zu
dem zu entrichtenden Forstgelde erhoben werden
sollten. Der Bitte des mürkerschastlichen Vor-
standes um Erlaß dieses Pflanzaussatzgeldes gab
die Regierung unterm 31. August 1764 statt, be-
deutete aber zugleich die Bittsteller, daß, wenn
sie die Waldung nicht in gehörigem Stande er-
hielten und nicht jährliche neue Anpflanzungen
machten, ihnen der Wald dem Schenkungsbriefe
gemäß genommen werden sollte.
Das sind in groben Umrissen die rechtlichen
Verhältnisse des Beuerholzes, wie sic sich im Laufe
der Jahrhunderte bis zur westfälischen Zeit ent-
wickelt haben. Bei Beginn der westfälischen
Fremdherrschaft steht es mit dem Beuerholze, um
es in wenigen Worten zusammenzufassen, in
folgender Weise:
Die in dem Schenkungsbriefe von 1360 be-
zeichnete Mark Benerholz besteht noch; sie befindet
sich im Eigentum der Stadt Felsberg sowie
der Gemeinden Gensungen, Beuern und Helms-
hausen, deren alte Privilegien oftmals und bis
in die neueste Zeit hinein von den Staatsbehörden
anerkannt und geschützt worden sind. Dagegen
hat die Verwaltung mannigfache Veränderungen
erfahren. Während ursprünglich die Märkerschaft
unbeschränkte Selbstverwaltung in ihrem Walde
ausübte, gingen nach und nach diese Befugnisse
teils infolge mißbräuchlicher Verwaltung, haupt-
sächlich aber infolge der Entwicklung der Landes-
hoheit, die besonders in Hessen ein ausgedehntes
Forstregal in Anspruch nahm, verloren und ver-
wandelten sich in Rechte einer beschränkten Mit-
wirkung bei Feststellung und Ausführung der
Kultur- und Nutzungspläne des Waldes.
Von geringerer Bedeutung sind die Änderungell
in den Abgabeverhältnissen. An Stelle der ur-
sprünglichen Haferabgabe ist zu Ende des 16. Jahr-
hunderts eine Geldabgabe getreten. Der halbe
Forst vom Brennholz ist übrigens im Lause der
Zeiten nie erhöht worden, er hat bis zur west-
fälischen Zeit stets 3 Albus (= 2 gute Groschen
4 Heller) betragen. Diese Abgaben sind samt
den Accidenzien als Ersatz für die ursprüngliche
Zinsabgabe und als Gegenleistung für die bem
Staate obliegenden Verwaltungskosten anzusehen.
Es kam die Zeit des Königs Lustik. Die am
29. März 1808 eingesetzte General-Ädministratioil
der Domänen, Gewässer und Forsten wollte gar
zu gern aus unserm alten hessischen Benerholz
einen westfälisch-französischen Staatswald machell;
sie verfügte, daß dem Staate an dieser bisher
märkischen Waldung „principaliter ein ausschließ-
liches Eigentum zustehe, indem die Gemeinden
die Waldung nur jure 8ervituti8 benutzten".
Mit anderen Worten also: die westfälische Re-
gierung erklärte das Benerholz grundsätzlich
als Staatseigentum. In Wirklichkeit aber zog
sie gelindere Saiten aus; wohl weil sie von ihrem
„guten" Rechte wenig überzeugt war, beanspruchte
sie bloß den vierten Teil für sich, indem sie
diesen sonderbaren Anspruch damit begründete,
daß die Abgabe für Brennholz, welche 3 Albus
für die Klafter betrug, „hin und wieder den
4. Teil des in den herrschaftlichen Waldungen
genommenen Forstgeldes von 12 Albus ausmache".
Als hiergegen der Maire und Municipalrat der
75
Stadt Felsberg Einspruch erhob, wurde der Prä-
sektur-Rat Wittich mit der Untersuchung der Ver-
hältnisse beauftragt. Nachdem dieser die ans den
Gegenstand bezüglichen Akten und Urkunden, welche
sich in den Archiven der Ober-Rentkammer und
des Forstdepartements zu Kassel, sowie der Renterei
und des Magistrats zu Felsberg vorgefunden
hatten, zu Rate gezogen hatte, gab er sein Gut-
achten dahin ab, „daß dem Staate weder das
alleinige noch ein Mit-Eigentum an dem Holze
zustehe, daß dieses vielmehr eine Mark sei und
als solche der Märkerschaft zu vollem und aus-
schließlichem Eigentum gehöre".
Infolge dieses Gutachtens, das mit seinen reich-
lichen Belegen die Grundlage für das Urteil der
königlich preußischen Generalkommission vom
22. Mai 1872 bildet, ließ die königlich west-
fälische Regierung ihre Ansprüche fallen.
Nichtsdestoweniger wurde in kurhessischer Zeit
ein neuer Angriff gegen das Benerhvlz unter-
nommen. Während dieses bisher im Grundsteuer-
Kataster auf den Namen der vier Gemeinden, die
es auch zum vollen Betrage versteuerten, als
Eigentum eingetragen war, wurde im Jahre 1843
auf Beschluß des kurfürstlichen Oberstenerkollegiums
zu Kassel in den Steuerkatastern der vier Ge-
meinden der Eintrag erwirkt, „daß an dieser
Waldung der Staat das ausschließliche Eigen-
tum in Anspruch nehme". Da die staatlichen
Behörden durch gütliche Vorstellungen nicht zur
Zurücknahme dieses Eintrags bewogen werden
konnten, wurde die Märkerschast im Jahre 1859
bei dem Justizamt zu Felsberg gegen den Staat
klagbar. Ans den Bericht des Obersorstkvlle-
giums hin gab jedoch das kurfürstliche Finanz-
ministerium am 24. Mai 1859 den Bescheid,
„daß das ausweislich der überreichten Akten
hinsichtlich der Markwaldung bestehende Rechts-
verhältnis ein Eigentum des Staates
an den zur Mark gehörigen Wald teilen
nicht erkennen lasse und ein solches auch im
Wege Rechtens sich nicht werde zur gerichtlichen
Anerkennung bringen lassen". Der verhängnis-
volle Eintrag in den Steuerkatastern wurde
daraufhin gelöscht, und somit war auch dieser
Angriff auf das Benerhvlz abgeschlagen.
Aber noch einmal und hoffentlich zum letzten
Male füllte die alte Markgenossenschaft ihre ver-
brieften Rechte verteidigen, und zwar gegen die
neue Landesherrschaft, gegen den preußischen Staat,
auf den 1866 die hessischen Lande übergegangen
waren. Aber auch dieser im Jahre 1868 von
der königlich preußischen Regierung zu Kassel gegen
die Märkerschast angestrengte Prozeß wurde, wie Ein-
gangs erwähnt, in der Sitzung der königlichen
Generalkommision zu Kassel vom 22. Mai 1872
unter dem Vorsitze des Generalkommissarins
Wilh elmy zu Gunsten der Märkerschaft entschieden.
Das Endurteil, das diese Entscheidungsbehörde fällte,
lautet in seinen Hauptpunkten: „Das Benerhvlz
ist den Bürgern zu Felsberg und den Leuten zu
Gensungen, Beuern und Helmshansen als eine
Mark und damit zugleich als Eigentum
verliehen. — Ter Staat hat von dem Vor-
behalte. den Wald für den Fall schlechter Be-
wirtschaftung wieder an sich zu ziehen, nicht Ge-
brauch gemacht, vielmehr die Märkerschaft in
ihren alten Privilegien wiederholt bestätigt und
ihr Eigentum wiederholt bis in die neueste Zeit
hinein anerkannt. — Nur die Administration hat
der Staat an sich gezogen, damit aber zugleich
den Vorbehalt, den Wald selbst wieder an sich zu
ziehen, ausgegeben. — Dem Eigentumsrecht ent-
sprechend, hat die Märkerschaft nicht bloß sämt-
liche Nutzungen des Waldes bezogen und sich da-
durch und durch ihre Mitwirkung bei der Ad-
ministration in dem Besitz erhalten, sondern auch
alle Kulturkosten desselben getragen und die
Steuern davon entrichtet."
Nachdem somit auch die neue Landesregierung
der Märkerschaft das Benerhvlz als rechtliches
Eigentum zugesprochen hat, steht zu hoffen, daß,
solange der preußische Wahrspruch Suum cuique
zu Recht besteht, die Stadt Felsberg uiib die
Gemeinden Gensungen, Beuern und Helmshausen
in ungestörtem Besitze des Markwaldes Benerhvlz,
dessen sie sich nun 542 Jahre erfreuen, bleiben
werden.
Heute ist der Felsberger Bürgermeister als
Obermärker in glücklicherer Lage als sein Vor-
gänger ans dem Jahre 1680, der „mit nicht
geringer Bestürzung" ersehen hatte, daß das
Beuerhvlz deterioriert und verwüstet sei; heute
kann der Obermärker mit Befriedigung und Stolz
auf den vortrefflichen Zustand des Markwaldes
— als eine Folge des einträchtigen Znsammen-
wirkens der staatlichen Forftverwaltnng und des
mürkerschastlichen Vorstandes — blicken.
Die Leser werden es, denke ich, verstehen und
verzeihen, wenn ich diesen kleinen Beitrag zur
Geschichte eines hessischen Waldes mit dem Wunsche
schließe, daß der gegenwärtige greise Ober-
märker, der nun eine lange Reihe von Jahren
mit so großer Liebe und Hingebung für sein
Beuerhvlz gesorgt hat, sich noch manches Jahr an
dem poetischen Zauber des Waldes erfreuen möge.
76
Römische Erinnerungen
Von Louis K a tz e n st e i n.
(Fortsetzung.)
3ch äußerte meine Freude, daß ich ihm den
kleinen Dienst hatte erweisen können, und wollte
mich grüßend entfernen. Er drückte mir herzlich
die Hand. „Wenn es Ihnen recht ist und Sie nichts
versäumen," sagte er, „so machen wir noch einen
Gang über den Pincio. Jetzt um die Zeit des
Sonnenuntergangs ist es doch die interessanteste
Promenade, abgesehen von der herrlichen Aussicht
auf die Stadt. Aber zuvor muß ich mich Ihnen
doch vorstellen." Er nannte mir seinen Namen
und daß er von deutschen Eltern in Stockholm
stamme, ich nannte den meinigen und meinen Beruf.
„Ich hoffe," sagte er lächelnd, „Sie arbeiten tüchtig
und lassen sich nicht allzusehr von dein hier üblichen
Schlendrian fortreißen, der um so gefährlicher ist,
als er die jungen Leute in den Glauben wiegt, daß
bloßes Sehen schon Studium sei."
Ich glaubte ihn darüber beruhigen zu dürfen
und sprach meine Vermutung aus, in ihm einen
Bernssgenvssen zu sehen.
„Nein," unterbrach er mich etwas hastig, „so
glücklich bin ich nicht. Ich reise viel, bleibe aber
nie sehr lange an einem Ort; meine Beschäftigung
erlaubt das," fügte er trübe lächelnd hinzu, „ich
habe keinen bestimmten Beruf, Sie müßten mir
denn, wie meine Landsleute daheim, nach einigen
schwachen Versuchen die Ehre anthun, mich einen
Dichter zu nennen."
Dies Geständnis gab unserm Gespräch eine neue
Richtung, und wie nichts so sehr geeignet ist, ge-
bildete Menschen einander näher zu bringen, als
der gemeinsame Enthusiasmus für bestimmte Meister-
werke der Dichtung, so nahm unsere Unterhaltung
einen lebhafteren, wärmeren Ton an. Bon Dichtern
stand ihm keiner so hoch wie Byron, von dem er
mit der glühendsten Bewunderung sprach. Ich
stimmte voll und ganz in seine Begeisterung ein,
und es schien ihn angenehm zu überraschen, daß
ich die herrlichen, ans Rom und Venedig bezüglichen
Strophen in Childe Harolds Pilgerfahrt englisch
zitieren konnte.
Wir sahen uns von da an fast täglich, und ich
hatte alle Ursache, mich der neuen Bekanntschaft
zu freuen. Mein neuer Bekannter erwies sich als
geistvoller Kenner der italienischen Geschichte, der-
er, wie mir schien, ein besonderes Studium widmete.
Bon den in Rom lebenden Künstlern kannte er die
meisten, aber außer einen: gelegentlichen Besuch im
deutschen Künstlerverein unterhielt er mit keinem
einen näheren Verkehr.
Der Winter war inzwischen herangekommen, und
es wurden im Palazzo Simonetti, dem schönen
Lokale des deutschen Künstlervereins, Anstalten ge-
troffen zu einer solennen Sylvesterfeier. Nach dem
festlichen Abendessen waren Vorträge ernsterer und
heiterer Art in Aussicht genommen. Auch mein
neuer Freund war unter den Gästen, und es gelang
mir den Platz an seiner Seite bei Tisch zu bekommen.
Der fröhliche Lärm umher, das Singen und Musi-
zieren machten ein ruhiges Gespräch unmöglich; die
zwölfte Stunde nahte heran, es wurden riesige
Bowlen ausgestellt, und man bereitete sich vor, das
neue Jahr mit einem donnernden Gruß zu empfangen.
Zu meiner großen Verwunderung erhob sich mein
Nachbar, klopfte an sein Glas und bat um Gehör.
Als mit Mühe einige Ruhe hergestellt war, sagte
er, daß er zur Sylvesterseier einige Verse verfaßt
und daß sein Nachbar — auf mich deutend —, der
ein klangvolles Organ habe, dieselben lesen würde.
Zugleich steckte er mir ein Papier in die Hand und
flüsterte mir zu: „Nerzeihen Sie die Überrumpelung
und seien Sie ohne Sorge, es ist deutlich und
leserlich geschrieben."
Diese Ankündigung war mit Jubel aufgenommen
worden, und als der Zeiger der großen Wanduhr-
aus zehn Minuten vor Mitternacht wies, erhob ich
mich aus einen Wink des Dichters und las.
Es waren wundervolle, tief empfundene Worte
von klassischer Vornehmheit, in denen hier der fernen
Heimat Grüße zugerufen und das junge Jahr
bewillkommnet wurde. In den stürmischen Beifall
am Schluffe mischte sich das Geläut von Hunderten
von Kirchenglocken, deren Ton durch die offenen
Fenster hereingetragen wurde. Dann entstand ein
allgemeiner Ausbruch, alle erhoben sich, um alleu
die Hand zu drücken und Glück zu wünschen. Der
Dichter hatte sich, das Gewühl benutzend, unbemerkt
entfernt. —
Es vergingen einige Wochen, ohne daß ich ihn
sah; sein gewohnter Platz im Cafö blieb leer, und
Pietro meinte ans mein Befragen, der Schwede
müsse entweder krank oder abgereist sein.
Eine Anzahl Maler hatte sich damals vereinigt,
um in den Abendstunden nach kostümierten Modellen
zu zeichnen und zu diesem Zwecke in einer engen
entlegenen Straße eine Art Saal gemietet. Es
war nicht weit vom Forum, und an einem wunder-
vollen mondhellen Abend zog ich vor, anstatt in
der von Lampendnnst erfüllten Atmosphäre zu
zeichnen, ganz allein nach dem Colosseum zu
schlendern.
77
Zu solcher Zeit ruht ein unbeschreiblicher Zauber
in den alten Gassen der ewigen Stadt. Während
tiefe Schatten die eine Seite der Straße in Nacht
einhüllen, erglänzen die gegenüberliegenden Häuser
in magischem Lichte, welches verklärend das alte
Gemäuer umspielt, und je weiter man wandert, bis
man sich endlich in der riesigen Trümmerwelt des
Forum Romanum befindet, desto überwältigender
wird der Eindruck, und die Stille der Nacht bringt
die ganze großartige Szene zn mächtiger Wirkung.
Vorüber führt mein Weg an der Fontana Trevi,
der Meisterschöpfung Berninis, von der die hübsche
Sage geht, daß, wer einmal aus ihr getrunken,
immer wieder nach Rom zurückkehren müsse. Weiter-
hin erinnern aneinander geschobene zweiräderige
Karren und zertretenes Stroh an die jetzige prosaische
Bestimmung des klassischen Ortes, er ist heute
— ich schrieb dies vor über vierzig Jahren —
zum Viehhos — campo vaccino, herabgesunken.
Zu meiner Rechten zeichnet sich scharf und klar
das Kapitol auf dem tiefblauen Nachthimmel ab,
und matt schimmert im Moudlicht die grandiose
Reiterstatue des Mark Aurel. Und nun noch
wenige Schritte und man steht vor der ungeheuern
Arena, deren massiges Steingefüge vielen Jahr-
hunderten getrotzt und kaum an Umfang verloren
zu haben scheint, wenn spätere Geschlechter aus ihm
das Material zur Erbauung ganzer Straßen ge-
nommen haben.
Nahezu zweitausend Jahre sind über den Riesen-
bau dahingegangen, er hat den Glanz der Jm-
peratorenzeit gesehen, wenn ein ungeheures seidnes
Zelt ihn überspannte, um die Kampsspiele vor der
Glut der Sonne zu schützen, er sah den Verfall
des mächtigen Reiches, als die antike Welt in
Trümmer sank unter dem ehernen Tritte nordischer
Barbaren, er sah die ersten todesmutigen Bekenner
des neuen Glaubens von wilden Tieren zerrissen,
genau an der Stelle, wo heute das siegreiche Symbol
des Christentums, das Kreuz, ausgerichtet ist. —
Wo wäre in der Welt eine Stätte, die mehr zu
ernsten wehmütigen Betrachtungen anregt, wo giebt
es ein Geschichtsbuch wie dieses!
Langsam stieg ich die Stufen hinauf, um von
der Höhe einen Blick in die von silbernem Tust
eingehüllte Campagna zu werfen, nichts regte sich
in dem weiten Amphitheater, nur hin und wieder
schwirrte eine Fledermaus an mir vorbei. Ta
plötzlich gewahrte ich, daß ich doch nicht der einzige
nächtliche Besucher war; aus dem Sitze über mir
gewahrte ich eine in einen Mantel gehüllte Gestalt,
den breitkrämpigen Hut tief in das Gesicht gedrückt,
sitzen. Ich wollte vorübergehen, als ich mich bei
meinem Namen angerufen hörte und zu meiner
Verwunderung meinen Schweden erkannte. Er
reichte mir die Hand, um mich beim Erklimmen
der steilen Stufen zn unterstützen, und bat mich,
neben ihm Platz zn nehmen. Ich drückte ihm meine
Freude aus, daß die Befürchtung, er sei krank,
grundlos gewesen.
„Ich war", sagte er, „mit einer Arbeit beschäftigt,
die keine Störung vertrug, und hatte mich, um ganz
allein zu sein, in Albano eingemietet, wohin um
diese Zeit kein Mensch kommt."
Ich knüpfte an unsern im Künstlerverein ver-
lebten Abend an und fragte, warum er so rasch
verschwunden sei.
„Es hatte mich", antwortete er, „überhaupt Mühe
gekostet, hinzugehen, aber ich wollte einmal versuchen
mir selbst zu entrinnen. Ich bin ein unstüter
Geist, den es nirgends lange leidet, ich suche die
Einsamkeit und nichts ist leichter zu finden. Mein
ungeselliges Wesen wird Ihnen längst bekannt sein."
„Bis jetzt", erwiderte ich, „hatte ich noch nie
Gelegenheit, etwas über Sie zu hören, ich war
dem Zufall dankbar, der mir Ihre Bekanntschaft
gab, und hatte den Wunsch, es möchte eine dauernde
sein, — den muß ich uach dem Gehörten nun wohl
unterdrücken."
„Nein, nein," unterbrach er mich, „Sie miß-
verstehen mich, so war es nicht gemeint. Ich bin
kein Menschenfeind, aber ich fliehe die Gesellschaft,
weil ich ihr nichts zu bieten habe. Wie oft schon
habe ich stundenlang hier gesessen. Stunden, die
mir wie Minuten dahinschwanden. Stunden, in
denen Jahrtausende von Geschichte an meinem
innern Auge vorüberzogen und mich so tief die
Wahrheit des Tichterwortes fühlen ließen, daß
unsere kleinen Schmerzen verstummen müssen, hier,
wo eine Welt in Trümmern liegt."
Er schwieg, und gleichsam wie ein Echo seiner
Gedanken drangen die Worte eines alten Liedes
hinaus zu uns, wie es die Feldarbeiter um Rom
heimkehrend zuweilen nach einer melancholischen
Weise singen:
„Roma, Roma tu non sei come era prima!“
Einige Minuten saßen wir schweigend den fern
verklingenden Tönen lauschend, dann fuhr mein
unbekannter Freund fort: „Meine Bekanntschaft,
die Sie so freundlich sind zu wünschen, würde Ihnen
aus die Dauer keine Freude machen. Wie ich Sie
nach flüchtigem Begegnen recht zu beurteilen glaube,
sind Sie eine ächte und rechte fröhliche Künstler-
natur, genießen mit vollen Zügen, was Natur und
Kunst Ihnen hier verschwenderisch bieten, sind
leichtlebig und haben das Bedürfnis der Mitteilung.
Vor Ihnen liegt die Zukunft rosig und glänzend,
mich aber, den gereisten Mann" — er brach ab,
verfiel in Schweigen und wie er da saß, das gram-
durchwühlte Antlitz dem vollen Blonde zugekehrt,
78
wagte ich nicht, die Stille durch ein banales Wort
zu unterbrechen.
„Wie lauten doch", wandte er sich endlich wieder
zu mir, „die herrlichen Worte, welche Byron im
Childe Harold an das Colosseum richtet, das man
bei Mondschein besuchen soll?"
Ich zitierte die Strophe:
„Doch wenn der Blond im Aufgang sich erhebt
Zur höchsten Höh' und dort zuweilen scheint:
Die Sterne funkeln durch die ewige Zeit —
Wenn sanft der Nachtwind rauscht und leis bewegt
Das üppige Laub, der alten Mauern Zier,
Dem Lorbeer gleich, der Cäsars kahles Haupt bekränzt,
lind mildes Licht Dein Aug' erfreut,
(Schluß
Dann laß in diesem mag'schen Rund
Die Toten auserstehn!
Hier schritten Helden einst, Du trittst auf ihren Staub!"
„Sv lautet es, ja," unterbrach er mich indem
er mir die Hand aus den Arm legte. „,dann laß'
in diesem mag'schen Rund die Toten auferstehn'.
Sie sollen wissen, was mich zu dem einsamen freund-
losen Mann gemacht, als der ich Ihnen erschienen
bin. Vielleicht hat es einigen Nutzen für Sie."
Ich bat ihn, sich nicht schmerzlicheit Erinnerungen
hinzugeben, nicht etwa alte Wunden zu berühren,
aber Zeit und Ort schienen sünftigend ans ihn zn
wirken.
folgt.)
Bergluft.
Erinne r n il gen eines Ü b e r l ä u s e r s.
Von Valentin Traudt.
in Kultusminister ist immer ei» gebildeter und
liebenswürdiger Mann und sozusagen die Amme
vieler jungen Talente. Auch mich hatte er unter
seine fürsorglichen Fittiche genommen und mir Ge-
legenheit gegeben, aus dem großen Tops mitessen
zu dürfen. . . . Und was so einem Hochgestellten
nicht alle im Kopfe herumgeht! Damit will ich,
seine riesigen geographischen Kenntnisse, die er als
Schulmann ja haben muß, in allen Ehren, keines-
wegs behaupten, daß er das furchtbar einsam ge-
legene kalte Fuchsloch, Kirchdorf im Kreise Ranh-
srvst, gekannt hätte, auch nicht, daß er etwa gar
mit mir oder dem dortigen Bürgermeister in näherer
Beziehung gestanden habe; aber doch das, daß er
in der Regierung zu Sittlingen ein Organ hatte,
dem es bekannt war, daß in Fuchsloch seit vier
Jahren kein Schullehrer fungiere. Auf de» er-
denklich schlechtesten Wegen mich durch die Wälder
schlagend, war ich in dem Dorfe angekommen. Es
wollte gerade Winter werden und die mit Schiefer
gedeckte Ostseite der Häuser war schon mit Moos
und Stroh gegen die rauhen Stürme geschützt.
Der Herr Assessor, welcher den Kreis provisorisch
verwaltete, ein sehr seiner Herr, hatte mir lächelnd
erklärt, daß man da oben im Winter oft sechs
Wochen eingeschneit sei, noch nie ein Schulrat oder
sonstiger Revisor dort gewesen wäre, ich aber doch
fleißig sein müsse. Es sei ein Posten für einen
jungen, strebsamen Mann. . . . Gewiß gab es
viele schönere Schulstellen, die man revidieren konnte,
und eine noch größere Zahl besserer, die die Streb-
samkeit ungeheuer unterstützen mußten. . . . Für
mich mußte es gerade dieses Nest sein. . . .
Tie Jugend von Fuchsloch war nicht gerade
erbaut von meiner Ankunft, sintemalen ihr das
Waldlungern und Nesterausheben, das Viehhüten
und Beerensuchen, das Schlittenfahren und Schnee-
ballspiel viel wichtiger dünkte. Umso liebevoller
nahmen mich die Honoratioren des weltbekannten
Sturmbadortes ans. Der alte Pfarrer, Vater dreier
Töchter, Besitzer eines vorsintflutlichen Taselklaviers,
das nie gestimmt worden war, erwartete in mir
einen Gesellschafter, der graue Förster, ein Teufels-
braten feinster Nummer, einen Kartenfreund, der
Bürgermeister einen Schreibersknecht und die diversen
Bauerntöchter den Verfasser ihrer kernigen Liebes-
briefe an den Musketier oder Dragoner August,
Hannes oder Christoph. Jedenfalls wurde ich wie
ein Triumphator empfangen, und eine ganze Menge
von Festlichkeiten, vermutlich zn meinen Ehren, wurden
veranstaltet. Zunächst schlachtete der Torfgewaltige
zwei fette Schweine und lud die ganze gebildete
Gesellschaft dazu ein, dann gab es eine große
Spinnstube mit nachfolgender Keilerei, ganz im
Nahmen alter Gewohnheit, später einen Abendthee
mit klassischer Musik aus Clementis Anfängerheften
und zum Schluß eine Treibjagd mit Rehleberessen.
Sv hatte ich denn Gelegenheit genug, die riesige
Aufnahmefähigkeit im Leiblichen und „Geistigen",
sowohl bei den Alten wie bei den Jungen kennen
zu lernen, und es bedünkte mich, als stände die
Sicherheit der Jugend in diesen Dingen in einem
argen Mißverhältnis zu den Bemühungen derselben
in der Schule. Von mir verlangte man weiter
nichts, als die Fähigkeit, sie alle zu übertreffen,
zn wissen, wie schwer die einzelnen Schweine seien.
79
wo dieses oder jenes Stegiment lüge, wie man eine
Rehleber am schnellsten vertilge, in welchem geistigen
Verhältnis alter Korn zum Wachholder stände und
ob Richard Wagner wirklich etwas von Musik ver-
standen habe.
Meine Wohnung hatte ich bei dem Bürgermeister,
welchem zwei lieblich handfeste Töchter erblüht
waren, deren Umgangsformen dem Vaterhanse alle
Ehre machten und denen der Wahlspruch des guten
Vaters: „Wenn ich höflich will sei', Han' ich ihm
'n paar Zähn' ei'" auf der Stirn geschrieben
stand. Da ich in der Gegend zunächst bekannt
werden wollte, widmete sich der Förster, den Wald-
läufer nannten sie ihn, meiner Ausbildung. Er
war ein wunderlicher Kauz, ein kleiner Kerl mit
wildem Graubart und gutmütig-schalkhaften Augen.
Er kannte jede Pflanze, jeden Vogelpfiff und jeden
Pfiff der Fuchslocher. „Daß Sie unverlobt lind
unverheiratet sind, ist in den Augen der Bauern
Ihr größt' Talent!" behauptete er mir stets ins
Gesicht und setzte mir auseinander, daß es wohl
die erste Liebesthat der Fuchslocher sein werde,
mich so schnell wie möglich mit einer ihrer Töchter
zu beglücken. „Aber mer wird schon fertig, wann
mer iwerall die Auge aushat und 's Herzet."
So gehörte denn ein hoher Grad von Stand-
haftigkeit dazu, all der weiblichen Anmut und
Liebenswürdigkeit feinsinnig aus dem Wege 311
gehen. Vor allen Dingen mußte ich aus der Hut
sein vor den Töchtern des Bürgermeisters, welche
mein armes Herz mit Schweinerippchen und Dampf-
nudeln zu bezaubern suchten. Doch der Förster
und ich verstanden es, der pausbäckigen Trine ihren
alten Schatz, den Waldbachmüller, wieder in die
Arme zu führen und den Dragoner der Lisbeth
so mit Liebesbriefen zu bombardieren, daß er ihr
kurzer Hand seinen Hos zu Füßen legte. Er war
ihr eigentlich nur wegen ihres letzten Briefes gram
geworden, den ich, da ich die Angelegenheit ja ein-
renkte, in Abschrift habe. Er lautete:
„Lieber Hannjörg!
Ich fasse jetzt tie Bäder, um dir zu sage,
ob du mich wohl freie tatst. Ich hab noch
keinen neuen; aber so ganz ohne kann man
auch nett sein. Und so du wollst daß mer-
beite uns soll habe schreib mer kleich. Willst
du es es aber nicht, so wers ihn ins Feier.
Ich liebe dich aus Härtzensgrund wie der Ochs
sei' Heibund und wenn er es gefräste hat, dann
bin ich deiner auch schon sad. Schreibe mir
kleich, daß ich was weiß.
Deine dich geliebte
Lisbeth."
Die Tapferkeit des Hannjörg hatte diesem Brief
nicht ganz Stand gehalten; aber wir stählten wieder
feine Nerven durch neue Beweise der verborgenen
Huld und versäumten nicht, die Lisbeth zu ver-
anlassen, einige Würste als überzeugende Gründe
anzufügen. . . .
Eines Tages schickte mir der Waldläufer einen
ausgestopften Habicht und ließ mir sagen, er huste
momentan so auf alles, daß er sich nicht zeigen
könne. Ta war ich den Abend im Pfarrhaus und
verliebte mich im Geheimen in Anna und Emma.
Else war noch nicht erwachsen, sonst wäre es wohl
ein dreizüngiges Herzfener geworden. Der alte
Pfarrer, noch schneller aber seine Frau, hatten das
gar bald heraus und zogen eine Art geistigen
Stacheldraht zwischen mich und ihre Kinder. Und
doch mußte ich den Pfarrer lieb haben; denn er
war ein Lehrerfreund und der Ansicht, daß man
den Geist nicht zwingen, nur anregen kann, aus-
und vorwärts zu schauen, daß man das innere
Auge für Nähe und Ferne stärken müsse, das Herz
zu erwärmen, den Geist zu erleuchten, den Körper
zu stählen habe. Er war wie ein weiser Weg-
weiser und natürlicher Förderer. Gewiß hätte er
mir auch Anna oder Emma gegeben. wenn ich
nicht wie ein Schmetterling von der Blonden zur
Braunen geflattert wäre, gewiß auch dann, wenn
nicht eines Tages im Kreisblatt, das mich all-
abendlich in Schlaf lullte, die Dvppelverlobnng der
beiden Mädchen mit benachbarten Kandidaten der
Theologie gestanden hätte. Diese Lösung des Kon-
fliktes war ebenso einfach an sich wie belehrend
für mich. . . .
Ta war endlich der Winter da mit seinem
nachtschwarzen Schneetreiben. Der Schnee war ja
allerdings weiß, aber seine Absicht war eine schwarze.
Ich vergrub mich in die Schule und ließ mich voll
all den tiefsinnigen Fragen bestürmen, welche die
Kinder nach Überwindung der Scheu an mich richteten.
„Hat der liebe Gott einen Kittel an?"
„Wie heißt die Frau liebe Gott?"
„Giebt's im Himmel auch Blumen?"
„Gehn die Engel auch in die Schul'?"
„In die Kirch' brauche mer drobe' nett mehr
zu gehe? — Ewer doch?"
Oft versagte auch diese Unterhaltung, weil sich
die Leute erst wieder aus dem Schnee graben
mußten. Im Wirtshaus gab es schon lange nichts
mehr zu trinken und Kornkaffee konnte man ja
daheim haben. Alles lag auf dem Bärenfell und
füllte die freie Zeit mit Esten aus. Hätte ich noch
vor vier Wochen den Gesangverein gegründet, heute
wäre er glücklich wieder aus dem Leim, in Er-
mangelung der stets notwendigen Begießung der
Statuten.
80
Eine kleine Abwechselung gab es nur, als der
Gensdarm, welcher in Rauhfrost wohnte und kürzlich
pensioniert worden war, mit einem großen Wagen
kam und sich nach alter Observanz — „Obselvarz"
sagte er — beim Bürgermeister sein Holz holen
wollte, wohingegen früher die Fuchslocher am Abend
keine Laterne am Fuhrwerk zu haben brauchten,
in der „ewigen Lampe" bis über Mitternacht
karten und sich sonst allerlei Seitensprünge erlauben
durften.
Diesmal aber zog er betrübt und allein ans dem
Wäglein ab. Traurig drückte er mir die Hand:
„Herr Lehrer, hätte ich meinen Säbel noch!"
Eines Tages mußte ich wegen einer unliebsamen
Sache zu dem Pfarrer. Ich hatte einen Jungen
verhauen, der mir, als ich ihm ein schönes Zimmer-
röschen, das ich mit Mühe gepflegt hatte, zeigte,
nicht sagen konnte oder wollte, was es für eine
Blume wäre.
„Wenn er auch keine Blumen mit bcu Namen
kennt, wenn er sie nur lieb hat", sagte der kluge
Mann mit weicher Stimme. „Tie Einsamkeit ist
Ihnen nicht gut. Kommen Sie zu uns."
Und so kam ich denn öfter und saß dann auch
neben der helläugigen Else und studierte Latein.
Und das Latein machte mein Herz kalt und warm.
Kalt, daß es ohne Gefühl für die Dvrsschönen,
warm, daß es mit Glut für die „Solidaten" alle
die notwendigen Korrespondenzen besorgte, kalt für
die Gegenwart, warm für die Zukunft. Mit den
Fuchslochern kam ich immer bester aus und der
Bürgermeister schasste sogar für die Schule, „obgleich
er nichts vor so große Städte iwrig hätt'" eine
Karte von Europa an . . . Wie freute ich mich
mit dem Psarrhause, als Else konfirmiert wurde!
Nicht nur das Mädchen, auch Vater, Mutter und
Geschwister sahen mich glücklich an. — Er ist der
fühlende Philosoph, sie die sorgliche Hausfrau und
die Kinder sind die jubelnden Heidevögel . . . Else
lernte bei mir Klavier, ich mit ihr Latein und wir
machten riesige Fortschritte. Wir gingen auch zu-
sammen durch Feld und Hag und im Winter saß
ich bei ihr am Spinnrad und wir lasen die
lateinischen Dichter und pflanzten still im Herzen
ein zartes Kräutlein. Als aber die Knospen der
Sonnentriebe aufbrechen wollte, wurde ich ans
Betreiben des Pfarrers versetzt. Gleich in die große
Hauptstadt. — Ob? — Es war im Juni.
Als ich mich von meinem alten Freunde, dem
Waldläufer, verabschiedete, zog ein schweres Wetter
über die Wipfel. Der Regen klatschte an die
Scheiben, der Sturm heulte, der Donner rollte
unaufhörlich. Ter Alte saß mit geschlossenen Augen
in seinem Lehnstuhl. Da wurden auf einmal die Vögel
in den Käfigen unruhig, die Hunde sprangen um,
der Sturm schwieg einen Augenblick . . . „Jetzt
kommt's!" rief der Granbart . . . Und da zuckte
auch ein furchtbarer Blitz hernieder und zerschmetterte
die Eiche, welche dem Forsthaus gegenüber stand.
Wie eine Riesenfackel flammte sie auf.
„So muß es kommen, wenn's besser werde' soll
im Bolk. Seht Euch die Fackel an, — — ! Sv
werdet eine!"
Das war der Abschied.
Ter Bürgermeister machte es einfacher. „Mer
krije g'wiß wieder 'n Annere. Wann net — dann."
Und er schnappte mit dem Daumen.
Ter Pfarrer aber begleitete mich bis zur Kreis-
stadt, von wo ab ich mit der Bahn fahren konnte.
Else war nicht zu sehen gewesen.
„Weiter, weiter, junger Freund!" ries mir der
alte Herr noch in den Eisenbahnwagen nach. „Es
ist gut für uns alle."
Das war der schönste Abschiedslaut und Geleits-
brief.
In dem Gewühl der Stadt bekam ich zunächst
ein großes Heimweh nach den rauhen Bergen, deren
Dust ich in meinen freien Stunden in Verse goß
und durch die Handlungen meiner Erzählungen
säuseln ließ. Die Leute in der Stadt hatten bald
auch etwas für mich übrig und einige sogar soviel,
daß ich meinen Beruf, die Kleinen zu lehren, mit
dem, durch das gedruckte Wort zu wirken, ver-
tauschen konnte. Die Fuchslocher waren das zu-
srieden, und die hatten doch auch ein Urteil!
Überhaupt so — das unwirtliche Nest ... Es
zieht mich an . . . -
Fast in jedem Sommer steh ich wieder ans der
Höhe vor dem Dörflein Dann duftet es in den
Hecken, die Wasser rauschen, die Blumen plaudern
leise, in den Feldern wandelt es hin und her . .
Rastlos webt Leben und Liebe.
Weit hinter dem Walde kommt dann der Geist
der Nacht heraus und sendet Träume ins Land
und segnet die Kinder der Erde und streift mit
mildem Finger das Haupt meiner Else und dann
auch meines. '
Und ernt Abend droht das Mütterchen von der
Hausthür her: „Aber Kinder, es ist schon spät! Es
ist Eulennacht!"
81
Oie Roawena.)
(Wetterauer Mundart.)
Die Roawena, die Roawena,
Oacht Ärterchen 2) eamm Himmilsdah 3)
Met Leu vv ächtem Koarn eann Schruth,
Met Marrerchen wäi Moarjeruth;
Ds Groas se huuch, se stolz die Fricht,
Zefrirre jeres Ohngesicht!
Edorcher4) mette schäißt die Lomm 5 *),
Däi giht bahl groad, bahl mächt se kromm
Ennoabber3) durch de Grond. Ds Doahl
Gleazzert7) eamm ihrschde Sonnestroahl;
Eann dauß 8 *) vhm Wahld schnhnd Moarjets sroi
Do t)oitt °) dr Koihhort met de Koih.
Die Roawena, die Roawena
Treibt Hannelschast met allerla,
Met Berschelin 73) eann Häusern Woar. n)
Die Suchihl12), däi sein nach näit roar.
— „Steinewaar kauf!" — Aha
E Landsmann vo dr Roawena!
Die Börner,3) geawwe fresche Trunk
Eann Rih eann Hoase gett's ") genungk 15).
Die ahle Aichbehm deann eamm Wahld n),
Ze Nordecke ds Schloaß ds ahld,
Däi könn verrzehn vom ahle Rächt,
Bo Ritterschmann eann Lanzeknächt.
Soldoare aus dr Roawena
Vom Hessestamm eaß ahnerla,
Brecht18) auch ds Aage treu eann blo.
„Die Roawenaer, däi sein do!"
Riest se dr Kaiser moarrn eann haut
's giht drofs luus, 's batt2") alles naut.
Die Roawena, die Roawena
Zäikt27) gähle Waas22) eann doffdig Ha
Se stolz wäi rouderimm e Grond.
's gett23) eann die Nieste, eann's Gebond,
Eann vo de Äppilbehm dr Wein
Eaß besser wäi vom Jwwerrhein24).
E Madche vo dr Roawena
Hott Äjilcher23) wäi Himmilsdah
Eann Bäckilchern — ei, die Schwerntlth —
Väil s ch i h n e r noach wäi Moarjerunth.
Ach, schweit merr stell, aich weaß geua:
's gett joa nur a h n Roawena.
') Rabenau (Landschaft zwischen Gießen, Marburg und
Grünberg gelegen); ") acht Örtchen; *) tut Himmelsthau;
4) hindurch; 1 Lninda Wach); ") hinab; h glänzt;
h draußen; ") hütet; '") Porzellan; ") Ware des Geschirrs
von Hansen: '*) Blutigel; ,a) Brunnen; ") giebt's;
") genug; '") Eichbäume; ”) drinneit int Wald; ") bricht;
") morgen und hetite; a")..— hilft; "') zieht; ") gelber
Weizen; "st es giebt; ") Überrhein; ") Äuglein.
Gießen.
Dr. von vrais (Dr. Möbius).
Aus Heinrat und Fremde.
Hessischer Geschichtsverein. In Mar-
burg hielt in der Sitzung des Hessischen Geschichts-
vereins am 21. Februar Herr Professor Schröder
einen Vortrag über deutsche M ü u z u a m e n mit
besonderer Rücksicht aus Hessen. Aus der umfassenden
Behandlung des interessanten Gegenstandes ist das
Nachfolgende hervorzuheben: Die Münzbezeichnuugen
entstanden nur selten dadurch, daß sie von vornherein
den Münzen mit aus den Weg gegeben wurden, zum
größten Teil bildeten sie sich im Volksmunde und er-
hielten oft erst dann die amtliche Anerkennung, wenn
das aus der Münze enthaltene Bild, das zur volks-
tümlichen Bezeichnung die Veranlassung gegeben
hatte, längst einem andern gewichen war; wie dies
z. B. beim „Kreuzer" geschah, der keine Spur des
Kreuzes, von dem ihm einst der Name geworden,
mehr zeigte. Herr Professor Schröder entwickelte
sodann die Münzverhältnisse von der Zeit der alten
Germanen bis zum Erscheinen der Thaler und be-
tonte bezüglich der hessischen Münzsorteu besonders
die Zwischeustellung Hessens zwischen dem Rhein-
land und Sachsen, wobei die „Turnosen" und
„Albus", die „Groschen" und „Böhmischen" an-
geführt wurden. Im Anschluß hieran wurde noch
die Etymologie des Ausdritcks „Mise" für ein
Zmeialbusstück besprochen, welches in Vilmars
„Idiotikon" bei Erläuterung des Wortes „Weiß-
pfennig" glaubwürdig damit erklärt wird, daß der
Toppelalbus der niedrigste Einsatz (mi86) bei dem
unter Landgraf Friedrich II. bestehenden Lotto war.
Ter am 2. März vom Hessischen Geschichtsvereiu
in Kassel veranstaltete wissenschaftliche Unterhal-
tn ngsabeuo fand im kleinen Hanusch'schen Saale
statt und wurde von Herrn Kanzleirat Neuber
eröffnet. Ten ersten Vortrag hielt Herr Kanzleirat
Keßler über „Münzstätten und Münzprivi-
legien in Hessen". Es kommen dabei hauptsächlich in
Betracht Fulda, Helmarshausen und Eschwege, denen
das Prägerecht von den Kaisern Otto I., Konrad II.
und Friedrich I. verliehen wurde. Von großem
82
Vorteil für die Entwickelung des Handels, der mit
der Forderung der Münzthätigkeit in enger Be-
ziehung stand, war für Hessen der Umstand, daß
es, im Herzen von Deutschland gelegen, sowohl
mit dem regen Thüringen wie mit dem goldenen
Mainz in Verbindung stand, welches letztere sich die
„Metropole des Reichs" nennen konnte. Da gegen-
wärtig der Münzkunde ein weitgehendes Interesse
entgegengebracht wird, war dieser Vortrag, obwohl
er in längst vergangene Knltnrverhältnisse zurück-
führte, ein sehr zeitgemäßer. Herr Dr. Seelig
verbreitete sich darauf über suldaische Wappen, wo-
bei er auch der suldaer Fürstbischöfe und der großen
Verdienste gedachte, die sich dieselben um die Stadt
erworben haben. Sodann ergriff Herr Di. Schwarz-
kops das Wort, um über hiesige Bauten und
Baudenkmäler zu sprechen, so wie über die daran
verübten Versündigungen, wobei er namentlich
der Zertrümmerung des Brinkbrunnens gedachte.
Bei Schilderung der nunmehr in der Umgestaltung
begriffenen „Tränkepsorte" wies der Herr Redner
ans das Haus Nr. 2 hiu, welches fast 400 Jahre
alt und nach der über dem Portale angebrachten
Inschrift von Kaspar Lüttgendorf erbaut ist. In
diesem 1010 errichteten Hanse befand sich ein
flott gehender Kausmannsladen, in welchem die
Bürger und wohl auch die Edelleute alles finden
konnten, dessen sie benötigten. Nicht unerwähnt
blieb, daß ein Hans Lüttgendorf ans der Reise
zur Leipziger Messe zwischen Kassel und Witzen-
hausen einen andern Bürger erschlagen hatte und
flüchtig wurde, bis er gelegeutlich der Ver-
mählung des Landgrafen Moritz mit Agnes von
Solms Begnadigung erhielt. Es geschah dies 1593,
also bevor die Familie Lüttgendorf sich das bis
jetzt noch vorhandene Haus in der Tränkepforte er-
baute. — Nachdem Herr Kanzleirat Ne über im
Hinblick ans die in der Kasseler Bildergalerie be-
findlichen Gemälde von Jordaens und Steen das
„Bohnensest" besprochen und Herr Breithaupt
die Lage der Kasseler Sternwarte in Betrachtung
gezogen hatte, machte Herr Direktor Henkel ein-
gehende Mitteilungen über die Familie von Donop,
wozu der Umstand Veranlassung gab, daß ein Herr
von Donop gegenwärtig in englischen Diensten in
Süd-Afrika mehrfach genannt worden ist. Das
Material zu der von Donop'schen Familiengeschichte
war Herrn Direktor Henkel von den Ministerien
zu Berlin, Stuttgart, London und Kopenhagen
bereitwillig zur Verfügung gestellt worden*)
*) Über die Familie von Donop vergl. „Hessenland"
1892, Seite 247: „Die von Donop in hessischen Diensten"
von Friedrich Henkel, sowie auch Jahrgang 1893, Seite 63,
nnd Jahrgang 1899, Seite 179 u. 288 ff.
In der Monatsversammtnng des Vereins für
hessische Geschichte nnd Landeskunde zu Kassel am
10. März d. I. hielt der Vorsitzende des Vereins,
Herr Generalmajor z. D. Eisen traut, einen
längeren Vortrag über „Neue Forschungen
auf d e in Gebiet der Altertumskunde i u
Hessen".
Neben den bereits früher bei uns aus neo-
lithischer Zeit bekannt gewordenen Grabstätten sind
nun auch Spuren von Ansiedelungen aus jener
alten Zeit in Hessen aufgefunden, nnd zwar durch
Herrn Baron v. Gilsa bei Niedernrs und durch
Herrn Von der an in den Schlackenwällen des
Haimberges und des Schulzenberges bei Fulda.
Hoffentlich werden sich diesen Funden noch mehr
im Laufe der Zeit in Hessen anschließen. Der im
letzten Jahrzehnt in Fulda aufgedeckte Pfahlbau
ist nicht der neolithischen, sondern einer viel jüngeren
Zeit zuzuschreiben.
Von den in den letzten Jahren durchforschten
Grabhügeln weisen mir die vom Jgelskippel bei
Unterbimbach (Fulda) in die Bronzezeit, die von
den Straßenhecken in derselben Gegend wie auch
das zwischen Hausen nnd Weißen born geöffnete
Grab in die Hallstadtzeit.
Besser als Grabhügel gestatten uns Ansiedelungen
nnd Wohnstätten Einblicke in die Kultur der prä-
historischen Zeit. Wohnstätten aus der La-Täne-
Zeit sind in den letzten Jahren vielfach aufgedeckt,
namentlich auch in Ringwällen. Hochinteressant
sind die Ergebnisse der durch Herrn Dr. Böhlau
nnd Herrn V o n d e r a u im letzten Jahre aus-
geführten Grabungen aus der Milseburg im Rhön-
gebirge. Am Abhang des Felsenberges hat man
eine große Anzahl Wohnstätten gefunden, die der
Anlage eines germanischen Dorfes angehören und
in Beziehung standen zu den Ringwallbefestigungen
des Berges.
Eine Anzahl von den auf der Milseburg in
großen Mengen gefundenen Eisen - Waffen und
Geräten, von Thongefäß-Scherben, auch solcher von
Graphit - Schmelztiegeln, dann Spinnwirtel und
Armringe ans Gagat-Kohle lagen zur Ansicht ans.
Das Dorf muß 200 Jahre vor und nach Christi
Geburt besiedelt gewesen sein. Die Anlagen der
Milseburg zeigen auffallende Ähnlichkeit mit denen
des kleinen Gleichberges bei Römhild in Sachsen-
Meiningen, wie auch mit den Ansiedelungen in
den Ringwüllen im Taunus.
Diese Entdeckungen regen an zur eifrigen Durch-
forschung aller in Hessen in großer Zahl vor-
handenen Ringwälle. Die seit zwei Jahren inner-
halb des Geschichtsvereins bestehende Kommission
zur Erforschung alter Befestigungen in Hessen ist
schon tüchtig bei der Arbeit. Es gilt zunächst.
83
alle alten Befestigungen, Ringwälle, Wallburgen,
Landwehren 311 inventarisieren, sie zu vermessen, !
zu zeichnen, zu durchforschen und zu beschreiben. !
Dann sollen die Ergebnisse veröffentlicht werden, j
wie es in andern Provinzen, besonders in Hannover
und in der Provinz Sachsen, längst geschieht.
Bei der schnellen Zerstörung der aus uns über-
kommenen Reste dieser alten Denkmäler duldet die
Arbeit nicht länger den Aufschub. Sie erfordert
viele Kräfte, viele Mittel. Die Provinz muß hier
helfend eintreten, es müssen für die Zwecke der
Altertumsforschung in Hessen dieselben Mittel aus-
gebracht werden, wie in andern Gebieten Deutsch-
lands. Besonders aber müssen die alten Denkmäler
sorgfältig vor weiterer Zerstörung geschützt und
muß die Liebe und der Sinn aller Bevölkerungs-
schichten für diese Altertümer geweckt und gefördert
werden.
Universitätsnachricht. Der außerordent- !
liehe Professor Dr. Robert Hnußner an der
Universität zu Gießen hat den Ruf ans das |
Ordinariat der Mathematik an der technischen Hoch-
schule in Karlsruhe angeuvmmeu.
Erstaufführung. Am 5. März ging am
Königlichen Theater in Kassel das fünsaktige Schau-
spiel „Die Kaiserin " von Josephine Gräfin
zu Lein in gen-Westerburg zum ersten Male
in Szene und fand eine sehr beifällige Aufnahme.
Todesfälle. In Felsberg starb am 2. März
der Amtsgerichtsrat a. D. Jvh. Kon rad Da llwig,
eine weitbekannte und hochgeschätzte hessische Persön-
lichkeit. Derselbe war als Sohn des Pfarrers Dallwig
in Zimmersrode am 8. Mai 1822 geboren. Bon
1833 — 40 besuchte er das Gymnasium zu Hersfeld
und studierte sodann in Marburg die Rechtswissen-
schaft. Er gehörte dein Corps „Guestphalia" an.
Nachdem er bei den Justizämtern in Felsberg und
Oberaula thätig gewesen, kam er 1852 als Auditeur
nach Kassel, woselbst er sich verheiratete. Bon 1859 bis
1867 war er Justizbeamter in Veckerhagen, alsdann
Amtsrichter und Oberamtsrichter in Hersseld und
Marburg. Als Amtsgerichtsrat feierte er am 4. De-
zember 1894 sein 50jühriges Dienstjubiläum, drei
Jahre später trat er in den Ruhestand und kaufte
sich in Felsberg an.
In Berlin starb am 9. März der Schriftsteller
Karl Münch. Derselbe war aus Kassel gebürtig,
hatte sich der Bühne gewidmet und war als Dar-
steller, wie als Schwank- und Librettodichter thätig.
Uber eines seiner letzten Opernbücher, „Der Heren-
meister", ist im „Hessenland", Jahrgang 1900,
Seite 299, eine eingehende Besprechung erschienen.
Kogelberg. Über die Ruine Kogelberg
bei Volkmarsen findet sich in Nr. 6 des Organs
der Vereinigung zur Erhaltung deutscher Burgen
„Der Burgwart", Zeitschrift für Burgenkunde und
mittelalterliche Baukunst, eine Notiz, nach welcher
I die weiteren Herstellungsarbeiten für März in be-
stimmte Aussicht genommen sind. Der Bausonds
ist inzwischen auf 1000 Mark angewachsen, woran
Provinz und Kreis mit je 300 Mark beteiligt sind.
Es lassen sich hiermit der Wehrturm, die Zwing-
mauer und der Keller so herstellen, daß einem
weiteren Verfall Einhalt gethan ist. Besondere
Erwähnung finden die Bemühungen des Herrn
Bürgermeisters Heinrich von Germeten, welcher die
ans den Mauern wuchernden Dorngestrüppe be-
seitigen ließ. Bekanntlich hat Herr Ingenieur-
Ernst Happel in Kassel die Erhaltung der Ruine
Kogelberg sich zur Ausgabe gemacht, wofür ihm
alle Freunde unserer alten Burgen dankbar sind.
Hessische Bücherschau
Stratz, Rudolf. Die ewige Burg. Roman
aus dem Odenwald. 4. Aufl. 356 S. 8".
Stuttgart (Cotta) 1901. M. 3.—
Aus Großstadt und Hochgebirge. Kulissenwelt und j
Gletschereis ist Rudolf Stratz mit diesem Roman ans
den heimatlich vertrauten Boden des Odenwaldes, ins j
Neckarbergland, zurückgekehrt. Aber auch in dem scheinbar-
weltverlorenen Winkel sieht das gesetlschaftskritische Auge
des modernen Sittenschilderers nicht nur Idylle, eher ihre
Kehrseite. Auch in diese stillen Waldgründe des ncckar-
dnrchrauschten Odenwaldes will die neue Zeit mit ihren
Kämpfen eindringen. Doch die neue Zeit, die neuen
Gedanken und Bedürfnisse finden ein — altes Geschlecht.
Dort droben auf der „ewigen Burg", die, ephennmrankt
und halb schon morsch, doch dem Wetter noch trotzen
möchte, Hausen die letzten, müden Sprößlinge des uralten
Geschlechtes der Wodenstein, jeder in seiner Art verschieden
vom anderen, und doch alle in romantische Träume nud
unfruchtbare Erinnerungen versponnen. Thatlos dämmern
sie dahin und wehren sich vergeblich gegen das Herein-
brechen des Neuen: drei verfallene Greise, die Oheime des
jungen Burgherrn, der über Stammbanmstndien seine
Pflichten versäumt und ungenützt die Zeit verrinnen läßt.
Schon senden nuten vom Thäte her die Fabrikschlote
ihren Oualm empor zu der waldumnachteten Burg, dem
Siunbild einer versnnkeueu Zeit. Schon regt sich dort
hämmernd das neue, bunte, vielgestaltige Leben. Auch
in den Köpfen der Leute vom Thäte spuken alte Er-
innerungen. revolutionäre Gedanken aus dem „tollen
Jahre" 1848/49, und verbinden sich verderbendrvhend mit
den neuen sozialistischen Ideen. Doch Arbeit ist dort
84
unten die allgemeine Losung. Gegenüber dem rat- und
thatlosen Grimm der Schloßbewohner steht die frische That-
kraft des Fabrikherrn, vor allem der opferwillige Schaffens-
eiser des Kassenarztes, der in elenden Hütten und vor-
nehmen Landhäusern den Krankheiten wehrt und mit dem
Mikroskop ihre Erreger aufspürt, und dann die geschäftige
Wühlarbeit des sozialdemokratischen Hetzers; dazwischen
werden die Wünsche der verbitterten Hofbauern und kleinen
Waldlente laut, die der Fabrik wie der Burg feindlich
gegenüberstehen. In diesen Kampf alter und neuer Zeit
wird als engere Romanhandlung das sich von Freundschaft
zur Liebe entwickelnde Verhältnis des Arztes zur jugend-
lichen Schloßherrin hineingestellt, in dessen Verlauf der
temperamentvolle Doktor aus einem selbstbewußten Herren-
menschen zu einem Manne der Pflicht sich herausbildet.
Im ganzen hat Stratz mit seinem Odenwaldroman ein
charakteristisches Bild ans dem modernen Kulturleben,
von einem eigenartigen Weltwinkel ans gesehen, gezeichnet.
Manches an der Fabel mag allzu romanhaft ansgesponnen,
manches in der Charakteristik der Hauptpersonen flüchtig
oder tendenziös sein, aber man muß es dem Verfasser
lassen, er kennt seinen Odenwald: Natur und Menschen,
Zustünde und Leben des Neckarberglandes sind mit
dichterischer Wirklichkeitstreue abgeschildert.
Worms a. Rh. _________________ Kart Merger.
Heimatklänge aus deutschen Gauen. Aus-
gewählt van Oskar Dähnhardt. II. Aus
Rebenflur und Waldesgruud. Mit Buchschmuck
von Robert Engels. Leipzig (Druck und
Verlag von B. G. Teubner) 1902.
In einer sehr lesenswerten Einführung in die vorliegende
Auswahl deutscher Dialektdichtungen giebt Dr. Dähnhardt
eine treffende Charakteristik der deutschen Volksstämme
selbst. Nachdem Norden und Süden eingehend charakterisiert
sind, heißt es dann von dem weiten Gebiet Mitteldeutsch-
lands : „Auch hier ist Sprache und Volkstum vielgestaltig,
------------<8
aber weniger rein und unvermischt. Ans heiteren Höhen
und in lieblichen Gründen sitzt das freundliche, lebhafte
und eifrig betriebsame Geschlecht der Thüringer; neben
ihnen im rauheren Hessen die stattlichen Enkel der Katten,
Männer mit ruhigem Ernst und redlicher Festigkeit."
Leider aber ist aus dem Kattenland oder vielmehr dem ehe-
maligen Kurhessen nur ein Dichter und von diesem
auch nur ein Beitrag in Prosa aufgenommen, es ist
dies unser geschätzter Mitarbeiter Paul Weinmeister
mit seiner Geschichte „Vum Mexter Briel", abgedruckt
aus seinen „Marburger Geschichterchen", 2. Auflage, 1885.
Ferner findet sich noch ein den Lesern des „Hessenland"
wohlbekannter Name: Friedrich von Trais l„Dr
Sommer eann dr Wearrera"). Die Ursache, ans welcher
Kurhessen so spärlich vertreten ist, ist hauptsächlich wohl
darin zu suchen, daß die meisten und auch viele der besten
mundartlichen Gedichte in Zeitschriften und Zeitungen zer-
streut erschienen sind und nicht gesammelt vorliegen. Es
würde deshalb ein jedenfalls vom heimatlichen Stand-
punkt ans sehr dankenswertes Unternehmen sein, wenn
einer unserer Verlagsbuchhändler sich entschließen würde,
die mundartlichen Gedichte von H. Herzog, H. Jonas, Agathe
Koppen, H. Kranz, H. Naumann, K. Nutzn, I. H. Schwalm,
F. Storck n. A. einzeln oder in einem Gesamtband heraus-
zugeben, sodaß bei Abfassung mundartlicher Werke, die
gerade sich einer großen Verbreitung erfreuen, das alte
Kattenland ferner ebenfalls mitsprechen kann. W. M.
Zur Besprechung eingegangene Bücher:
Biographische Charakterbilder. Eine Sammlung
kleiner Schriften von Christian Wilhelm Strom-
berger f, Dr. phil. u. Dr. theol., Großherzogl.
Hessischem Kirchenrat. Frankfurt a. M., Verlag von
Heider & Zimmer, 1901.
Immortellen von * * *. Dresden und Leipzig,
E. Piersons Verlag, 1902.
G u stav Adolf Müller. Gedichte. Kassel, Karl
Vietor, Hofbuchhandlung, 1902.
K*------------
Personalien.
Ernannt: Dr. Emil Haselhoff in Münster zum
Direktor der Landwirtschaftlichen Versuchsstation in Mar-
burg ; wissenschaftlicher Hilfslehrer Emil Becker in
Marburg zum Oberlehrer am Gymnasium daselbst.
Vermählt: Privatdozent Dr. phil. Thiele mit
Fräulein Frida Lncae (Marburg, März); Apotheker
Karl Steinmetz mit Fräulein Helene Kortenbach
(Marburg, 9. März); Spezialarzt Dr. med. Karl Lud-
w ig niitFräulein Bertha Efferz (Biedenkopf, 15. März).
Geboren: ein Sohn: Regierungspräsident Kammer-
herr von Trott zu Solz und Frau Eleonore, geb.
von Schweinitz (Kassel. 18 März); Zahnarzt Scheele
und Frau, geb. Müller (Kassel, 13. Atärz); Fabrikant
Julius W e n tz e l l und Frau P a u l a , geb. Hoppe
(Kassel, März); — eine Tochter: Zahnarzt Hachtmann
und Frau (Marburg, März); Kaufmann Friedrich
Krüger und Frau, geb. Kn et sch (Kassel, 8. März).
Gestorben: Georg Sander, 39 Jahre alt (Karls-
hafen. 1. März); Oberpostsekretär Ernst Kümmel,
54 Jahre alt (Kassel, 1. Mürz); Kanzleirat Heinrich
Weckesser, 73 Jahre alt. (Kassel, 2. März); Amts-
gerichtsrat a. D. Joh. Konrad Dallwig, 79 Jahre
alt (Felsberg, 2. März); Lehrerswittwe Gertrud El.
Otto, geb. Schmidt, 76 Jahre alt (Kassel, 3. Mürz);
Landwirtschaftlicher Kommissar a. D. Julius Clement,
83 Jahre alt (Kassel, 3. März); Frau Geh. Justizrat
Sophie Renner, geb. Rocholl, 60 Jahre alt (Kassel,
4. März); Lehrer Albert Lindemann, 53 Jahre alt
(Rothenditmold, 4. März); Fräulein Minna Herbold,
(Rhoden bei Saarlouis, 5. März); Seminarlehrer Finken-
Wirth (aus Homberg), 51 Jahre alt (Marburg); Lehrer
a. D. Karl Kochs, 76 Jahre alt (Oberrosphe. 5. März);
Schriftsteller Karl Münch (Berlin, 9. März); Frau Ober-
stabsarzt Dr. B ä u m l e r. 71 Jahre alt (Kassel, 10. März);
verw. Frau Julie Schau in bürg, geb. Höh mann,
72 Jahre alt (Kassel, 11. März); Frau Henriette Hallo,
geb. Simon, 76 Jahre alt (Kassel, 11. März); Freifrau
Dorette Schenck zu Schweinsberg, geb. Freiin Schenck
zu Schweinsberg, (Niederofleiden, 11. März); cand. med.
Lndwig Ostheim, 24 Jahre alt (Marburg, 13. Mürz).
kriefkasten.
A. B. in Darmstadt. Dankend erhalten. Bezüglich der
gewünschten Bücher wird Herr Dr. 8ch. Ihnen Mit-
teilung machen.
E. in Kassel, G. A. M. in München, A. Tr. in Wien,
P. H. in Kassel, 8. E.- in Ravolzhausen. Besten Dank.
P.T. in München. Einverstanden. Folgt im nächsten Heft.
ZM" Mit dem heutigen Heft beschließt das „Hessenland" das I. Quartal des XVI. Jahr-
gangs. Wir bitten namentlich die verehrlichen Post-Abonnenten um rechtzeitige Neu Bestellung.
Mit dem 1. April neu zugehenden Abonnenten können die Hefte 1—6 nachgeliefert werden.
Probe-Hefte stehen jederzeit gern zur Verfügung. Der Uerlag des „Keslenland".
Für die Redaktion verantwortlich: i. V. W. Bennecke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.
M 7. XVI. Jahrgang. -aff-l, 1. Zgnl I»«S.
-I» dich.
Der Abend dämmert, und mit leisem Rauschen
Begrüßen ihn des Waldes Wipfel all.
So komm' auch Du, mein Rind, und laß uns lauschen
Dem Zauberliede der Frau Nachtigall!
wer aber gab der Hellen vogelkehle
Für dieses Liedes Ton die Allgewalt,
So recht in Tins zu schmelzen Seel' und Seele,
Wenn solchem Liede lauschen Nacht und Wald?
Zwei Wesen sind, o Rind, wir einst gewesen,
Doch wir vergaßen längst das Mein und Dein.
Es hat der Bimmel gnädig uns erlesen,
Nur Eins und ewig ungetrennt zu sein.
Doch schweigt die Nachtigall, des Menschen Rehle
Giebt Antwort dann, von Lieb' und Lust berauscht,
Und Niemand trennt dann wieder Seel' und Seele,
Mir sagend, welche singt und welche lauscht.
Ich weiß nur Eins: Es giebt ja doch auf Erden
Als höchstes Glück nur Liebesseligkeit;
Drum will ich ganz in Dir begraben werden,
So zu vergessen alles Menschenleid.
wie,,. fl. Crabert.
? ¥ ¥
Satanas.
Nimm hin, sprach Gott zu Satanas,
wonach Dein Sinnen stets gestanden . .
Du wolltest Macht? Nimm sie und laß
Dein Lanner weh'n ob allen Landen.
Du wolltest herrschen? Bcrrjcb’ so weit,
Als Menschen auf dem Erdball walten,
Nur eine einz'ge Fähigkeit
Sei Dir als Strafe vorenthalten.
Dein Reich fei groß, als wie mein Reich,
Doch Eines bleib' Dir unverschrieben,
was Menschen macht mir selber gleich,
Das ist — die Fähigkeit zu lieben.
Richard Jordan (f).
¥ ¥ ¥
Oed.
Springt der Bub' zur Welt hinein
Noch im Fliigelkleide,
Bringt er schon der Mutter ein
Beides, Glück und Leide.
Streift die Maid ans Fingerlein
Goldenes Geschmeide,
Schließt ihr dieses Ringlein ein
Beides, Glück und Leide.
Deckt das sterbliche Gebein
Linnen oder Seide —,
Seide, Linnen hüllen ein
Beides, Glück und Leide.
Findest Du Dich endlich ein
An des Lebens Scheide,
Sinkt mit Dir zur Gruft hinein
Leides, Glück und Leide.
Dassel. Paul Heidelbach-
<<<
86
Beitrag zur Charakteristik öes letzten Kurfürsten
von Hessen.
Vortrag, gehalten von dem Wirkl. Geheimen Rat v. Weyrauch in der Sitzung des Hessischen
Geschichtsvereins zu Marburg am 24. Januar d. I.
(Schluß.)
Rach kurhessischem Recht bedurfte es zur Voll-
streckung der Todesstrafe landesherrlicher Geneh-
migung, und nach älterem Recht durfte auf Grund
eines nur indirekten Beweises zum Tod überhaupt
nicht verurteilt werden. Erst mit Einführung
der Geschworenengerichte wurde dieser letztere
Rechtszustand geändert. Der Kurfürst hielt jenes
ältere Recht für das richtigere und war zur Be-
stätigung eines Todesurteils außer im Fall eines
Geständnisses oder direkten Beweises nur dann
zu bewegen, wenn er persönlich von der Richtig-
keit des Wahrspruchs der Geschworenen überzeugt
worden war. Das letzte während seiner Regierung
gefüllte Todesurteil war das gegen den am
14. Oktober 1864 hier am Rabenstein Hingerichteten
Schuhmacher Hilberg von Ockershausen, der im
Marburger Dammelsberg ein Ockershüuser Mädchen
auf scheußliche Art ermordet hatte. Der Vorstand
des Justizministeriums beantragte in einer unter
dem Vorsitz des Kurfürsten gehaltenen Sitzung
des Gesamt-Staatsministeriums in längerem Vor-
trag die Genehmigung zur Vollziehung des ans
einstimmigen Wahrspruch der Geschworenen er-
gangenen Todesurteils. Der Kurfürst, der dem
Vortrag aufmerksam gefolgt war, wendete ein, es
liege doch kein Geständnis oder sonstiger direkter
Beweis vor, die Geschworenen konnten trotz aller
Indizien geirrt haben, er könne sich deshalb noch
nicht entschließen, dem Antrag stattzugeben. Die
Sache blieb also zunächst unerledigt und mußte
nach der bestehenden Geschäftsordnung zur nach-
träglichen Einholung der allerhöchsten Entschließung
llvch einmal vom Kabinetsrat ohne Gegenwart
der Minister vorgetragen werden. Ich wieder-
holte bei diesem Vortrag die Ausführungen des
Justizministers, gab meiner persönlichen Über-
zeugung von der Schuld des Verurteilten Ausdruck
und bat um Genehmigung der Vollstreckung des
Urteils. Der Kurfürst hatte abermals mit großer
Aufmerksamkeit zugehört, zeigte sich mehr als in
der Staatsministerialsitzung geneigt, sich im Sinne
meiner Bitte zu entschließen, erklärte aber zuletzt,
er sei immer noch nicht vollständig überzeugt, und
schloß mit dem Befehl, der Justizminister solle
ihm mit den Prozeßakten, aus denen bis jetzt
nur ein Auszug vorlag, in meiner Gegenwart
die Sache nochmals vortragen. Das geschah mit
großer Klarheit und Ausführlichkeit — das Justiz-
ministerium wurde damals von Staatsrat Pfeiffer
verwaltet —, und nun erst erklärte der Monarch
sich auch von der Schuld des Verurteilten über-
zeugt und erteilte die beantragte Genehmigung
der Hinrichtung. Als deren Vollstreckung mit
dem Zusatz gemeldet wurde, Hilberg habe dem
ihn zum Tod vorbereitenden Geistlichen gegenüber
noch in seiner letzten Stunde ein Geständnis ab-
gelegt, nahm der Kurfürst diese letztere Meldung
mit besonderer Befriedigung entgegen und sprach
aus, jetzt erst sei er vollständig beruhigt. —
Eines Tages führt der Kurfürst in offener
Kalesche, nur von einem Leibjäger begleitet, von
Kassel nach Schloß Wilhelmshöhe. In der
Wilhelmshöher Allee steht ein sehr elend aus-
sehender Bettler in demütiger Haltung am Straßen-
rand. Der Kurfürst läßt halten, ruft dem hinter
ihm sitzenden Leibjäger in seiner bekannten lako-
nischen Art zu: „etwas geben!" und erwidert
auf des Leibjägers Frage: „wieviel befehlen
Königliche Hoheit?" kurz: „was Sie in der
Tasche haben." Der Leibjäger zieht seinen Geld-
belltel und wirft ihn dem Bettler in den Hut.
Beim Aussteigen fragt der Kurfürst den Jäger:
„wie viel ausgelegt?", dieser erwidert: „König-
liche Hoheit haben befohlen, zu geben, was ich
in der Tasche hatte; heut' ist der 1. d. Mts., ich
hatte in Kassel meinen Monatsgehalt empfangen
und noch nichts davon ausgegeben, ich hatte also
16 Thlr. 20 Slbgr. im Geldbeutel." Der Kur-
fürst, der nicht gedacht hatte, daß der Jäger mehr
als die übliche Almosengabe von 2 Thalern in
der Tasche haben würde, bleibt überrascht mit
der Frage stehen: „so viel?" Als aber der
formgewandte Jäger erwidert: „am Befehl meines
allergnädigsten Herrn durfte ich nicht deuteln",
entläßt ihn der Fürst in freundlichster Weise mit
den Worten: „haben sehr recht gethan; Strnbe
87
— so hieß der Schatnllkassierer — soll den Gehalt
alsbald nochmals zahlen", und von Stund an
hatte sich der Jäger besonders gnädiger Behand-
lung zu erfreuen. —
Das Städtchen Frankenau war im Jahr 1864
säst vollständig niedergebrannt. Der Wieder-
aufbau sollte nach einem neuen, eine wesentliche
Verbesserung der Straßen vorsehenden Bebauungs-
plan erfolgen und zur endgültigen Feststellung
des letzteren bedurfte es Allerhöchster Geneh-
migung. Die Vorarbeiten hatten den ganzen
Winter 1864/65 in Anspruch genommen und
die Vorlage des Plans im Ministerium des
Innern, von wo aus die Entschließung des Kur-
fürsten einzuholen war, konnte erst im Mai 1865
erfolgen. Bis zum Wiederaufbau der zerstörten
Stadtteile waren die Abgebrannten sehr notdürftig
untergebracht, eine Beschleunigung der Inangriff-
nahme der Neubauten war daher dringend wünschens-
wert. Der Kurfürst pflegte Bauangelegenheiten
besonders eingehend zu prüfen und die Entschließung
über solche nicht eher zu fassen, als bis er sich
ein klares Bild von dem durch vorgelegte Pläne
veranschaulichten Unternehmen hatte machen können.
So geschah es denn auch, daß er die vom Minister
des Innern beantragte Genehmigung des Franken-
auer Bebauungsplans in der Ministerialsitzung,
in welcher ihm der erste Vortrag über die Sache
gehalten wurde, nicht sofort erteilte. Bald nach
dieser Sitzung konnte man schon böswillige Äuße-
rungen darüber hören, daß die Frankenauer Bau-
angelegenheit vom Kurfürsten verschleppt werde.
Es dauerte auch nur wenige Tage, da erschien
ohne vorherige Anmeldung auf Schloß Wilhelms-
höhe, wo sich das Sommerhoslager befand, eine
Deputation der Frankenauer Bürger, um dem
Kurfürsten die Bitte um baldige Genehmigung
des Bebauungsplans vorzutragen. Ich kam, um
mich zum Vortrag zu melden, in dem Augenblick
in das Wartezimmer, als der dienstthuende Flügel-
adjutant der dort auf Vorlassung harrenden
Deputation den Bescheid überbrachte: Se. König-
liche Hoheit seien heute so sehr anderweit in
Anspruch genommen, daß sie bedauerten, die Herren
nicht empfangen zu können. Ich versuchte die
verblüfft dreinschauenden Männer, die eine herz-
bewegende Schilderung von den in ihrer Heimat
herrschenden Zustünden machten, zu beruhigen,
indem ich ihnen vorstellte, daß die schwierigen
Arbeiten für die Feststellung des neuen Bebauungs-
plans von den Behörden unmöglich rascher hätten
beendigt werden können, daß ihre Sache erst vor
wenigen Tagen dem Kurfürsten unterbreitet worden
sei, daß dieser bei seinen vielen andern Regiernngs-
geschüften noch nicht Zeit zu einer der Wichtigkeit
der Angelegenheit entsprechenden eingehenden Prü-
fung habe finden und besonders deshalb sie — die
Deputation — auch nicht habe empfangen können,
daß sie aber versichert sein dürften, die Allerhöchste
Entscheidung werde baldigst erfolgen. Die Männer
verließen, durch die Abweisung bitter enttäuscht,
in niedergedrückter Stimmung das Schloß. Bald
darauf wurde ich zum Vortrag befohlen. Der
Kurfürst, sichtlich erregt, kam alsbald auf die
Bitte der Deputation um Audienz zu sprechen
und erklärte, es sei sehr unpassend, ohne vorherige
schriftliche Anmeldung zu kommen und ihn drängen
zu wollen. Ich suchte die Leute mit ihrer Un-
erfahrenheit und mit der Bedrängnis, in der sie
sich befänden, zu entschuldigen und gab dabei mit
einiger Lebhaftigkeit die Schilderungen wieder,
die ich im Wartezimmer gehört hatte. Der Kur-
fürst wurde ruhiger, wiederholte aber, es sei trotz
alle dem ganz ungehörig, daß die Leute gekommen,
er wolle und könne sich auf solche Versuche, zu
Entschließungen zu drängen, nicht einlassen. Dann
setzte er aber hinzu: „Sie sind ebenso wie mein
Adjutant ganz bewegt durch das, was Ihnen die
Leute erzählt haben, mir würde es doch ebenso
gehen, wenn ich sie anhörte, es paßt sich aber
nicht für mich, mich bewegt zu zeigen." Auf
meine Bitte, die Sache bald vortragen zu dürfen,
gab er keine Antwort, forderte mich vielmehr aus,
mit den für den heutigen Vortrag bestimmten
Sachen — zu denen die Frankenauer noch nicht
gehörte — zu beginnen. Nach Beendigung meiner
Vortrüge entließ er mich in ganz gnädiger Stim-
mung, ohne jedoch die oben genannte Angelegen-
heit weiter zu erwähnen.
Ich fuhr ziemlich niedergeschlagen nach Haus,
indem ich mich in Betrachtungen darüber vertiefte,
wie die Begebenheit des heutigen Tags wieder zu
entstellten Schilderungen der Hartherzigkeit des
Kurfürsten werde ausgebeutet werden!
Am andern Morgen erschien in aller Frühe
in meiner Wohnung in Kassel ein berittener
Leibgendarm von Wilhelmshöhe, der mir den
Allerhöchsten Befehl überbrachte, Sr. Königlichen
Hoheit um 10 Uhr — also zu einer ganz un-
gewöhnlichen Stunde — im Stadtschloß über die
Frankenauer Angelegenheit Vortrag zu halten.
Der Kurfürst kam präzis 10 Uhr direkt von
Wilhelmshöhe angefahren, ließ mich alsbald vor
und empfing mich mit der Aufforderung, die
Frankenauer Sache sogleich vorzutragen, er habe
den Wunsch, dieselbe noch heute zu erledigen.
Ich legte die bereit gehaltenen Pläne vor, erläuterte
sie ausführlich und schloß mit dem Antrag auf
allergnädigste Genehmigung der zu keinerlei Be-
denken Anlaß bietenden Vorlage. Der Kurfürst
88
folgte aufmerksam, betrachtete die Zeichnungen
mit prüfendem Interesse und schrieb nach einigen
Zwischenfragen, die ich zu seiner Befriedigung
beantworten konnte, sein „genehmigt" in das ihm
vorliegende, den schriftlichen Antrag des Ministers
des Innern enthaltende Hanptprotokoll sowie auf
den neuen Stadtplan. Dann entließ er mich in
sichtlich guter Stimmung mit den Worten: „recht
gut, daß ich gleich habe genehmigen können, sorgen
Sie nun, daß meine Entschließung sofort weiter-
gegeben wird und womöglich, wenn die Deputation
nach Haus kommt, dort schon bekannt ist." So
geschah's denn auch, und Denen, die ans der
Abweisung der Deputation Kapital zu schlagen
gedachten, war die Freude verdorben! Dem
Kurfürsten selbst lag übrigens diese letztere Be-
trachtung bei seiner souveränen Verachtung der
öffentlichen Meinung absolut fern.
Es war nur meine Absicht, einen Beitrag
zur Charakteristik des letzten Kurfürsten von Hessen
zu geben, nicht etwa ein vollständiges Charakter-
bild oder eine eigentliche Geschichte desselben; ich
schließe meine kurze Skizze mit dem Wunsche,
daß es mir gelungen sein möge, wenigstens aus
unserem Kreis den immer noch nicht überall
überwundenen Irrtum ein für allemal zu ver-
bannen, als seien dem hochseligen Kurfürsten
Friedrich Wilhelm Regungen menschlichen Mit-
gefühls und Wohlwollens vollständig fremd ge-
wesen.
---------•<$§<>§$>-------
Richard Jordan als Übersetzer
nläßlich des am 6. Januar d. I. zu Charcas in
Mexico erfolgten Todes des erst im 44. Lebens-
jahre stehenden, durch seine eigenen Dichtungen wie
durch seine Übertragungen aus dem Spanischen
bekannten hessischen Dichters und Schriftstellers
Richard Jordan verdient erwähnt zu werden,
daß Richard Jordan es war, der im Jahre 1893
bei Otto Hendel in Halle a. d. Saale unter dem
Titel „Sp a nis ch e Li ede r" eine als mustergiltig
anerkannte deutsche Übersetzung der durch die Höhe
des in ihnen zu Tage tretenden Dichter-Ideales
besonders bemerkenswerten „Rimas“ des Spaniers
Gustavo Adolfo Becquer lieferte. Ein im gleichen
Jahre in der „Beilage" der „Münchener All-
gemeinen Zeitung" aus der Feder Jordans er-
schienener Aufsatz brachte den deutschen Lesern
eingehende Kunde von drei anderen ausländischen,
ebenfalls in ihrer Heimat bereits seit Langem ge-
feierten Dichtern. Es waren dies die drei mexi-
canischen Poeten Diaz Miron, Manuel Acuna und
Juan de Dios Peza. Tie Charakteristik, welche
Richard Jordan von denselben auf Grund seines
eigenen langjährigen Aufenthaltes in Mexico lieferte,
rechtfertigte, ebenso wie die von ihm im genannten
Aussatz getroffene Auswahl aus deren Dichtungen,
den Ruf, welchen dieselben zufolge des Zeugnisses
spanischer Autoren (vergl. Francisco Blanco Garcia
in seinem dreibändigen Werke „Ra Literatura
Espanola en el siglo XIX.“) auch in Spanien
und zum Teil in Frankreich seit Langem genießen.
Die letzte der in jenem Aussatze verdeutschten Gedicht-
proben, welche Pezas Gedicht „Fusiles y munecas“
(„Puppen und Gewehre") betraf, eine für die Pezasche
Borliebe, das Leben und Treiben seiner eigenen
Kinder zu verklären, bezeichnende Dichtung, fand
im Jahre 1894 Aufnahme in jenem für die Ver-
ehrer tropenländischer Poesieen besonders wertvollen
Gedichtbuche Richard Jordans, das unter dem Titel
„Lieder vom Stillen Ocean" bei Hendel in
Halle a. d. Saale erschien und den Verfasser, der
bis dahin vorwiegend in seiner engeren hessischen
Heimat und unter den Deutschen seines Adoptiv-
vaterlandes Mexico bekannt war, in die Reihe der
erster: lebenden deutschen Dichter erhob. Unter den
drei am Schluffe der „Lieder vom Stillen Ocean"
veröffentlichten Übertragungen ist besonders be-
merkenswert die Wiedergabe jenes Madrigals „Yo
pienso en tl“ („Ich denke dein"), welches nach
dem Urteile des namhaften centralamerikanischen
Litteraturhistorikers Ram6n Uriarte (vergl. dessen
in Guatemala erschienenes dreibändiges Werk
„Galeria Poetica Centro-Americana“) eine der
hervorragendsten americo-hispanischen Poesieen dar-
stellt. Wir können uns nicht versagen, dieses Gedicht,
das von dem 1844 im 35. Lebensjahre gestorbenen
Guatemalteker Jose Batrbs Montüsar herrührt
und das zufolge einer dem Verfasser dieser Zeilen
zur Verfügung stehenden schriftlichen Aufzeichnung
Richard Jordans „in der Akademie zu Paris in
Goldlettern gedruckt und als unübertrefflich aus-
gestellt" ward, sowohl in seinem durch Uriarte in
dessen erwähntem Werke veröffentlichten Wortlaut,
als in der deutschen Übersetzung Jordans mit-
zuteilen.
Yo pienso en ti.
Yo pienso en ti, tu vives en mi mente,
sola, fija, sin tregua, ä toda hora;
aunque talvez el rostro indiferente
no deje refiejar sobre mi Rente
la llama que en silencio me devora.
89
En mi lóbrega y yerta fantasía
brilla tu imagen apacible y pura,
como el rayo de luz que el sol envía
al través de una bóveda sombría,
al roto mármol de una sepultura.
Callado, inerte, en estupor profundo,
mi corazón se embarga y se enajena,
y allá en su centro vibra moribundo
cuando entre el vano estrépito del mundo
la melodía di tu nombre suena.
Sin lucha, sin afán y sin lamento,
sin agitarme en ciego frenesí,
sin proferir un solo, un leve acento,
las largas horas de la noche cuento . . . .
---------— — Y pienso en tí!
Ich denke dein.
Ich denke dein, du lebst in meinem Sinnen
Allmächtig, ewig und zu jeder Stunde,
Wenn auch nicht Thränen meinem Aug' entrinnen,
Und niemand ahnet, wie im Busen drinnen
Beständig zehrt die unvernarbte Wunde.
Dein Bild allein ist's, das in einz'ger Weise
Mein düstres Seelenleben nach erhellt,
Gleichwie der Mondenstrahl, der bleich und leise
Durch hohe Mauertrümmer auf die weiße,
Geborstne Tafel eines Grabes fällt.
München, März 1902.
Stumm, fühllos, abgewandt dem Streben
Hat sich mein Geist in sich zurückgelehnt.
Und nur durchzuckt ihn leises Todesbeben,
Wenn plötzlich draußen, in dem lauten Leben,
Die Melodie, ach, deines Namens tönt.
Ohn' Widerstreben, ohne Wunsch auch trage
Ich so, was ewig unabänderlich,
lind ohne eine, auch nur leise Klage
Zähl' ich die Stunden träger Nächte, Tage
----------------— Und denk' an dich!
Auch auf dramatischem Gebiete ward Richard
Jordan zum Interpreten spanischer Dichtungen.
So liegt unter seinen zahlreichen noch unver-
öffentlichten dichterischen Arbeiten, die sich im Be-
sitze seiner ebenfalls um die Kenntnis der spanischen
Litteratur hochverdienten Mutter, Frau Henriette
Keller-Jordan, in München befinden, u. A. eine
abgeschlossene Übersetzung des Jose Echegaray'schen
Dramas „0 Locura ó Santidad“ vor.
Nicht minder wertvoll als die Übertragung dieses
Dramas, für welches Jordan in richtigem Ver-
ständnis des Wortes „Santidad“ den deutschen Titel
„Hoher Sinn oder Wahnsinn" wählte, sind die Über-
setzungen einiger anderer spanischer Prosa-Dichtungen
und zwar einiger „Leyendas“ Gustavo Adolfo
Bécqners. Auch diese Übersetzungen befinden sich im
litterarischen Nachlaß des zu früh Dahingeschiedenen.
Dr. Paul Cesdorpt.
Hessische Sterbemünzen
Von Paul Wein Meister, Leipzig.
Il^it dem zwanzigsten Jahrhundert hat die deutsche
Münzprägung eine gute alte Sitte wieder
aufgenommen, dieseitEinsührungderReichswährnng
abgekommen war, nämlich die Prägung von Ge-
dächtnismünzen. Als Freund und Verehrer der
vaterländischen Geschichte muß man sich ebenso
hierüber freuen wie als guter Deutscher und
Patriot; denn ohne Zweifel wird der Sinn für
Geschichte und nicht minder die vaterländische
Gesinnung durch Ausprägung und Verbreitung
solcher Münzen im Volke geweckt und angeregt,
und überdies macht der Staat mit ihrer Aus-
gabe ein gutes Geschäft, indem er das so niedrig
stehende Silber zu gutem Preis anbringt, ohne
die Wiedereinlösung solcher Münzen, die natürlich
in Sammlungen und Sparbüchsen verbleiben oder
zu Schmucksachen verarbeitet werden, in Aussicht
zu haben. Wie ist es doch in dieser Hinsicht
mit den preußischen Krönungsthalern (1861) und
den mancherlei Siegesthalern (1871), besonders
den sächsischen, gegangen! Alle sind sie aus dem
Verkehr entschwunden, und wenn einmal die Thaler
sämtlich eingezogen werden, so wird kein einziger
von diesen zur Einlösung gebracht werden. Das
Bedürfnis für Gedächtnismünzen ist also im Volke
vorhanden, fand aber keine Befriedigung mehr,
seit im Jahre 1872 als letzte ein Doppelthaler
auf die goldene Hochzeit des damaligen sächsischen
Königspaares geschlagen worden war; wie viele
Gedenk-Zweimarkstücke ans den Tod Kaiser Wil-
helms I. z. B. würden als heiliges Andenken auf-
bewahrt werden, wenn man deren geprägt hätte!
Man braucht nur zu bedenken, daß die Silber-
prägungen seines Nachfolgers Friedrichs III. gar
nicht in den eigentlichen Verkehr gekommen sind,
obwohl sie nicht einmal Gedächtnismünzen sind.
Und so war denn auch die erste Auslage der Ge-
dächtnismünzen des preußischen Königsjubiläums,
mit denen uns das neue Jahrhundert beschenkt
hat, sofort vergriffen.
Die Münzprägung früherer Jahrhunderte hat
Leid und Freude, die das Haus der Münzherren
betraf, stets getreulich zum Ausdrucke gebracht,
und unermeßlich ist die Zahl der Stücke, die in
90
Deutschland bei Vermählungen, Geburten, Re-
gierungsantritten, Krönungen, Siegen, Jubiläen,
Todesfällen u. a., die das Herrscherhaus eines
Landes betrafen, geprägt worden sind. Auch in
Hessen spiegeln sich alle diese geschichtlichen Er-
eignisse in zahlreichen Prägungen wieder, und es
möge daher, um nicht zu weit zu gehen, im
Folgenden nur eine Besprechung der hessischen
Sterbe- oder Begräbnismünzen gegeben werden,
und zwar unter Beschränkung auf diejenigen
Stücke, welche zugleich einen bestimmten Nominal-
wert haben, d. h. also mit Ausschließung der so-
genannten Medaillen.
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts entstand
in Hessen die Sitte, beim Tode des Landesherren,
auch wohl beim Ableben der Landesmutter ge-
wissermaßen zum Zeichen der Landestrauer vorüber-
gehend von der sonst üblichen Münzfvrm abzu-
weichen, nämlich fast alle größeren und kleineren
Gold- und Silbermünzen, die während des Trauer-
jahres geprägt wurden, mit einer auf den Todes-
fall bezugnehmenden Inschrift, oft auch im übrigen
mit einem Denkgepräge zu versehen. Die ältesten
Sterbemünzen Hessens beziehen sich ans den Tod
Wilhelms IV. von Hessen-Kassel (1592) und
auf den Ludwigs III. von Hessen-Marburg (1604).
Bon ersteren kennen wir Dvppelthaler, Thaler
und halbe Thaler, die außer Brustbild und Wappen
die Umschriften Wilbelmus Dei Gratia Land-
graviusHassiae Obiit Anno 1592 Die25Augusti
Aetatis Suae 61 (Wilhelm von Gottes Gnaden
Landgraf von Hessen starb am 25. August 1592
im 61. Lebensjahr) aufweisen. Von Ludwig III.
giebt es als Sterbemünzen nur Viertel-Thaler
(Ortsthaler) mit dem Wappen und der Inschrift
Luclovicus Dei Gratia Landgravius Hassiae,
Conies In Cattimeliboco Obiit Anno Domini
MDCIIII. Mense Octobris Die IX. Hora VII.,
Vixit Annos LXVII Menses IIII Dies XII
Horas VI (Ludwig von Gottes Gnaden Landgraf
von Hessen, Graf zu Katzenelnbogen starb im
Jahre des Herrn 1604 am 9. Oktober 7 Uhr,
lebte 67 Jahre 4 Monate 12 Tage 6 Stunden).
Zahlreich sind die Sterbegepräge ans den Tod
von Wilhelms IV. Sohn und Nachfolger Moritz
(1632), der übrigens schon fünf Jahre vorher
die Landesregierung seinem Sohn übertragen hatte;
es giebt nämlich Doppeldukaten, Dukaten, Doppel-
thaler, Thaler, halbe, Viertel- und Achtel-Thaler.
Das bei Moritz beliebte Gepräge, nämlich zwei
gekreuzte Fahnen, darüber Palm- und Lorbeer-
zweige, darunter eine Glocke und eine Sanduhr,
ist auch ans ihnen zu finden, aber die sonst zu
den Seiten der Fahnen stehende Jahreszahl fehlt,
„nachdem der Sand in der Sanduhr verronnen
und das Glöcklein ausgeschlagen". In- und Um-
schrift lauten (bei den kleineren Nominalen etwas
kürzer): Mauritius Dandgravhis Hassiae Deo
Et Imperio Fidus Natus 25. Maii Anno 1572,
Mortuus 15. Martii Anno 1632 Regnavit
Annos 34 Menses 6 Dies 22, Vixit Annos 59
Menses 10 Dies 10. Mauriti, Memento Mori
Consilio Et Vir tute (Moritz Landgraf von Hessen.
Gott und dem Reiche getreu, geboren am 25. Mai
1572, gestorben am 15. Mürz 1632, regierte
34 Jahre 6 Monate 22 Tage, lebte 59 Jahre
10 Monate 10 Tage*). Gedenke, o Moritz, an
den Tod mit Klugheit und Tapferkeit). Schon
fünf Jahre darauf starb Wilhelm V. (1637)
nach zehnjähriger Regierung, und die lange Reihe
seiner zahlreichen Prägungen beschlossen als Sterbe-
münzen ganze, halbe, Viertel- und Achtel-Thaler.
Sie alle zeigen das bekannte Symbol des Land-
grafen, den von der Sonne bestrahlten und vom
Wind umstürmten Baum tn der Nähe einer Stadt
mit der zugehörigen Umschrift Vno Volente
Humilis Levabor (die Anfangsbuchstaben ergeben
WHL, d. h. Wilhelmus Landgravius Hassiae);
die Denkinschrift lautet Wilhelmus V. Dictus
Constans, Hassiae Landgravius, Natus XIV. Fe-
bruarii Anni MDCIL, Mortuus XXL Septembris
Anni MDCXXXVII. Regnavit Annos X Men-
ses VI Dies VI, Vixit Annos 35 Menses VII
Dies VII (Wilhelm V., genannt der Beständige,
Landgraf von Hessen, geboren am 14. Februar
1602, gestorben am 21. September 1637, regierte
10 Jahre 6 Monate 6 Tage, lebte 35 Jahre
7 Monate 7 Tage). Die Vormundschaft für den
minderjährigen Nachfolger übernahm nun dessen
Mutter, die verwitwete Landgrüfin Amalie
Elisabeth, geborene Gräfin zu Hanau, und
führte dreizehn Jahre lang die Regierung mit
geradezu männlicher Festigkeit und weiser Umsicht,
ohne jedoch dabei den weiblichen Charakter zu
verleugnen. Als sie 1651, ein Jahr nach Über-
gabe der Regierung an ihren Sohn, starb, kam
die allgemeine Verehrung, deren sie sich erfreut
hatte, in zahlreichen Sterbemünzen zum Ausdrucke,
Doppeldukaten, ganzen, halben, Viertel- und Achtel-
Thalern. Die Prägung zeigt einen vom Winde
bestürmten Felsen, auf dem sich ein von der Sonne
beschienener Altar mit einem geflügelten Herzen
befindet, und die Umschrift Wider Maebt Und
List Mein Fels Gott Ist, ferner das Denkgeprüge
Amelia Elisabetha Hassiae Landgravia,Hanoviae
Comes, Nata 29. Januarii 1602 Princeps Pietate,
Fide Ac Constantia Incluta Post 13 Annorum
Tutelam Ac Regimen Gloriosum Placida Morte
*) Richtig: 9 Monate 19 Tage.
91
Obiit 8. Augusti 1651 (Amalie Elisabeth Land-
gräfin von Hessen, Gräfin zu Hanau, geboren am
29. Januar 1602, eine durch Pflichtgefühl, Treue
und Standhaftigkeit ausgezeichnete Fürstin, starb
nach dreizehnjähriger Vormundschaft und Regierung
eines sanften Todes am 8. August 1651).
(Schluß folgt.)
——
Blätter zur Geschichte -es siebenjährigen Krieges.
Von Felix Freiherrn von und zu Gilsa.
LUm 23. Juli 1758 fand bei Sandershausen
" unweit Kassel ein heftiges Gefecht zwischen
einem unter dem Befehle des Herzogs von Broglio
stehenden französischen Corps gegen eine erheblich
schwächere Heeresabteilung des in landgräflich
hessischen Diensten befindlichen Generals Prinzen
Casimir Isenburg statt, wovon das vom hessischen
Geschichtsverein 1892 errichtete Denkmal an Ort
und Stelle Kunde giebt. Trotz großer Tapferkeit*)
wurden die Hessen unter ihrem Führer geschlagen
und zum Rückzug nach Münden gezwungen. Bis
ganz zuletzt behauptete jedoch das löbliche hessische
Jägercorps unter dem Major Treu sch von
Buttlar**), welcher verwundet wurde, seine
Stellung aus dem rechten Flügel des Prinzen
Isenburg, mit seinem wohlgezielten Büchsenseuer
verschiedene Angriffe der Franzosen zurückweisend
und den Rückzug deckend. Das ganze Land er-
scholl vom Lobe der wackeren Grünröcke, und in
der entstandenen patriotischen Aufregung, welche
durch den kurz zuvor bei Crefeld stattgesundenen
Sieg des Herzogs vou Braunschweig über die
Franzosen noch erhöht wurde, verließen viele
Förster Hessens in Privat- und Staatsdiensten
ihre Stellen, um sich den kämpfenden Truppen
freiwillig anzuschließen! Welchen Eindruck
diese spontane Bewegung auf die Feinde machte
und wie brav die Hessen sich geschlagen hatten,
ersieht man aus dem vom Prinzen Soubise als
General en dies erzwungenen Ausschreiben der
fürstlich hessischen Regierung zu Kassel vom
11. August 1758, welches lautet:
Unsern günstigen Gruß und freundlichen Dienst
zuvor, Edle und Veste, gute Freunde!
Nachdem der über die in hießige Lande aber-
mahlen eingerückte Königl. Französische Armee das
*) Vergl. Archenholz, Geschichte des siebenjähr. Krieges.
Als einzelnes Beispiel der allgemeinen Tapferkeit sei an-
geführt: ein hessischer Jäger, dem drei Soldatendes Land-
regimentes Homberg geladene Büchsen zureichten, setzt an
einer Eiche postiert mehr wie zwanzig Franzosen außer
Gefecht, fällt dann und wird unter der Eiche begraben.
Bd. 1. Neue Folge der Zeitschrift f. Hessische Geschichte. S. 374.
**) Wilhelm Johann Friedrich, geboren den 21. Juli
1723 zu Markershausen, gestorben als Hess. Kasselscher
Oberjägermeister am 14. Januar 1797 zu Zwesten. (Stamm-
tafeln der althessischen Ritterschaft.)
Commando führende Prince de Soubise bei) Uns
die Anzeige gethan, was maßen denen Ihm zu-
gekommenen Nachrichten zufolge, nach der am
23. nuperi ohnweit von hier bey Sandershausen
vorgefallenen Bataille, verschiedene Försters und
deren Bedienten und Bursche, auch Adcliche Jägers
sich außer Landes ins Hannoverische begeben hätten,
und bey dasigen Jäger-6oip8 Dienste thäten. Er
aber solches keines Weges gestatten könne, noch
darunter die geringste Nachsicht zu haben gemeynet
sey, mit dem angefügten Begehren, solches gehörig
zu publioiren, und zugleich mit dem sordersamsten
besaut zu machen, daß die Ausgetrettene sich
innerhalb denen nächsten IO Tagen, nach Ver-
kündigung dieses wieder in ihrem Heimath her-
stellen und deren keiner Mangel erscheinen lassen,
widrigenfalls ihre eigenthümliche Häuser, Güther
und Haabseligkeit mit militärischer Execution be-
legt, und besonders die Häuser abgerissen und dem
Erdboden gleich gemacht, diesertwegen auch öfters
Visitationes angestellet werden sotten: Alß haben
Wir Euch solches zur weiteren Bekandtmachnng in
Eurem Gericht, hierdurch ohnverhalten wollen, und
werdet Ihr die bey Euch wvhnhaffte Förster und
Jagd-Bedienten zu bedeuten wissen, daß Sie sich
jederzeit ans ihrem Posten ruhig halten, und durch
ihr Entfernung zu einigen Ungelegenheiten nicht
selbst Anlaß geben mögen. Wormit Wir Euch
übrigens günstig und frcmiblict) zu dienen geneigt
verbleiben.
Cassel den 11. Tag Aug. 1758.
Fürst!. Hess. Regierung
Hierselbst.
Auch in den späteren Feldzügen zeigten sich
die hessischen Jäger, deren Büchsen scharfen Knall
die Franzosen nicht gut vertragen konnten, vor-
züglich tüchtig im sogenannten kleinen Krieg. In
der Erinnerung an Sandershausen aber verbot
noch im Jahre 1761 am 26. Dezember der
Marschall von Broglio den Jägern und Förstern
andere als rote Röcke „bei Eisenstrase" zu
tragen.
Es liegt darüber die nachfolgende Verfügung
vor:
92
VICTOR FRANÇOIS DUC DE BROGLIE, des
Heil. Römischen Reichs Fürst, Mareschal von Franck-
reich, Ritter derer Königl. Orden, Gouverneur der
Stadt und Schlosses Bethune, Commendant en
Chef im Ober- und Rieder-Elsaß, auch Sr. Aller-
christlichsten Majestät Armée auf dem Ober-Rhein.
Nachdem des Königs Dienst erfordert, alles das-
jenige zu vermeiden, was allenfalls die Unterthanen
des Hessen-Landes mit denen feindlichen Trouppen
vermengen fönte, und um denen Uebelgesinnten
allen Vorwand und alle Art von Verstell- und
Verkleidung zu benehmen, befehlen Wir hierdurch
allen Beamten und Bürgermeistern derer Hessischen
Lande, vor Ablauf des ersten Februarii künftigen
Jahrs, alle Mondirungen von Soldaten, Reutern
Dragonern, Husaren oder Jägern, welcher Art die
auch seyn mögen, so die Unterthanen ihres Amts,
Stadt oder Gerichts in Besitz haben mögen, in
ihre sichere Gewahrsam liefern zu lassen, unter
der Verwarnung, daß Sie selbst davor einstehen,
und mit einer denen Umständen nach billigmüssigen
Strafe belegt, die Unterthanen selbst aber, welche
nach Verfliesung des Termins vom ersten Februarii
des künftigen 1762 ten Jahrs Mondirungen ent-
weder selbst trügen, oder bey sich finden liefen,
arrestirt und zu denen Eisen verurtheilt seyn sollen.
Wir verbieten gleichermasen allen Jägern im
Lande, andere als rothe Röcke, Camisöler und Hosen
mit weisen Knöpfen von Metall zu tragen. bey
gleichmässiger Strafe derer Uebertretter, nehmlich
bei Strafe der Eisen vor den Jäger, so nach dem
ersten Februarii sich grün gekleidet betretten lassen
wird, und Bestrafung ihrer Herren und der Obrig-
keit des Orts, wo Sie sich befinden.
Wir geben allen Generals und sonstigen Offieiers
unserer unterhabenden Armée auf, die Befolgung
dieser unserer Ordnung sich angelegen seyn zu
lassen, die Regierung zu Cassel aber hat solche
drucken, publioiren und ohne Aufschub affigiren
zu lassen, dergestalten, daß dem Chevalier Dumny
den loten des künftigen Monaths Januarii von
der beschehenen Publication und Anschlagung in
allen Hessischen Städten und Dörfern Nachricht
gegeben werden könne.
Gegeben zu Cassel, den 26ten Deeembris 1761.
(L. 8.) Der Maréchal Duc de Broglie.
Durch Ihr» Durchlaucht
Des Forges.
Diese Publikation wurde in deutscher und fran-
zösischer Sprache auf einem Blatt nebeneinander
veröffentlicht.
Von weiterem Interesse erscheint eine in da-
maliger Zeit bei dem landgräslichen Kriegs-
kollegium eingereichte Beschwerde des Glasmeisters
Fleckenstein zu Langenthal (Amt Carlshafen) über
Anwerbung eines seiner Gesellen, sowie die in
dieser Angelegenheit gepflogenen Verhandlungen.
Das von dem Kriegs-Collegium
„Dem Edlen, Best- und Mannhaftem,
Unserm besonders Guten Freunde, Fürstl.
Hessischen Obersten von der Infanterie
Herrn N. N. von Haller.
N= stehet beym Löbl. von Gilsa-Regmt.
freo Rinteln"
übersandte Schreiben hat folgenden Wortlaut:
Edler, Best- und Mannhafter,
besonders Guter Freund!
Was bey Uns der Glaßmeister Fleckensteiu zu
Langenthal wegen gewaltsamer Anwerbung seines
Glaßmacher Gesellens. Nahmens Johann Adam
Stricker, gegen das Löbl. Gilsaische Regiment be-
schwerend vorgestellet und zu verfügen gebeten,
solches ergibt die abschriftliche Anlage des mehrern.
Da Wir nun über sothane Anwerbung, des
Löbl. Regiments Bericht und Verantwortung zu
erfordern nöthig finden;
So wolle der Herr Oberster solchen zu weiterer
Verordnung sordersamst anhero einsenden, und Wir
verbleiben demselben in dessen Versetzung frdl. zu
dienen geneigt.
Cassel, den 8 ten Febr. 1762.
L. H. Kriegs-Collegium hierselbsteu.
Engelhard. Schultz. Wildungeu.
Schrumm.
An den Obersten von Haller.
Die in dem vorstehenden Schreiben angezogene
Beschwerde ist wie folgt abgefaßt:
Der Glaßmeister Jesaias Fleckenstein von Langenthal
bittet unterth.
at intus.
Ps. Cassell den 4 ten Febr. 1762.
Copia.
Hochwohlgebohrne FreyHerren,
Hochwohl- und Wohlgeborne rc.
Ew. Excel!. rc. geruhen sich hierdurch unterth.
vortragen zu laßen, wasmasen die Langenthaler
vhnweit der Paderbornischen Grentze gelegenen
Glaßhütte schon vor geraumer Zeit vom Hoch-
Fürstl. Bergraths Collegium Contractmäsig über-
nommen, und mir auch in demselben die Freyheit
meiner Arbeiter von Soldaten Ausnahmen gleich
denen Berg-Leuten zugestanden worden.
Da mir nun aber, bereits im vorigen Jahre
einer meiner Glaßmacher-Gesellen Nahmens Joh.
Gottfried Gunckell von dem Löbl. Prinz Carlischen
Regiment und auch dermalsten in dem jetztlaufenden
1762 ten Jahre ein zweyter Nahmens Job. Adam
93
Stricker unter das Löbl. Gilsaifd)e Regiment zum
Soldaten weggenommen worden, daß mich nnnmehro
aller meiner Gesellen entlediget sehe, wodurch aber
ans Mangel des Betriebs nicht allein vor meine
Person in einen sehr großen Schaden versetzet
werde, sondern auch wenn die Glaßhütte nicht be-
trieben wird, der Gnädigsten Herrschaft davonfallende
Pacht zurückbleibet.
Es ergehet also diesem nach an Ew. Excell. re.
meine gantz nnterth. Bitte Höchst-Dieselben ge-
ruhen gnäd. den Befehl an vorgedachte Regimenter
ergehen zu lassen, daß mir meine mit Gewalt
ausgenommene Gesellen und zumahl um so mehr
wieder losgegeben werden möchte, weil es in denen
Hessischen Landen gar sehr an Glaße fehlet, der-
gestallt daß viele Häußer in Cassel und auf dem
Lande, mit Fenster Scheiben nicht versehen werden
können und solches nicht anders als mit vielen
Kosten aus auswärtigen Ländern zu erhalten stehet.
Der unter Getröstung gnädig. Erhörung re.
Ew. :c.
unterth. Knecht
der Glaßmeister Fleckenstein..
Hieraus ist die nachstehende Erwiderung erfolgt:
Gantz gehorsamer Bericht.
Hoch fürstliches Heßisches Hochverordnedes Kriegs-
Colegium haben unterm 8 t fep. an den Obrist
von Haller rescribiret so aber Erst d. 5 t. Merz
eingelaufen; fernern Bericht einzusänden wegen
der Klage so der Klaßmeister Fleckenstein wegen
anwerbung seines gesellens Nahmens Johan Adam
Stricker unterth. eingegeben hat, vvrdersamst ab-
standen solle. Das aber gedachter Obrist in das
Cordony Commandirt ist so sehr solches Erbracht,
demnach berichten gehorsambst das dießer Recrut
Stricker nicht mit Gewalt angeworben ist, sondern
sich alß Soldat mit zweyjährlicher Capitelution
guthwillig unterhalden laßen auch dießer Zeit
willig außhalten will. Demnach ergehet meine
gehorsamste bitte mir dießen Kerlen ganz gnäd.
zu laßen. Wiehr haben die allerschürsfeste ordre
von Serenissime erhalten und zwar bet) größt,
andung und Ungnade Ende Februarii complet zu
seyn. Keine außländer wollen bey uns Dienste
nehmen und ist also fast ummöglich das wir unß
completiren können, da dem corps noch gar vielle
Lenthe fehlen, so ist leicht zu eracht was dießes
die Regimenter in sorge und ampera setzt. Ich
getroste mich demnach einer wilfährigen Resolution
und bin in
respect
Einem zum hvchfürstl. Kriegs Oolegio
Hochverordneter Herrn
gehorsamer Diener
Fiteil von Oilsa.
Der Schriftwechsel des Generals Eitel von
Gilsa vom letzten Jahre des siebenjährigen
Krieges mit dem fürstlichen Kriegskolleginm spricht
von schon damals bestandenen Borrechten mancher
Industrien hinsichtlich der Befreiung vom Militär-
dienste. Bei der großen Schwierigkeit für die
Truppen nach so vielen Kriegsjahren vollzählig
ins Feld zu rücken, konnten diese behaupteten
Vorrechte nicht so ganz beachtet werden, besonders
wenn man bedenkt, daß einem Kapitän, dessen
Kompagnie beim Verlassen der Winterquartiere
nicht vollzählig war, mit „sofortiger Entlassung"
entgegen getreten wurde. Jedenfalls aber gefällt
das kampsessreudige wackere Benehmen der hessischen
Jäger und Förster dem Herzen unseres Volkes
besser, wie das Berufen auf Privilegien, wenn
Not an den Mann geht.
Römische Erinnerungen.
Von Louis Katzen st ein.
(Schluß.)
3ch gebe die Erzählung des beklagenswerten
Mannes, soweit ich mich auf mein Gedächtnis
verlassen kann, in seinen eigenen Worten wieder,
welche schlicht und ohne alles Pathos waren, aber
nichts kann den Eindruck schildern, den sie damals
in der Mondnacht auf der Ruine machten.
„Meinen Namen kennen Sie, ich bin in Schweden
geboren und der Sohn einer wohlhabenden Kausmanns-
familie. Ein um einige Jahre älterer Bruder
und eine jüngere Schwester machten den Bestand
unseres Hauses aus. Es war ein harmonisches
Familienleben, und von den Eltern zärtlich geliebt
verlebten wir eine so glückliche Kindheit, wie sie
wohl nicht Vielen zu teil wird. Wir hatten die
besten Lehrer und jede auskeimende Neigung, uns
in irgend einem Fache weiter zu bilden, fand bei
unseren Eltern bereitwillige Förderung.
Wenn ich einem Portrait von mir, welches im
großen Saale unseres Hauses hing, Glauben schenken
darf, so muß ich ein bildschöner Knabe gewesen
sein; es stellte mich in meinem zwölften Jahre dar.
Das blühende Kindergesicht mit den blauenAugen
rahmte eine Fülle von blonden Locken ein. Wenn
ich bei Ausfahrten neben meiner Mutter im Wagen
saß, in meinem eleganten Knabenkostüm, und wir
von Bekannten begrüßt wurden, merkte ich wohl.
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mit welch freudestrahlendem Blicke die Augen der
Mutter auf mir ruhten. Ich war überhaupt ihr
Abgott, und als ich schon früh mich geistig entwickelte
und mit Leichtigkeit lernte, sah sie mich im Geiste
den Namen unserer Familie mit den höchsten Ehren
schmücken.
Ich hatte mich für das Studium der Philologie
entschieden, als am meisten meinem Hang zur Poesie
entsprechend. Meine ersten dichterischen Versuche
reichen in meine Knabenzeit zurück und hatten bei
den Meinen und bei den Freunden unseres Hauses
beifällige Ausnahme gefunden. Mein älterer Bruder,
eine kühle, praktische Natur, bildete sich unter den
Augen des Vaters zum künftigen Chef des großen
Hauses aus. Mit den Mitteln, die mir zu Ge-
bote standen, konnte ich als Student ganz nach
meiner Neigung leben, was mir leider nicht zum
Segen gereichte. Ein Brotstudium brauchte ich uicht
zu treiben; ich begeisterte mich an den Schätzen
der Poesie, schwärmte bald für diesen, bald für
jenen Dichter und versäumte darüber — arbeiten
zll lernen. Nur neuere Sprachen trieb ich mit
Eifer, ganz besonders die englische. Vor allem
fand ich mich zn Byron hingezogen, dessen wunder-
volle Sprache — Sie wissen es ja — noch heute
das Höchste für mich ist. Eben so sehr wie seine
Dichtungen interessierte mich die Person des Dichters,
sein häusliches Drama, seine glühende Freiheitsliebe
und nicht am wenigsten der Akut, mit welchem er
den tief eingewurzelten Vorurteilen seines Volkes
trotzte und seinen eigenen Weg ging.
Mein Kopf war erfüllt von Plänen zu großen
Dichtungen. Ja, wenn ich von meinen großen Vor-
bildern gelernt hätte zu arbeiten, die Zeit zu Rate
zu halten, anstatt zu glauben, daß meinem Talente
die Früchte mühelos in den Schoß fallen müßten,
vielleicht hätte ich etwas geschaffen, was würdig ge-
wesen nach mir zu leben. So aber bin ich über Pläne
und Bruchstücke nicht hinausgekommen, immer mir
mit dem Gedanken schmeichelnd, daß die Vollendung
mit der Reife der Jahre von selber kommen würde.
Sie sehen, ich entwerfe kein geschmeicheltes Bild
von mir selbst, wer könnte aber auch", rief er aus,
aus die Trümmer um uns deutend, „an dieser Stelle
lügen. Drei Jahre hatte ich an der Universität
zugebracht, als ich in die Heimat zurückkehrte, von
den Meinen mit der alten Liebe und Herzlichkeit
empfangen. Es hatte sich dort wenig verändert,
nur die Schwester hatte sich zur Jungfrau entwickelt.
Man hatte, wie ich schon aus Briefen wußte, eine
junge Deutsche als Erzieherin und Gesellschafterin
für sie angenommen. Es war eine Pfarrerstochter,
früh verwaist, vortrefflich erzogen, aber mittellos
und aus die Verwertung ihrer Kenntnisse und Talente
angewiesen. Meine Schwester sprach mit Enthusias-
mus von ihr und wußte mir ihren Geist und ihre
seine Bildung nicht genug zu rühmen.
Überrascht war ich von dem ungewöhnlichen Talent,
welches die Aquarellbilder, deren einige die Wände
zierten, bekundeten. ,Und das ist alles', wie die
Schwester mit Stolz versicherte, ,ihre eigene Er-
findung.' Ich hatte bald Gelegenheit mich zu über-
zeugen, daß man nicht zu viel zum Lobe der jungen
Fremden gesagt. Ich lernte ein liebenswürdiges
Wesen kennen, keine blendende Schönheit, aber von
einer Anmut, von einem Liebreiz und begabt mit
einem bezaubernden Organ, daß ich wohl begriff,
wie sie der Liebling des Hauses geworden. Mir
kam sie, von dem sie sich, wie sie mir später gestand,
aus den begeisterten Schilderungen von Mutter
und Schwester eine ganz falsche Idee gebildet hatte,
schüchtern und besangen entgegen und schien froh
zu sein, als sie sich nach der Zeremonie der
Vorstellung entfernen konnte.
Wie ich nach und nach den ganzen Wert des
herrlichen Mädchens erkennen lernte, wie mich ihre
Bescheidenheit und ihr geistvolles Urteil bezauberten
und einen Einfluß aus mich ausübten, dem ich mich
nur zu willig unterwarf, das sind lichtvolle
Erinnerungen, die die Öde meines jetzigen Daseins
doppelt traurig machen. Die eigentümliche Schön-
heit und die Poesie unserer nordischen Natur lernte
ich damals erst recht schätzen, als ich sie in den
Skizzenbüchern der jungen Künstlerin — denn das
war sie — wiedergegeben fand. Ich habe Ihnen schon
gesagt, daß meine Eltern keinen höhern Wunsch
hatten, als ihre Kinder glücklich zu sehn, und so
konnte ich ihrer Einwilligung sicher sein, als ich,
im beglückenden Bewußtsein geliebt zu sein, dem
trefflichen Mädchen Herz und Hand bot.
Das Leben schien für mich erst recht zu beginnen
bei der Aussicht, es an der Seite eines so fein-
fühligen und verständnisvollen Wesens zu genießen,
und ich ging mit neuem Eifer an meine dichterischen
Arbeiten, gehoben von neuer Anregung, von neuem
Ehrgeize, denn der zu hoffende Erfolg und der
Ruhm hatten nun noch höheren Wert für mich.
Glücklichste, unvergeßlichste Zeit meines Lebens!
Ich ging mit meiner jungen Frau aus Reisen,
wir besuchten die deutschen Hauptstädte und be-
absichtigten dann längere Zeit in Italien zu leben.
Da wollte ich endlich, getragen und begeistert von
der klassischen Atmosphäre, ernstlich schaffen, wollte
ringen um Anerkennung, wollte mich meines Glückes
würdig machen. Aber die Anerkennung blieb aus,
die Arbeiten, welche ich anbot, fanden keinen An-
klang, man sandte sie mir mit höflichen Phrasen
zurück, sprach von beachtenswertem Talent, welches
die Zeit reifen würde, und ähnlichen Dingen. Das
verbitterte meine Stimmung, machte mich verdrossen
95
und, was das Schlimmste war, warf seinen Schatten
in mein Heim und fing an mich stumpf zu machen
gegen seinen Reiz. Vergebens versuchte meine Frau
mir die Häuslichkeit so behaglich wie möglich zu
machen, versuchte mich aufzurichten und anzuspornen
zu neuer Arbeit. Gerade der Frau gegenüber
empfand ich es wie Beschämung, daß ich nicht mit
einem befriedigenden Ergebnis meiner Thätigkeit
vor sie hintreten konnte, und sie glaubte doch un-
verbrüchlich an mich und an meinen endlichen Er-
folg. Wir wohnten eine Zeit in Rom, meine
Frau betrieb mit Eifer ihre Studien, und immer
erfreulicher entwickelte sich ihr Talent. Bei dem
Besuche der Museen und Privatsammlungen mußte
ich staunen über ihr seines Verständnis der Werke
der großen Maler und Bildhauer.
Die sinnigen Bemerkungen, die sie daran knüpfte,
sind mir unvergeßlich. Ihr besonderer Liebling
war Ghirlandajo, von dessen Kreuztragung sie sich
kaum trennen konnte. Die Energie und der Fleiß,
mit dem er sich vom Gvldschmiedsgesellen zur Höhe
der Kunst emporgeschwungen, der wunderbare Aus-
druck in seinen Köpfen und die liebevolle Ausführung
seiner Bilder, das alles erfüllte sie mit Entzücken.
.Welche Summe von Arbeit, von Studium und
von Fleiß muß es gekostet haben', rief sie aus,
,um das alles beim Betrachten des vollendeten
Werkes vergessen zu machen. Ist es nicht, als ob
die Blumen unter den Füßen des Heilands aus
dem Boden hervor sprießen? Aus die Dauer
wollte es ihr hier in Rom nicht behagen, ihr fein-
fühliges Wesen hatte bald begriffen, daß es die
Atmosphäre nicht war, in der ich zu stetiger Ar-
beit angespornt würde. Wir verkehrten zumeist
mit Künstlern, besuchten Ateliers und Sammlungen
und verbrachten Stunden unter den Trümmern ver-
gangener Herrlichkeit und Größe im alten Teile
der Stadt und in der Campagna. Das Hotel, in
dem wir wohnten, lag am spanischen Platze, und
wir konnten früh morgens das malerische Gewühl
auf der spanischen Treppe, welche nach dem Monte
Pincio hinaufführt, mit aller Muße betrachten.
.Dies Rom', meinte meine Frau, .kommt mir
vor wie ein großes Buch, in dem man fort und
fort studieren kann, aber es scheint mir, als ob von
den Vielen, die des Studiums wegen hergekommen,
nur Wenige darin zu lesen verstünden. Oder ist
es die Wucht einer ungeheuren Vergangenheit, die
auf den Menschen lastet, gegen die sie sich nicht
aufraffen mögen — die Epigonen! Ladet nicht alles
zu träumerischem Genießen ein, giebt es einen Ort,
wo das Faulenzen so reizvoll ist, das äoleo far niente!‘
Wir kamen überein, unsern Aufenthalt hier ab-
zubrechen und nach Florenz zu gehen. Die liebliche
Natur des Ortes, seine Kunstschätze und geschicht-
lichen Erinnerungen zogen unsI mächtig an, und
meine Frau schien glücklich, mich in anderer Um-
gebung zu^wissen. In einer'Villa am Arno schlugen
wir unser neues Heim aus. Meine Frau war be-
sonders erfreut, ein so ergiebiges Feld für ihre
Studien so zu sagen vor der Thüre zu haben. Mit
Vorliebe machte sie Skizzen zu ihren Bildern an
den malerischen Userpflanzen und pflegte in ihrer
Gondel sitzend zu zeichnen. Ich selber wollte die
floreutiuischeu Archive benutzen, um Material zu
einem Drama aus der Zeit derMedizäer zu bekommen.
Ich besuchte oft ein Cafö in der Nähe der
Uffizien, in welchem vorzugsweise Künstler und
Litteraten verkehrten, und lernte da einen deutschen
Schriftsteller kennen, der längst zu Ruf und Ansehen
gelangt war. Sein Äußeres verriet freilich nichts
von dem Dichter. Von kräftigem Körperbau, gesund-
heitstrotzendem Gesicht und von unverwüstlich heiterer
Laune, zu harmlosem Spott und Ironie geneigt,
in der Vollkraft seines Talentes, erschien er mir
ein wahrhaft beneidenswerter Mensch. Er hatte
sich nach harter Arbeit durchgerungen, seinem Namen
einen guten Klang verschafft und durfte nun in
Seelenruhe weiter schaffen. Kein Wunder, daß er
unserm kleinen Kreise als Autorität galt.
Ich hatte ihn mit meinem Leben bekannt gemacht,
ebenso mit meinen bisher erfolglosen dichterischen
Versuchen. Ich bat ihn um ein freimütiges Ur-
teil, und er versprach mir meine Arbeiten zu lesen.
Als wir an einem der folgenden Tage aus dem
Heimwege waren, erinnerte ich ihn an sein Ver-
sprechen. .Ich bin', sagte er endlich, .weit ent-
fernt, ein maßgebendes Urteil über Ihre Begabung
als Dichter abgeben zu wollen; es steckt sicher
Talent in Ihnen, nur muß es ausreisen, und
lassen Sie mich das offen sagen, Sie stehen zu sehr
aus der Sonnenseite des Lebens, um Erfahrungen
zu sammeln, kennen zu wenig dessen Ernst. Sie
wollen Menschen schildern und haben zu wenig vom
Leben kennen gelernt, zu wenig Ahnung von der
Not des Daseins. Goethe macht eine Ausnahme.
Schmerzenskinder sind viele, vielleicht die schönsten
Dichtungen. Da ist Ihr besonderer Liebling Byron,
hat er nicht seine schönsten Verse gemacht, als er
sich von seinem Weibe, seiner Ada, trennen mußte V" —
Hier hielt der Erzähler iune, stützte den Kopf
wie gramversunken in die Hand, dann stand er
rasch auf und machte eine Bewegung, als wollte
er gehen. Ich war im Begriff ihm zu folgen, als
er mich wieder auf meinen Sitz zog und, mehr wie
zu sich selber sprechend, sagte: „Ich bin noch nicht
zu Ende, — das Ende fehlt noch! Mußte mich
schon der sich unwillkürlich aufdrängende Vergleich
meiner Person mit der kerngesunden Natur dieses
Mannes verstimmen, so thaten diese Worte das
96
Übrige, um meine Laune ganz zu verderben. Immer
mußte ich mir wiederholen: Sie haben zu wenig
vom Leben kennen gelernt, zu wenig Ahnung von
der Not des Daseins, und es schien mir nun klar,
warum ich mich nicht zum Höchsten emporschwingen
konnte. Eine verbitterte Stimmung ergriff mich,
während ruhige Überlegung mir doch hätte sagen
müssen, daß jene Worte doch nur teilweise gelten
konnten und leicht zu widerlegen seien. Was war
natürlicher als daß mein seelisches Leiden seine
Schatten aus das sonst so heitere Gemüt meiner
Frau warf. Ich fand sie in dieser Zeit oft in
Gedanken versunken, unthätig vor ihrer Staffelei
sitzen, ihre Arbeit machte keine Fortschritte, was ich
aber in meiner grübelnden Stimmung, nur mit
mir selbst beschäftigt, nicht bemerkte. Vergebens
suchte sie mich aufzumuntern, sprach von meiner
Arbeit und bat mich davon zu sprechen. In einer
unseligen Stunde ließ ich mich von meinem Un-
mute hinreiße«, ihr jenes Gespräch mit dem deutschen
Dichter mitzuteilen, und gab zu verstehen, daß häusliche
und eheliche Bande dem idealen Schaffen nicht
günstig seien. Verblendeter, wahnsinniger Thor, der
ich war, das köstlichste Gut, welches ich besaß, die
Poesie meines Lebens mit Füßen zu treten, das
Wesen für meinen Mangel an Erfolg verantwortlich
zu machen, welches nie aufgehört hatte an das
endliche Gelingen meiner Arbeit zu glauben. — Meine
Geschichte ist nun bald zu Ende, es wird auch
kühl", sagte er sich fröstelnd in seinen Mantel
hüllend, „es ist nicht gut hier länger zu verweilen.
Was kommen mußte, kam. Der giftige Pfeil, den
ich in das treueste, liebevollste Herz gesenkt hatte,
that seine Wirkung. Ich kann nicht sagen, daß ich
im Benehmen meiner Frau seit dieser Zeit eine
wesentliche Veränderung wahrgenommen hätte, wie
sehr ich mir auch später die kleinsten Vorkommnisse
dieser Tage ins Gedächtnis ries.
An einem herrlichen Frühlingstag war ich schon
früh zu einem Spaziergang in die liebliche Um-
gegend der Arnostadt hinausgegangen. Meine Frau
war, wie gewöhnlich, zu Haus geblieben, weil sie
meinte, ich könnte dann ungestörter an meine Arbeit
denken, ja, sie wünschte, ich möchte meine Wanderung
recht weit ausdehnen, wenn es auch spät mit der
-----------
Kasseler
Von W. S
ii. Etwas von Paul Pirltz.
Zu Anfang der 70er Jahre, als Bulß in das
Engagement der Kasseler Hofbühne trat, verkehrten
die Mitglieder derselben vorzugsweise in der Wein-
Heimkehr würde, sie selbst wollte den Tag benutzen,
um ihr Bild ,Elfenreigen im Mondschein' zu fördern.
Ich war mit historischen Studien in der Bibliothek
beschäftigt und hatte mich an jenem Tag so in
meine Arbeit vertieft, daß mich erst das Läuten
der Avemaria - Glocken an die Heimkehr mahnte.
Seit langer Zeit fühlte ich etwas wie Befriedigung
mit meinem Thun, ich hatte gearbeitet, mein Eifer-
wuchs, und mein Freude an der Arbeit, eine Frühlings-
stimmung beherrschte mich. Gewöhnlich erwartete
mich meine Frau in dem Weinlaubgang unserer
Villa, in dem ich ihr helles Kleid schon von weitem
erkennen konnte. Statt dessen sah ich fremde Gestalten
sich um das Haus bewegen; eine seltsame Unruhe
ergriff mich, ich beschleunigte meine Schritte, und
da am Eingänge des Hauses stürzte mir unsere
alte Dienerin schreckensbleich entgegen, ,O! die
Signora, die Signora' war alles, was sie hervor-
bringen konnte. Meiner Sinne kaum mächtig, stürzte
ich in das Zimmer. Da lag meine Frau, starr
und bleich, wie man sie vor wenigen Minuten aus
dem Wasser getragen hatte; die schleunig angestellten
Versuche, sie ins Leben zurückzurufen, waren ver-
geblich gewesen.
Man sagte mir, daß der Kahn an einer als
gefährlich bekannten Stelle umgeschlagen sein müßte.
Es war niemand in der Nähe gewesen, und Hülfe-
rufe hatte man nicht gehört.
Zwölf Jahre sind seit jenem Tag verflossen, an
dem ich alles verlor, — verlor! — durch meine Schuld!"
Er reichte mir die Hand, die ich in tiefer Be-
wegung drückte. Sprechen konnte ich nicht. Dann
erhob er sich und bat, ihn allein gehen zu lassen.
Als ich ihn aus den Augen verloren, verließ auch
ich meinen Platz uub stieg hinunter. Ich konnte
es nicht über mich gewinnen, in der nächsten Zeit
meinen gewohnten Platz im Cafe belle arti ein-
zunehmen, und als ich einige Wochen später wieder
hinkam, erfuhr ich, daß der Schwede nach dem
Orient abgereist sei.
Die vorstehende Erzählung bezieht sich auf das tragische
Ende von Charlotte Stieglitz, geb. Will Höft. Um
die Einkleidung einer Novelle zu gebrauchen, hat der Herr
Verfasser Wahrheit mit Dichtung zuweilen vermischt.
Anmerkung der Redaktion.
-------------
Skizzen.
; ennecke.
wirtschaft Feodor Schröders in der oberen Karls-
straße und sodann bei Balthasar Wulp am Friedrich-
Wilhelmsplatz. Dort bildete sich ein stark besuchter
Frühschoppen, bei welchem Bulß und Ewald Prä-
97
sidierten und ihres Amtes mit größter Loyalität
und Kollegialität walteten. Dieser Frühschoppen
wurde das „Bierean" genannt, dessen wohl niemals
aufgeschriebene Satzungen es zuließen, daß auch
Nichtkünstler Mitglieder werden konnten. Bei der
feierlichen Ausnahme in das „Bierean" machte es
Bulß nun stets ein besonderes Vergnügen, den
Ritterschlag zu erteilen. Obwohl die Vereinigung
ein Frühschoppen war, fand die Reception jedoch
am späten Abend statt, wobei ein frisch vom Metzger
entnommener Kalbskops eine Hauptrolle spielte.
Der künftige Nevphyt wurde unten im Lokal von
einigen Mitgliedern in Empfang genommen und
mit verbundenen Augen erst im ganzen Hanse
Trepp' auf. Trepp' ab geführt, bis man mit ihm
in die stets bereitwillig zur Verfügung gestellte
gute Stube des Balser Wnlp trat. Dort lag auf
dem Tisch in einer flachen Schüssel der ominöse
blutige Kalbskopf, matt beleuchtet vom Scheine
zweier düster brennenden Kerzen, und im Halbkreis
standen die Bundesbrüder in ziemlich abenteuerlichen
Bekleidungen, denn über ihre Röcke hatten sie die
sämtlichen Überzüge der im Zimmer befindlichen
Möbel gebunden oder sonstige zweckdienliche Hüllen,
deren sie habhaft werden konnten, umgenommen.
Die Großmeister aber — „in zwei weißen Hemden
man beide stehen sah", wie weiland Siegfried und
Günther, als sie zum Brunnen um die Wette
laufen wollten. Nun wurde an den noch immer
mit verbundenen Augen dastehenden Novizen von
dem Präsidenten Bulß eine sehr ernste Ansprache
gehalten und ihm bedeutet, seine Hand zum Schwur
und ohne zu zittern aus das hohe Symbol des
Bundes zu legen. Sowie der Unglückliche aber
mit seiner ausgestreckt herumtastenden Hand den
kalten, glitschigen Kalbskops berührte, schrak er
unwillkürlich zurück, und dann kam das gänzlich
Unerwartete der feierlichen Aufnahme, denn die
tiefe, rings herrschende Stille durch ein gelindes
Jndianergeheul unterbrechend, stürzten alle über
den Prüfling her und — wichsten ihn gehörig durch,
und der Ausdruck der Überraschung, der sich bei
dieser Prozedur jedesmal in den Zügen des
Ahnungslosen malte, bildete den Höhepunkt des
stdelen Abends.
Ein hochangesehenes Mitglied war Bulß auch in
dem von seinem Vorgänger Di-. Franz Krückl und
Ernst Gettke, dem jetzigen Direktor des Raimund-
Theaters in Wien, 1870 gegründeten „Kasseler
Künstler-Club". Als erste Novität, nachdem Bulß
sich im Engagement am Königlichen Theater befand,
war aus demselben Verdis „Rigoletto" mit Bulß
in der Titelpartie im September 1871 in Scene
gegangen. Obwohl die Oper auch in den andern
Partieen („Gilda" Therese Tremel, „Maddalena"
Marie Braciszewska, „Herzog" Zottmayr, „Monte-
rone" Lindemann, „Sparasucile" Schulze» glänzend
besetzt »var, erfuhr sie doch in der Kasseler „Tages-
post" durch den Musikreferenten Herrn T. eine
ungünstige Beurteilung, da derselbe sich mit dem
Inhalt nicht befreunden konnte und dabei u. A.
von dem „Herzog und seiner Schwefelbande" sprach.
Dies veranlaßte den Kasseler „Künstler-Club" im
Schaubschen Saale in der Wvlssschlucht eine bizarre
Puppenkomödie „Rigoletto oder der Herzog lind
seine Sch»vefelbande" zur Aufführung zu bringen,
für welche Bildhauer Brandt die Figuren in porträt-
ähnlicher Treue cachiert hatte, und besonders die
Gestalt Kasperle-Rigolettos die größte Heiterkeit
hervorrief, da Brandt ein köstliches Abbild von
Bulß zu Stande gebracht hatte. Gegen das er-
wähnte Puppenspiel sind aber alle Überbrettls von
heute nur Kinderkomödien . . .
Nach einer der ersten Aufführungen des „Rigoletto"
im Hostheater hatte Bulß einige Freunde zu sich
geladen (er wohnte damals am Friedrichsplatz in
einer der oberen Etagen des Schüferschen Hauses),
und unter fröhlicher Unterhaltung war es spät
und immer später ge»vorden. Bulß war von der
Ausführung her im Kostüme geblieben, über das
er beim Nachhausegehen einen Mantel geworfen
hatte, und saß zuletzt nur noch mit einem seiner
Kollegen zusammen, den er schon von früher her
kannte. Endlich ging auch dieser, und Bulß ge-
leitete ihn mit der Lampe die Treppen hinunter
bis vor die Hausthür und im Gespräche begriffen
auch noch weiter an den Häusern her bis an das
Theater, wo Beide sich, da die Rückerinnerungen
so angenehmer Natur waren, auf den Treppenstufen
niederließen und weiter plauderten. So saßen die
Beiden da, neben sich die flimmernde Lampe, bis
allmählich der Tag zu dämmern begann und schon
vereinzelte Leute vorübergingen — die sahen dann
allerdings den seltsam gekleideten Mann. der im
Morgengrauen vor dem Theater saß, mit großen
Augen an, — das würde ihn nun wenig gekümmert
haben, aber die kühle Lust ließ es ihm doch rat-
sam erscheinen, sich zu Bett zu begeben, und
Rigoletto mit seiner Lampe verschwand mit Sonnen-
aufgang vom Friedrichsplatz. . . .
Bulß, der Künstler, Bulß, der Sportsinan,
Bulß, der liebenswürdige Gesellschafter, war aber
auch insofern ein sehr guter Kollege, als er stets
gern zu geben bereit war, z. B. wenn es sich um
Veranstaltung von Chorkrünzchen handelte. Gegen
Ende 1872 hatte er das Malheur, sich den Fuß
zu verstauchen, wodurch er Monate lang am Auf-
treten gehindert war. Nachdem er am 26. Februar
1873 in den „beiden Schützen" von Lortzing zum
98
ersten Male wieder unter großen Ovationen ge-
sungen hatte, gab er einige Wochen später dem
Chorpersonal seiner glücklichen Wiederherstellung
wegen in dem Restaurant „Bellevue" in Wehlheiden
(das Gebäude, in welchem sich dasselbe befand, ge-
hört jetzt zum Diakonissenhaus) ein „Füßchen".
Da es in eine Zeit fiel, wo nicht getanzt werden
durfte, hatte er alles Mögliche gethan, um dazu
die Erlaubnis zu erhalten, und in letzter Stunde
traf denn auch die frohe Kunde ein: „Wehlheiden
darf tanzen!" Ob Bulß bei dieser Gelegenheit
in den Saal geritten ist, wie erzählt wird, kann
nicht mit Sicherheit festgestellt werden, jedenfalls
aber ist er an diesem Abend unter den Fröhlichen
einer der Fröhlichsten gewesen, denn: „Holde Göttin
Freude gab ihm immer das Geleite!"
Aus alter urtò neuer §eit*
Ein verschwundenes Beförderungsmittel.
Die Benutzung von Sänften oder Tragbahren
zur Weiterbeförderung von Menschen war schon
dem grauen Altertum bekannt, aber eine besondere
Art derselben bildete sich im Zeitalter der fran-
zösischen Könige Ludwig XIV. und XV. aus: die
Porte-chaise oder in richtigem Französisch
Chaise ä porteurs, eine kurze Sänfte, aus-
sehend wie eine Doktorkutsche, bestehend in einem
mannshohen sechsseitigen Kasten mit Sitzflüche an
der Hinterseite im Innern, vorn Thür mit Fenstern
und Vorhängen und desgleichen zur Rechten und
Linken Fenster und Vorhänge, und endlich außen
aus beiden Seiten mit eisernen Ringen, durch welche
Stangen gesteckt wurden, sodaß zwei Männer die
Sänfte tragen konnten.
Im Hessenlande werden die Porte-Chaisen zuerst
erwähnt unter der Regierung des Landgrafen und
Schwedenkönigs Friedrich I. (1730 — 1751), und
waren dieselben nicht nur in Übung bei hohen
Herrschaften, sondern auch beim größeren Publikum,
sodaß sich manche Leute als Lohndiener daraus
einen Erwerb machten. Um auf diesem Gebiete
Ordnung zu schaffen, erging ein „Reglement, wo-
nach sich diejenige Porteurs, so bey keinem Herrn
in Diensten stehen und nicht in Pivree seyn, sondern
um Lohn tragen, in hiesiger Resickent^-Stadt und
Vestung Caßel zu halten haben" vom 11. August
1731 (Sammlung Fürstl. Hess. Landes-Ordnungen,
T. IV. S. 5 6 slg.) Dies wurde aufgehoben durch
Ordonnance ... vom 10. August 1750 (L.-O. T. IV,
S. 1065 flg.) unter derselben Regierung und endlich
unter Landgraf Friedrich II. (1760 — 1785) durch
Reglement von 18. Februar 1778 (L.-O. T. VI,
S. 910 flg.). Aus dem Letzteren ist folgendes
hervorzuheben (in geringer Abweichung von den
früheren Bestimmungen):
Die zum Porte-Chaisen tragen sich zu widmen
Lust haben, müssen bei Fürstl Policey-Commission
sich angeben, in das Porteur-93ud) einschreiben
lassen (§ 2), eine Nummer aus Blech aus der Brust
und aus der Porte-Chaise mit Farbe führen (8 3);
sie müssen sich eines ehrbaren Lebens befleißigen,
aller Schwelgerei, besonders aber des Brandteweins-
sauffens, wie auch Zankens und Fluchens, Zotten-
reißens und ungebührlicher Reden enthalten, und
denen die sie bedienen, mit Höflichkeit begegnen (8 4).
Die bei Herrschaften dienenden Porteurs stehen
unter demselben Gerichte wie ihre Herrn (8 5)
und dürfen nicht andere für Geld tragen (8 6).
Alle Porteurs müssen in der Stadt dauernd wohnen
(8 7). Ungehörigkeit und Verbrechen werden ge-
ahndet zunächst durch Geldstrafen, dann schärfer,
und da kommen als Strafmittel vor: Rettung aus
dem hölzernen Pferde, Anhängung steinerner Kugeln,
endlich dem Befinden nach schimpfliche Verweisung
(88 8, 11, 16).
An der Spitze der um Lohn dienenden Porteurs
in der Stadt stand ein Porteur-Meister,
welcher daraus zu sehen, daß die Porteurs sich
alles Vollsausens enthielten, und die nöthigen
Anzeigen zu machen hatte (8 15).
Übrigens konnte bei aller Strenge das Verhältnis
gegen 14tägige Kündigung gelöst werden (8 9).
Das Tragen kostete für beide Träger berechnet
einen ganzen Tag 1 Gulden, für einen einzelnen
Gang 2 .Ggr., bei weiteren Entfernungen 4 Ggr.,
beim Rücktragen war 1 Stunde Wartezeit frei (8 12).
Die Porte-Chaisen wurden, einmal eingeführt,
viel benutzt, jedoch vorzugsweise von den wohl-
habenden Einwohnern. So erklärt sich wenigstens
die Bestimmung in einer Luxus-Verordnung vom
26. Dezember 1731 (L.-O. T. IV, S. 89 fg.), daß
derjenige, „der es nicht außerdem alltäglich gewohnt
ist", bei Kindtausen, sie geschehen in der Kirche
oder Privathäusern, sich der Kutschen oder Porte-
Chaisen bei fünf Reichsthaler Strafe nicht bedienen
sollte.
Eine besondere Rolle haben die Porte-Chaisen
unter Landgraf Friedrich II. gespielt durch ihre
Beuutzung von Militärpersonen, und auf Grund
glaubwürdiger Mitteilungen alter Kasselaner, welche
sich wieder aus Erzählungen älterer Leute stützen,
hat sich die Sache folgendermaßen zugetragen:
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Der Hohe Herr (Friedrich II.) wollte aus seiner
beim Regierungsantritte (1760) noch zum Teile
von einer Ackerbau treibenden und int Comfort
zurückgebliebenen Bevölkerung bewohnten Residenz
eine aus Fremde einen angenehmen und behaglichen
Eindruck äußernde Musterstadt machen. Er fing
deshalb damit an, eine Anzahl Schuhputzer aus-
zustatten und in der Nähe des Schlosses — der
alten Katlenburg — auszustellen, damit die Besucher
desselben dies mit sauberem Schuhwerke betreten
sollten. Sodann erregte sein allerhöchstes Miß-
fallen, daß seine Offiziere, wenn sie zu Hofbälleu
besohlen wurden, bei schlechtem Wetter, um die
seine Kleidung zu schonen, sich von ihren Burschen
Huckepack ins Schloß tragen und unterm Thore
absetzen ließen. Er befahl deshalb, da nur wenige
Stadtwagen in der Residenz vorhanden waren, die
Beschaffung einer Anzahl Sänften (körte-edui86n)
und deren Benutzung durch die Offiziere bei Hof-
bälleu. Diese Sänften standen wie die übrigen
unter Aufsicht der Polizei und wurden dann auch
von andern, namentlich altersschwachen Leuten be-
nutzt. Später und im 19. Jahrhundert säst aus-
schließlich dienten sie als K r a n k e n - T r a n s p o r t -
mittel zur Charito.
Ausweislich der Adreßbücher von Kassel waren
es in den 40er und 50er Jahren noch vier Porte-
chaisen-Trüger, dann in den 60er Jahren blos
zwei Namens Martin Dousset und Heinrich Scheffer,
beide daneben noch Kohlenmesser, die letzten ihres
Zeichens. Im Adreßbuch von 1865 kommt Scheffer
vor als Gastwirt „zur Stadt Hanau", Frankfurter
Straße 65, 1868 Dousset als Portier.
Die inzwischen eingeführten Droschken und Dienst-
männer brachten das schöne Institut der Porte-
Chaiseu zu Falle. Sänften gibt es jetzt noch in
Gebirgsgegenden und in heißen Ländern.
T. A.
-----------<»••<«>-------- .
Aus Heiinat und Freinde.
Hessischer Geschichtsverein. Am 24. März
fand der letzte wissenschaftliche Unterhaltungs-
abend des Kasseler Geschichtsvereins im lausen-
den Halbjahr statt. Herr General E i s e n t r a u t
begrüßte die Anwesenden und erteilte Herrit Ober-
lehrer Di-. Henkel das Wort, welcher eine An-
zahl aus seine Familie bezügliche Papiere vorlegte.
Herr Dr. Schwarzkops rief darauf in seiner-
lebhaften Vortragsweise die kurhessischen Gardes-
du-Corps in die Erinnerung zurück, wobei er be-
sonders betonte, daß der „erste Richter des Reichs"
in Berlin den kurhessischen Armee-Traditionen
wieder zu ihrem Rechte verholfen und damit einen
Alp von denjenigen Gemütern genommen habe,
die es bisher nicht für ratsam gehalten hätten,
sich der hessischen Kriegsgeschichte zu erinnern.
Schon vor zehn Jahren habe Oberstleutnant
Freiherr von Werthern am 100. Jahres-
tage der Erstürmung Frankfurts das hiesige Husaren-
regiment auf dem Forst aus den ruhmvollen Anteil
hingewiesen, den die hessischen Gardes-du-Corps an
dieser Waffenthat gehabt hatten. Aber noch ein
anderer preußischer Herr hat s. Z. den Gardes-du-
Corps das höchste Lob gespendet und zwar General-
leutnant von Brauchitsch, der im September 1863
mit dem badischen Generalmajor von F a b e r und
einem höheren österreichischen und würtembergischen
Offizier die kurhessischen Truppen inspizierte.
„Kurhessen," sagte Generalleutnant von Brauchitsch
zu den Gardes-du-Corps, nachdem dieselben auf dem
Forst mehrere Attacken ausgeführt hatten, „mit
großen Erwartungen sind wir hierher zu Euch
gekommen, wußten wir doch, daß wir die Sohne
jener Tapferen zu inspizieren hatten, die durch
Jahrhunderte hindurch auf allen Schlachtfeldern,
wo sie kämpften, sich durch Heldenmut und braves
Verhalten unvergänglichen Ruhm und Sieges-
lorbeereu errungen haben. Allein was wir erwartet,
habt Ihr heute bei weitem übertroffen; Ihr seid
noch immer die echten Sohne der alten Chatten,
und stolz kann der sein, dem es vielleicht einmal
vergönnt ist. Euch zum Kampf zu führen." Nach
dem fesselnden Vortrag zeigte Herr Dr. Schwarzkopf
Bilder der hessischen Garde-du-Corps aus allen
Zeiten vor, wobei besonders eins derselben, Offiziere
und Mannschaften der zweiten Schwadron, unter
ihnen Prinz Philipp von Hanau und Premier-
leutnant von Loßberg, ganz außerordentlich gefiel,
sotvie ein Bild des Prinzen Moritz von Hanau und
eine Photographie des letzten Kurfürsten in Gardes-
du-Corps-Uniform, Porträts, deren Vervielfäl-
tigung lebhaft gewünscht wurde. Aus der darauf
folgenden Diskussion sei noch hervorgehoben, daß von
einem der Vereinsmitglieder des Premierleutnants von
Schenk zu Schweinsberg gedacht wurde, der 1866
mit 10 Gardes-du-Corps und einigen nassauischen
Jnsanteristen in der Nähe von Sabern eine preußische
Feldwache, bestehend aus einem Unteroffizier und
sechszehu Mann, zu Gefangenen machte.*) Herr
Oberbibliothekar Dr. Brunner besprach sodann
den Giftmord des Hoslakaien Bechstädt am 31. Ja-
*) Vergl. „Hessenland" Jahrg. 1897, S. 271: „Er-
innerungen aus den letzten Tagen eines deutschen Fürsten-
tums." Von einem ehemaligen kurhessischen Offizier.
100
nuar 1822 und verlas ferner eine von dem General-
leutnant von Haynau an den Kommandeur der
Schutzwache gerichtete Aufforderung vom 5. Oktober
1850, die sich in dem städtischen Archive befindet.
Universitätsnachrichten. Der ordentliche
Professor der Rechte Eh-, von Savigny in Mar-
burg wird zum Herbste an die neu errichtete juristische
Fakultät der Universität Münster übersiedeln. —
Professor Hoffa, zuletzt in Würzburg, hat die
ihm angebotene Professur für orthopädische Chirurgie
in Berlin angenommen.
Todesfälle. Am 14. März starb in Kassel
hvchbetagt Fräulein Friederike Kaufs mann,
Mitbegründerin des 1869 daselbst ins Leben ge-
rufenen Frairenbildungsvereins, dessen Vorstand sie
32 Jahre lang angehörte. Durch ihre vielseitigen
Kenntnisse und ihr thatkräftiges Eintreten für die
Sache, der sie sich gewidmet hatte, war sie eine
Hauptstütze des segensreichen Vereins. — Am
16. Mürz verschied in Stettin der dortige Super-
intendent Wilhelm Für er, geboren am 23. Mai
1841 in Frankenberg, und einen Tag später folgte
ihm in Haus Rockenau bei Eberbach in Baden sein
Bruder Pfarrer Karl Eduard Fürer, geboren
am 13. Juni 1830 in Kirchhain. Als Söhne
des Pfarrers Julius Fürer studierten beide Brüder
Theologie. Während der ältere von ihnen in Hessen
verblieb und seit 1856 als Pfarrer an der Brüder-
kirche in Kassel wirkte, war der jüngere Bruder
als Pastor in Friesdorf in der Provinz Sachsen,
daun als Reiseprediger für die innere Mission in
Pommern und von 1884 an als Pastor in Stettin
thätig. 1897 wurde er zum Superintendenten er-
nannt. Pfarrer Karl Eduard Fürer ist auch als
geistlicher Dichter hervorgetreten. — Am 19. März
starb zu Gießen der Oberstleutnant beim Regiments-
stabe des Infanterieregiments „Kaiser Wilhelm"
(2. Großherzogl. Hessischen) Nr. 116 Georg
H e r r l e i n. Als Großgrundbesitzer in Margarethen-
haun war der Verblichene Mitglied des hessischen
Kommunallandtages sowie des Provinzialland-
tages. — Auf einer Kunstreise in Ungarn be-
griffen, schied am 20. März in Temesvar plötzlich
der Königl. Kammersänger Paul Bulß dahin.
Derselbe war von 1871 — 1876 als Bariton am
Königlichen Theater in Kassel engagiert gewesen
und hatte sich großer Beliebtheit zu erfreuen gehabt.
Personalien.
Ernannt: Hilfspfarrer Dellit zu Kaffel zum luther.
Pfarrer in Wohra und Diakonus in Gemünden; Gerichts-
assessor Dr. Beyer zum Amtsrichter in Schencklengsfeld;
die Referendare A m e l u n g und von A p e I l zu Gerichts-
assessoren; Rechtskandidat Greim zum Referendar.
Verliehen r die China-Verdieust-Medaille Frau General
Kuchenbecker. Frau Selma Plaut, Frau Justiz-
rat Dr. Rothsels, Frau Postdirektvr Schlüter in
Kassel.
Geboren: ein Sohn: Landrichter L i m b e r g e r und
Frau Jenny, geb. Himmighoffen (Kassel, 23. März);
— eine Tochter: Intendantur-Sekretär A. Knuth und
Frau Else, geb. Methe (Frankfurt a. M., 15. März);
Fabrikant Otto Fennel und Frau Marie, geb.
Schäfer (Kassel, 23. März); Domänenpächter A. Loh-
mann und Frau Anna, geb. Jahns (Wilhelmshöhe,
26. Mürz); Kaufmann Fritz Schäffer und Frau
Emma, geb. Mäh lau (Kassel, 28. März).
Gestorben: cand. med. Ludwig Osthei m, 25 Jahre
alt (Marburg, 13. März); Kaufmann Hermann Berger,
72 Jahre alt (Berlin, 13. März); Frau Minna
Wolters, geb. P a a ck, 29 Jahre alt (Crefeld, 14. März);
Fräulein Friederike Kauffmann, 78 Jahre alt
(Kassel, 14. Mürz); Königl. Oberleutnant Fritz Brill
von Haustein (Metz. 15. März); Frau Marie
Hä fn er, geb. Kaiser, 57 Jahre alt (Kassel, 16. März);
Superintendent Wilhelm Fürer, 60 Jahre alt (Stettin,
16. März); Pfarrer Karl Eduard Fürer, 71 Jahre
alt (Haus Rockenau bei Eberbach in Baden, 17. März);
Oberstleutnant Georg Herr lei n (Gießen, 19. März);
Bürgermeister Hartmann Ludwig (Treysa. 19. März);
Frau Emilie Noelck, geb. Coester (Lübeck, 20. März);
Privatmann Jvh. Heinrich Friede, 78 Jahre alt
(Kassel, 22. März); Frau Geh Kriegsrat Luise Weber,
geb. Heuser, 58 Jahre alt (Kassel, 23 März); Frau
Konsistorialrat Rettberg, geb. Gieseler (Marburg,
23. März); Königl. Geh. Baurat a. D. W. I. Janssen,
70 Jahre alt (Kassel, 25. März); Kurhessischer Leut-
nant a. D. Rudolf von Kaltenborn-Stachau (Merrill
in Nord-Amerika, 25. März); Färbereibesitzer I u st u s
Kersten, 50 Jahre alt (Kassel, 26. März); Königl. Do-
mänenpächter Oberamtmann G e r la ch (Rangen, 27. März);
Privatmann Wilhelm Schumann, 78 Jahre alt
(Wahlershausen, 27. März).
Mit Bedauern teilen wir den verehrlicheu Mitarbeitern und Lesern unserer Zeitschrift mit, daß Herr
Dr. Schoof, durch Gesundheitsrücksichten gezwungen, die Redaktion des „Hessenland" mit Ablaus des I. (Quartals
niedergelegt hat. Seine eifrige und erfolgreiche Redaktionsführung sichert ihm bei uns ein dankbares Andenken.
Herr Dr. Schoos hat uns gütigst in Aussicht gestellt, auch ferner nach Möglichkeit für das „Hessenland" thätig zu
sein. — An seiner Stelle hat Herr M. Kemrecke, hier, welcher bereits feit einiger Zeit die Redaktion vertretungs-
weise geführt hat, dieselbe nunmehr freundlichst endgültig übernommen.
Kassel, 3 t. März zy02.
Der Verlag des „Hessenland".
Für die Redaktion verantwortlich: W. Bennecke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.
Die Nacht.
Auf dunkeln Schwingen naht die flacht,
Und allen Freuden
Und allen Leiden,
Und dem Gram, den der Tag gebracht,
Flüstert sie zu:
„Nun geh zur Ruh!"
Und müde senken die Lider
Aus träumende Augen sich nieder.
Doch aus des Dunkels dichtem Flor
Steigt leise, leise
Rach Geisterweise
Der Sorgen düstre Schar empor,
von Rächt umwallt.
Mit siustrer Gewalt
Zerstört sie den friedlichen Schlummer
Durch nagenden, zehrenden Kummer
Und um die tiefste Mitternacht,
Wenn alles schweiget
Und ruht, da steiget
Der Zweifel empor aus tiefem Schacht.
Sein Tishanch zieht
Wie Tod durchs Gemüt
Und will den kindlichen Glauben
Der ringenden Seele rauben. —
Auf dunkeln Schwingen flieht die Rächt,
Ror Sonnenstrahlen
Schwinden die (?)ualeu,
Schwindet des Zweifels finstre Macht,
Des Frühlichtes Schein
Weicht die Sorgenpein,
Uell klingt's in den flutenden Schimmer:
„Ich glaube, nun laß ich Dich nimmer!"
Dari» st <1 tu. ChisCSC KÖSlIill.
¥ -¥ ¥
0, glaub' mir: könnt’ ich räubern...
0, glaub' mir, könnt' ich zaubern,
Sollt' Dein Kummer vergeh'»!
wo Du weilst, wo Du wandelst,
Sollten Blumen ersteh'» . . .
Deine Lippen sah' ich lachen,
Deine Wangen ließ' ich bliih'n,
Deine Seele müßt' genesen
Ron glühendem Müh'»,
Dein Lserz würde jauchzen,
Deine ksände dürften ruh'» — —
0, glaub' mir: könnt' ich zaubern,
Wollt' ich Wunder für Dich thun!!
Ravolzhausen. Zgzcha kll.,.
< < <
102
«««««««
Hessische Sterbeinünzen.
Von Paul Wcinmeister, Leipzig.
(Schluß.)
Der seit 1650 volljährige Wilhelm VI. regierte
___selbst noch dreizehn weitere Jahre und starb 1663.
Seinem Tode sind als Sterbemünzen gewidmet
Dukaten, Thaler, halbe, Viertel- und Achtel-Thaler.
Außer dem Brustbild und sieben kleinen Wappen-
schilden weisen sie folgende Inschrift auf: Wil-
helmus VI. Dei Gratia Landgravius Hassiae,
Princeps Hersfeldensis, Comes Cattimeliboci,
Deciae, Ziegenhainae, Niddae Et Schawen-
burgi, Nascitur Anno MDCXXIX. XXIII. Maii,
Vixit Annos XXXIV Mensem I Dies XXI,
Regnavit Annos XII Menses IX Dies XXI,
Obiit XVI. Julii Anni MDCLXIII. Pietate.
Eide Et Justitia (Wilhelm VI. von Gottes
Gnaden Landgraf von Hessen, Fürst zu Hersfeld,
Graf zu Katzenelnbogen, Dietz, Ziegenhain, Nidda
lind Schauenburg, wurde geboren ani 23. Mai
1629, lebte 34 Jahre 1 Monat 21*) Tage,
regierte 12 Jahre 9 Monate 21 Tage, starb am
16. Juli 1663. In Pflichtgefühl. Treue und
Gerechtigkeit). Wiederum war der Landesfürst in
jugendlichem Alter gestorben, und wiederum war
deshalb eine Vormundschaft für einen noch un-
mündigen Landgrafen nötig. Diese übernahm
auch diesmal des Minderjährigen Mutter, die
verwitwete Landgräfin Hedwig Sophie, geborene
Prinzessin von Brandenburg. Aber der jugend-
liche Wilhelm VII. starb (1670) noch vor
Beendigung der Vormundschaft, und die trauernde
Mutter feierte sein Andenken in Dukaten, ganzen,
halben, Viertel- und Achtel-Thalern mit der In-
schrift Wilhelmus VII. Dei Gratia Landgravius
Hassiae, Princeps Hersfeldensis, Comes Catti-
meliboci, Deciae. Ziegenhaini. Niddae etSchaw-
enburgi, Natus Cassellis XXL Junii MDCLI.
Obiit In Ipso Regiminis Propylaeo Parisiis
XXL Novembris MDCLXX. Vixit Diu, Quia
Rene Vixit. Annos 19 Menses 5 (Wilhelm VII.
von Gottes Gnaden u. s. w.. geboren zu Kassel
am 21. Juni 1651, starb noch vor dem eigent-
lichen Antritte seiner Regierung zu Paris am
2L November 1670. Er hat lange gelebt, weil
er wacker gelebt hat: 19 Jahre 5 Monate). Fast
sieben Jahre lang führte nun Hedwig Sophie
*) Richtig: 23 Tage.
die Vormundschaft weiter für ihren zweiten Sohn
Karl und lebte danach noch sechs Jahre. Ihr
Gedächtnis wird in ganzen, halben und Viertel-
Thalern gefeiert. Sie zeigen alle den hessischen
Löwen und bcn brandenburgischen Adler, die
Thaler mit der Inschrift Wilhelmi VI. Hassiae
Landgravii, Principis Hersfeldensis Conjunx
(1649) Hedwigis Sophia Nata Princeps Electo-
ralis Brandenburgica Nascitur Berolini IV. Julii
Anno MDCXXIIL, Post Obitum Conjugis Anno
MDCLXIII. Vera Patriae Mater Tutrixque
Regimen Hassiacum Pie, Fideliter Ac Feliciter
Administrat Annos XIV. Moritur Schmalcaldiae
Die XVI. Junii Anno MDCXXCIIL, Vixit
Annos LIX Menses XI Dies XIV (Wilhelms VI.,
Landgrafen von Hessen, Fürsten zu Hersseld,
Gattin — 1649 — Hedwig Sophie geborene
Prinzessin von Kurbrandenburg wird geboren zu
Berlin am 4. Juli 1623, verwaltet nach dem
Tod ihres Gatten im Jahre 1663 als wahre
Landesmutter und Vormünderin die hessische Re-
gierung pflichtmüßig, treu und glücklich 14 Jahre
lang, stirbt zu Schmalkalden am 16. Juni 1683,
sie lebte 59 Jahre 11 Monate 14*) Tage), die
kleineren Nominale mit der Inschrift Hedwigis
Sophia Hassiae Landgravia, Princeps Hers-
feldensis, Nata Princeps Electoralis Branden-
burgica, Nata Die 4. Julii 1623, Denata Die
16. Junii 1683 Vixit Annos 59 Menses 11
Dies 14 Humata Die 17. Julii 1683 (Hedwig
Sophie Landgräfin von Hessen. Fürstin zu Hers-
seld, geborene Prinzessin von Kurbrandenburg,
geboren am 4. Juli 1623, gestorben am 16. Juni
1683, lebte 59 Jahre 11 Monate 14 Tage, be-
erdigt am 17. Juli 1683). Ihrem Sohne Karl
war eine sehr lange Regierungszeit beschieden,
nämlich nach der siebenjährigen Vormundschaft
seiner Mutter noch weitere dreiundfünszig Jahre.
Aber eigentliche Sterbemünzen sind auf seinen
Tod nicht geprägt worden, dagegen hatte er am
26. Juni 1711, zehn Tage nach dem Tode seiner
Gemahlin Marin Amalia, eigenhändig die
Ausprägung von 400 Stück Begräbnisthalern
verfügt. Diese Gepräge zeigen das Bild der
*) Richtig: 12 Tage.
Landgrüfin mit der Umschrift Pietate Insignis
(bitrd) Pflichtgefühl sich nuszeichnend) und die
Gedenkworte Serenissima Princeps Et Domina
Domina Maria Amalia Ex Serenissima Ducali
Stirpe Churlandica Oriunda Nata Anno MDCLIII.
Die XII. Junii, Nupta Serenissimo Et Poten-
tissimo Principi Ac Domino Domino Carolo,
Hassiae Landgravio, Principi Hersfeldensi,
Comiti Cattimeliboci. Deciae, Ziegenhaini, Nid~
dae Et Schawenburgi, Die XXL Maii Anno
MDCLXXIIL, Denata Yilmonasterii XVI. Junii
Anno MDCCXI. (Die durchlauchtigste Fürstin
und Herrin Frau Maria Amalia aus dem burdp
lauchtigsten herzoglich kurländifchen Geschlecht ent- !
sprossen, geboren am 12. Juni 1653, vermählt mit
dein durchlauchtigsten, grvßmächtigen Fürsten und
Herrn Herrn Karl, Landgrafen von Hessen, Fürsten
n.s.w., am 21. Mai 1673, gestorben znWeilmünster
am 16. Juni 1711). Von Karls Söhnen und Nach-
folgern Friedrich I. und Wilhelm VIII. sind
zwar Sterbegepräge bekannt, doch lassen sich die
des ersteren nur teilweise und nid)t mit Sicher- I
heit als eigentliche Münzen bezeichnen, vielmehr
machen alle den Eindruck von Medaillen. Die
eine Prägung auf den Tod Friedrichs 1. wird zn-
weilen als Thaler bezeichnet; sie hat die Um-
sckiristen Fridericus Dei Gratia Rex Sueciae
Die XXV. Martii MDCCLI Sideribus lve-
ceptus (Friedrick) von Gottes Gnaden König von
Schweden am 25. März 1751 in den.Himmel
ausgenommen), die andere soll ein halber Thaler
sein und sagt in Um- und Inschrift Fridericus
Dei Gratia Ilex Sueciae Bono Subditorum
Natus Die 17. Aprilis 1676 Jmperavit Annis 31
Coelo Redditus Die 25. Martii 1751 (Friedrich
n. s. w., zum Heile seiner Unterthanen geboren
am 17. April 1676, herrschte 31 Jahre, dem
Himmel zurückgegeben am 25. März 1751).
Beide Gepräge kennzeichnen fick) übrigens als
schwedisch, da Friedrich nicht als Landgraf von
Hessen, sondern nur als König von Sck)weden
bezeick)net wird und seine Regiernngsdaner als
31 Jahre, d. h. von 1720 an angegeben ist,
während er in Hessen erst von 1730 an regierte
Die Sterbemünze auf das Ableben Wilhelms VIII.
(1760) ist sick)er eine Medaille, übrigens das
letzte Gepräge ans den Tod eines Landessürsten
von Hessen-Kassel.
In Hessen-Darmstadt beginnt die Sitte der
Prägung von Sterbemünzen 1626 beim Tode
Ludwigs V. Ans Doppelthalern lind Thalern
findet sich die Inschrift Ludovicus Dictus Fidelis,
Hassiae Landgravius. Natus XXIV. Septembris
Anni MDLXXV11., Mortuus XXVII. diilii
Anni MDCXXVI. Regnavit Annos XXX
Menses V Dies XIX. Vivit Post Funera
Virtus. Patri Patriae, Immortalitate Donato
(Ludwig genannt der Getreue, Landgraf von Hessen,
geboren am 24. September 1577, gestorben am
27. Juli 1626, regierte 30 Jahre 5 Monate
19 Tage. Tugend überlebt das Grab. Dem
mit Unsterblichkeit gekrönten Vater des Vater-
lands). Schon mit Ludwigs Sohne Georg 11.
hören die Sterbemünzen hier wieder auf. Ans
seinen Tod (1661) wurden ganze und halbe Du-
katen, ganze, halbe, Viertel- und Achtel-Thaler ge-
prägt. In- und Umschriften lauten Nmnmns
Exequialis Principis Optimi Pii Prudentis
Benefici Domini Domini Georgii II. Landgravii
Hassiae, Principis Hersfeldensis, Comitis Catti-
meliboci, Deciae, Ziegenhaini, Niddae, Schawen-
burgi, Ysenburgi Et Budingae. Natus XVII.
Martii Anni MDCV. Obiit XL Junii MDCLXI,
Yixit Annos LV1 Menses III. Regnavit Annos
XXXIV Menses X (Sterbemünze des besten,
frommen, weisen und wohlthätigen Fürsten Herrn
Herrn Georgs II., Landgrafen von Hessen, Fürsten
zu Hersfeld, Grafen zu Katzenelnbogen, Dietz,
Ziegenhain, Nidda, Sckiauenbnrg, Psenburg und
Büdingen. Geboren am 17. März 1605 starb
er am 11. Juni 1661, lebte 56 Jahre 3 Monate,
regierte 34 Jahre 10 Monate). Auf den Gold-
münzen ist die Inschrift teilweise etwas kurzer
gefaßt. Alle aber zeigen sie eine hohe Eiche mit
einem fliegenden Zettel daran, der die Worte
Aeternitati Sacrum (Der Ewigkeit geweiht) ent-
hält.
Die vorstehend besck)riebenen hessischen Sterbe-
münzen werden den Sammlern alle sehr wohl
bekannt sein, sonst würde meine Beschreibung
ihnen nicht genügen, die ich absichtlich nid)t streng
numismatisch gestaltet habe, um sonstige Freunde
der hessischen Geschichte nicht bind) Einzelheiten
zu langweilen oder durch Wiedergabe der ab-
gekürzten Inschriften ihnen Unverständliches zu
bieten. Daß fast alle diese Stücke sehr gesucht
und selten sind, braucht nick)t hervorgehoben zu
werden, die meisten dürsten aber in den beiden
öffentlichen Münzsammlungen Kassels zu finden
sein.
104
Allerler von Zauberer.
Von L. A
s ist eine uralte Eigentümlichkeit der Menschen,
lieber an übernatürliche Kräfte und fremden
Frevel zn glauben, als an natürlichen Hergang
und eigene Verfehlung. Sv schiebt man die
Schuld an Unfällen gern geheimnisvollen Mächten
und deren bösen Dienern zn. Und dem Verdachte
der Thäterschaft ist unter solchen Umständen der-
jenige am meisten ausgesetzt, welcher die große
Menge nie Klugheit übertrifft oder durch sein
Äußeres einen abschreckenden nnb unheimlichen
Eindruck macht. Ans solchem Grunde beruhte
ehemals fund auch heutzutage noch) der unselige
Hexenglailbe, den man verlachen müßte, hätte er
nicht so unsägliches Elend über zahlreiche Personen
und Familien heraufbeschworen.
Es wäre aber unrecht, dem niederen Volke
allein die Verantwortung für diese Geißel ver-
gangener Jahrhunderte zuzuschreiben. Die höheren
Stände trifft keine geringere Schuld. Die Gesetz-
geber schritten ans denselben finsteren Wegen. Und
die selbstsüchtigen und gewissenlosen Richter be-
nutzten eifrig die bestehenden Gesetze; denn jeder
Prozeß warf ihnen einen nicht zil verachtenden
Gewinn in den Schoß. Gesetzgeber und Richter-
ständen nicht allein da: die Geistlichkeit ging — von
wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen —
mit ihnen Hand in Hand; und selbst die Aus-
lese höherer Bildung ans den Universitäten stärkte
llnd stützte meist den verruchten Aberglauben.
Alle bliesen dieselbe Melodie. Wer will da noch
einen Stein ausheben gegen die Herensurcht unter
Bauern und Handwerkern, denen Großmütter und
Basen in heimlichen Dämmerstunden immer wieder
von teuflischer Zauberei erzählten? Längst hatte
der Glaube daran im tiefsten Volksgemüte Wurzel
geschlagen. Manchmal scheint aber auch bei Zeugen
und Angebern der Aberglaube nur als Aushänge-
schild gedient zn haben, Habgier, Eifersucht oder
Haß waren dann die eigentlichen Triebfedern.
Frühzeitig finden sich für alle die erwähnten
Beweggründe Beweise oder wenigstens Anzeichen.
Im Jahre 1460 stand vor dem Melsunger
Schultheißen eine Frau, die von einer Feindin
der Hexerei bezichtigt wurde. Sie sollte einer
säugenden Mutter die Milch genommen haben.
Für einen so schweren Fall war der Schultheiß
nicht zuständig, er verwies daher die Sache an
das Gericht des Landgrafen.*)
*) G. Landau, Bußregister, in der Zeitschrift f. Hess.
Geschichte. II, 376 (1840).
r m b r u st.
--- Nachdruck verboten.
Ein armer Kranker war es, der 1570 in den
Geruch der Zauberei kam. Ein Mann ans dem
hessischen Gerichte Spangenberg wurde durch
Zufall nach Göttingen, der Leinestadt, verschlagen.
Dort ließ ihn der ehrbare Rat von Häschern
ergreifen; denn des Volkes Stimme bezeichnete
ihn als „weisen Mann." Und der Verdacht be-
stätigte sich in herrlicher Weise. Im Besitze des
Gefangenen fand sich nämlich ein Buch, in
dem greuliche Teufelsbilder gemalt standen und
„zauberische Buhlereien" zu lesen waren. Wenn
er vollends einen Tops ans Feuer setzte und
Zauberreime dazu sprach, dann zwang er dadurch
eine Zauberin zn erscheinen. Dieser gewaltige
Mann hatte eine lahme Witwe bezaubert. Auch
im Gewahrsam gab er eine kleine Probe feiner
Kunst. Er brachte es zu Wege, daß eine Hexe
vor dem Hause erschien. Zu ihrem Glücke aber
zog sie früh genug und unerkannt wieder von
dannen, so daß sie den rohen Fäusten der Henkers-
knechte entging. Schließlich stellte es sich heraus,
daß der angestaunte „weise Mann" ein armer
Fallsüchtiger war, der von den schwersten Krämpfen
heimgesucht wurde. Der Chronist*) meint freilich,
der „Jammer" wäre häufig zu stark in ihm ge-
worden, oder der Teufel hätte ihn zu arg geplagt.
Die Obersten im Göttinger Rate hatten dem
Kranken (wohl für eine Vorstellung seiner Kunst)
freies Geleit zugesagt, darum ließen sie ihn laufen.
Seine Bücher jedoch und sein sonstiges Handwerks-
zeug behielt man und verbrannte es.
So glimpflich kamen nicht viele davon. Schrecklich
endete z. B. eine Hexengeschichte, die zwar keine
hessischen Unterthanen betraf, aber einer hessischen
Universität zur Beurteilung vorgelegt wurde.
Dieser Prozeß giebt uns zugleich einen Einblick
in den Starrsinn und die Bosheit mancher Richter,
in die beschränkte Oberflächlichkeit mancher Ge-
lehrten, denen die unschuldigsten Umstände Verdacht
einflößten.
Im Mai 1664 kam es zu einer Gerichtsver-
handlung gegen die 18 jährige Dienstmagd Mar-
garethe Meineken aus Westeresch im (damals
schwedischen) Herzogtum Verden.**) Das Mädchen
*) Franz Lübeck, Chronik von Göttingen bis 1588,
Blatt 3061» und 807 n, (Handschrift „Göttingen 4“ in der
Universitäts-Bibliothek Göttingen). — Franz Lübeck war
damals übrigens Prediger in Göttingen und wurde 1575
Nachfolger des Hessen Johann Sutel an der Sixtus-
kirche in Northeim.
**) Nach H. Meyer, ein Hexenprvzeß ans dem 17. Jahr-
hundert, ans den Akten dargestellt. Hannover 1867.
war von einer Verwandten als Hexe verdächtigt.
Es sollte eine Kuh durch Zauberei ums Leben
gebracht und verschiedene Leute krank gemacht
haben. Die Akten über die ersten Verhöre wurden
der juristischen Fakultät der Universität Rinteln
an der Weser übersandt. Die Antwort lautete
folgendermaßen:
„Alst dieselbe uns, was für dortigem Königs-
markischen Gericht des Hanßes von der Herrschaft
Rotenburgk zwischen Catharinen und Margarethen
Meineken in puncto veneficii inquirendo für-
gangen , zugesandt und, welchergestalt mit der
Jnquisitinnen ferner zu verfahren, unßer recht-
liches Bedenken begehret, demnach haben wir alles
mit Fleiß verlesen, collegialiter woll erwogen
und berichten daraus vor Recht:
Dieweil 8upsr fama keine Zeugen eydtlich
examiniret seyn, so seyndt diejenige, welche umb
der Jnquisitinn Leben und Wandel gute Wißen-
schast haben, über nachfolgende intsrrogatoria
eydtlich zu befragen: 1. Ob Zeugin Margarethen
Meineken woll kenne. 2. Ob Zeugin einige Feind-
schaft mit derselben habe gehabt oder noch habe
und warumb. 3. Ob Zeugin bewußt sey. alß ob
sie sollte zaubern können. 4. Woher solch Geschrey
entstanden, und wie alt dasselbe sey. 5. Ob
Zeuge sie selbst für eine Zauberinn halte. 6. Was
er dessen für Ursach habe. 7. Ob Zeuge uicht
wiße oder gehört habe, daß sie von einem undt
andern für eine Hexe gescholten wurde, von wem,
zu welcher Zeit. 8. Ob sie einen undt andern
Menschen zaubern zu lehren sich erboten. 9. Ob
sie jemandt zu bezaubern gebrauet undt dem Ge-
braueten dergleichen geschehen oder wiedersahren.
10. Ob sie sonderliche Gemeinschaft mit Zaubern
oder Zauberinnen gehalten oder noch habe. 11. Ob
sie mit verdächtigen Sachen, Geberden, Wortten
und Wesen, die Zaubere aus sich tragen, umbgehe
oder vor diesen damit umbggangen.
Dieweil auch Berendt Müller t68tc protocollo
deponiret, daß seine Tochter ein und anderß der
Jnquisitinn sollte vorgehalten haben, so ist die-
selbe eydtlich zu befragen:
12. Ob sie die Jnquisitinn, wie ihr die letzte
Kuh abgestorben, zu Rede gestellet und gefraget,
woher es kähme, daß sie so eine böse Rede zu
Buxtehude gehabt. 13. Ob sie ferner zu derselben
gesagt: wann ihr bey unß Leuten so thun wollet.
14. Ob die Jnquisitinn sie gebeten, solches ihrem
Vater nicht zu sagen. 15. Wie sich dieselbe sonsten,
wie ihr solches ist sürgehalten, geberdet und be-
zeiget.
Und würde diese bey ihrer Aussage, mquwita
aber bei ihrem Leugnen verbleiben, wehre sie zu
confrontiren; und ist nicht ohndienlich. daß von
einem Barbierer der Juquisitiuu Kopsform an
der Stirn besichtigt wehre, ob allda etwas zu
verspüren, und ob sie nicht leiden könne, daß
mann sie an selben Orth antaste, und woher
solches etwa kommen. Absonderlich aber muß
Cathrina Meineken ihre Deposition, daß Jn-
quisitmn ihr das Zaubern zu lehren angebothen,
und mit welchen Ceremonien solches geschehen,
eydtlich becrästigen. Sollte auch inquwita noch
ferner umb das Waßerbadt anhalten — ob man
gleich solche Probe für kein Argument der Sehuldt
und Ohnschuldt halten thut, so gar, daß, wann
einer schwimmdt, dahero nicht schuldig, undt welcher
nicht schwimmdt, für ohnschuldig nicht zu halten —
alldieweilen aber durch solch Mittel die Jnquisitinn
ostermahlen zum sreywilligen Bekändtniß wird
bewogen, so kann ihr inn so weit willfahret
werden, jedoch daß sie in loco judicii angelobe,
im Fall sie oben schwimmen sollte, daß sie als-
dann willig bekennen wolte, daß sie zaubern
könne. Ergehet alsdann, wann solches alles Vor-
gängen, ans anderweitige Verschickung serners inn
der Sache, was rechtens. Von Rechts wegen
haben solches ohuverhalten sollen, die Herren
Gottes Schutz empfehlendt,
Rinteln, den 20. May 1664.
Der Herrn dienstwillige
1)66auu8 86nior und andere Doctores der Juristen-
Facultät bei der Universität daselbst."
Man nahm die Wasserprobe vor. Das Mädchen
ging nur wenig unter, beteuerte aber fortgesetzt
seine Unschuld, wie bisher. Zum zweiten Male
wurden die Akten nach Rinteln gesandt. Die
juristische Fakultät antwortete abermals, die Wasser-
probe wäre trüglich, zur Folterung läge keine
genügende Veranlassung vor, man sollte die An-
geklagte weiter ins Verhör nehmen. Nun beging
das arme Mädchen, aus Zureden eines Geistlichen,
eine verhängnisvolle Unklugheit. Es gab zu. es
möchte wohl (mit der im Volke noch jetzt bekannten
dummen Redensart) den Herrn Christ verleugnet
haben. Zugleich gestand es, es hätte im Kindes-
alter den Abschwörungsreim von seiner Mutter
gehört. Sofort wurde auch die letztere in Haft
genommen, entzog sich aber den erbarmungslosen
Richtern durch Selbstmord. Sie erhängte sich
im Gefängnisse, und der Henker mußte ihren
Leichnam am Galgenberge verscharren. Da die
Universität Rinteln dem Aberglauben oder der
Bosheit der Richter uicht genug entgegengekommen
war, schickte das Gericht die Akten nunmehr an
die Universität Helmstedt. Diese erklärte die
Folterung für zulässig, „jedoch menschlicher Weise".
Das Mädchen wurde so lange gemartert, bis es
106
alles bekannte, was man wünschte, und nach einem
abermaligen Helmstedter Gutachten als Here ver-
brannt. —
Das Gesetz, aus das man sich früher berief,
und das auch damals noch die Universitäts-Ge-
lehrten als zu Recht bestehend anerkannten, war
die Carolina. die Halsgerichtsordnung Kaiser
Karls V. Dieselbe bedrohte im 109. Artikel
die Zauberei mit dem Feuertode.
Und hierauf stützte sich wieder Landgras
Philipps peinliche Halsgerichtsordnung vom
Jahre 1535.*) Hart klingen ihre Bestimmungen.
Wenn eine auch sonst bescholtene Person sich er-
bot, einem andern Hexerei zu lehren, oder jemand
mit Verzaubern drohte oder auch nur verdächtige
Geberden zeigte und ebensolche Worte äußerte,
die konnte ohne weiteres auf die Folter gespannt
werden, damit sie mehr bekannte. Dagegen sollte
das Zeugnis eines Menschen, welcher der Zauberei
irgendwie verdächtig war, vor Gericht nichts gelten.
Ein Grund mehr, einen unbequemen Zeugen
durch die Beschuldigung der Hexerei mundtot zu
machen. Bekannte sich aber ein Verdächtiger auf
der Folter der Zauberei schuldig, so ruhte man
nicht, bis man sowohl seine Werkzeuge und die
von ihm Geschädigten, als auch seine angeblichen
Lehrmeister kennen gelernt hatte. So zog in
vielen Fällen ein einziges Opfer des Hexenglaubens
mehrere andere mit sich ins Unglück.
Wenn im Zeitalter der Reformation, eines
geistigen und nationalen Aufschwungs, dergleichen
Gesetze gegeben wurden, so wird man vom Jahr-
hundert des 30 jährigen Krieges nichts Besseres
erwarten.
Die sog. Reformationsordnnng von 1656**)
verfügte die Ausweisung der herumstreichenden
Heiden und Zigeuner, die „mit gottlosen, ärger-
lichen Dingen umbgehn, nemlich mit Zauberey,
Warsagerey. Dieberey und allerley betrüglichen
Stücken". Man betrachtete aber die Hexerei in
den Kreisen der Gesetzgeber noch lange nicht als
bloße Fingerfertigkeit und Betrügerei, sondern,
nahm sie gewaltig ernst. Das lehrt die Kirchen-
*) Hessische Landesordnungen I, 70. 74. 75.
**) Hessische Landesordnungen II, 412, § 5.
ordnung vom folgenden Jahre.*) Sie wies die
Aufsichtsbehörde an, Geistliche und Gemeinde-
älteste zu fragen, ob sich Zauberer, Wahrsager,
Kristallseher und dergl. im Psarrsprengel befänden.
Ebenso trug sie den Seelenhirten auf, die ihnen
anvertraute Herde von Hexenkünsten abzumahnen.
Zehn Jahre später**) erging ein neues Aus-
schreiben gegen die Zigeuner und deren Zauberei,
Wahrsagerei und Dieberei.
In denselben Bahnen bewegte sich der Gesetz-
geber der Kriegsartikel***), wenn er sagte:
„Zauberey soll mit dem Feuer gestrafft werden."
Erst das achtzehnte Jahrhundert brachte Wandel;
es ist auch in Bezug aus die Hexenfurcht die
Zeit der Aufklärung. Seine wärmende Sonne
taute das Eis des kalten und tückischen Aber-
glaubens auf. Aber nicht in stürmischem Fluge,
nur Schritt aus Schritt kam man weiter. Noch
lange fristete die Folter, die schlimmste Bundes-
genossin der Hexenprozesse, ihr Dasein. Die
Peinliche Gerichtsordnung von 1748 ff) erwähnt
die Zauberei mit keinem Worte mehr, führt aller-
dings auch die andern Verbrechen nicht der Reihe
nach an. Aber es ist schon ein Zugeständnis an
die neue Zeit, wenn die Marterung bei der Vor-
untersuchung gänzlich verboten wird, und wenn
bei Schwäche und Krankheit die Peinigung eines
Verbrechers nicht fortgesetzt werden darf. Bereits
im nächsten Jahre ging nian dann zur Knoten-
peitsche über für die beiden gelindesten Grade der
Folter.
Es war eine der ersten Regierungshandlungen
Wilhelms IX., des letzten Landgrafen und ersten
Kurfürsten von Hessen, daß er die Tortur beim
Gerichtsverfahren völlig abschaffte und bald daraus
auch die Anwendung von Stock- und Peitschen-
schlügen einschränkte, ffff)
*) 12. Juli 1657: Hessische Landesordnuugeu II, 533.
Kap. XIX, § 18; II, 551, § 9.
**) Am 30. September 1667 : Hessische Landesordnungen
II, 637.
***) Vom 12. Februar 1689: Hessische Landesordnungen
III, 336, Art. XX.
t) Hessische Landesordnungen IY, 973, 989, 1029.
ttj Erlasse vom 29. November 1785 und 23. März
1786: Hessische Landesordnungen VI, 10, 51.
Sonnentag.
Nach dem Leben von Valentin Traudì (Rauschenberg).
<^ln dem Leben jedes Menschen gibt es Tage^
cf aus welche ein ganz besonders heiteres Licht füllt,
das alles verklärt und selbst das Beschwerlichste
leicht und fröhlich gelingen läßt. Auch in die
Mühen eines Volksschullehrers huschen hie und da
Strahlen der Lebenssonne, manchmal sogar ganze
Lichtbündel und umspielen seine Arbeit mit jener
lustsörderitden Kraft, welche, wie aus unbekannten
Quellen stammend, ihn und seine Schüler lachend
forttragt und das Gelingen leicht macht. Solche
107
Tage sind meist die, an denen die Kleinen zum"
erstenmal in die „heiligen Hallen" treten und
Naturfrische, Mutterwitz, vorlaute Plappermäulchen
und fingerfertige Händchen mit hereinbringen. Und
macht da manches Käthchen oder Hanneschen von
der lieben Gvttesgabe „Dummheit" den ausgiebig-
sten und verschwenderigsten Gebrauch, der Sonnen- '
tag laßt sie wie ein weißes Wölkchen in der blauen
Lust verfliegen.
Für den alten Kantor Trabert war ein solcher
Sonnentag angebrochen. Erwartungsvoll stand der
granbärtige Recke in der freundlichen Schulstube
und durchflog mit seinen milden Angen die eben
eingetroffene Liste. Der Stadtdiener Hamel, ein
des Lesens kaum kundiges Meublement des kleinen
Ortes, das vor jeder Bekanntmachung einen Memorier-
kursus bei dem gestrengen Herrn Bürgermeister
durchmachen mußte, hatte sie soeben gebracht.
„Eine schöne Bescherung vom Herrn Borgemeister
und da wär' die Stammrolle der Gestellungs-
pflichtigen."
„Schön, Hamel! Immer militärisch."
„Wollen der Herr Kanter mal schnuppen?"
Und schon hatte der „Stadtsoldate" seine Birken-
dvse aus der Hosentasche unter der schwarzen Säbel-
scheide herausgenestelt, schlug klatschend daraus,
zog den Deckel ab und hielt sie dem Lehrer, den
vorgeschriebenen Instanzenweg erleichternd und
wesentlich abkürzend, dicht unter die Nase.
„Na, na! — Zur Gesundheit."
Und dann hatte er selbst ein ausreichendes I
Quantum den Pforten seiner rotglänzenden Riech- !
gruben zu pläsierlicher Unterhaltung übergeben,
sagte lachend: „Gute Berrichtnng, Herr Kanter.
— Mögt' die Bälg' net habe'." — —
Trabert studierte nun erst den Titel.
„Geburtsliste der Ostern 1902 fällig werdenden
Kinder der Gemeinde Ortenfels, Kreis Riedberg,
Regierungsbezirk Marienleben, enthaltend die in
der Zeit vom 1. April 1895 bis 1. Oktober 1896
geborenen Individuen, mit gleichzeitiger Bezeichnung
derjenigen derselben, welche bis dato ebendaselbst
gestorben sind. Königl. Preußisches Standesamt.
Kullert. — — K. H. dem Herrn Lehrer Trabert
zum amtlichen Gebrauch. Der Königl. Ortsschul-
inspektor Hassert."
Das war der Inhalt des ersten Blattes.
„Nun werde ick mir 'mal meine „Individuen"
ansehen. Diejenigen derselben, welche bis dato
gestorben sind, werde ich nicht aufnehmen", murmelte
Trabert schalkhaft vor sich hin und überflog die
Namen. Da er schon dreißig Jahre in Ortensels
amtierte und alle Familien bis aus die Knochen
kannte, wollte er sich einen kleinen Vorgeschmack
von der Arbeit bereiten, die ihm bevorstand. Seine
Augen leuchteten: es waren meist Kinder ans ge-
ordneten Verhältnissen und solche, die seinem Er-
ziehertalent alle Ehre machen würden ... Es
standen also viele Sonnentage bevor!
Ta klopfte es auch schon an.
„Guten Tag, Herr Kanter! Da bring ich Euch
den Konrad."
Der Schuster Daniel führte seinen ältesten Sproß
herein. Der war im besten Staat, sorgfältig ge-
waschen und mit steif verklebtem Haarschopf. Der
Lehrer gab ihm, das Täfelchen kleinsten Kalibers,
das der Knabe unter dem Arm hatte, lächelnd
musternd, die Hand.
„Konrad, wie spricht wer?"
,,'n Dag, Kanter!" sagte der Kleine laut.
„Das is 'n Heller, Herr Kanter. Iwerall weiß
er schont Bescheid", erklärte der Vater.
„Habt ihr zu Hanse eine Kuh, Konrad?" fragte
Trabert.
„Ne — zwei!"
„O Du Tausendsasa!" meinte der Lehrer. „Warst
Tn schon mit Deinem Vater in Marienleben?"
„Jo!"
„Nun, was giebt es da alle?"
„Tobbelte Würstercher!"
Der Schuster schüttelte sich vor Lachen. Trabert
aber fuhr fort: „Wer ist der oberste Mann im
Land?"
„Ter Gerichtsvollzieher!" gab der Kleine prompt
zurück.
Es war gut, daß nun alle die Kathrinchen und
Lischen und Peterchen und Ehristophelchen kamen,
sonst Hütte der Vater sicherlich eine „schlagende"
Einrede gemacht: denn er zitterte schon am ganzen
Körper.
Tie nnrnbigen Geister, welche sich scheinbar schon
recht gut unterhalten konnten, ließen kein ernstes
Wort mehr aufkommen, und der Lehrer hörte hier
hin und da hin. Ta hatte ein Mädchen „schwache
Nerven" — die Mutter wollte damit eine zarte
Umschreibung dessen geben, was man sonst mit
Beschränktheit bezeichnet, — ein anderes Mädchen
hörte schlecht, dort sollte ein Peter recht streng
gehalten werden, ein Hanneschen alle Stunde hin-
unter kommen u. bergt, in. Der alte Trabert
kannte das ja; er wußte, daß jede Mutter das
stärkste, klügste und bravste Kind brachte, daß er
ja eigentlich ein Hüter lauter Engel sein würde. . .
„Der Müllern ihr Jakob soll ei' gescheit' Bürsch-
che' sei'!" rannte die dicke Sattlerssran der Nach-
barin zu. Tie sah das als eine Anzüglichkeit aus
ihren Goldjungen an, der so furchtbar schlecht
sprechen konnte und bemerkte spitz: „Aber wie
schmal und schlecht sieht er aus. Wie 'n Leine-
webersbub' !"
108
Tie Müllern mußte das hören und bemerkte
nun ihrerseits: „Herr Kanter, unser Jakob is ’n
Kapp; aber auch '11 sorscher Bengel. Gestern noch
hat er drei — ich glaub', da die waren auch dä-
bei — durchgestammt." Und sie hatte ans den
Sattlersjnngen und seinen Gespielen gezeigt . . .
Endlich hatte Trabert die kleine Gesellschaft auf
seinen Bänken untergebracht. Da saßen sie denn
und verglichen ihre Griffel nnd ihre Tafeln. Letztere
waren von den Eltern und Paten mit kluger Bor-
sicht meist so gewählt, daß sich gar keine Unter-
schiede ergaben: — sie hatten alle das kleinste
Maß. Und sie erzählten sich von den jungen
Gänsen und Lämmern nnd rupften sich an den
Ohren und die liebe Sonne strich durch die blonden
und braunen und roten Haare nnd weckte lachende
Funken in den sorglosen Augen und schien ihnen
zuzuraunen, es wäre alle Tage hier so lustig
„Heut hat unsere Scheck ei' Kalb' krigt, Kanter!"
tonte es wieder einmal laut durch das Getümmel.
„Ach, — Ihr mit Eurem Scheck. — Der zieht
ja net", wies ein anderer den vorlauten Kameraden
zurecht.
„Ihr ackert ja mit Schasi, — hat mei' Bater gesagt."
„Wart, wann Tu aus unser Miste kommst."
Immer noch standen die Mütter und Bäter da
und lauschten den Weisheitssprüchen ihrer Kinder.
Die schien das sehr zu freuen; denn gleich fing
wieder eines an: „Kanter, mein Vater hat daheim
ganz viele Dahler."
„Aber meiner hat so große Dahler!" Der
Knirps beschrieb einen Kreis wie ein Wagenrad.
„Glaub's net, Kanter. Ich hab's gesehe', es
sind gar fei’ Dahler, es sind lauter Heller."
— Ter Lehrer hielt nun seine gewohnte An-
sprache an die Eltern und bat um ihre Unterstützung,
da Haus nnd Schule Hand in Hand gehen müßten.
Er gab gute Lehren, Fingerzeige und Anordnungen
und machte ihnen das Herz weich.
„Meiner ist so ein guter Kerl", sagte dann des
Kuhhirten Schwiegertochter. „Hannes, bet ’mal."
Und der Hannes stand schon aus der Bank.
„Komm Jes uns Gast, säg was uns beschwert
has. Ame. Mutter, mei' Leffel!"
Tie Mutter wurde feuerrot im Gesicht, und der
gute Herr Kantor benutzte die nach dem Gelächter
eingetretene Pause, um mit Anstand und Würde
die Inhaber der „Individuen" — die der „bis
dato daselbst gestorbenen" abgerechnet — hinaus-
zukomplimentieren.
„Was wollt ihr nun am liebsten?" wandte' er
sich an die Neulinge.
„Ein Weck und heim!" ries es durcheinander.
„Nachher! — Soll ich Euch was an die Tafel
malen?"
„Kanter, der Schorsch hat mich geroppt."
Er hörte nicht daraus.
„Einen Hasen? — Was?"
„Ja, ja!"
Der Hase entstand.
„Kanter, der hat ja nur ei’ Aug’!"
„Das andere ist ans der anderen Seite!" er-
klärte Trabert.
„Dann dreh' 'mal die Tafel ’rum!"
„Es is ganz richtig. — Mei Vater schreibt
sie auch so", eiferte ein anderer.
„Nun wollen wir ihn schießen! — Was?" fragte
der Lehrer.
„Bist — baff — bumm!" ging es nun los.
Einer warf einen Ball an die Tafel. Das war
nun wieder nicht recht und ein kleiner Junge stand
auf und zog einen Bindfaden aus der Hosentasche.
„Kanter, Du hast 'n Stock. Net? — Da, mach'
’n Flitzbvge',-dann kannst ihn schieße’!"
Und es wurde auch ein Flitzebogen gemacht, nnd
der alte Trabert zeigte ihnen nachher Bilder und
spielte aus der Geige und sang ihnen Liedchen vor
und fragte dann wieder allerlei und gab den kleinen
Mäulern mit weisem Bedacht stets etwas zu plappern.
Die Sonnenstäubchen schwebten aus und nieder
und drunten im Garten sangen die Finken und
lockten die Stare und die Kirschknospen schimmerten
schon weiß zum Fenster hinein. Es war eigentlich
schade, die kleinen Menschenblüten ans den Bänken
festzuhalten! Und dem alten Trabert wurde es
mitten in dem Sonnenschein wieder einmal schwer
um's Herz. Jetzt, wo alles draußen dem Frühling
entgegenjubelte, steckte man die lustigen Seelchen
zu ihm in die vier öden Wände nnd er mußte sie an
Griffel und Schiefertafel kommandieren und die
Händchen, die lieber Blumen gepflückt hätten, zum
regelmäßigen „aus" und „ab" anhalten und die
Augen, die so gerne nach Schneckenhäusern und
Schmetterlingen und Vogelnestern spähten, an die
„schwarzen Teufel", die Buchstaben bannen.
„Kinder!" rief er plötzlich, „Kinder, kommt,
wir wollen in den Garten gehen!"
Aber da stürzte auch schon die Bande hinunter,
daß die anderen beiden Herrn Kollegen ihre Köpfe
aus den Thüren steckten.
Und als Trabert in den Garten kam, rüttelten
sie schon an allen Bäumen und rochen an allen
Blumen und untersuchten alle Winkel. Es war
ein Sonnentag.
Die bunte Schar hüpfte und tanzte um den
ältlichen Mann, als sei er ihr Bater.
„Hol’ die Musik, Kanter. — Ach, hol' sie doch!"
Der Kreis war schon gebildet um ihn.
„In meines Vaters Garten . . .
Da stehn viel schene Blimelein,"
109
klang cs gleich daraüf. — Das konnten sic alle!
Rur die Jungen wollten nicht so recht mitthun. Tic
äugten an der Hecke entlang nach Nestern und Käsern...
„Jetzt die Musik!"
£>, sie hatten es nicht vergessen und zupften ihn
am Rock und bettelten . . .
Trabert ging.
Als er mit der Geige wiederkam, mußte er ge-
wahr werden, daß auch ans den Sonnentag eine
Nacht folgt. Ter größte Teil seiner Kleinen war
durch eine Lücke in den Nachbargarten geschlüpft
und hatte sich über die Tulpen- und Hyazinthen-
beete hergemacht. Das konnte schon werden; denn
das sorgfältig gepflegte Besitztum gehörte dem Baron
von Konitz. einem geborenen Feind der Herrn von
der Schule, die ihn, den Patron, mit Hilfe der
einsichtigen Regierung gezwungen hatten, für an-
ständige Schnlränme zu sorgen. Und nun hörte
er auch schon den Herrn Nachbar schelten!
„Ihr Gesindel, Ihr Diebsvolk!"
Schreiend klemmte sich die kleine Gesellschaft
durch die Hecke, froh, daß sie den Lehrer wieder-
sahen, ans den nun mit den duftenden Blumen
aus den Händen der Kinder arge Scheltwortc ans
dem Munde des Herrn von Konitz regneten.
„Das nennt sich nun eine Bolkserziehung!
Aufreizung zu llnbotmäßigkeit! — Wcrd's Ihnen
einbrocken."
. . . Eine Wolle hatte sich vor die Sonne ge-
schobeu .. .
■<4-----
€am Froijohr.
lGcdicht in Hinterländer Mundart.)
Wann dr Schnäi') verschmelzt eau d's Ais vergüt"),
Kimmt d's Froijohr eau d's Laad -9 ;
Wann vm groine Ree4) bloihe die Beijnn 5),
Freg' ich'S Bärbche im sei Haad.
Wann d'r Guggug roist eau die Umilsch schleet
Ean dem schiene, groine Waald,
Hnit ich'S berle hie Svundvagnochmeddoag
Bei düi grüße Ääch b'staald?)
Bu däi grüße Ääch met d'm Epheu stitt.
Will ich ihm g'stich ea» sah:
„Daß ich he's, nor he's^), fier mei Lcawe gern
Romme will zon meicr Fra."
Tert däi Ääch soll sei met d'm Ephen dro
's Beld 0) d'r Läib ean oiser Brost
Bärbche, deank dv dro, wann ich srege Dich:
„Sah, mei Läibche,'hoste Lost 10)?"
Nanzhausen. i>ctnrtdi Naumann.
h Schnee; a) Eis zergeht; '9 Land; *) grüner Rain;
") blühen die Veilchen; ") Ainfcl schlägt; h bei die große
Eiche bestellt; H) cs, nur cs; °) das Bild; hast du Lust.
-^»-<4--
Aus Behncit und Frenrde.
universitütsna ch r i ch t e u. Professor Ur.
Korne mann in Gießen hat einen Ruf an die
Universität Tübingen angenommen. — Tie thev- 1
logische Fakultät in Greifswald hat dem General-
superintendenten Werner in Kassel die Würde '
eines Doktors der Theologie bonoris causa verliehen.
Freifrau von Scheitck zu Schweinsberg
und die wirtschaftliche Frauenschule zu
Ofleiden. Am 11. März d. I. starb die Mit- j
begründerin und Leiterin der wirtschaftlichen Frauen- !
schule zu Nieder-Ofleiden in Oberhessen, Tvrette
Freifrau Schenck zu Schweinsberg. Sie
war eine der Ersten, die den praktischen Gedanken, !
das weibliche Geschlecht, insbesondere die Töchter
höherer Stände, durch wirtschaftliche Ausbildung
für das Leben tüchtig zu machen, in die That
umsetzte, indem sie ans ihrer eigenen Besitzung zu
Nieder-Ofleiden eine wirtschaftliche Frauenschnle ins
Leben rief, die geradezu mustergültig genannt
werden kann.
Freifrau Dorette Schenck zu Schweinsberg war-
um 29. Dezember 1842 zu Marburg a. d. Lahn
geboren. Sie wuchs als einziges Kind aus der
Ehe des Freiherrn Karl Schenck zu Schweinsberg
mit Luwinka, geb. von Bvrcke, aus. Da der
Vater, ehemals kurhessischer Offizier, schon 1842
seinen Abschied nahm, verlebte sie den größten Teil
ihrer Kindheit ans dem Lande, dem elterlichen
Allodialgute zu Nieder-Ofleiden. Unter der Leitung
ihrer Eltern wurde hier der Grund gelegt zu ihren
ausgezeichneten Eigenschaften, deren hervorragendste,
Fleiß und Pflichttreue, gepaart mit der wärmsten,
werkthätigen Menschenliebe, die Richtschnur für
ihr ganzes Leben geworden sind. Längere Reisen
durch ganz Deutschland, die Schweiz und Italien,
die sie als junges Mädchen mit ihren Eltern machte,
weiteten ihren Blick, und einige Winter in Darm-
110
stabt, ant Hose ber cblen littb kunstsinnigen Groß- 1
Herzogin Mathilbe, lehrten sie bie Freuden ber
großen Welt kennen, immer kehrte sie jedoch mit
Entzücken im Sommer ans bas Lanb zurück. Im
November 1864 vermählte sie sich mit einem ent-
fernten Verwanbten, bem Freiherrn Ferbinanb
Schenck zu Schweinsberg, Leutnant in ber glänzenben
Truppe ber kurhessischen Garbes bu Corps. Nur
wenige ungetrübt glückliche Jahre sinb beut Paar
dcschicben gewesen, ein schweres Herzleiben nötigte
ben Gatten, schon im Jahre 1868 seinen Abschieb
zu nehmen unb nach Nieber- Ofleiden zu ziehen.
Bon ba an kannte Freifrau Schenck zu Schweins-
berg nur eine Samariterthätigkeit, bie sie am
langjährigen Krankenlager ihrer Mutter unb ihres
Gatten unausgesetzt ausübte. Ein Lichtblick war
bie Geburt einer Tochter, bie mich ihr einziges
Kinb gebkieben ist. 1882 würbe sie Witwe nnb
lebte jetzt nur noch ihrem Kinbe nnb ihrem alten
Baker, ber ihr 1885 burch ben Tob entrissen
würbe. Nach ber Verheiratung ihrer Tochter wanbte
sie sich ber sozialen Thätigkeit zu; bie erste An-
regung zur Grünbung einer wirtschaftlichen Frauen-
schule erhielt sie im Jahr 1895 auf einem Frauentag
in Kassel. Ihren rastlosen Bestrebungen, ihrer
nnermüblichen Thatkraft, ihrem großen Organi-
sationstalent nnb ihrer wahren Menschenliebe ist
es zu verbauten, baß ihre Anstalt zu schöner Blüte
gelangt ist unb reiche Erfolge auszuweisen hat. Tie
Schülerinnen erhalten eine grünbliche praktische unb
theoretische Ausbilbung im Kochen unb in allen häus-
lichen Arbeiten für Stabt unb Laub, auch ist eine
Abteilung für Seminaristinnen angeschlossen zur
Ausbilbung von hauswirtschastlichen Lehrerinnen an
Hanshaltungsschulen, wie von Leiterinnen großer
länblicher unb stäbtischer Betriebe. Als Lehrmittel
bient eine Haushaltungsschule für Bauernmäbchen
mit einer Abteilung zur Heranbildung von stäbtischem
Dienstpersonal nnb eine Kleinkinderschule. Ein großer
Garten mit einer umfangreichen Baumschule gibt
ben Schülerinnen Gelegenheit, mit allen Garten-
arbeiten nnb mit ber Bienenzucht vertraut zu werben.
Eine Molkerei unb ein Geflügelhos bieten ebenfalls
ein nützliches unb auregeubes Übuugsfelb.
Mitten aus diesen täglich sich vervollkommuenben
blüheuben Schöpfungen nahm ber Tob biejenige,
bie sie so opsersrenbig ins Leben gerufen hat unb
bie mit ber bewunbernswertesten Energie noch in
ben Tagen bes schwersten Leibens ihr ganzes
Denken unb Fühlen^aus bie Förberuug ihrer An-
stalten richtete. Ihr Lebenswerk, bas unter ber
Leitung von Frau von Uthmauu, geb. von Baum-
bach, burch bewährte Lehrkräfte in ihrem Geiste weiter j
geführt wirb, sichert ihr weit über bie Grenzen ihres j
engeren Baterlanbes hinaus ein gesegnetes Aubenkeu. !
S t ä b t e b u n b t h e a t e r. In ber am 10. April
unter Vorsitz bes Herrn Professors Dr.Kreß» er statt-
gefnnbenen Versammlung ber Kasseler Schriftsteller-
vereinigung „Freie Feber" würbe von Herrn
von B o b e n h a u s e n bie Anregung zur Grünbung
eines hessischen Stäbtebunbtheakers gegeben, wie
ein solches in Oberschlesien bereits besteht. Nach
einer längeren Erörterung, in welcher bie einschlägigen
Verhältnisse von verschiebenen Seiten besprochen
würben, gelangte man zu ber Überzeugung, baß
eine solche Einrichtung, burch welche einer Reihe
von Stäbten vermittels einer gut eingespielten
Gesellschaft gute Stücke zu billigen Abonnements-
nnb Kassenpreisen geboten werden könnten, auch
für Hessen zu ermöglichen unb beshalb bie Ver-
wirklichung bicses Planes anzustreben sei.
B » h n enjubilä u nt. Am 1. März b. I. beging
am beutschen Theater zu Clcvelaub in Norbamerika
unser hessischer Lanbsmaun Viktor Müller-
Fabricius sein 25jähriges Schauspieler-Jubiläum.
Er stellte ben „Falstaff" in bem von ihm selbst für
bie Bühne eingerichteten Shakespeareschen Lustspiel
„Tie lustigen Weiber von Windsor" bar nnb
würbe von bem Publikum mit manuigsacheu Ehrungen
bebacht. Viktor Müller hatte sich in seiner Jngcnb
unter ber Leitung seines Großvaters, bes Professors
an ber Kasseler Akabemie ber dilbenben Künste
Friebrich Müller, ber Malerkunst zugewanbt, seit
1877 sich aber ber Bühne gewibmet.
To bes fälle. Am 1. April starb zu Warm-
brunn Prinz Friebrich Wilhelm von Arbeck,
geboren am 2. November 1858 zu Offenbach als
ältester Sohn bes Prinzen Wilhelm Friebrich
Ernst von Hessen-Philippsthal-Barchseld
unb ber Prinzessin Marie von Hanau,
jüngsten Tochter bes Kurfürsten Friebrich Wilhelm
von Hesse». Nachdem diese Ehe im Jahre 1872
geschieben worben war, verlieh Kaiser Wilhelm I.
ber Prinzessin Marie und ihren Kindern den Namen
Arbeck. Prinz Friebrich von Arbeck war seit 1890
in kinderloser Ehe vermählt mit Anna Hollings-
worth Price. — In Kassel verschieb am 2. April
ber Kustos bes Naturalien - Museums Professor
August Lenz. Derselbe war am 15. April 1828
in Eisenach geboren, seit seinem zwanzigsten Jahre
aber in Kassel ansässig, wo er sich 1853 auch mit
einer Kasselanerin verheiratete. Zuerst als Lehrer
an verschiedenen Privatschulen thätig, unterrichtete
er auch die jüngeren Kinder des Kurfürsten und
erhielt sodann 1859 die frei geworbene Stelle des
Inspektors am Museum Fridericianum. 1888
wurde ihm ber Titel „Kustos" und 1892 bas
111
Prädikat „Professor" verliehen. Nicht allein den
seiner Fürsorge anvertrauten Sammlungen, die er
mit wahrhaft väterlicher Liebe pflegte, auch der
hessischen Geschichte war er eifrig zugethan. Dem
Vorstand des hessischen Geschichtsvereins gehörte
er weit über ein Menschenalter an, und als er die
beschwerlichen Geschäfte des Kassierers, die er über-
nommen, seiner vorgerückten Jahre wegen 1895
niederlegte, ernannte ihn der Verein zu seinem Ehren-
mitgliede. Die von ihm völlig neugeschaffene ethno-
logische Abteilung des Museums sichert seinem Namen
ein bleibendes Andenken. — Am 2. April starb ferner
der Königl. Polizeirat a. D. Emil T h o m a s z i k
in Schmalkalden. Geboren am 23. April 1827
zu Schwarzstein, Kreis Rastenburg in Ostpreußen,
bekleidete derselbe seit 1. Oktober 1869 in Kassel
die Stelle des Polizeirats bis zu seiner vor einigen
Jahren erfolgten Pensionierung. Später siedelte
er nach Wansried und von da nach Schmalkalden
über. Er war ein großer Musikfreund und ein
Hauptförderer der Luisenstiftung. Zn ihrem Vor-
teil veröffentlichte er „Sprichwörter und Lebensregeln
nebst kleinen Erzählungen und Anekdoten". Ein
weiteres Schriftchen von ihm erschien 1895 pseudo-
nym und schilderte den Aufenthalt Napoleons III. auf
Wilhelmshöhe. Ein Bruder des Dahingeschiedenen
ist der in Weimar lebende Opernsänger Hermann 1
Thomaszik, als tiefer Baß einst ein sehr an-
gesehener Bühnenkünstler, der in den fünfziger Jahren
auch am kurfürstlichen Hoftheater in Kassel engagiert
war. — Am 4. April starb zu Leipzig der Geheime
Justizrat Gottfried Ludwig Fenn er, geboren zu
Hoof bei Kassel am 2. Dezember 1829 als Sohn
des dortigen Pfarrers. Er studierte in Marburg
und Berlin Jura und war später als Obergerichts-
assessor in Kassel thätig. Von 1867 bis 1879
übte er in Berlin beim Oberappellationsgericht
und später beim Obertribunal die Rechtsamvalts-
praris aus. Während der letzten Jahre dieser
Berliner Zeit vertrat er im Reichstage als Mit-
glied der nationalliberalen Partei den Wahlkreis
Marburg-Frankenberg-Vöhl. Seit dem 1. Oktober
1879 gehörte er der Rechtsanwaltschaft beim
Reichsgerichte an, bis er wenige Tage vor seinem
Tode ausschied. — In Fulda verblich am 7. April
im 73. Lebensjahre der Domdechant Philipp
Engel. Als Sohn eines Schneidermeisters in
Fulda geboren, erhielt er 1853 die Priesterweihe
und stieg von einer geistlichen Würde zur andern
empor, bis er 1898 Bistumsverweser wurde. Da
er seines Alters wegen die Wahl zum Bischof von
Fulda, die ihm bevorstand, nicht annehmen zu
dürfen glaubte, wurde er zum apostolischen Proto-
Notar ernannt.
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Hessische Zeitschriftenschau. *>
Beilage ;ur Allgem. Zeitung (München), 1902, Nr. 58.
Dr. Karl F uchs: Max Büdinger f.
Beilage nun Jahresbericht des König!. Gymnasiums
?u Marburg, Schuljahr 1901/2, Bd. 6X1X.
Eniil Becker: Die Herreil von Hanau als Land-
vögte iil der Wetterau.
Blätter für Münzfreunde(herausgeg. von Dr. H.Buchenau).
1902, Bd. XXXVII, Nr. 2.
Paul Weinmeister: Die Achtel-Thaler von
Hessen-Kassel aus dem Jahre 1723.
Brr Burgwart, 1901, III. Jahrg. Nr. 2.
F. Hoffman»: Die mittelalterliche Befestigung
der Stadt Fulda (Schluß).
Deutsche Heimat. Blätter für Kunst und Volkstum.
V. Jahrg. Heft 21.
Dr. H u g v G bring: Geschichten aus dem Werra-
thal (Enthält eine Würdigung von L. Gubalkes
„Bilsteiuer".)
Fuldaer Geschichtsblütter (herausgeg. vom Fuldaer Ge-
schichlsvereiu), I. Jahrg. 1902, Heft 1—3.
Dr. I. Kartels: Die Wiedertäuferbeweguug im
ehemaligen Hochstift Fulda.
Dr. An ton i: Fulda im Bauernkriege.
I. Kartels und C. Scherer: Verzeichnis der
Fuldaischeu Gesamtliteratur.
Ferner: Misrellen, Bücherbesprechiiugeu, Nekrolog.
*) Vergl. vor. Jahrg. S. 359.
Hessische Blätter für Volkskunde (herausgeg. im Auf-
träge der Vereinigung für hessische Volkskunde von
Adolf Strack), 1902, Bd. I, Heft 1.
H e r in a u u 11 s e n e r: Besprechung.
Hermau Haupt: Aus Karl Bernbecks Samm-
lungen zur oberhessischen Volkskunde.
Albrecht Dieterich: Himmelsbriefe.
Paul Drews: Religiöse Volkskunde.
Adolf Strack: Hessische Vierzeiler.
Ferner: Bücherschau, Geschäftliche Mitteilungen rc.
Die Kultur. Zeitschrift für Wissenschaft, Literatur und
Kunst. (Wien) 1902, III. Jahrg. Nr. 4.
Richard v. Kralik: Adam Trabert.
Litterarische Marte. Monatsschrift für schöne Litteratur
(herausgegeben von der deutschen Litteraturgesellschaft),
111. Jahrg. Heft 7.
Franz Ei che rt- Wien: Adam Trabert als Lyriker
(Zu seinem 80. Geburtsfeste).
Monatsblätter für deutsche Litteratur (herausgeg. von
Albert Warneke), VI. Jahrg. Heft 5.
Stromberger: Ein hessisches Dichterbuch und
Studien zur hessischen Litteraturgeschichte.
(Ouartalsblätter des Histor. Vereins für das Groß-
her-ogtum Hessen. Neue Folge. 1901, III. Baud,
Nr. 1—3.
Ino. Dr. Wilhelm Diehl: Zur Geschichte des
Darmstädter Siugchores.
112
Eduard Becker: Ei» »»gedruckter Brief Johann
Reuchlins.
Paul Helmke: Aufdeckung eines römischen
Brunnens in Friedberg.
Dr. August Roesch e n: Reliquien- und Gräber-
fund in der Kirche zu Hartershausen a. d. Fulda.
Ferner: Vereinsberichte, historische und archäologische
Mitteilungen, Litteratur, Hessische Chronik.
Ilie (Wien) 1902, Nr. 388.
Ellen K eh: Malvida v. Meysenbug.
Zeitschrift für deutsches Altertum therausgeg. von
Schröder und Roethe), XXV. Bd. (1901), Heft 4.
Iusti: Mütze und Verwandtes. (Enthält einiges
Hessische.)
Tie Herren Herausgeber werden freundlichst gebeten, die für
diese Rubrik bisher ausgetauschten Zeitschriften auch ferner Herrn
l>r. Wilhelm Tchoos in Marburg, Deutschhausstratze 32, über-
senden zu wollen.
Personalien.
Verliehen: dem seitherigen Leiter der Versuchsstation
in Marburg Professor Dr. T h. Dietrich der Charakter
als Geheimer Rcgierungsrat; dein Regierungs- und Medi-
zinalrat Dr. Siedamgrotzkh in Kassel der Charakter
als Geheimer Medizinalrat; dem Oberlandesgerichtsrat
Geh. Justizrat Re imerd es in Kassel aus Anlaß seiiles
Übertritts in deil Ruhestand der Rote Adlerorden 3. Klasse
mit der Schleife; deni Geheimen Medizinalrat Professor
Dr. Gasser in Marburg der Kronenordeu 3. Klasse mit
der Schleife; dem Regierungs- lind Geheimen Baurat Wa l d-
hausen zu Kassel und dem Kreisbauinst,ektvr Zölffel
der Kronenorden 3. Klasse; dem General der Kavallerie z. D.
von Heßberg zu Betzigerode die Rote Kreuzmedaille
3. Klasse; dem Bürgermeister G a e r t n e r zu Rinteln,
dem Stadtkümmerer a. D. Müller zu Marburg, dem
Regierungssekretär Wimmel zu Kassel die China-Denk-
münze aus Stahl.
Ernannt: Negierungsrat Wißmanu zu Münster
zum Oberregierungsrat bei der Generalkommission zu
Kassel; Landgerichtsrat Fuchs in Kassel zum Oberlandes-
gerichtsrat daselbst; Oberförster Hart mann zu Kassel
zum Regierungs- und Forstrat; Civilingenieur Regierungs-
baumeister Rudolf Schm ick zu Frankfurt a. M. zum
vortragenden Rat bei der Abteilung für Bauwesen des Grvß-
herzogl. Hessischen Ministeriums der Finanzen in Darm-
stadt mit dem Titel „Oberbaurat"; Negierungsbaumeister
Irin er zum Königl. Kreisbauiuspektor in Kirchhain;
Pfarrer Cornelius zu Thurnhosbach zum Pfarrer in
Niedergrenzebach ; Pfarrer H o h m a n n zu Waldkappel
zum Pfarrer in Iba; Pfarrverweser Hochhuth zu
Gudensberg zum Pfarrer in Remsfeld; Oberlehrer Voll-
h a f e zu Kassel und Oberlehrer Pohl zu Marburg zu
Oberlehrern des Kadettencorps; Postkassierer Herding
in Duisburg zum Pvstdirektor in Wabern; die Postkassierer
Korff und Penning in Kassel bei dem Postanlt l in
Kassel. Wilke in Fulda bei dem Postamt in Koblenz
und der Ober-Postsekretär Lenz in St. Johann bei dem
Postamt i» Hanau, ferner die Ober-Postdirektionssekretäre
Cu uze in Braunschweig bei dem Postamt in Fulda,
Kind in Kassel bei dem Postamt in Torgau. Ohlhorst
in Kassel bei dem Postamt in Quedlinburg, Schweiger
in Kassel bei dem Postamt in Lüneburg zu Postinspektvren;
der Ober-Postdirektionssekretär Wolf zu Düsseldorf zum
Telegrapheninspektor bei dein Telegraphenamt I in Kassel.
Verseht: Major und Eisenbahnlinienkommissar Breit-
h a u p t zu Kassel als Bataillonskommandeur in das Juf.-
Regt. Generalfeldmarschall Prinz Friedrich Karl von
Preußen (8. Brandenburg) Nr. 64; Negierungsrat Loewe
von Kattowitz nach Kassel unter Verleihung der Stelle
eines Eisenbahndirektionsmitgliedes.
Übertragen: dem Regierungs- und Forstrat Swart
zu Arnsberg die Stelle eines Oberforstmeisters und Ab-
teilnngsmitdirigenten mit dem Range der Oberregierungsräte
an der Königlichen Regierung zu Kassel; dem seitherigen
Garnisonpfarrer Wohlfahrt in Mainz die drittePfarr- >
stelle an der Marienkirche zu Hanau; dem Postinspektor I
i Mülle nberg aus Jena eine Hilfsreferentenstelle bei
! der Oberpostdirektion in Kassel.
In den Ruhestand getreten: Oberforstmeister S ch w a r z.
Geheimer Negierungsrat Callenberg, Katasterinspektor
Steuerrat G e h r m a n u . Regiernngssekretär K i r ch »er.
sämtlich in Kassel; Hauptsteueramts-Assistent Siebert
in Frankfurt a. Al. unter Verleihung des Titels „Ober-
steuerkontroleur".
Entlassen aus dein. Justizdienste: der Referendar
Stolzenberg behufs Übertritts zur Polizeiverwaltung,
der Referendar Adolf von und zu Gilsa behufs
Übertritts zur allgemeinen Staatsverwaltung.
Geboren: ein Sohn: Fabrikant Karl Diemar und
Frau Luise, geb. Kropf (Agathof. 3. April); Kauf-
mann Wilhelm Dempcwolf und Frau Charlotte,
geb. Din gl er (Kassel. 4. April); Oberlehrer H eh d eu-
re ich und Frau (Wahlershausen, 5. April); Domünen-
pächter Hermann Platz und Frau. geb. Krause
(Münchehof, 7. April); eine Tochter: Kaufmann Hans
Wild und Frau Marie, geb. Koch (Kassel, 10. April).
Verlobt: K a r l S ch r ö d e r mit Fräulein M i n n a
B a d e n h a u s e n (Kassel, Ostern).
Gestorben: verwittwete Frau Oberbürgermeister Na-
talie Rühl. geb. Weigel, aus Hanau, 78 Jahre alt
(Arolsen, 26. März); Weinhändler Georg Schäfer,
51 Jahre alt (Kassel, 28. März); Pharmazeut Otto
Hannemann, 20 Jahre alt (Kassel, 29. März); Prinz
Friedrich von Ardeck, 43 Jahre alt (Warmbrnnn,
1. April); Königl. Kustos und Vorstand des Naturalien-
Museums Professor A u g u st Lenz, 73 Jahre alt (Kassel,
2. April); Königl. Polizeirat a. D. Emil Thomaszik,
74 Jahre alt (Schmalkalden. 2. April); Obersteuerkontrvleur
Louis Bierau (Frankfurt a. M.. 2. April); Fra»
Charlotte Kersting, geb. Gleim, 79 Jahre alt (Kassel,
4. April); Fabrikant Konrad Scheller, (Kassel,
4. April); Frau Sanitütsrat Auguste Limberger,
geb. Lederer (Zierenberg, 4. April); früherer Rechts-
anwalt beim Reichsgericht Geheimer Justizrat Gottfried
Ludwig Fenn er, 72 Jahre alt (Leipzig, 5. April);
Maschinenfabrikant Heinrich Schür mann, (Betten-
hausen, 6. April); Frau Amtsgerichtsrat Karoline
Scheffer, geb. Aböe, 56 Jahre alt (Efchwege, 6. April):
Domdechant Philipp Engel, 72 Jahre alt (Fulda,
7. April); Königl. Oberförster Krause (Fritzlar, 9. April);
Privatmann Theod. Ferd. Lambrecht, 68 Jahre alt
(Bettenhausen, 11.April); Pfarrern. Metropolitan Wilhelm
I mman u e l V i lm a r, 61 Jahre alt (Melsungen. 12. April).
Briefkasten.
W. B. in Boppard. Zu den in Nr. 7 des „Hessen-
land" veröffentlichten biographischen Notizen über den
t Pfarrer K. E. Fürer sei nach den von Ihnen freundlichst
gegebenen Mitteilungen nachgetragen, daß derselbe seit
1856 an einer Privat-Erziehungsanstalt und später an
der Realschule in Hanau als Lehrer thätig war, 1859
Pfarrer in Cronenberg bei Elberfeld wurde und als Pfarrer
an der Brüderkirche zu Kassel erst seit 1868 wirkte.
Für die Redaktion verantwortlich: W. Bennecke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.
M 9.
XVI. Jahrgang. . Kassel. 1. Mai 1902.
Im inaimotid toar’s.
Im Maimond Ivar's. Der Abendstern
Berührte schon den Bimmelsrand;
Da faßen wir, dein Dorfe fern,
Am Waldessäume Band in Band.
Rein Vöglein regt sich mehr iin Best
Und fliegt geschäftig ein und ans;
Und kaum zu flüstern wagt der West,
Als wär' der Wald ein Gotteshaus.
Zwei Menschenkinder, mäuschenstill,
Lin einzig Dasein ich und Du;
Die Seele, die zur Seele will,
Sie braucht ja nie ein Wort dazu.
Dein Angesicht im Mondenstrahl,
wie lächelt mir's fo fromm, fo fuß —
Zerbrich nicht, Bcrz! Ich war einmal
Im längst verlornen Paradies.
Wien. A. Cr»ibert.
Rach dem Kampf.
So löschet denn die letzten Lichter aus!
Die Bacht regt ernst und still zum Sinnen an,
Und die Gedanken schweifen weit hinaus,
Weil das Geräusch des Tages abgethan.
Ich möchte Einkehr halten, kampfbefreit!
Sei stark, mein Berz, wenn jäh ein Sturmwind weht
Bcrüber aus der schweren, — schweren Zeit,
Die grauenvoll noch immer vor mir steht.
Die Lichter aus! Gottlob, es ist vorbei; —
was zitterst du, mein pcrz, noch ohne Buh?
Ich fühle mich fo frei, unendlich frei!
Und schließ' beseligt meine Augen zu. —
So löschet denn die letzten Lichter aus!
Laßt mich allein, — der Tag ist abgethan, — —
Vor einem kleinen, ewig stillen Baus
Bält meine wandermüde Seele an. —
München. fiustau Adolf Müller.
Ruhe.
Bcrz, willst du schlafen gehn?
Den langen Schlaf, durch keinen Traum gestört,
Und wo die Ewigkeit dir ganz gehört, — —
Berz, willst du schlafen gehn?
Aug', willst du schließen dich?
Und keinen Sonnenstrahl mehr saugen ein, —
Für immer soll dein Lid geschlossen sein, —
Aug', willst dn schließen dich?
Mund, willst du werden stumm?
Mit keinem Wort erleichtern mehr die t>)nal, —
Den Schmerz hinauszuschrei'n zum letztenmal, —
Mund, willst du werden stumm?
Still, — nicht so lang gefragt, —
Mir wird so wohl, — ich glaub', sie schlafen schon,
Rein Iammerlaut nnd keinen Rlageton,-----------
Still, — nicht so lang gefragt. —
München. 6li5t.lv Adolf Müller.
£
114
«««««««
Aus Öen Sammlungen des Hanauer Geschichtsvereins.
Von Dr. F. Ouillinq.
3n der ersten Oktoberwoche 1901 sind die Samm-
lungen des Hanauer Geschichtsvereins
ans einem wenig geeigneten Parterre-Raume des
Regierungsgebäudes in die freundlichen Säle des
alten Rathauses umgezogen und damit in ein
neues Stadium ihrer Entwicklung getreten. Nicht
nur äußerlich. Der Umzug hat zugleich Ver-
anlassung gegeben, ein einheitliches Inventar
anzulegen, die älteren Fundberichte, Akten und
Protokolle nach dem neuen System umzuarbeiten
und bei der Aufstellung der Gegenstände nicht
mehr typologische und ästhetische, sondern lediglich
historische Prinzipien entscheiden zu lassen. Von
dem Vorstande des Vereins zu diesen Arbeiten
zugezogen, hatte und habe ich Gelegenheit, mich
mit dem Bestände der bisher nicht genügend be-
kannten Sammlungen vertrant zu machen. Der
vorliegende kleine Aussatz beschäftigt sich mit zwei
Einzelgegenständen daraus; zwei später folgende
umfangreichere Abhandlungen werden sich mit den
Gräbern der römischen Begräbnisstätte bei Rückingen
und mit den vorrömischen Funden des Museums
besassen.
Die Rückinger Gräber haben zwar schon in
einer vortrefflichen Publikation*) des Geschichts-
vereins entsprechende Würdigung gefunden, aber ein
Gesichtspunkt ist dabei — dem Zwecke der Veröffent-
lichung gemäß — weniger beachtet worden: die
chronologischen Schlüsse, die sich aus den Beigaben
einzelner Gräber für deren Gesamtinhalt ableiten
lassen. Bei der Aufstellung in den neuen Räumen
sind die Rückinger Funde aus Grund eines s. Zt. von
Akademiedirektor Hausmann verfaßten, muster-
haft genauen Fundprotokolles erstmals nach ihrer
Gräberzusammengehörigkeit geordnet worden. Sie
liefern nunmehr ein in mancher Hinsicht wertvolles
Datierungsmaterial, welches durch den zweiten
Aussatz allgemein zugänglich gemacht werden soll.
Die vorrömischen Funde, welche das Museum
besitzt, bestehen in einer außergewöhnlich reichen
Sammlung von Gegenständen, besonders größeren
und kleineren Thongefäßen, aus dein Ende der
Bronzezeit und dem Beginn der Hallstattperiode,
die meist aus der Umgebung von Hanau stammen.
*) „Das Römercastell und das Todtenfeld in der Kinzigä
Niederung bei Rückingen." Hanau 1878.
Von den beiden Fundstücken, die im folgenden
besprochen werden, ist eines, ein römisches Arm-
b and, bereits in der Westdeutschen Museographie
XIII, S. 282, und von Professor Wolfs in dieser
Zeitschrift (Jahrg. 1894, Nr. 16) kurz beschrieben.
Es wird hier zum erstenmale in Abbildung (ver-
kleinert) publiziert, die ich der Güte des Herrn
C. Mangold, Zeichenlehrers am Königl. Gymna-
sium zu Hanau, verdanke. Wolff gibt davon in
dem genannten Aufsatze „Über eine römische
Niederlassung auf dem Boden der Stadt Hanau"
nachstehende Beschreibung: ,
„Als archäologisches Unikum darf wohl ein
aus einem Bronzedraht mit viereckigem Querschnitt
hergestellter Armring bezeichnet werden, dessen
beide Enden sich, das eine nach oben, das andere
nach unten, in zwei länglich rechteckige Plättchen
verbreitern. . . Das obere Plättchen zeigt die
eingeritzten Buchstaben DHER, das untere die
Fortsetzung CVLI, also zusammen die Widmung
D(eo) Herculi. Diese Inschrift ans einem, wie
die Dimensionen vermuten lassen, für den Ober-
arm eines kräftigen Mannes bestimmten Schmuck-
ringe ist so auffallend, daß man geneigt sein
möchte, anzunehmen, daß der Schmuck für eine
lebensgroße Herkulesstatne bestimmt war, wenn
nicht auch diese Annahme mit Rücksicht aus die
Lokalität des Fundes fast noch größere Rätsel
aufgäbe."
Das Armband entstammt dem reichhaltigen
Mainfunde, der nächst den Pfeilern der Römer-
brücke bei Hanau auf Veranlassung des dortigen
Geschichtsvereins 1894 ausgebaggert wurde. Dieser
Umstand ermöglicht in Verbindung mit einigen
anderen eine ungefähre Datierung des interessanten
115
Schmuckstückes. Der Mainfund, dem es angehört,
ist meines Erachtens nicht als ein einheitliches
Ganze zu betrachten. Wenn sämtliche Teile des-
selben gleichzeitig in den Strom versenkt worden
wären, so müßten zunächst die 25 Münzen, die
von Claudius bis Pius*) reichen, insofern eine
Verschiedenheit erkennen lassen, als die früheren
infolge der längeren Zirkulation mehr abgegriffen
sein müßten als die letzten. Das ist jedoch nicht
der Fall; im Gegenteil zeigen gerade manche der
älteren Stücke eine besonders gute Erhaltung.
Ferner müßten die mitausgebaggerten Fibeln
mindestens annähernd gleichzeitige Typen auf-
weisen. Aber auch dies trifft nicht zu. Abgesehen
von den einfachen, zeitlich nicht zu fixierenden
Drahtnadeln sind vertreten: Fibeln des ersten
Jahrhunderts, eine emaillierte Knopffibel des
zweiten Jahrhunderts und zwei Kniefibeln, die
um 200 anzusetzen sind.
Ein näheres Eingehen auf die Entstehnngszeit
der Brücke und der Station in Hanau ist hier
nicht am Platze; es genügt für unsere Zwecke die
Feststellung der Thatsache, daß später als um 200
zu datierende Stücke nicht zu Tage gekommen sind,
vielmehr die Fibeln und die Münzen mit diesem
Datum in geradezu auffällig übereinstimmender
Weise abschließen; denn auch das Mittelerz des
Antoninus Pius war gewiß nicht eben aus der
Präge gekommen, als es in den Strom geworfen
wurde, sondern, wie sein Erhaltungszustand beweist,
längere Zeit in Umlauf gewesen. Wir erhalten
damit durch einen allerdings ziemlich gewagten
und nur einer Vermutung gleichzuachtenden Schluß
einen ungefähren tarininrm aä quem für das
Armband. Den terminus a quo gibt die In-
schrift, indem nach Rieses Untersuchungen (Westd.
Zeitschr. XVII, S. 1 ff.) Votivinschriften mit
vorgesetztem ckeo nach ca. 180 511 datieren sind.
Das Armband dürfte also gegen Ende des zweiten
oder zu Anfang des dritten Jahrhunderts n. Chr.
verfertigt sein. Die Inschrift für die Datierung
des Schmuckstückes zu verwerten, ist im vorliegenden
Falle deshalb gestattet, weil dasselbe von vorn-
herein zur Aufnahme der Inschrift bestimmt war;
es handelt sich hier nicht um einen beliebigen
Schmnckgegenstand, auf dem nachträglich an irgend
einer Stelle eine Inschrift eingeritzt worden ist,
sondern die Inschrift ist hier, so nachlässig sie
auch im Vergleich zu der exakten Arbeit des Arm-
bandes ausgeführt ist, die Hauptsache.
*) Ich kenne nur die im Museum des Hanauer Geschichts-
vereins aufbewayrten Stücke; diese sind: 1 Claudius M. E.,
4 Vespasianus M. E., 5 Domitianus (2 G. E., 8 M. E.),
2 Nerva (1 G.E., 1 M. E.), 7 Traianus M. E., 5 Hadrianus
(2 G. E., 3 M. E.), 1 Antoninus Pius M. E.
Was die Herstellung der Inschrift betrifft, so
scheinen mir die senkrechten Grundstriche ein-
geschlagen zu sein, während die anderen, wie sich
z. B. aus den mehrfachen Konturen des D er-
gibt, mit recht ungeübter und unsicherer Hand
eingeritzt sind.
Daß das Schmuckstück für eine Herkulesstatue
bestimmt war, steht wohl trotz des Fundortes
außer Zweifel, vr. Henkels hoffentlich recht
bald zu erwartende eingehende Abhandlung über
die antiken Ringe wird die Parallelen dazu bringen.
Einstweilen kann ich nach seiner gütigen Mit-
teilung aus einen Ring hinweisen, der als direktes
Analogon zu unserm Armband zu bezeichnen ist.
Er ist in Cassel a. d. Saar in den dreißiger
Jahren gefunden und jetzt verschollen; die darüber
vorhandenen genauen Notizen besagen jedoch, daß
er die Inschrift HERACLI trug. Ein silberner
Ring im Laibacher Museum, gesunden in Dernovo,
trägt die Inschrift LEU. —
D.=G cm.
i
a----+10,8 cm*— j,
Das vorstehend abgebildete G e f ä ß ch e n, eben-
falls von Herrn C. Mangold gezeichnet, ist eine
der kleinen bekannten unteritalischen Thonschalen
mit schwarzem Firnisüberzng aus den letzten Jahr-
hunderten vor unserer Zeitrechnung, die in Griechen-
land und in Italien in großer Anzahl vorkommen.
Es erweckt denn auch nur durch seinen Fundort
und die Art seiner Bemalung Interesse. Fundort
ist das römische Gräberfeld bei Rückingen. Zwar
rührt es nicht von den regulären Ausgrabungen
her, die der Hanauer Geschichtsverein dort im
Jahre 1872 vornahm, aber es ist, wie so viele
andere Fundstücke, an jener Stelle aufgelesen
worden, vom Regen freigespült oder vom Pflug
an die Oberfläche gebracht. Die einwandssreie
Persönlichkeit des Finders und Schenkers an das
Hanauer Museum, der damals in Hanau ansässige,
später in Marburg verstorbene Justizrat G r i m m,
bürgt für die Zuverlässigkeit der Provenienzangabe,
ganz abgesehen davon, daß sich auch unter den
von dem Fürsten zu Jsenbnrg-Birstein 1802 auf
dem Rückinger Totenseld ausgegrabenen und dem
Hanauer Geschichtsverein 1884 geschenkten, durch-
wegS römischen Gegenständen eine unteritalische,
schwarzgefirnißte Thonschale derselben Zeit befindet.
Das Hanauer Gefäßchen rangiert also auf gleicher
Stufe wie die von Lindenschmit, Zentralmusenin,
Tafel XLIII abgebildeten, die in den Museen zu
Konstanz, Stuttgart und Stade aufbewahrt werden;
es ist italischer Import. Eigentümlich ist die
Bemalung, die in geradezu karikierender Manier
den attischen Eulenbecher nachahmt. Die Figuren
sind nicht, wie es meistens der Fall zu sein pflegt
und bei den bisher bekannten importierten Gefäßen
mit Ausnahme des Stadener auch der Fall ist,
ausgespart, sondern mit dunkelgelber Farbe anst
gemalt. Die Figur der Eule ist jedoch nur mit
breitem Pinselstrich umrissen und dadurch sowohl
wie durch die infolge Platzmangels stark gedrückten
Körperproportionen entsteht der Eindruck einer
karikierenden Nachahmung, zumal sich diese Dar-
stellung der Eule zwischen zwei Ölzweigen sonst
meines Wissens niemals auf kleinen Gefäßen
der vorliegenden Gattung, sondern nur ans dem
geräumigen attischen Skyphos findet.
Georg Büchner
Ünter denen, die der bekannte Pfarrer und
„Revolutionär"Weidig Anfangs der30erJahre
des neunzehnten Jahrhunderts um sich versammelte,
um mit ihrer Hilfe seinen Ideen zum Siege zu
verhelfen, ragte durch Geistesschärfe und ein eigen-
tümliches agitatorisches und rednerisches Talent
der junge Georg Büchner hervor. Obwohl
Weidig und er in den Hauptfragen ihres Programms
auseinandergiugen, ordnete sich der altere bald
seinem jungen Kollegen Büchner unter, und dieser
wurde, wenn auch nicht dem Namen nach, der
Führer des ganzen sogen. Butzbacher Kreises.
Georg Büchner war in den ersten Tagen des
Oktober 1833 nach Gießen gekommen. Aus glück-
lichen, zufriedenen Verhältnissen in Straßburg wurde
er auf einmal hineinversetzt in die dumpfe Atmo-
sphäre der hessischen Gelehrtenstadt. Alle Vor-
bedingungen waren gegeben, um den jungen Alaun,
der schon seit seiner Schulzeit düstere Studien über
alles das, was uns Menschen überhaupt zum Nach-
denken anregen kann, geführt, ganz in den Bann
der „Revolution" verfallen zu lassen. Um dies
ganz verstehen zu können, müssen wir uns den
Lebenslauf Büchners etwas näher ansehen.
Georg Büchner*) wurde in Goddelau bei Darm-
stadt am 17. Oktober 1813 geboren, also an jenem
Tage, da die Heere der Verbündeten sich bei Leip-
zig vereinigten, um der Herrlichkeit Napoleons ein
Ende zu setzen. Büchners Vater, der als Distrikts-
nrzt in hessischen Diensten wirkte, war lange Zeit
Arzt im Heere Napoleons gewesen und dessen be-
geisterter Anhänger. Nur mit Wehmut konnte er
später an den Geburtstag seines Erstgeborenen denken:
ein Tag darauf wurde sein Abgott Napoleon ge-
*) Ich folge hier hauptsächlich der Biographie Ludwig
Büchners, die dieser über seinen Bruder in dessen „Nach-
gelassenen Schriften", Frankfurt a. Al. 1850. veröffentlichte,
sowie der von Karl Franzos in „Georg Büchners sämt-
lichen Werken", Frankfurt a. M. 1879.
schlagen. Tie Mutter dagegen, die Tochter eines
hohen hessischen Beamten, des Kammerrats Reuß,
war, gebildet durch die Schriften Arndts und
Fichtes, eine begeisterte Anhüngerin des deutschen
Einheitsgedaukens, sodaß sich die zwei Eheleute voll-
ständig in ihren politischen Ansichten widersprachen.
Glücklicherweise litt unter dieser Verschiedenheit
ihrer Wünsche und Gedanken das Familienleben
nicht. Wie hierin waren Vater lind Mutter auch
in ihrem Verhalten gegen ihren Sohn grundver-
schieden. Beide liebten ihr Kind, und doch konnte
der Vater seinen Sohn, als er ihn auf Bahnen
sah, die er in seinem politischen Gewissen nicht gut-
zuheißen vermochte, verstoßen, während die Mutter
auch da mit der ganzen Liebe des mütterlichen Herzens
an ihrem Ältesten hing. Der Vater, der seinen
Sohn in ein verhaßtes Studium hineintreibt, das
diesen täglich mehr und mehr anwidert, freilich,
das sei hier auch gesagt, aus dem ganz gesunden
Gedanken, vorerst seinem Sohn einen sicheren Erwerb
zu verschaffen; die Mutter, die stets ztl helfen
und zu trösten weiß, „ein Musterbild edelster Mensch-
lichkeit"*). So ließe sich die Parallele zwischen den
beiden Gatten noch weiter ziehen; so ließe sich die
Verschiedenheit ihrer Gesinnung weiter verfolgen,
Verhältnisse, unter denen Georg Büchner selbst-
verständlich viel zu leiden hatte.
Bald nach der Geburt Georg Büchners waren
seine Eltern nach Darmstadt übergezogen, wohin
sein Vater als Obermedizinalrat berufen worden
war. Hier verlebte er seine Jugendzeit. Was
Goethe in großem Maße in Frankfurt genießen
konnte, war in kleinem auch dem jungen Büchner
zugängig. Die Anwesenheit des hessischen Hofes
brachte immer einige Abwechslung ltnb die Ein-
drücke, die ein fleißiger Besuch der Gemäldegallerie
im Residenzschloß hervorrief, haben ihn aus seinem
*) Franzos S. XIII.
117
freilich nur kurzen Lebenswege begleitet. In Darm-
stadt besuchte er dann auch das Gymnasium und
bezog im Jahre 1831 die Universität Straßburg,
um Medizin und Naturwissenschaften zu studieren.
Straßburg, die Stadt des jungen Goethe, war
deshalb von seinem Vater gewählt worden, weil
er auch seinen Sohn teilnehmen lassen wollte an
der Verehrung, die er für die französische Sprache
und Litteratur, wie überhaupt für französisches
Wesen hegte. Hier wurde er in die Familie des
Pfarrers Jaeglö eingeführt und bald verlobte er
sich mit dessen Tochter Minna, ein schöner idealer
Bund, den erst der Tod schied. Schon nach zwei
Jahren wurde er aus dem schönen Kreise, in dem
er sich in Straßburg bewegte, hinweggerissen, um,
den Gesetzen seines Vaterlandes entsprechend, an
der Landesuniversität Gießen seine Studien zu
vollenden. So kam er aus dem lebenslustigen
Straßburg, wo er seine Braut zurückließ, in die
düstere Universitätsstadt an der Lahn. Und in
dieser Stimmung warf er sich der Revolution in
die Arme.
Es ist hier nicht der Platz, die Geschichte der
damaligen Verhältnisse vorzuführen, ebensowenig
gedenke ich hier ganz genau den Anteil Büchners
an der Bewegung festzulegen. Es genügt, wenn
ich sage, daß dieser sich hier zu dem Schritte fort-
reißen ließ, den „Hessischen Landboten" zu versassen,
eine Schrift, die, zn Ehren des Verfassers sei es
gesagt, in der vorliegenden Form weniger das Werk
Büchners, sondern Weidigs ist. Daß trotzdem sich
selbst Anhänger Weidigs sehr tadelnd über das
Werk, das unter dem Motto „Friede den Hütten,
Krieg den Palästen" segelte, aussprachen, mag ja
mit den ganzen Zeitverhältnissen, in denen sich
niemand offen zu einer solchen revolutionären Schrift
bekennen wollte, zu erklären sein. Wenn aber
Di-. Eichelberg aus Marburg bei seinem Verhör
die Schrift als wahrhaft ekelhast bezeichnete und
der Meinung Ausdruck gab, er würde sich schämen,
wenn die geheime Presse nichts Besseres zu Tage
fördern würde, so geht dies doch entschieden über
eine bloße Verwahrung hinaus und läßt erkennen,
daß man auch in den Kreisen mit dem Inhalt der
Schrift keineswegs einverstanden war.
Die Geschichte des Druckes, der Verbreitung und
der nach der Entdeckung folgenden Untersuchung
ist sehr interessant. Sie zeigt uns genau die da-
maligen politischen Verhältnisse und die Thätigkeit
gewissenloser Menschen, die um schnödes Geld ihre
Freunde, in deren Vertrauen sie sich eingeschlichen,
dem Richter auslieferten. Büchner entging der
Untersuchung; ja, in dem Gefühle, daß man nichts
von seiner Autorschaft der Schrift wisse, pochte er
aus sein gutes Recht und legte Beschwerde ein.
als man Haussuchung bei ihm hielt. Bald wurde
ihm der Boden Gießens aber doch zu heiß und
er ging nach Tarmstadt zu seinen Eltern. Hier
setzte er seine ■ anatomischen Studien fort, um
seine Eltern, denen er seinen Verkehr mit den
Revolutionären und seine eifrige Anteilnahme an
ihrer Sache verheimlicht und trotz vieler Zureden
stets abgeleugnet hatte, zu täuschen. Ja — er
hinterging sogar seine Eltern so, daß er während
des kurzen Aufenthalts in Darmstadt nicht nur
mit seinen Freunden in Gießen und Butzbach in
Verbindung blieb, sondern sogar in Darmstadt
eine „Gesellschaft der Menschenrechte" gründete,
deren Programm er in seinem „Hessischen Land-
boten" niedergelegt hatte.
In die Darmstädter Zeit fällt auch Büchners
erster Versuch, sich dichterisch zu bethätigen. Aus
innerem Drange heraus schrieb er in fünf Wochen
sein Drama „Tantons Tod" nieder, über das ich
später noch sprechen werde. — Bald merkte er, daß
man ihm auch in Darmstadt Mißtrauen entgegen-
brachte. In der Straße, in der er wohnte, waren
stets zwei Schutzleute aufgestellt — man schien
einen Verdacht zu haben, den man aber nicht offen
aussprechen wollte. Eines Tages erschien denn auch
die Vorladung vor den Richter, was soviel wie
die Verhaftung bedeutete, da man, um Aussehen zu
vermeiden, diese nicht in den Wohnungen, sondern
gleich im Gefängnis vornahm. Mit Hilfe seines
Bruders Wilhelm, der ihm überhaupt in echt
brüderlicher Gesinnung stets beigestanden, rettet er
sich über die Grenze, und geht wieder nach Straß-
burg (Ansang März 1835). Hier wandte er sich
wieder vollständig und mit großem Eifer seinen
naturwissenschaftlichen und philosophischen Studien
zu, mit dem Erfolge, daß er schon 1836 eine An-
stellung als Privatdozent an der Universität Zürich
fand. Doch schon im nächsten Jahre schloß er
die Augen auf immer. Sein Todestag ist der
13. Februar 1837. Er erlag einem Nervenfieber,
das zuerst zu Besorgnissen keinen Anlaß bot, dann
sich aber zu Delirien steigerte und die Kräfte des
Kranken bald verzehrte. Georg Herwegh
widmete dem toten Dichter ein Trauerlied, in dem
es heißt:
„Ein unvollendet Lied sinkt er ins Grab.
Der Verse schönsten nimmt er mit hinab."
Wenn mau das Lebenswerk Georg Büchners
überschaut, wenu man die Fülle der Arbeiten be-
betrachtet, die er während drei Jahren (von seinem
21.—23. Jahre) geschaffen, so kann man sich eines
traurigen Gedankens nicht erwehren, daß dieser
Geist so frühe schon von der Erde scheiden mußte.
Eine Geschichte der griechischen Philosophie, ver-
schiedene kleinere philosophische Abhandlungen,
118
verschiedene anatomische Schriften, vier vollwertige
dichterische Werke, eine Reihe Übersetzungen Hugoscher
Werke und der bereits erwähnte „Hessische Land-
bote" — fürwahr eine Geistesarbeit, die um so
ausfälliger und dankenswerter erscheint, als alle
diese Werke über das Durchschnittsmaß hinaus-
gehen und zum Teil zum Besten gehören, was auf
dem Gebiete geschrieben. So ist z. B. Büchners
Drama „Dantons Tod" das einzige unter den
vielen Revolutionsdramen, das der großen Zeit
völlig gerecht wird und auf jeden Fall, die Fehler
alle anerkannt, jene Größe in der Zeichnung nicht
vermissen läßt, die allein der Schilderung der da-
maligen Verhältnisse zukommt.
Georg Büchner hat sein Drama, wie ich schon
erwähnte, unter den schwierigsten Verhältnissen, in
Darmstadt in fünf Wochen beendigt. Er schrieb
selbst über die Zeit: „Für Danton sind die Polizei-
diener meine Musen gewesen." Daß diese Verhält-
nisse km Drama nicht zum Vorteil gereichten, ist
selbstverständlich. Ende Februar 1835 war es be-
endigt und Büchner schickte es mit einem Begleit-
schreiben an Gutzkow nach Frankfurt, den er als
Kritiker schätzen gelernt und dem er, als Haupt
des jungen Deutschland, auch zuerst Vertrauen
schenkte. Gutzkow erkannte sofort den Wert des
Dramas, übernahm seinen Druck, und bald darauf
erschien es, freilich den damaligen Zeitumständen
angemessen, gestrichen und „verbessert" im Sauer-
länderschen Verlag zu Frankfurt a. M., eingeführt
durch eine überaus glänzende Kritik des Werkes
aus Gutzkow's Feder im „Phönix".
In „Tontons Tod"*) hat es Büchner unter-
nommen, das Drama der Revolution zu schreiben,
also der gährenden Zeit, in deren Nachwehen sein
Leben fällt. Es wurde düster, wild und genial,
*) „Dantons Tod" Frankfurt a. M. 1835 (gekürzt
und gestrichen). Wieder abgedruckt iu „Georg Büchners
nachgelassenen Schriften" Frankfurt a. Al. 1850 (hier sind
einzelne Stellen nach km Manuskript wieder hergestellt,
doch sind noch genug Striche rc. enthalten). Den reinen
Abdruck bietet erst Franzos in „Georg Büchners sämt-
lichen Werken" Frankfurt a. Al. 1879. Diese Ausgabe
lag auch der Neuausgabe des Dramas in „Meyers Volks-
büchern" zu Grunde. Eine Neuausgabe des Werkes mit
Einleitung vvin Verfasser dieses erscheint demnächst in
„Hendels Bibliothek der Gesamtlitteratur".
------------
Die Kasseler Felsenkeller t><
Von C.
bekanntlich wird ein Besitztum erst in seinem
wahren Werte geschätzt, wenn man dasselbe zu
verlieren fürchtet, oder gar, wenn man es verloren
hat. So geht es auch mit den Fel senket lern
in seiner feurigen Sprache ganz der Zeit angepaßt,
in der es spielt. Es läßt uns wie kein anderes
Werk den Menschen Büchner erkennen. Denn
„Dantons Tod" ist ein großes Bekenntnis seines
Verfassers, der, in der Gemütsstimmung, in der er sich
durch die Verfolgungen befand, sein Herz erleichtern
und sich über das aussprechen wollte, was die Zeit
bewegte. Daher ist es auch ein sogen. Buchdrama ge-
worden und wird sich auf der Bühne, wie auch die
Versuche, die man erst kürzlich in Berlin gemacht,
bewiesen haben, nicht halten können. „Dantons
Tod" ist von vornherein m. E. als philosophisches
Drama zu betrachten, nur wenige Szenen, wie die
Versammlung im Konvent, könnten durch glänzende
Ausstattung auf der Bühne wirken. Das beweist
nun wohl, daß Büchner kein Dramatiker war, es
besagt aber nichts gegen den Wert des Stückes.
Alle die Vorwürfe, daß die Personen sämtlich wie
Philosophen reden, die Bedenken, die man in sitt-
licher Hinsicht gegen das Stück hegt, sie fallen zu-
sammen, wenn man den Wert der Dichtung betrachtet,
der darin besteht, daß Büchner den wilden auf-
rührerischen Ton der Zeit am besten getroffen, daß
er dem Sinne nach richtig die Philosophie der
Revolution ausgestellt. Diesem gegenüber ver-
schwinden die thatsächlich vorhandenen Fehler und
Geschmacklosigkeiten, und wir sollten uns freuen, daß
wir in „Dantons Tod" eine Dichtung haben, die
als einzige in der deutschen Litteratur der Revolution
gerecht wird, die Verhältnisse schildert, wie sie
waren und nichts zu verheimlichen sucht. Daß dies
Gemälde einer solchen Zeit, die doch gewiß zur
dramatischen Behandlung zuerst einlädt, mit grellen
Farben gezeichnet sein muß, ist selbstverständlich.
Ich kann hier nicht näher auf das Drama ein-
gehen, wie ich auch Büchners übrige Werke („Leonce
und Lena", ein Lustspiel, „Wozzek" und das prächtige
Novellenfragment „Lenz") hier nicht weiter in den
Kreis meiner Betrachtung ziehen kann. Es würde
das aus dem Rahmen meines Aufsatzes falle«.
Mein Zweck war, aufmerksam zu machen aus dieses
Genie aus dem Hessenlande, dem unsere Litteratur
und Wissenschaft sicher noch viel zu verdanken ge-
habt hätte, wenn seinem Wirken nicht so früh
durch den Tod ein Ende gesetzt worden wäre.
Alexander Würger.
dem Frankfurter Thore.
N e u b e r.
vor dem Frankfurter Thore. Ihren Unter-
gang muß die Kasseler Bürgerschaft betrauern.
Auch der letzte von ihnen ging bekanntlich vor
wenigen Fahren in Privatbesitz über, und nur
119
eine Zeit lang noch blieb der Fortbetrieb der
Wirtschaft gestattet. Die Darstellung der geschicht-
lichen Entwicklung der Felsenkeller dürfte daher
nicht unwillkommen erscheinen.
In neuerer Zeit ist in höheren Kreisen das
Biertrinken beliebter geworden. Wie frühzeitig
dies köstliche Naß bei den meisten Völkern getrunken
worden, ist allbekannt. Nach unverbürgten Mit-
teilungen kommt das Bier im Morgenlande schon
vor einigen tausend Jahren vor, und wird der
der Sage angehörende ägyptische König Osiris
als erster Spender eines aus gemalztem Getreide
bereiteten Bieres genannt. Weiter hören wir, daß
es im alten Rom bei dem Feste der Ceres
getrunken wurde, woher der Name Cerevisia;
während eine deutsche Erzählung die Erfindung
desselben dem Herzoge Janprimus (Johann I.)
von Brabant (1251—1294 n. Chr.), aus dem
später ein König Gambrinus gemacht worden
ist, zuschreibt.
Im Mittelalter wird das Bier als Getränk in
allen Klassen der Bevölkerung erwähnt und auch
von Fürstlichkeiten nicht verschmäht. So berichtet
das Chronicon Berolinense (Heft IV der Schriften
des Vereins für die Geschichte der Stadt Berlin
S. 10), daß der Rat dieser Stadt dem Kurfürsten
Friedrich I. von Brandenburg aus dem Hause
Hohenzollern bei seiner Ankunft 1 Tonne Bernauisch
Bier, so damals 17 Groschen gekostet, verehrt
habe (1412). Nicht lange zuvor, im Jahre 1395,
erlangten nach einer darüber ausgestellten Urkunde
„Bürgermeister, Schöffen und Bürger gemeinlich"
von Kassel gegen Erlegung von 2500 Gulden vom
Landgrafen Hermann dein Gelehrten die Berech-
tigung, in dieser Stadt nicht nur Bier zu brauen,
sondern auch auszuschenken und gegen einen von
ihnen selbst zu bestimmenden Preis zu verkaufen,
dergestalt, daß niemand, als wer hier angesessen
sei, Bier schenken oder fremdes Bier einführen
dürfe, es sei denn, daß dies zu seinem und seines
Hauswesens eigenem Bedarf geschehe. Dafür
verpflichtete sich die Stadt, zu des Landgrafen und
dessen Nachfolger Bedarf das Bier zum Preise von
3 Pfund hessischer Pfennige für das Fuder aus
die Burg 511 liefern.*) Die Kasseler Stadtrech-
nungen aus der Zeit von 1468 bis 1553 enthalten
eine Reihe auf das städtische Brauwesen im all-
gemeinen und die Lieferungen aufs Schloß ins-
besondere bezügliche Posten, z. B.:
*) Zeitschrift des Vereins für heff. Geschichte und Landes-
kunde. N. F. Bd. IU, S. 69 (Denkwürdigkeiten der Stadt
Kassel von F. Nebelthan, Oberbürgermeister das. Ab-
schnitt II).
1520. 27. 22x/2 Fuder Bier, das Fuder für
3 Pfund, aufs Schloß geliefert;
69, 70. 256 Zober Bier, der Zober für
9 Albtts, aufs Schloß geliefert.*)
Infolgedessen gab es in Kassel Bierkeller genug,
namentlich unter dem Rathause, und nicht nur bei
freudigen, sondern auch bei ernsten und traurigen
Anlässen wurde wacker gezecht, woraus sich eine
einschränkende Verordnung des Landgrafen Ludwig I.
des Friedfertigen erklärt vom 14. April 1455 (in der
Sammlung Fürstlich Hessischer Landes-Ordnungen
, T. I, S. 13):
„§ 24. Item, wer Auch deß Abendß bey nachtt.
So die glockhe gelüdt ist, lenzer in den Bier-
vnnd weinheußern, darin man pslegett zum schenckhen,
sitzett vnnd funden wird, Alß dick, Alß daß
geschiehett, Sollen der oder die deß thuen, vnnd
Auch wer die so vffheltt, vnnd Auch in syne
Hüße sitzen leßett, vnnd deß verbueßen mit drey
Pfunden Hessischer wehrung."
Aber erst dem 19. Jahrhundert, welches auf
vielen Gebieten bedeutende Fortschritte 51t verzeichnen
hat, sollte die Anlage von Bi er kellern in und
auf beut Kalkfelsen südlich vor dem Frankfurter-
Thore vorbehalten bleiben. Ans demselben waren
in früheren Zeiten, sogar schon 1270, Weinreben
gediehen, und er hieß deshalb, obgleich auch aus
anderen höher gelegenen Punkten der Umgegend,
wie Kratzenberg und Möncheberg, Wein gepflanzt
wurde, Weinberg, das Stadtthor Weinberger
Thor und das dabei gelegene, bei der ersten Be-
lagerung von Kassel (1385) zerstörte Dorf Wein-
garten.**) Nach glaubwürdigen Überlieferungen,
im wesentlichen festgelegt durch Auszeichnungen des
noch rüstigen Malers Reinhard Hvchapfel d. Ä.,
versuchte Landgraf Friedrich II. (1760 — 1785)
nach Beendigung des siebenjährigen Krieges durch
den Hnbertusburger Frieden (1763) nochmals die
Anpflanzung von Wein auf dem Hügel am West-
ende der Oberneustadt zwischen Frankfurter Thor
und Königsthor (dem späteren Wilhelmshöher Thor)
und legte dazu vom Philosophenwege aus nach
der Höhe Terrassen an, welche noch jetzt sichtbar
sind. Jedoch die Reben gediehen nicht und der
aus den gezogenen Trauben gekelterte Wein war
nicht trinkbar. Es wurde daraus der ganze Wein-
berg bis zu der bald danach angelegten Wilhelms-
höher Allee an zwei bemittelte Männer, Rat Wittich
und Verbellet, zusammen für 3000 Thaler verkauft.
Diese parzellierten wieder, und so entstanden eine
*) Dieselbe, Suppl. III (herausgeg. von Ad. Stölzel,
Kreisgerichtsrat i» Kassel) S. 165, 173.
> **) Zeitschrift N. F. Bd. III, S. 64 fg. - A. F. Bd. III,
S. 167 fg. (Beiträge zur Geschichte des Weinbaues in Alt-
I Hessen von G. Landau).
120 —
Anzahl Gartenanlagen, welche mit der damals
beliebten Ostheimer Kirsche (benannt nach der Stadt
Ostheim vor der Rhön) bepflanzt wurden, die ans
dem Kalkboden gedieh, und nach wenigen Jahren
zur Blütezeit einen herrlichen Anblick der ganzen
Gegend gewährte, welcher sich bis heute zur Frühlings-
zeit erhalten hat.
Was nun die Anlage der Bierkeller vor dem
Frankfurter Thore betrifft, so ist nach dem mir
freundlichst zur Einsicht übergebenen Fascikel der
vorhinnigen Kurfürstlichen Residenz-Polizeidirektion:
„Acta die Aufbewahrung des Bieres in
Felsen kellern betreffend Tom. I. B. 11"
der brave Mann, welcher dieselbe ins Leben gerufen
hat, der Hof-Küsermeister M a r t i n Reh m ü l l e r
(oder Reimüller) zu Kassel. Seinen Namen meldet
kein Lied, kein Heldenbuch, wohl aber das die
Polizei-Akten eröffnende Gesuch an Seine Königliche
Hoheit den Kurfürsten Wilhelm II. vom 4. De-
zember 1822. Dasselbe beginnt:
Allerdurchlauchtigster, allergnädigster Kurfürst
und Herr!
Wenn ich es wage, mich Ew. Königl. Hoheit
nochmals*) mit einem allerunterthänigsten Gesuche
zu nahen, so geschieht es einzig und allein in
der reinen Absicht, meinem allerguädigsten Fürsten
und Herrn, sowie meinen Mitbürgern zu dienen
und zu nützen.
Tie Klagen über schlechtes Bier in hiesiger
Residenz, besonders im Sommer, sind ebenso
häufig als gegründet, vielleicht auch Ew. Königl.
Hoheit nicht mehr fremd.
Wie sehr nachteilig dies aber hauptsächlich
auf die geringere Klasse der Menschheit einwirkt,
und ein Hauptgrund zur physischen und mora-
lischen Verderbtheit so mancher Familie geworden
ist, hat die Erfahrung genugsam bestätigt, und
ich glaube daher, daß es ein Verdienst sei . . .
Die Felsenkeller und deren Vorteile sind viel-
leicht längst, allein in hiesiger Gegend noch nicht
allgemein bekannt, und durch Einrichtung solcher
hier, wo in der Nähe und namentlich am sog.
Weinberge die erwünschte Gelegenheit sich dar-
bietet, würde man nach meiner vollen Überzeugung
den gewünschten Zweck erreichen . . .
Kein Bierbrauer hat so große Keller, und die
meisten sind von der Art, daß sich das Bier
nicht darin hält . . . Die bessere Sorte, März-
bier, ist in der Regel kein solches, führt bloß
den Namen und ist in der Regel erkünstelt.
Bittsteller knüpft daran den Vorschlag, ent-
sprechende Bauten im Weinberge vorzunehmen und
*) Ein früheres Gesuch findet sich nicht in den Akten.
dazu Leute aus den Armenanstalten unter Vergütung
heranzuziehen, und bittet um Erteilung eines
Urlaubs von vier Wochen zu dem Zwecke, sich die
in andern Nachbarländern des Deutschen Bundes
| bereits bestehenden Einrichtungen der Art näher
j anzusehen.
Dieser edle Menschenfreund mußte den Fluch
der Mehrzahl der ersten Entdecker aus sich nehmen,
daß er von seiner Bemühung geringen Dank erntete
und Andere Nutzen ziehen lassen mußte, zunächst aber,
da er von einer Verfügung ans sein Gesuch lange Zeit
nichts vernahm, solches nach mehr als Jahresfrist
wiederholen (10. Februar 1824). Inzwischen hatte
doch Kurfürstliche Residenz-Polizei-Direktion dahier,
welche Gesuche dieser Gattung zunächst zu prüfen
hatte, sich desselben angenommen und hiesige Bier-
brauer zur Äußerung darüber vorbeschieden. Darauf
erklärt sich der Bierbrauer I o h. P e i l e r t, dem die
Bemerkungen Reymüllers über die Aufbewahrung
des Biers und dessen Beschaffenheit sehr mißfallen
hatten, mit Entschiedenheit gegen dieselben, bezeichnet
. sie als Verleumdung und fügt hinzu, daß er sechs
gewölbte Keller habe. Die miterschienenen Kollegen
Friedr. Schulz, E. Ost heim, Joh. Heine,
P. Eisseng arthen, N. Wind ns schließen sich
dieser Äußerung an. Tie Polizeidirektion erklärt sich
trotzdem für das Gesuch (8. Seht. 1824), desgleichen
die Oberberg- und Salzwerks-Tirektion (19. Sept.
1824) , welcher dasselbe vorgelegt worden war, mit
der Begründung, daß die Kalksteinselsen im Wein-
berge fest genug seien und die Bauten darin keine
Schwierigkeiten darböten. Darauf wurden die Kasseler
Bierbrauer, unter denen jetzt auch Krause und
Maysarth erschienen, entsprechend beschieden, und
erklärten sie, sich darüber benehmen zu wollen.
Nunmehr berichtet der Polizeidirektor, Regierungsrat
Pfeiffer, die Anlage der Felsenkeller befürwortend
an den Kurfürsten mit dem Bemerken, daß bereits
einige Bierbrauer mit Zustimmung der Grund-
eigentümer zu bauen begonnen hätten, darunter
Konrad Ostheim, welcher um diese Zeit (12. Juli
1825) dort unterm Weinberge an der Straße
vor dem Frankfurter Thore Grundbesitz erworben
hatte für 5200 Thaler, woraus aus dem geheimen
Kabinet Beschluß ergeht.
li68ot. 3. August 1825: Ist vor der Hand
nicht damit fortzufahren. Dem Ostheim vorerst
die Anlegung des beabsichtigten Felsenkellers
untersagt.
vdt. v. Mehsenbug.*)
Ostheim bittet hierauf nochmals um allerhöchste
Erlaubnis, und ergeht nunmehr — mochten seine
*) Der langjährige Geh. Kabinetsrat Rivalier v. Meyse»-
bug (vgl. „Hessenland" 1900. S. 106 ff.).
i
121
Vermögensverhältnisse inzwischen nachgewiesen oder
schon besannt geworden sein —
Ilesol. 14. Oktober 1825: Wird. allergnädigst
zugestanden, da der Nachsuchende zur Ausführung
dieser Einrichtung reich genug ist.
(Schluß
Bekannt zu machen, daß die Anlegung des
Felsenkellers nur unter dem ausdrücklichen Vor-
behalte allergnädigft zugestanden worden sei, daß
Herr Ostheim eine anständige Bierwirt-
schast für angesehene Personen einrichte,
folgt.)
------------------
Stormwind.
(Schaumburger Mundart.)
Freujohr un Sommer sin all vergab».
De Wiuucr is't mit Frost un Js;
Bi'm warmen Awen') sitt Fru un Mann,
Öhr Lg iS treub, öhr Hor is gris.
Sä funnen nah"), wär's woll vollbracht —
Stormwind bi Tag, Stormwind bi Nacht!
Bi öhr was't Freujohr lange all.
Wo Preistersmund den Segen sprvch;
Hell Nicht de Sunn von Heben") dal'),
Lacht dun") bat Hart"), strahlt dun dal Og.
11s h G'schickcs Für, wär hat's anfacht?
Stormwind bi Tag, Stormwind bi Nacht!
Ist HuS ok hen, iS hen ok Freud,
De Lieb doch vor de Kinner sprach,
K a s s e l.
Dat sei »ich trapeu Smerz un Leid,
Dat Mutterhart dat lest") jo noch.
Hüt? — up eil Fredhof sin's all bracht
Stormwind bi Tag, Stormwind bi Nacht!
Im Schornstin heult de Wind so krus"),
De Sunn am Heben leit sick bat10),
Dc Glock sleit lut dvrch'S stille HuS,
Nein") Minsch, nur Gott seit hier de Qual-
Sin Hand heilt'S wuune Hart so sacht —
Stormwind bi Tag, Stormwind bi Nacht!
') Ofen; 2) sinnen, nach; ") Himmel; ') herab; ') da-
mals; ") Herz; h unseres; 8) lebt; ") grausig; '") legt' sich
nieder (legt sich schlafen); ") kein.
Agathe Koppen.
Unterm Hollun-erbaum.
Historische Erzählung aus Oberhessen von O. Gros.
Erstes Kapitel:
riic Mrdung.
Es war an einem stürmischen Tage in der Mitte
des Monats April im Jahre 1693, da saß zu
Crainfeld 'im hohen Vogelsberg Frau Eva Katharina
Ellenberger, die Witwe des Amtsschnltheißen Heinrich
Christoph Ellenberger, im Wohnzimmer ihres statt-
lichen Hauses.
Sie stand im 43. Lebensjahr und war seit
drei Jahren verwitwet; aber ihr Äußeres wies aus
ein solches Alter durchaus nicht hin; man hätte
die Frau mit dem frischen rotwangigen Gesichte
und den freundlichen Augen höchstens für 35 Jahre
alt gehalten.
Ihre drei Kinder, Elisabeth, Anna und Peter,
befanden sich bei ihr im Zimmer; Elisabeth, ein
Mägdlein von etwa sieben Jahren saß neben der
Mutter und war, ebenso wie diese, beschäftigt, einen
Strumpf zu stricken, während Anna, die etwa fünf
Jahre zählen mochte, und ihr dreijähriges Brüderlein
am Fenster standen und dem Treiben der Schnee-
flocken zusahen; es war ein strenger und später Winter.
Tie ganze Einrichtung trug das Gepräge der
Wohlhabenheit; ein großer Kamin, dessen Feuer-
schein sich gespenstisch an der Decke malte, erwärmte
das Zimmer, an der Längswand stand eine eichene
Bankkiste, die mit zierlichen Schnitzereien versehen
war, und in der Ecke ein hoher Schrank von un-
geheuerem Umfang, hinter dessen Butzenscheiben
das blankgeputzte Zinngeschirr — der Stolz der
damaligen deutschen Hausfrau — hervorglänzte.
Die Frau. Amtsschnltheißin begann gerade ihrem
Töchterlein zu erklären, wie man die Ferse eines
Strumpfes zusammen ziehe, um den Fuß daran
zu stricken', als plötzlich die kleine Anna rief:
„Mutter, es kommt jemand zu uns."
Die Mutter sah nach dem Fenster, konnte aber
bei dem herrschenden Wusterwetter auch nicht mehr
erkennen, als daß eine hochgewachsene Mannesgestalt,
die mit Mantel und Kapuze verhüllt war, über
den Marktplatz herüber ans ihr Hans zukam.
Erst beim Eintritt des Mannes erkannte sie ihn;
es war der Pfarr-Adjunkt Johann Philipp Lauk-
hardt, der, aus Crainfeld selbst stammend, dem
dortigen alten Ortspsarrer als Gehilfe beigegeben
war, und der im Hause der Witwe ein oft und
gern gesehener Gast war.
„Ein böses Wetter, Frau Amtsschnltheiß," begann
der Eingetretene nach kurzer Begrüßung, „wir haben
122
wieder einmal einen langen und rauhen Winter,
wie es sich für den Vogelsberg gehört, es fegt draußen
ganz fürchterlich", während die Witwe geschäftig
war, den Gast feines Mantels und seiner Kapuze
zu entkleiden und diese in der Nähe des Kamins
zum Trocknen aufzuhängen.
Die beiden Mägdlein kamen schüchtern heran,
machten ihren zierlichen Knir und küßten dem Be-
sucher die Hand, während der kleine Peter sich scheu
in die Ecke am Schranke verkroch.
„Komm, Peterle, küß dem Herrn Adjunkt die
Hand", befahl Frau Ellenberger. Aber nur zögernd
kam der Kleine, den Daumen vor Verlegenheit im
Mündchen; jedoch der Herr Adjunkt nahm den
Blondkopf auf die Arme und küßte ihn herzlich
auf die Stirne.
Nachdem er daraus Platz genommen hatte, begann
er ohne Umschweife sein Anliegen vorzubringen.
„Frau Amtsschultheißin," sagte er, „es ist ein
Zweifaches, was mich herführt; das Eine ist eine
frohe Nachricht, die mich anlangt, das Andere eine
große Bitte, die ich an Sie habe."
Frau Ellenberger antwortete nicht, sondern sah
ihn erwartungsvoll an.
„Zunächst die Nachricht," fuhr Laukhardt fort,
„daß ich eine eigene Pfarrstelle erhalten habe. Sie
wissen ja, daß ich bloß der Adjunktus des alten
Herrn gewesen bin; und da ich erfuhr, daß die
lutherische Pfarrei zu Hirzenhain in der Wetterau
erledigt mar, so habe ich mich bei dem Patronats-
herrn, dem Herrn Grasen zu Stolberg, geziemend
um diese Stelle gemeldet. Dieweil ich nun gute
Zeugnisse habe, hat sich mir der gnädige Herr ge-
wogen gezeigt, und mein Bestellungsdekretnm habe
ich vorgestern erhalten."
„Da muß ich dem Herrn Adjunkt zur Psarrstelle
von Herzen Glück wünschen", unterbrach ihn die
Frau Amtsschultheißin; „gebe der liebe Gott, daß
es dem Herrn Adjunkt wohlergehe und seine Arbeit
in der neuen Gemeinde großen Segen bringe."
„Vielen Dank, liebe Frau Amtsschultheißin,"
sagte Laukhardt, „doch ich will weiter erzählen.
Gestern mit dem frühesten bin ich selbst zu Pferd
nach Hirzenhain gereist, um mir die neue Stelle,
dazu Kirche und Pfarrhaus anzusehen; und es hat
mir alles recht wohl gefallen. Ich bin der dritte
lutherische Pfarrer, der hinkommt. Mein gnädiger
Herr, der Gras zu Stolberg, hat die Herrschaft
erst vor vier Jahren gekauft. Die Kirche ist
geräumig und schön; sie war früher die Klosterkirche
der Augustinermönche, deren Orden jedoch schon seit
Jahrzehnten ansgestorben ist. Das Pfarrhaus liegt
unweit von der Kirche und ist, in zwei Stockwerken
errichtet, für eine Familie hinreichend; vordem war
es eine Försterwohnung. Alles in allem genommen
kann ich Gott danken, denn mir ist mein Los ge-
fallen aus das Liebliche."
„Ist der Ort denn klein oder groß," ftel Frau
Ellenberger ein, „ist er auch schön?"
„Er ist auch schön," bestätigte Pfarrer Laukhardt,
„denn den ganzen Thalgrund erfüllt das Rauschen
eines wilden Bergbaches, der Nidder, dessen eilend
dahin fließendes Wasser ein gräfliches Eisenhammer-
werk treibt, und der Ort ist auch ziemlich bedeutend,
weil dieses Hammerwerk einen lebhaften Verkehr
hervorruft."
„Ta wünsche ich dem Herrn Pfarrer nochmals
von Herzen Glück, wenn ich auch sagen muß, daß
es mir und der ganzen Gemeinde von Herzen leid
thut, daß der Herr Pfarrer von uns gehen will."
„Nun, wenn Ihnen der Abschied von mir wirklich
leid ist," versetzte der Pfarrer mit feinem Lächeln,
„so gibt mir das doppelten Mut, mit meiner Bitte
hervorzutreten. — Frau Amtsschultheißin, Sie
kennen mich, intb ich kenne Sie; ich bin gekommen,
um Sie zn fragen, ob Sie gewillt sind, mit mir
als meine christliche Ehefrau nach Hirzenhain zu
ziehen; ich weiß," fuhr er fort, als er sah, daß
die Witwe ganz bestürzt dasaß, „daß Sie allerhand
Einwände sürbringen werden, aber ich habe sie
schon alle in meinem Herzen widerlegt. Sie werden
vielleicht sagen, daß Sie einige Jahre älter seien,
als ich, aber das ist kein Fehler, Sie sehen doch
kaum so alt aus wie ich mit meinem schwarzen
Barte, und wenn das Herz jung bleibt, darf der
Leib auch altern. Zum andern werden Sie für-
bringen, daß Sie drei Kinder haben, die Sie er-
ziehen müssen, da verspreche ich Ihnen vor Gottes
Angesicht, daß ich sie christlich und gottselig auf-
ziehen will, als wären es meine eignen Kinder.
Oder meinen Sie, daß ich mir soll ein ander
und sürnehmer Ehegemahl suchen? Liebe Frau Amts-
schultheißin. Frömmigkeit und Herzensgute ist mehr
als vornehmes Gethne, und Sie waren dem seligen
Herrn Amtsschultheiß Ellenberger ein treues Ehe-
gemahl, Sie haben ein ehrbar Witwenleben geführt,
so hoffe ich, Sie werden auch in meinem Pfarrhaus
den Platz ausfüllen." —
Frau Ellenberger wollte reden, doch der Pfarrer
schnitt ihr das Wort ab und sagte: „Ich verlange
heute keine Antwort, mein Antrag hat die Frau
Amtsschultheißin überrascht, und ich komme morgen
wieder und hole mir Bescheid."
Damit stand Pfarrer Laukhardt auf, warf seinen
Mantel um, stülpte die Kapuze aufs Haupt mtb
ging, nachdem er den Kindern freunblid) zugewinkt
hatte, mit stummem Händedruck hinaus.
Frau Ellenberger saß noch lange sinnend da,
während die Kinder still mit einander spielten, bis
123
die Magd eine Öllampe brachte und ihre Herrin
aus tiefen Gedanken anfstörte. — — —
Pfarrer Laukhardt holte sich des andern Tages
bei der Witwe das Jawort und siedelte wenige
Wochen nachher mit Frau und Kindern nach seiner
neuen Pfurrstelle Hirzenhain über.
* *
*
Hirzenhain war ein ziemlich bedeutender Ort,
in früheren Zeiten Sitz eines Nonnenklosters; am
meisten aber bekannt und besucht um der großen
Eisengießerei willen, deren Hammerwerke von der im
Winter und Sommer gleich wasserreichen Nidder-
getrieben wurden.
Nach dem Aussterben des Nonnenklosters hatte
eine Schar Augustiner-mönche ein Kloster mit Latein-
schule in Hirzenhain gegründet, und sie errichteten
die herrliche Kirche mit der nach der Nordseite an-
gebauten gotischen Kapelle. Als die Lehren der
Reformation sich verbreiteten, starb auch dies Mönchs-
kloster ans, und die Lateinschule giug ein; aber
Hirzenhain verlor dadurch nichts von seiner Be-
deutung, zumal das Ansehen der Klöster schon seit
Jahrzehnten gesunken war.
Nach manchem Wechsel, wie er in jenen Zeiten nicht
selten vorkam, wurde das Städtchen Hirzenhain
Eigentum der Grasen zu Stvlberg, die auch im
benachbarten Ortenberg ein Schloß besaßen und
daselbst die Gerichtsbarkeit — letztere in Gemein-
schaft mit dem Grafen von Hanau — ausübten.
Dies also war der neue Wirkungskreis des Pfarrers
Laukhardt. Er fand bei seiner neuen Gemeinde, die
zur Hälfte aus Arbeitern im Hüttenwerk und zur
Hälfte aus Bauern bestand, freundliche Aufnahme.
Die Stelle war für die damaligen Berhältnisse
eine der besseren, denn sie brachte ihrem Inhaber
außer dem üblichen Flachs- und Fruchtzehnten noch
ein: am Gründonnerstag aus jedem Haus die
Lieferung von einem Albus Eier, in der Erntezeit
eine Garbe Gerste, zu Advent eine Meste Korn
und einen Hahn und dazu an Bargeld 27 Gulden.
Die Amtsthätigkeit Laukhardts in Hirzenhain
war eine sehr gesegnete. Er predigte kernig und
kraftvoll und fand deshalb eine zahlreiche Zuhörer-
schaft; Arme und Kranke besuchte er fleißig und
nahm sich des Jugendunterrichts mit großer Treue an.
Seine Stiefkinder zog er aus in Zucht und Ber-
mahnung zum Herrn, zumal ein Söhnlein, das Gott
im Jahre 1695 dem Ehepaare schenkte, und dessen
Geburt mit Freude begrüßt wurde, nach kurzer
Zeit wieder starb und die weitere Ehe Laukhardts 1
kinderlos blieb.
Die Gemeinde, die den eifrigen Pfarrer wirklich
lieb gewonnen hatte, nahm herzlichen Anteil an
Freude und Leid im Pfarrhaus.
Zweites Kapitel:
Der Ortenberger Kirchenstreit.
Jahre vergingen; die zwei Worte schreiben sich
so leicht hin und schließen doch so vieles in sich:
Freude und Leid.
In dem eine gute Stunde thalabwärts gelegenen
Städtlein Ortenberg starb am 31. März 1711 der
von der Grafschaft Stolberg eingesetzte lutherische
Pfarrer Konrad Faust. Tie Einsetzung eines neuen
lutherischen Pfarrers seitens des Stolberger Graseil
verzögerte sich aus irgend welchem Grunde, und so
dachte der Gras von Hanau, der resormierteu Be-
kenntnisses war, für seinen Anteil an Ortenberg
einen reformierten Pfarrer einzusetzen. Er bestimmte
hierzu, um dem Stolberger Graseu zuvorzukommen,
den Pfarrer des auch zu Hanau gehörigen kaum eine
halbe Stunde entfernten Selters, namens Johann
Georg Blum. Dieser beeilte sich auch, bereits am
nächsten Sonntag in Begleitung geistlicher und
weltlicher Herren herüberzukommen, um von seiner
neuen Stelle Besitz zu nehmen. Wie sehr war er
aber erstaunt, das Gotteshaus bereits besetzt und
auf der Kanzel den Pfarrer Laukhardt aus Hirzeil-
, Hain zu finden!
Mit lauter Stimme forderte Pfarrer Blllm den
Pfarrer Laukhardt auf, diese ihm durch die Gnade
des Grasen von Hanau verliehene Kanzel zu ver-
lassen. Laukhardt jedoch entgeguete ihm: „Dies
Gotteshaus ist von meinem gnädigen Herrn zu
Stolberg erbaut; es ist ein lutherisches Gotteshaus,
die lutherische Lehre ist hier rein und unverfälscht
gepredigt worden, und nie soll ein Reformierter an
dieser heiligen Stätte stehen."
Pfarrer Blum zog seine Bestellungsurkunde, die
mit dem gräflich hanauischen Siegel versehen tvar,
aus der Brusttasche, hielt sie hoch und rief: „Hier-
ist mein Dekretum, wodurch ich zum Pfarrer all-
hier in Ortenberg bestellt worden bin."
„Das gilt nicht für mich." antwortete Laukhardt.
„und gilt nicht für die hiesige Gemeinde; Ihr
seid ein Reformierter und nicht von meinem aller-
gnädigsten Grasen eingesetzt; geht hin nach Stol-
berg und laßt Euch als lutherischen Pfarrer bestätigen,
so will ich weichen, so wird auch die hiesige Ge-
meinde Euch aufnehmen; sonst aber, das glaubt
mir, soll hier nie das Evangelium iu reformierter
Weise gepredigt, und nie soll das Sakrament des
heiligen Abendmahls nach Eurer Weise gespendet
werden."
„Nach unsrer Weise?" fuhr Blum aus, „haben
wir denn den falschen Glauben? ich meine, Ihr
Lutherischen v e r st e h t n i ch t e i n m a l d i e W o r t e,
die unser Herr bei der Einsetzung des heiligen
Abendmahls sprach."
124
Ein dumpfes Gemurmel erscholl aus der ver-
sammelten Gemeinde heraus; drohende Fäuste fuhren
gegen den kühnen Sprecher in die Höhe, — aber
mit Tonnerstimme übertönte Pfarrer Laukhardt
den Lärm und rief: „Mein Haus soll ein Bethaus
sein, spricht Christus, und kein Ortenberger macht
es zur Mördergrube; laßt mich dem Manne antworten
aus der heiligen Schrift!" Mit diesen Worten
wandte er sich zu Blum und fragte: „Antwortet
mir! Hat nicht Christus ausdrücklich gesagt: das
ist mein Leib? — darum glauben wir. daß Christus
uns unter dem Brot seinen wahren Leib geben
will und gibt!"
„Nein," antwortete Blum, „wenn der Herr sagt,
das ist mein Leib, so ist es nicht mehr Brot,
sondern ist wirklich sein Leib; da aber die Jünger
den Herrn im Leib noch am Tisch sitzen sahen, so
war es nicht sein Leib, sondern Brot, und des-
halb haben sie Christi Worte ebenso verstanden,
wie wir, nämlich; das bedeutet meinen Leib."
„Was die Jünger verstanden, ist nns lutherischen
Christen einerlei; wir halten uns an das, was
Christus gesagt hat; es gilt, dem Worte des Herrn
einfältig zu glauben, und Christus hat gesagt: das
i st mein Leib", entgegnete Laukhardt mit Überzeugung.
„Also," fuhr da Blum fort, „wir essen Brot,
das für uns ein Sinnbild des Leibes Christi ist,
und ihr eßt Fleisch — da seid ihr übel dran, denn
Christus hat gesagt: Ter Geist ist, der lebendig
macht, das Fleisch ist nichts nütze."
Aber der schriftkundige Lankhardt antwortete:
„Christus hat auch gesprochen: Mein Fleisch ist
die rechte Speise; deshalb glauben wir ihm auch,
wenn er bei der Einsetzung des heiligen Abendmahles
spricht: das ist mein Leib."
-----------»•
Aus Heimat
Joseph Sch w a n k f. Am 15. April starb
zu Frankfurt a. Al. der frühere Garnisonsauditeur
Joseph Sch w a n k, einer der Mitbegründer und
treuesten Alitarbeiter des „Hessenland". Am
18. Januar 1820 zu Fulda als Sohn des kur-
fürstlichen Rentmeisters I. Schwank geboren, widmete
er sich, nachdem er das Gymnasium seiner Vater-
stadt besucht hatte, 1840 dem Studium der'Juris-
prudenz aus der Universität Marburg. Ein flotter
Corpsstndent hat der Verewigte das studentische
Leben seiner Zeit in seinen im „Hessenland" er-
schienenen „Marburger Erinnerungen" (Jahrgänge
1889, S. 174 u. 821 ff., 1894, S. 215 ff.) mit
lebhaften Farben geschildert. Im November 1840
bestand er das Staatsexamen und wurde auch
von dem gestrengen Justizminister Bickell zum
Ein Beifallsgemurmel erhob sich unter der ganzen
Zuhörerschaft, und als einer der Begleiter Blums
diesem ein paar Worte ins Ohr flüsterte, nickte der-
selbe zustimmend und sagte dann laut: „Ich sehe,
wir kommen hier zu keinem Ziele; ich weiche für
heute von diesem Platze, aber ich behalte mir Be-
schwerde vor bei meinem gnädigen Herrn Grasen
von Hanau, und ich werde zu gegebener Zeit doch
wieder hier sein." —
„Ganz dasselbe will ich thun," fiel ihm Lauk-
hardt ins Wort, „ich werde meinen gnädigen Herrn
in Stvlberg von dem Geschehnis in Kenntnis setzen,
aber ich werde auch, sobald Ihr wieder hierher
kommt, immerdar am Platze sein."
Da erhob sich aus der Zuhörerschaft plötzlich die
breitschulterige Gestalt des gräflich stolbergischen
Oberamtmannes und rief mit dröhnender Stimme
über die Versammlung hin: „Und von heute ab
werde ich die Kirche verschließen, bis dieser Streit
zwischen den beiden Herrschaften entschieden ist."
„Wie?" rief Laukhardt, „Ihr wollt dem reinen
Worte Gottes die Thür verschließen?"
„Ihr wollt also offene Feindschaft mit dem
Grasen von Hanau beginnen, der mich dahier in-
stallieret hat?" schrie Blum dazwischen.
„Was ich thue, werde ich verantworten können",
sagte der Amtmann, dem der Wortwechsel im
Gotteshaus ärgerlich war, und ging davon.
Diesem Beispiel folgte auch Pfarrer Blum mit
seiner Begleitung, und Laukhardt blieb als Sieger
zurück und hielt seinen Predigtgottesdienst. Am
Abend schrieb er dann in seine Hirzenhainer Psarr-
chrvnik ein, daß er heute zu Ortenberg „für das
Vaterland" gefochten habe. —
(Fortsetzung folgt.)
<4--------------
und Freinde.
juristischen Vorbereitungsdienst in Kurhessen zu-
gelassen. 1851 wurde Schwank Rechtspraktikant
bei dem Justizamt Oldendorf*), Berwaltungs-
amt Rinteln, wo er als Vertreter der Staats-
behörde fungierte, uiib sodann 1854 Garnisous-
auditeur in Hanau. 1805 erfolgte feine Versetzung
als Aktuar nach Naumburg, wo er 1808 Sekretär
wurde, welche Stellung er auch von 1871 bis zu
seiner Ende der 70er Jahre nach Reorganisation
*) Bei dem Heranziehen der Staatshandbücher bez. der
von dem Verewigten innegehabten Stellungen ergab sich
die auffallende Erscheinung, das; von 1851 bis einfchl.
1862 bei Schwank die Vornamen Adam Joseph zu lesen
sind, 1863 und 1864 aber Anton Joseph, später regel-
mäßig nur Joseph. 1877 wird sodann der einfache
Schwank plötzlich mit einem ek versehen und kommt als
„Schwanck" auch noch in den folgenden Jahren vor.
125
des Gerichtswesens stattgefnudeuen Pensionierung
bei dein Amtsgericht I in Kassel bekleidete. Auch
er zählte zu den schon mehrfach erwähnten „akade-
misch gebildeten hessischen Aktuaren, die nach der
Einverleibung in die große Klasse der Subaltern-
beamten zurückversetzt wurden", ein schwerer Schlag
sür die alten Musensöhne. In den Ruhestand
getreten, behielt er zuerst seinen Wohnsitz in
Kassel bei, vertauschte denselben aber später mit
Frankfurt a. M., der Heimat seiner Gattin, wo
er hochbetagt entschlafen ist. Joseph Schwank hat ;
seinem Namen ein bleibendes Gedächtnis haupt-
sächlich durch die Schenkung seiner wertvollen
Büchersammlung an die Landesbibliothek seiner
Vaterstadt Fulda gesichert. (Siehe hierüber „Hessen-
land" 1860, S. 143 u. 1891, S. 162.) Allen
hessischen Geschichtssrennden aber ist er lieb und
wert geworden durch die unerschütterliche Anhäng-
lichkeit an seine engere Heimat, welcher er stets
durch Wort und Schrift Ausdruck verlieh, wie
er sie auch in unserer Zeitschrift von Anbeginn
derselben treulich bekundet hat. Neben vielen
größeren Aufsätzen verdanken wir ihm eine Menge
kleinerer Beiträge zu der Rubrik „Aus alter und
neuer Zeit", d'a ihm seine umfassende Geschichts-
kenntnis stets Veranlassung zu interessanten Mit-
teilungen gab. Mit dem ersten Herausgeber des
„Hessenland", dem ihm schon 1894 im Tode voraus-
gegangenen Ferdinand Zwenger, war er eng
befreundet und hat seinem Fuldaer Landsmann
bis zn dessen Heimgang getreulich mit Rat und
That beigestanden, denn die Pflege uneigennützigster
Freundschaft war eine seiner wesentlichen Charakter-
eigenschaften.
Außer den bereits erwähnten „Marburger
Erinnerungen" und zahlreichen kleineren geschicht-
lichen Artikeln sind im „Hessenland" von Joseph
Schwank die nachfolgenden Aussätze und histo-
rischen Rückblicke erschienen:
Hessische Ehrentafel. Chronologische Zusammen-
stellung der Schlachten, Gefechte rc.. an welchen die
Hessen seit dem 30jährigen Kriege teilgenommen haben.
Jahrgang 1887 und 1888.
Hessische Offiziere. Ein Beitrag zur hessischen
Atilitärgeschichle. Jahrgang 1888 und 1889.
Ein Beitrag zur E r z i e h u n g n n d B i l d u n g
hessischer Prinzen. Jahrgang 1889, S. 48.
Hessische Offiziere im Dienste des schwarzen
K v n i g s H e i n r i ch I. v 0 n H a 1 t i. Jahrgang 1889,
S. 361 f.
Eine Jugend e r i n n e r u n g. Jahrg. 1894, S. 186 f.
Das Fuldaer Liebhabertheater. Jahrgang
1895, S. 7 f.
Alte Hä »ser i n Fu l d a. Jahrgang 1895, S. 132 f.,
159 f.
D i e K i rch weihe in Klein sa s se n. Jahrgang 1896
S. 9 f.
Hessischer Geschichtsverein. Der letzte
wissenschaftliche Unterhaltung sabenddes
hessischen Geschichtsvereins zn Kassel für das ab-
gelaufene Winterhalbjahr fand am 21. April im
Eafö Merkur statt. Der Vorsitzende, Herr General
Eisentraut, teilte den Versammelten mit, daß
im Mai gelegentlich eines Ausflugs ein Zusammen-
treffen des hessischen mit dem waldecker Geschichts-
verein beabsichtigt sei. Tie darauf folgenden Bor-
träge wurden von den Herren Di-. Schwarzkopf,
Kanzleirat Neuber, Major von Löwenstein,
Direktor Henkel und General Eisen traut ge-
halten. Herr Dr. Schwarzkopf bot wiederum
ein Bild aus der westfälischen Zeit und zwar ein
sehr trauriges, da er die kläglichen Trümmer der
großen Armee behandelte, von welchen ein kleiner Teil
hier am Fackelteich vor dem Leipziger Thor unter den
Rasen gebettet wurde. Eine Anzahl der unglücklichen
aus Rußland heimkehrenden Krieger hatte sich, in
Kassel angekommen, nicht weiter zu schleppen ver-
mocht. Die meisten Offiziere wurden in dem am
Meßplatz gelegenen französischen Hospital unter-
gebracht, aber die Tag für Tag in ganzen Wagen-
ladungen anlangenden übrigen Soldaten kamen in
das Landkrankenhans. Viele der dort verstorbenen
wurde an dem benachbarten Fackelteich bestattet, wo
die Überreste vor einigen Jahren ausgegraben worden
sind. Da der damals an der Unterneustädter
Kirche amtierende Pfarrer Münscher ein genaues
Verzeichnis über die beerdigten Soldaten geführt
hat, so konnten sogar die Namen mitgeteilt werden,
sowie Nationalität, Alter und Angehörigkeit der
Truppe. — Ebenfalls über französische Gäste sprach
daraus Herr Kanzleirat Ne über, aber nicht über
solche, die von Osten, sondern die aus ihrer Heimat
511 uns kamen und denen es hier ungleich besser
ergangen ist, wie jenen. Die Einwanderung der
Hugenotten und ihre Aufnahme unter Landgraf
Karl ist bekannt, weniger weiß man im allge-
meinen über die Anlegung neuer Kolonien unter
Landgraf Friedrich II., die infolge Übervölkerung
der ersten Ansiedelungen sich als notwendig er-
wiesen. Es sind dies Friedrichsdorf, Friedrichs-
feld, Friedrichsthal, Friedrichsstein. Friedrichsane,
Friedrichsbrück, Friedrichshof, Friedrichsburg, Fried-
richshöhe, Friedrichswald und die nach des Land-
grafen Gemahlin genannten weiteren Kolonien:
Philippinenhof, Philippinenbnrg, Philippinendorf
und Philippinenthal. Dieselben waren für je zehn
Familien angelegt, wurden als Stadtdörser be-
trachtet, brauchten keine Herrendienste zu thun und
waren von allen Abgaben frei. — Herr Major
von Löwen stein machte Mitteilungen über Dr.
Johannes von Horn, der ein Buch über die
I an Kurfürst Wilhelm II. gerichteten Drohbriefe
126
geschrieben hat, und Herr Direktor Henkel gab
Erörterungen über die Familie von Oeynhausen
und sodann über die Familie von Donop. —
Herr General Eisentraut hielt ferner einen
Bortrag, in welchem das Elend geschildert wurde,
welches der siebenjährige Krieg über Oberhessen
gebracht hatte und zwar nicht einmal von Seiten
der Feinde, sondern durch die befreundeten engli-
schen Truppen, welche, nach einem eingehenden
Bericht des Amtsschultheißen Niemenschneider in
Rauschenberg, in der empörendsten Weise hausten.
Erst der Hnbertusburger Friede machte diesen Drang-
salen ein Ende. — So schlossen die so beliebten
Unterhaltungsabende des Geschichtsvereins mit sehr
interessanten Ausführungen, die auf das anregendste
wirkten. —-----------
Universitätsnachrichten. Der Bibliothekar
an der Königlichen Bibliothek zu Berlin Di-. Alfred
Schulze ist in gleicher Eigenschaft unter Bei-
legung des Titels „Ober-Bibliothekar" an die
Universitäts-Bibliothek in Marburg verseht worden.
— Der Universitäts-Professor Dr. von Drach in
Marburg ist zum Bezirks-Konservator des Re-
gierungsbezirks Kassel bestellt worden.
Fulda er Erinnerung. „Prinz Fried-
rich Wilhelm v o n A r d e ck, welcher am 1. April
d. I. in Warmbrnnn ans dem Leben schied,"
schreibt ein geschätzter Mitarbeiter des „Hessenland",
„ist nicht zu Offenbach, sondern in Fulda geboren.
Den Eltern, dem Prinzen Wilhelm von Hessen-
Philippsthal-Barchseld und der Prinzessin Marie
von Hanau, war nach ihrer Vermählung vom
Kurfürsten der südliche Borderflügel des Fnldaer
Schlosses zur Wohnung überwiesen worden. Ter
kleine Prinz hatte eine Frau aus Großenlüder als
Amme bekommen, welche ihn sehr stolz herumtrug.
In einer Gesellschaft von „Kolleginnen" und Kinder-
mädchen, die im Schloßgarten bei schönem Wetter
mit ihren Pflegebefohlenen Staat machten, that
nun die Prinzenamme, als eine jede das schönste
Kind haben wollte, den gelungenen Dialektaussprnch:
„Onser Kuiz is doch von all' de Kiz der schönst
Kurz." Kauz = Kuiz (plur. Kiz) bezeichnet im
Fnldaer Dialekt jedwede männliche Persönlichkeit,
alt und jung."
Beitrag zur hessischen Familiengeschichte.
Die seltene Feier des 90. Geburtstages begeht am
13. Mai zu Berlin eine alte Hessin, die verwitwete
Frau Kanzleirat Wilhelmine Wagner, geb.
Colin. Sie wurde 1812 zu Hanau als älteste
Tochter des Bijouterie-Fabrikanten Charles Colin
und seiner Ehefrau Therese, geb. Römond, zur
selben Stunde geboren, als Napoleon I., von Paris
kommend, aus dem Marktplatz zu Hanau verweilte,
um sich nach kurzer Rast nach Dresden unb von
da an die Spitze der Großen Armee zu begeben.
1841 kam Wilhelmine Colin besuchsweise nach
Berlin und lernte dort ihren zukünftigen Gatten
kennen. Der weiten Entfernung wegen kehrte sie
jedoch nicht wieder nach Hanau zurück (die Reise
mit Ertrapost nahm drei Tage in Anspruch, wo-
gegen es mit der gewöhnlichen Post noch viel länger
dauerte), sondern ihr Vater kam zur Hochzeit nach
Berlin. Von den vier der Ehe entsprossenen Kindern
sind noch zwei am Leben, eine Tochter Elisabeth
und ein Sohn Wilhelm, beide in Berlin wohnhaft.
Bemerkenswert und für die Verbreitung der Hugc-
nottensamilien in Hessen charakteristisch ist es, daß
zwei Töchter der selbst von väterlicher wie mütter-
licher Seite solchen Familien entstammenden Dame
wieder mit Nachkommen französischer Einwanderer
(dem Major Gissot, dem letzten Kommandanten
von Spangenberg, und dem Weinhändler le Goullon
in Kassel) verheiratet waren.
Eine Erinnerung an den 18. Oktober
186 3. Der in Wahlershausen am 27. März 1902
verstorbene Privatmann Wilhelm Schumann
war früher Privatbereiter in Kassel und hat insofern
eine Rolle gespielt, als er am 18. Oktober, da-
mals 39—40 Jahre alt, dem herrlichen und groß-
artigen Festzuge, welcher sich vom Rathause durch
mehrere Straßen der prachtvoll geschmückten Stadt
zum Forste vor dem Leipziger Thor bewegte, um
dort mit Fürst und Militär die 50jährige Jubel-
feier der Völkerschlacht bei Leipzig zu begehen, als
Herold, angethan mit den damaligen Farben Deutsch-
lands: schwarz, rot und gold, und mit dem
schwarz-rot-goldenen Banner in der Rechten, voran-
ritt, eine äußerst stattliche und imponierende Er-
scheinung, welche die lebhafte Bewunderung von
jung und alt hervorrief.
Es war dieser 18. Oktober 1863 einer der
schönsten Tage in der Geschichte unseres engeren
Vaterlandes und höher schlug damals jedem braven
Hessen das Herz in der Brust. G. M.
Todesfälle. Am 13. April verschied im
82. Lebensjahre Leonhard Schultheis, von
1848 bis 1. Januar 1889 zuerst als Praktikant
und später als Sekretär an der Kasseler Landes-
bibliothek thätig. Er hatte. als Sohn des Re-
gierungsrates, nachherigen Oberappellationsgerichts-
rates Schultheis in Fulda geboren, das Pädagogium
zu Marburg und das Gymnasium zu Kassel be-
sucht und studierte in Marburg und Göttingen
Philologie. Nachdem er 1846 am Gymnasium
zu Fulda praktiziert, erhielt er die Stelle an
127
der Landesbibliothek zu Kassel. Während seiner-
langen amtlichen Thätigkeit erwies er sich als
ein sehr gewissenhafter Beamter und zeigte im
Verkehr mit dem Publikum das größte Entgegen-
kommen. — Ebenfalls am 13. April starb zu
Berlin der vortragende Rat im Reichseisenbahn-
amt, Wirkliche Geheime Ober-Baurat Wilhelm
Streckert. Am 22. November 1830 in Kassel
geboren trat er 1848 als Baueleve in das techni-
sche Bureau der Oberbankommission der kurfürst-
lichen Residenzstadt ein, linb im Jahre 1866 finden
wir ihn immer noch in derselben Stellung, zu-
gleich aber auch als Ingenieur auf dem technischen
Zentralbnreau der Direktion für den Bau der
Bebra-Hanauer Eisenbahn. Er hatte während dieser
18 Jahre die Polytechnische Schule und die Uni-
versität München besucht und. war beim Bau der
Eisenbahnen in Knrhessen, Preußen, Rußland und
Baiern thätig gewesen, da den Baueleven die
Unterbrechung des Vorbereitungsdienstes behufs
Beschäftigung für Eisenbahnbauten rc. auf unbe-
stimmte Zeit gestattet war. 1869 wurde er, nach-
dem er in den preußischen Staatsdienst übergetreten,
Eisenbahn-Bauinspektor und 1873 Kaiserlicher
Regierungsrat und ständiger Hilfsarbeiter beim
Reichseisenbahnamt. Seine außerordentlichen Fähig-
keiten ließen ihn immer weiter steigen, bis er 1895
zum Wirklichen Geheimen Ober-Baurat mit dem
Range eines Rates I. Klasse befördert wurde.
Seit 1880 gehörte er der Akademie des Bau-
wesens als ordentliches Mitglied an, auch war er
seit einer langen Reihe von Jahren erster Vor-
| sitzender des Vereins für Eisenbahnkunde. — Einem
Schlagansall erlag am 15. April in Kassel Pro-
fessor Dr. Oskar Kius, seit 1872 Lehrer am
hiesigen Friedrichs-Gymnasium. Zu seinen Schülern
zählte als Prinz auch Seine Majestät Kaiser-
Wilhelm II. Professor Dr. Kins war 1848 zu
Weimar geboren. — Nach kurzer Krankheit ver-
schied am 19. April in Kassel der Kunstmaler
Siegmund Gerechter. Derselbe, 1850 in
Berlin geboren, wo er sich ans der Königlichen
Akademie ausgebildet hatte, kam auf Anregung des
Hoftheaterintendanten Freiherrn von Gilsa gegen
Ende der siebziger Jahre nach Kassel und zählte
daselbst zu den gesuchtesten Portraitisten. — Am
24. April verschied zu Fulda der Geheime Jnstiz-
rat Edmund Mackeldey im 80. Lebensjahre.
Er war der Sohn des Oberappellationsgerichts-
rats Friedrich Mackeldey, welcher von 1837 bis
1846 kurhessischer Justizminister war. Edmund
Mackeldey wurde, nach beendigtem Studium, 1846
Obergerichtsreferendar in Kassel und bei der Staats-
prokuratur beschäftigt. 1855 trat er als Amts-
assessor bei dem Justizamt II in Marburg ein und
verblieb daselbst bis 1858, wo er Stadtgerichts-
assessor beim Stadtgericht in Kassel und sodann
1861 Unterstaatsprokurator bei dem Obergericht
daselbst wurde. 1863 erfolgte seine Versetzung als
Staatsproknrator an das Obergericht nach Fulda.
1867 zum Staatsanwalt beim Kreisgericht daselbst
ernannt, wurde er 1879 Amtsgerichtsrat, in welcher
Stellung er bis 511 seiner Pensionierung im Jahre
1899 verblieb.
Hessische Bücherschau
Strom berge r, Christian Wilhelm. Biographische
Charakterbilder. Frankfurt a. M. (Heider
& Zimmer) 1901.
Diese Sammlung kleinerer Schriften ergänzt in mancher
Hinsicht das Bnch desselben Verfassers über die „Geistliche
Dichtung in Hessen". Für die Beurteilung der „Bio-
graphischen Charakterbilder" im „Hessenland" können in
der Hauptsache natürlich nur die Aufsätze in Betracht
kommen. die in irgend einer Hinsicht ans Hessen Bezug
haben. Da ist nun die Ausbeute gering. Viel Neues
bringt keines der Bilder, wenn auch diejenigen über
Erasmus Alberus und O. Glaubrecht in den Kreisen
hessischer Litteraturfreunde Interesse erregen mögen. Nament-
lich der letztere Aussatz über den bekannten oberhessischen
Volksschriftsteller R. Oeser (0. Glaubrecht) dürfte, da aus
eigenen Erinnerungen geschrieben, besonders hervorgehoben
werden. Eine Biographie und Würdigung der Werke
Glanbrechts soll und will der Artikel nicht sein. So
bringt er namentlich an biographischem Material schon
längst bekanntes. Immerhin sind einige Anssprüche Glaub-
rechts. die mit hinein verwoben wurden, von Interesse.
Stromberger schrieb seine Charakterbilder vom Stand-
punkt des streng religiös-kirchlich gesinnten Mannes, und
wir können uns aus rein ästhetischen Erwägungen mit
manchen seiner Urteile über dichterische Werke nicht ein-
verstanden erklären. Strombergers Bedeutung für die
Litteraturgeschichte unseres hessischen Vaterlandes, besonders
auf dem Gebiete der geistlichen Dichtung, ist bekannt. Er
fügt seinem Bauwerke, das er in vielen Jahren aufgebaut,
einen neuen Stein hinzu. Seine Bedeutung wird aber
kaum in diesem Buche beruhen; seine „Geistliche Dichtung",
seine Neuausgabe älterer, namentlich geistlicher Dichtungen,
so der Landgräfin Anna Sophia von Hessen-Darmstadt,
über die der fünfte Aufsatz im vorliegenden Buche handelt,
sichern ihm die Beachtung aller derer, die sich eingehender
mit der hessischen Litteraturgeschichte befassen.
_________Alexander Würger.
Gedichte von Gustav Adolf Müller. Kassel
(Karl Vietor, Hofbuchhandlung). M. 1.—
Die Sprache ist klangvoll, die Form rein und untadelig,
der Reim meist klar und ungesucht, der Gedanke deutlich,
und der Gebrauch von Bild und Vergleich bekundet das
sinnige Talent. Die Lieder strömen aus einem reichen
Schatz seelischer Erfahrungen und Erlebnisse, zeugen zwar
nicht von himmelstürmender Glut, sind aber doch voller
Farbe und Frische, Blut und Wärme. Hoffentlich findet
128
der Verfasser in unserer hessischen Heimat soviele Freunde
und Leser, daß ihm die Freude an weiterem Schaffen er-
halten bleibt. Walentin Brandt.
Peter No ekler. Die Geschichte eines Schneiders.
Von W i l h e l m Holz a m e r. Leipzig (Hermann
Seemann Nachfolger).
Der Verfasser, von dem ich im vorigen Jahre schon
bei der Besprechung seines Buches „Im Dorf und
draußen" Rühmliches sagen konnte, hat uns in „Peter
Nockler" ein äußerst scharfes Bild aus dem kleinbürger-
lichen Leben beschert. Der Schneider ist eine beschauliche,
tiefinnerliche Natur, ein stiller Kämpfer und — Sieger.
Holzamer hat in ihm ein wahres Kabinettstück psycho-
logischer Beobachtungsknnst geliefert nnd sich wiederum
als echter Volkskenner und Volkserzähler erwiesen. Schon
bei ihrem ersten Erscheinen in der „Deutschen Roman-
bibliothek" hat sich die Geschichte viele Freunde erworben,
zu denen nun die Buchausgabe zahlreiche neue gewinnen
wird. Walentin Traudt.
Trendila. Eine Sage aus dem Sachsengau
und Schwarzwald von R. Suchier. Mit
Buchschmuck von F. Grein er. Freiburg i. B.
(G. Ragoczy (E. Iedele)) 1902.
Die an der Weser und Diemel gelegenen Burgen bieten
den Dichtern mannigfachen Stoff, der bislang jedoch nicht
genügend benutzt worden ist, da es fast den Anschein hat.
als ob Schillers wenig gerechtfertigtes Wort die Weser
bei den Poeten in dauernden Mißkredit gebracht habe.
R. Suchier hat es nun in dem vorliegenden Gedicht unter-
nommen . eine der Hauptsagen des Wesergebietes poetisch
zu gestalten, ist aber insofern ebenfalls dem Zug der Zeit
gefolgt. als er den Sachsengau mit dem Schwarzwald in
Verbindung bringt, der bei dem Publikum in Bezug auf
Romantik allerdings in besserem Ansehen steht. So ist das
Interesse, das die Dichtung erweckt, kein einseitiges, denn
dem nördlichen wie dem südlichen Deutschland wird sie
willkommen sein. Da die wilde, schreckenverbreitende Trendila
I und ihr Untergang in den „Wolkenbrüchen" bei Trendel-
burg im Mittelpunkt der Handlung stehen, eignet sich das
Buch aber besonders für das Hessenland. Der Leser wird
darin ergreifende Schilderungen menschlicher Verhältnisse
aus jener längst vergangenen Zeit finden, in welcher die
Erdbewohner dem Übermenschentum unbewußt weit näher
standen, als die heutige, geschniegelte Welt. Die Natur
tritt uns lachend und grollend entgegen, und beides weiß
der Dichter mit gut gewählten Farben wiederzugeben. Daß
einige nicht einwandfreie Reime mitunterlaufen, soll bei
den zwölf Gesängen nicht weiter in Betracht gezogen werden.
Ter Buchschmuck von F. Grein er. sowie, die sonstige
Ausstattung, geben deni Gedicht ein gefälliges Äußere. 23.
„Das Vater Unser" für eine hohe oder tiefe
Singstimme mit Klavier-, Harmonium- oder
Oraelbealeitnna von I o h. L e w a l t e r. Berlin
(Ries & Erler).
Dieses wahrhaft tief empfundene und zu Herzen sprechende
Werk des auf dem Gebiete der vokalen Musik verdienst-
vollen Komponisten sei allen den Sängern und Sängerinnen
warm empfohlen, welche ihre Kunst auch in den Dienst
des öffentlichen Kirchensologesanges gestellt haben. Es
erblüht ihnen im Vortrage dieses Opus eine Aufgabe, in
deren Ausführung sie sich die größte Sympathie ihrer
Zuhörer sichern können. M.
Personalien.
Verliehen: dem Geheimen Regierungsrat a. D.
E a l l e n b e r g und dem Steuerrat a. D. Gehr m a n n
z» Kassel der Rote Adlerorden 3.-Klasse mit der Schleife:
dein Oberlehrer a. D. Professor Dr. Horn st e i n zu Kassel,
dem Bergrat a. D. Franke zu Lbernkirchen und den einer.
Pfarrern D i t h m a r zu Altenburschla und Achilles zu
Marburg der Rote Adlerorden 4. Kl.; dem Regierungssekretür
a. D. K i r ch n e r in Kassel der Königliche Kronenorden 4. Kl-
Ernannt: Regierungsassessor Dr. jur. von Metten -
hei in er in Rotenburg zum Landrat des Kreises Roten-
burg; Amtsrichter Hasse zu Fulda zum Landrichter in
Kassel; Forstassessor Kühn zu Vöhl zum Königl. Ober-
förster ; Gerichtsassessor B o ek zuni Amtsrichter in Eiterfeld;
die Pfarrer Al a r t i n in Sontra nnd Schmitt in
Spangenberg zu Aletropvtitanen; Pfarrer Dia. theol.
Schüler aus Marburg zum Gouvernements-Pfarrer
beim Kaiserlichen Gouvernement von Kiantschou; Berg-
inspektor S ch u l tz e zu Obernkirchen zum Bergwerksdirektvr
bei dem Gesamtbergamt daselbst; Referendar Apel zum
Gerichtsassessor; die Rechtskandidaten L a m P e r s b a ch und
Lud w i g zu Referendaren; Zollpraktikant Lutze zu
Wiesbaden zum Hauptzollamtsassistentcn in Emmerich a. Rh.
Versetzt: Forstmeister H i l s e n b e r g in Doberschütz
auf die Oberförsterstelle Schmalkalden; Salinendirektor
Walther in Sooden a. d. W. nach Lüneburg; Bergwerks-
direktvr Zirkler zu Habichtswald nach Sooden a. d. W.
Geboren: ein Sohn: Königl. Landmesser Theodor
Ra bene ick und Frau Gertrud, geb. Wolleuhanpt
lMelsungen, 22. April); eine Tochter: Pastor Roth fuchs nnd
Frau Johanna, geb. Marburg (Rodenberg. 20.April).
Gestorben: Vortragender Rat im Reichseisenbahnamt
Wirklicher Geheimer Oberbanrat S t r e ck e r t, 71 Jahre alt
lBerlin. 13. April); Landesbibliothekssekretär a. D. Leon-
hard Schultheis. 81 Jahre alt (Kassel, 13. April);
Versicherungsinspektor a.D. Eduard Petersen, 72 Jahre
alt (Kassel, l4. April); Frau Lina Artmann, geb.
Früh. 51 Jahre alt (Kassel, 14. April); verw. Frau
Katharine Haupt, geb. P l i t t. 78 Jahre alt (Kassel,
14. April); verw. Frau Erste Staatsanwalt Amalie
W i l he lm i. geb. Scholl, 74 Jahre alt (Kassel, 14. April);
Oberlehrer Professor Dr. Oskar Kius, 53 Jahre alt
(Kassel, 14. April); ehemaliger Kurfürstlicher Anditeur
Sekretär a.D. I v s e p h S ch w a n k. 82 Jahre alt (Frank-
furt a. M., 15. April); Frau Marie Liebehenz,
geb. Hupfeld. 60 Jahre alt (Hanau, 15. April);
Königlicher Förster L. Spies, 67 Jahre alt (Forsthaus
Hemelberg bei Veckerhagen, 16. April); Frau Amtsanwalt
Julie S p o h r, geb. D ö l l e, 57 Jahre alt (Kassel-Wehl-
heiden, 18. April); Kunstmaler Siegmund Gerechter.
51 Jahre alt (Kassel. 19. April); Privatmann Theodor Hild,
72 Jahre alt (Kassel, 20. April); Lehrer a. D. H e i n r i ch
« ch e f e r. 81 Jahre alt (Kassel, 20. April); Frau Johann a
Jung. geb. Jacobs, 70 Jahre alt (Kassel. 21. April);
Frl. Sophie Ne üb er, Tochter desMediziualrats, 74 Jahre
alt (Kassel. 21. April); Königl. Landrentmeister a. D.
Rechnungsrat Karl Brehm. 72 Jahrealt(Kassel,23.April);
Frau Georgine Stück, geb. Specht, 46 Jahre alt
(Kassel. 23. April); Sprachlehrer Heinrich Eisenträger
(Kassel. 24.April); Geheimer Justizrat Edmund M a cke l -
dey. 79 Jahrealt(Fulda.24.April):KaufmaiinFriedrich
Wilhelm Köster (Kassel, 26.April); Bürgermeister Karl
Heinrich Herbener. 38 Jahre alt (Marbach. 26. April);
Königl. Eisenbahnsekretär a. D. Karl Poppe, 74 Jahre
alt (Kassel, 27. April); Kaufmann Julius G u n d e l a ch,
60 Jahre alt (Kassel. 28. April).
Für die Redaktion verantwortlich: W. Bennecke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.
M 10.
XVI. Jahrgang.
Kassel. 16. Mai 1902.
Rückkehr.
I.
kehr' mich so einfach sein wie Du,
kehr' mich so selbstvergessen sein!
So schlicht in dem, was wahr und recht,
In meiner Lieb' so stark und rein!
Ich wandre durch den lauten Markt
Des kebens meiner Jugend zn.
Zu Deinen Füßen sitz' ich still,
Don Dir beschirmt in sel'ger Ruh.
In Dein gefurchtes Angesicht
Und in Dein Auge scharf und klar
Schau' ich empor, wie damals, da
Ich unbewußt Dein Kind nur war.
Da lernt' ich nicht genug von Dir.
Nun kehr' ich wieder, schamvoll fast,
Und werde nach so langer Zeit
All Deiner reichen Güte Gast
Und beuge unter Deine Hand
Mein müdes Haupt und fleh' Dich an:
Mach' mich so einfach, wie Du warst,
Der heilig seine Pflicht gethan.
II.
Schwer fiel auf Dich die Hand des Schicksals nieder,
So schwer, so hart, daß Deine Kraft erlahmte
Und daß Dein stolzer Schritt nicht überbrückte
Den Wust, den rings um Dich das Leben kramte.
So wardst Du still. Dich trug nicht hoch zum Fimmel
Lin stolzer Flug, ein heißer Traun: des Glückes —
Mit kleinem Maß teilt' Dir die karge Gabe
Die geiz'ge Laune ärmlichen Geschickes.
Doch warst Du groß. Aus Deiner Kleinheit hat
Lin starker Wille Dich zum Ziel getragen!
Und ewig bleibst Du für Dein suchend Kind
Lin leuchtend Beispiel in des Lebens Tagen.
Regensburg Cberese Keiter Kellner (m. fkrbert).
Klage der Verlorenen.
wer rettet? wer rät?
Zu spät! — Zu spät!
wir haben verloren
Den weg zu den Thoren
Ins ewige Licht.
Auch finde» wir nicht
Die Straße zurück
Zum leuchtenden Glück,
Zum Glück neu-lachenden Lebens,
vergebens
Schien uns das Licht.
Am willen zerbricht
Der Gottheit gütigste Gabe:
Und wir wollten nicht!
Nun zieh'n wir zum gähnenden Grabe,
Zu Gräbern ohn' Ruh' . . .
Hülle uns zu,
Mantel der Nacht,
Schirmende Macht
Aller von Schmerzen
Zerrissenen Herzen . . .
Doch bricht ein Schein
Allmächt'ger Erlösung
In Höllen hinein —
Dann gib Genesung
Der Sehnsucht der Sünder,
Dem Heimweh der Späten,
Die darum. Herr, beten:
Daß all' Deine Kinder,
In Reue gereinigt,
Lin Himmel vereinigt.
Vberklingen. Karl krNSt KNSÜt.
Hessen-Darinftaöts Abfall von Napoleon I
Non Or. pliiì. Berger in Gießen.
Notwendigkeit des Anschlusses an Napoleon.
Zur Abwehr der ihnen von dem neuen
französischen Imperator, der bereits im Jahre
1803 Hannover besetzt hatte, drohenden Gefahr
schlossen im Jahre 1805 England, Rußland,
Österreich und Schweden die dritte Koalition.
Baiern, Württemberg und Baden, die, bei Er-
öffnung des französischen Feldzugs gegen Österreich
in der Operationslinie des französischen Macht-
habers lagen, sahen sich genötigt, 1805 in ein
Bundesverhältnis zu diesem zu treten. Ein gleiches
Ansinnen an den Landgrafen Ludwig X. vou
Hessen wurde von diesem mit der Begründung
abgelehnt, „daß seine Pflicht ihn an das teutsche
Reich und sein Oberhaupt binde". Napoleon
schien diese Rücksicht zu achten. Die aus Hannover
in Oberhessen einrückenden französischen Truppen
fanden beim Durchmärsche rücksichtsvolle Aufnahme.
Es war dies die Nachwirkung der humanen Be-
handlung, die Stadt und Universität Gießen im
Revolutionskriege 1799 seitens des französischen
Generals Bernadotte, der auch jetzt wieder das
durchziehende Armeekorps kommandierte, erfahren
hatte. Die Universität Gießeu, die der französische
Befehlshaber in seinen besonderen Schutz genommen
und mit kostbaren litterarischen Werken beschenkt
hatte, gab ihrem Gönner Beweise des Dankes
und der Verehrung und ernannte ihn später zum
Ehrendoktor.
Beim Heranmarsche der gesamten französischen
Macht unter ihrem Kaiser wurde die Aufforderung
Benutzte Quellen:
A. Akten des Grvßherzogtich Hessischen Hans- und Staats-
archivs zu Darmstadt:
1. Ministerial-Akten. Neutralität 1805. Verhand-
lungen und Ereignisse 1806. Rheinbund A. D.
Convolut 1.
2. Ministerial-Akten. Kriegserklärung und Friedens-
schlüsse 1812 —1814. Rheinbund A. D. Con-
volut 5.
3. Ober-Kriegs-Collegial-Akten, die Reorganisation
des Großherzoglichen Truppen - Corps betreffend
vom 13. November 1813 bis August 1814, Nr. 1a.
bis Io.
an Hessen zum Beitritt mit der Erklärung wieder-
holt, daß bei fernerer Weigerung ein Okkupations-
heer von 10 000 Mann ins Land gelegt würde.
Zur Vermeidung von Konflikten verließ Landgraf
Ludwig Darmstadt, begab sich nach Gießen, nach-
dem er am 2. Oktober seinen Generaladjutanten
von Moren ville zum Kaiser nach Ettlingen ent-
saildt und die Unmöglichkeit seines Beitritts wegen
der Rücksicht aus Preußen hatte erklären lassen.
Die Stellung von 3000 Mann zu Napoleons
Heer lehnte der Gesandte ab und bat um Ver-
schonung des Landes von Requisitionen. Über
den Erfolg dieser Verhandlungen läßt der Land-
graf aus Gießen, den 11. Oktober 1805 x) an
seinen Geschäftsträger in Paris durch folgendes
Schreiben berichten: „Der Major von Moren-
ville ist am 3. d. M. von seiner Sendung zurück-
gekehrt. Er hatte den Kaiser Napoleon zu
Ettlingen im Badenschen erreicht. Se. Majestät
würdigten ihn einer sehr ausführlichen Unterredung,
worin Sie zu beweisen suchten, daß es das wahre
Interesse des Herrn Landgrafen erheische, sich eng
mit Frankreich zu verbinden, und die Verhältnisse
wieder herzustellen, worin sich das Haus Hessen-
Darmstadt ehemals gegen die Könige der dritten
Dynastie befunden habe. Für jetzt begehrte der
Kaiser wiederholt und dringend die Stellung
eines Korps von 3000 Mann .... Verweigere
man ihm die 3000 Mann, so werde er zwar
deswegen das Land nicht feindlich behandeln, aber
dann wissen, was er zu thun, und woran er sich
zu halten habe. Er werde sich alsdann, statt
ö. Druckschriften:
4. Steiner, LudwigI., Großherzog vvn Hessen und bei
Rhein, nach seinem Leben und Wirken. Offenbach 1842.
5. Arthur Kleinschmidt, Bayern und Hessen
1799—1816. Berlin «Verlag von I. Rüde) 1900.
6. D e M a r t e n s. G. Frédér., Nouveau recueil
do traités d’alliance, de paix, de trêve, de
neutralité, de commerce etc. des puissances et
états de l’Europe. Tome IV. 1808—1819.
à Gottingue 1820. sDarmstädter Hofbibliothek. I
7. Großherzoglich Hessische Zeitung auf das Jahr 1813.
’) Darmstädter Archiv: Ministerial-Akten. Neutralität
1805. Verhandlungen lind Ereignisse 1806. Rheinbund
A. D. Convolut I.
131
des Landgrafen, mit einem anderen deutschen
Fürsten verbinden und diesem die Borteile zu-
wenden, die jenem zugedacht gewesen.... Die
schriftliche Antwort des Kaisers auf das von
pp. Morenville überbrachte Schreiben Serenissimi
bestätigt den Inhalt der obigen Unterredung.
Unmittelbar nachdem wurde auch' von Herrn von
Talleyrand eine ausdrückliche Depesche an Herrn
Helfinger erlassen, welche letzterer persönlich hier
nach Gießen überbrachte, und das darin erneuerte
Verlangen durch mündliche Vorstellung auszu-
wirken bemüht war. So sehr indessen Se. Land-
gräfl. Durchlaucht durch die französischen Anträge
Sich geschmeichelt fühlen, und so sehr Sie, nach
Ihren dem Kaiser Napoleon gewidmeten Ge-
sinnungen von Verehrung und Anhängigkeit
wünschten, Sich für diese Partie erklären zu
können, so wären Sie doch durch das gegen den
Berliner Hof übernommene Engagement zu sehr
gebunden, als daß Sie Sich nicht für verpflichtet
hätten halten sollen, bei diesen neueren Umständen
und wiederholten! französischen Ansinnen, ehe Sie
darauf eine definitive Antwort erteilten, Sich
abermals den bestimmten Rat des Königs von
Preußen zu erbitten. Serenissimus haben demnach
beschlossen. HöchstJhren General-Adjutanten von
Oyen, mit einem Höchsten Handschreiben an
Se. Majestät abzuordnen............."
Nach der Schlacht bei Austerlitz und dem Preß-
bnrger Frieden war der Fortbestand des deutschen
Reiches nur noch eine Frage der Zeit. Mit der ge-
planten Errichtung eines Königreichs Westfalen zum
Schutze Hollands und der Abrundung dieses neuen
Staates nach Süden war der Fortbestand der Land-
grafschaft Hessen-Darmstadt bedroht. Um seinen
Staat zu retten, zeigte sich Landgraf Ludwig X.
nach den in Gießen begonnenen und in Darmstadt
svrtgesetzten Verhandlungen im Januar 1806 einem
Bündnisse mit Frankreich geneigt. Es geschah
dies wohl auch unter dem Eindrücke der Nachricht,
daß bei dem Gouverneur zu Darmstadt, dem
General de Werneo, ein Schreiben des Ober-
kommandanten der französischen Armee, des Mar-
schalls Augereau, unter dem 5. Januar 1806
aus dein Hauptquartier zu Heidelberg eingelaufen
sei, aus dem hervorging, daß das französische
Korps Augereaus sich gegen die hessischen Staaten
wenden würde, die Einwohner möchten sich ein-
richten, die französischen Truppen zu empfangen;
man zweifle nicht an einer freundschaftlichen Auf-
nahme. 2) Einige Tage nachher schlug Augereau
sein Hauptquartier in Darmstadt auf. Die Ver-
*) Darmstädter Archiv: Ministerial-Akten. Neutralität
1805 rc. Rheinbund A. D. Convolut I.
[ Handlungen über den Anschluß Hessen-Darmstadts
j an Frankreich zogen sich noch einige Monate
hin, bis der Landgraf schließlich durch ein vom
16. Juni 1806 aus Gießen datiertes eigenhändiges
Schreibens seinen Generaladjutanten Morenville
autorisierte, den Beitritt zu Frankreichs Sache
bestimmt zu erklären: „Da die gegenwärtigen
Umstände Uns bestimmt haben, Herrn von Moran-
ville3 4 *), unsern Generaladjutanten, an den kaiserlich
französischen Hof zu schicken, so ermächtigen Wir
ihn durch dieses Schreiben, jedem Bundesvertrage
mit dem Kaiser der Franzosen beizutreten, alle
unsere Truppen gegen Frankreichs Feinde anzu-
bieten und allen Einrichtungen zuzustimmen, welche
Seiner kaiserlichen Majestät angenehm sind."
Zwischen den Vertretern der Regenten von
Baiern, Württemberg, Baden, Berg und Cleve,
Hessen-Darmstadt, Nassau-Usingen, Nassau-Weil-
burg, Hohenzollern-Hechingen, Hohenzollern-Sig-
maringen, Salm-Salm, Salm-Kyrburg, Psenburg-
Birstein, Aremberg, Lichtenstein, Leyen wurde
unter dem Vorsitze des französischen Ministers
Talleyrand in vierzig Artikeln die Rheinische
Bundesakte beraten. Der Landgraf von Hessen-
Darmstadt hatte als Vertreter den Baron von
Pappenheim entsendet. Die vorerwähnten
Staaten schließen nach Artikel 1 einen Bund unter
dem Namen: Ltats confederes du Rhin.6) $ebcr
Fürst verzichtet auf die Titel, welche auf das
deutsche Kaiserreich Bezug nehmen, und wird am
1. August die Trennung vom Reich dem nächsten
Reichstag anzeigen (3). Napoleon erklärte sich
zum Protektor des Bundes (12) und verlieh fernen
Bundesgenossen Rangerhöhungen und Gebiets-
erweiterungen. Nach der Unterzeichnung dieser
Akte vom 12. Juli 1806 nahm Landgraf Ludwig X.
den Titel eines Großherzogs an. Während seiner
! Zugehörigkeit zum Rheinbünde nahm Hesseu-
Darmstadt an den Feldzügen 1806 und 1807
gegen Preußen, Rußland und Schweden, 1809
gegen Österreich, 1808—1812 gegen Spanien und
England, 1811, 1812 und 1813 gegen Rußland
und Preußen teil.
Lossagung von Napoleon.
Nach den für Napoleon unglücklich verlaufenen
Schlachten von Großbeeren, an der Katzbach, bei
Kulm und Dennewitz war der Glaube an seine
3) Ebenda. Wir geben hier eine Übersetzung des fran-
zösischen Briefes.
*) Es findet sich die Schreibweise Morenville und
Moranville.
") Spätere Schreibweise: Tayllerand.
0) Darmstüdter Akten: Ministerial-Akten rc. Rheinbund
A. D. Convolut I.
132
Unbesiegbarkeit erschüttert worden, und sein Glücks-
stern schien zu erbleichen. Aber nur schwer konnte
unter seinen Bundesgenossen in Deutschland eine
Stimmung auskommen, die zum Abfall neigte.
Baiern suchte sich am ersten von dem Korsen zu
emanzipieren. Durch den Vertrag von Ried am
8. Oktober 1813, der zwischen dem Prinzen
Heinrich XV. von Reuß und dem Grafen Wrede
geschlossen wurde, hatte es seinen Anschluß an
die Verbündeten zugesagt. Die Mitteilung hier-
von ging bald darauf an die einzelnen bairischen
Gesandten, so auch an Herrn von Sulz er in
Darmstadt. Der König Max Joseph betont in
dem Schreiben an seine Gesandten: „In einer
so kritischen und fast verzweifelten Lage ist Mir
kein anderer Ausweg geblieben als der lebhaften,
wiederholten und dringenden Bitten der verbündeten
Höfe nachzugeben und mit ihnen einen Bündnisver-
trag unter günstigen Bedingungen abzuschließen."7)
Unter dem Eindrücke der Nachricht von Baierns
Abtrünnigkeit schreibt der Darmstädter Gesandte
aus Paris unter dem 16. Oktober 18138) an
seinen Hof: „Nach Abgang meines gestrigen unter-
ihänigsten Berichts, erfuhr ich, daß der Baierische
Minister von Getto Nachts einen Courier erhalten
und darauf gestern Vormittag seine Pässe verlangt
habe. Aus Delikatesse bin ich nicht zu ihm ge-
gangen; unterdessen bestätigt sich diese Nachricht
von so vielen Seiten her, daß mir über die
Richtigkeit derselben kein Zweifel mehr übrig
bleiben kann . . . Man sagt, die nächste Ver-
anlassung zu dieser Abberufung sehe, daß der
König von Baiern Se. Majestät den Kaiser
Napoleon um die Einwilligung in ein Neutralitäts-
System gebeten, diese ihm aber verweigert worden
mit der Auflage, sich bestimmt für oder gegen
zu erklären. Inwiefern diese Sache gegründet,
wird man in Darmstadt früher wissen als hier."
7) Veröffentlicht bei Arthur Kleinschmidt.
®) Darmstädter Archiv: Ministerial-Akten. Kriegser-
klärunq und Friedensschlüsse 1812—1814. Rheinbund
A. D. Convolut 5.
In der Gesandtschaftsdepesche 9) vom 18. Oktober
heißt es: „. . . . Die Entblößung eines beträcht-
lichen Teils der Grenze, wodurch die baierischen
Truppen konnten im Rücken angegriffen werden,
die Drohung der alliierten Höfe, und die offizielle
Zusicherung, daß der König an seiner Staats-
größe nichts verlieren solle, scheinen neben Ursachen
geringer Art, die Haupt-Triebfeder der Abtrünnig-
keit gewesen zu seyn . . . ."
Die Mitteilung an die einzelnen Höfe, daß
nach der abgeschlossenen Konvention Baiern
30 000 Mann stellen würde, zu denen 15 000
Österreicher stoßen würden, machte bei den Rhein-
bundfürsten tiefen Eindruck. In Darmstadt suchte
man zunächst eine abwartende Haltung zu beob-
achten. Der bairische Gesandte v. Snlzer wandte
sich in einem Schreiben 10) vom 23. Oktober an
den hessischen Minister von Lichtenberg mit dem
Ersuchen um eine Erklärung seitens seines Landes-
herrn, ans welche Seite er sich in Zukunft stellen
würde, da sonst die Beziehungen der beiden Höfe
abgebrochen werden müßten. Nach Angabe der
Gründe, .die Baiern veranlaßt hätten, ans die
Seite der Verbündeten zu treten, fährt das
Sulzersche Schreiben fort: So wenig der König
von Baiern sich mit dem Gedanken vertraut
machen könnte, mit einem seit langer Zeit be-
freundeten und verwandten Souverän in Kriegs-
zustand zu treten, ebenso wenig möchte er einseitig
über die Fortdauer oder Aufhebung der gesell-
schaftlichen Verhältnisse beider Höfe beschließen.
Ter König stellte es daher dem Großherzoge
anheim. ob der bairische Gesandte seine Pässe
verlangen und ßnne Sendung als beendigt be-
trachten, ob er nur Urlaub nehmen oder endlich
seine gesandtschastliche Stellung ruhig beibehalten
sollte. Davon hing dann auch Abreise oder Ver-
bleiben des hessischen Gesandten am bairischen Hofe
ab. Sulzer bat dann den hessischen Geheimen Staats-
referendar von Lichtenberg um baldige Entscheidung.
y Darmstädter Archiv: Ministerial-Akten rc. Rhein-
bund A. D. Convolut 5.
'") Ebenda.
(Fortsetzung folgt.)
--------------------
Die Kasseler Felsenkeller vor dem Frankfurter Thore.
Von C. Ne über.
(Schluß.)
Inzwischen hatte auch der Bierbrauer Johs.
Peilert, welcher damals gleichfalls (22. Febr.
1825) dort Grundeigeutum erworben von Pierre
Charvin (dermalen zu Paris) für 1000 Thaler, einen
Felsenkeller angelegt (Genehmigung dazu erhellt nicht
aus den Akten) und mußte nur später das Ein-
gangsthor nach der Straße vor dem Frankfurter
Thore hin ändern, wie es noch jetzt ist.
Dann bat Vitus Krause um Anlegung eines
Felsenkellers hinter dem Menagerie-Gebäude in der
133
Aue (später Hofbleiche), worauf aus dem Kabinet
zu Wilhelmshöhe erging:
Rasol. 11. August 1826: Ein für allemal
abgeschlagen, wonach die Residenz-Polizeidirektion
den Nachsuchenden zu bedeuten hat.
K. Ost heim hatte mehr Glück und legte sogar
einen zweiten Felsenkeller an. Auf den ihm dabei
seitens der Polizei gemachten Vorhalt (31. Oktober
1826), daß er nicht die vorgeschriebene Bedingung
erfülle, eine Wirtschaft für Gäste der höheren
Klassen anzulegen, da, solange er die gemeinen
Tanzpartieen halte, kein angesehener Bürger
oder Angestellter das Lokal besuche, äußerte er sich
schriftlich dahin, daß er seine Gäste habe und nur
Sonntags gemischtes Publikum (6. November 1826).
Damit scheint die Sache erledigt.
Aus Gesuch des Bierbrauers Klippel um An-
lage eines Felsenkellers (14. Oktober 1826) und
befürwortenden allerunterthänigsten Bericht des
Polizeidirektors mit dem Schlußsätze: „Ich er-
sterbe in tiefster Ehrfurcht" (16. November 1826)
erfolgte allergnädigste Genehmigung (26. November
1826).
Die Polizeiakten enthalten nun eine Reihe von
Verhandlungen über Anlage von Felsenkellern
seitens verschiedener Bierbrauer. Dieselben be-
ginnen in der Regel mit einem Gesuche an Seine
Königliche Hoheit den Kurfürsten, welches bei der
Kurfürstlichen Residenzpolizeidirektion eingereicht
und von dieser — und was rühmend hervorzuheben
ist, säst stets befürwortend — weiter gegeben
wurde. In den meisten Fällen ging die Angelegen-
heit nunmehr noch an die Oberberg- und Salzwerk-
direktion und dann zuweilen auch an die Oberbau-
direktion, womöglich an deren beide Abteilungen:
des Landbaues und des Wegebaues. An diese drei
Behörden gingen die Akten, wenn voraussichtlich
umfangreiche Bauten vorgenommen werden sollten,
nnd erst mit der Befürwortung jener kamen sie in
die Hände des Landesherrn, doch erteilte dieser
selten sogleich die Genehmigung, vielmehr schlug
er in den meisten Fällen das Gesuch ab. Stets
aber wurden die Akten der Polizeidirektion zurück-
gesandt, die Bittsteller zu bedeuten. Aus der
Menge der solchergestalt gepflogenen Verhandlungeu
sind einige besonders hervorzuheben.
Aus ein Gesuch des P. Eissengarthen äußerte
sich die Oberberg- und Salzwerkdirektion u. a. dahin
(2. Juli 1827), daß zwischen den Felsenkellern
der Bierbrauer Peilert und Klippel einerseits und
denen der Bierbrauer Ostheim und Eissengarthen
anderseits noch mindestens sechs Felsenkeller angelegt
werden könnten, wenn dieselben ihre Hauptaus-
dehnung senkrecht nach dem Berge hin erhielten
und ihnen der nötige Lustzug verschafft werde,
wodurch auch Unglücksfälle durch die bei der Gärung
in großer Menge sich entbindenden kohlensauren
Gase verhütet würden.
Die weiteren Verhandlungen ziehen sich dann
durch andere der übrigen Bierbrauer hin. Schließ-
lich scheint Genehmigung erfolgt zu sein, da die
bereits begonnenen Arbeiten ihren Fortgang nahmen.
Ostheim beschaffte sich für seine „seinen" Gäste sogar
Bier aus Bamberg im Königreiche Baiern, hatte
zwar das Mißgeschick, daß Göttinger Musensöhne,
welche damals häufig nach Kassel kamen und wahr-
scheinlich zu viel von dem guten Stoffe zu sich
genommen hatten, diesen schlecht machten und
insbesondere ihm vorwarfen, daß es berausche, er-
wirkte sich jedoch günstiges Zeugnis des Stadt-
physikus vr. Mangold (16. Juli 1827), aus
dem hervorzuheben: „Allerdings hat jedes gute
Bier die Eigenschaft zu berauschen, und es ist dies
keineswegs ein Vorwurf. Daß das Bamberger
Bier, von dem ich schon öfters getrunken, diese
Eigenschaft in besonders hohem Grade habe, ist
mir nicht bekannt." —
Sehr interessant sind die Verhandlungen auf
l das Gesuch des Johs. Heine (vom 29.Mai 1827),
mit dessen Kelleranlage sich der Nachbar Eissen-
garthen einverstanden erklärte. Das darüber ein-
geforderte Gutachten des Kurfürstlichen Obermedizinal-
kollegs sprach sich sehr zu gunsten des Bittstellers
ungefähr dahin aus:
Das Bier, in kalten Kellern gelagert, gewinne
an Güte und Geschmack, müsse aber, da es einige
Grade kühler aus dem Felsenkeller sei als aus
andern Kellern, mit Vorsicht, vielleicht nach Ein-
nahme konsistenter Nahrung, und nicht im Über-
maße genossen werden, und sei dann durchaus nicht
schädlich.
Höheren Orts dachte man in verschiedenen Punkten
anders und erging auf den allerunterthänigsten
Bericht der Residenzpolizeidirektion vom 10. Oktober
1827
Resol. Abgeschlagen, da durch das zu
vielseitige Unterminiren der Berg am Ende
leiden würde.
2. Man im Irrtum ist zu behaupten, daß
das Felsenbier gesund sei, es vielmehr seiner
berauschenden Kraft und Kälte wegen für höchst
ungesund anerkannt werde.
vt. v. Meysenbug.
Ein neues Gesuch des Heine wurde gleichfalls
abschlägig beschieden, ebenso ein Gesuch des Nikolaus
Zahn, zu welchem ebenfalls ein günstiges Gutachten
der Medizinalbehörde vorlag (vom 6. Oktober 1828):
„Die Erfahrung zweier Sommer, während welcher
das hiesige Felsenkellerbier zum Lieblingsgetränk
vieler Menschen geworden ist, gibt keine Data an
die Hand, wodurch die Ansicht, welche wir in dem
am 10. Mai v. I. allerhöchsten Orts erstatteten
Berichte ausgesprochen haben, modifiziert werden
könnte, im Gegenteil scheint sie dieselbe zu bestätigen
und wir sind daher der Meinung, daß, wenn dieses
Getränk auch einzelnen Personen nicht gut bekommen
sollte, dies nicht in der Natur des Felsenkellerbieres
an sich liegt, sondern in der Individualität der
Trinker, denen überhaupt wohl starke Getränke
nicht zusagen.
Aus Kurfürstlichem Obermedizinalkollegium,
(gez.) Heraeus.
vt. Schwarzenberg."
Auf ein zweites Gesuch des Lahn erfolgte Beschluß:
Wilhelmshöhe, 17. Sept. 1829.
Bleibt bei der früheren abschläglichen
U e s o 1 u t i o n.
Wilhelm K.*)
Ebenso aus ein erneuertes Gesuch des Heinrich
Mayfarth:
Kassel, 19. Februar 1830.
Bleibt bei wiederholter abschläglicher
11 6 8 o 1 u t i 0 II.
Wilhelm K.
Ein Gesuch des Mayfarth um Ausgrabung eines
Kellers lediglich zur Aufbewahrung, nicht zum
Verkaufe des Bieres wurde auch erst wiederholt
abgeschlagen, dann aber genehmigt. Ebenso wurde
das Gesuch von Heine genehmigt, nachdem er in-
zwischen den Garten, unter welchem er den Keller
anzulegen gedachte und der damals von den Erben
des Landesbibliotheks- und Museumsdirektors Ober-
hofrat Ludwig Völckel an den Schreinermeister
Christian Eubel durch Kaufvertrag übergegangen
war, kurz danach von dem letzteren käuflich er-
worben hatte.
Tie weiteren Berhandlungen wegen Anlage von
Felsenkellern im Weinberg und dessen nächster Um-
gebung, welche sich in das folgende Jahrzehnt
hineinzogen, haben abgesehen davon, daß wieder
einmal der Hofküsermeister Martin Reymüller als
Bittsteller für seinen Bruder, den Bierbrauer Georg
Reymüller, auftritt — soviel ersichtlich nur wegen
eines Kellers zur Aufbewahrung von Bier — keine
allgemeine Bedeutung.
Vom Jahre 1830 an sind nun Jahrzehnte
vier und nach dem Abgänge von Ostheim durch
Verkauf au Gastwirt Höhmann (27. März 1852)
drei Keller, von der Frankfurter Landstraße an
beginnend: Peilert, Heine resp. Schwaner, Eissen-
*) Eigenhändige feste Unterschrift des Kurfürsten Wil-
helm II. von Hessen (1821—1847).
garthen, Hauptanziehungspunkte für die gesamte
Kasseler Bevölkerung. Wegen ihrer geschützten
Lage, ihrer gesunden Lust und der herrlichen
Aussicht, welche mau von ihnen genießen konnte,
wurden sie von Leuten aus allen Schichten auf-
gesucht, die Reisehandbücher führten unter den
Sehenswürdigkeiten von Kassel die Felsen-
keller vor dem Frankfurter Thore auf und ver-
anlaßten viele Fremde, denselben einen Besuch ab-
zustatten. Der Heinesche, später Schwanersche Keller,
auch Lippsius genannt nach einem langjährigen
Bierschenker (1837 —1844), in der Mitte und am
höchsten von den drei Kellern gelegen, scheint beim
Abgänge von Lstheim dessen schweres Bier aus
dem Baierlande und die noble Kundschaft abgefangen
zu haben. Hier (von dem wohlbekannten Wirte
Cimiotti in der Kölnischen Straße abgesehen) trafen
sich die Offiziere der Kasseler Garnison und Zivil-
personen der höheren Stände, kurz ausgedrückt die
oberen Zehntausend (bezw. Tausend», während die
beiden anderen Felsenkeller von der übrigen Bürger-
schaft besucht wurden. Jeder der drei Keller war
an schönen warmen Sommertagen bei guter Be-
leuchtung bis zum späten Abend von frohen Menschen
gefüllt. Auch fanden hier öfters Bersammluugeu
verschiedener Vereine statt; fröhlich gestimmte
Sängerchöre ließen ihre Lieder vom Berge zum
Thäte erschallen, wohl geschulte oder auch nicht
geschulte Musikkapellen ihre Instrumente bis zur
nahen Karlsaue erklingen. Alte und auch junge
Kasselaner erzählen noch heute mit großer Freude
und Begeisterung von den schönen Abenden, welche
sie, nachdem sie des Tages Last und Hitze getragen,
auf den Weinbergskellern mit der Familie nnd im
Freundeskreise verbracht haben. Sogar die Dichtung
hat sich derselben bemächtigt. Unser heimischer
Dichter Ernst Koch (Eduard Helmer), welcher in
der Nähe bei zwei alten Fräuleins Causid — jetzt
Humboldtstraße Nr. 2 und 4 — wohnte und
mit seinem Freunde Erasmus an einem Sonntag-
Nachmittag von Wilhelmshöhe kommend die Felsen-
gärten besuchte, schildert in seinem köstlichen Roman
„Prinz Rosa-Stramin" (S. 114 der Reclamschen
Ausgabe) den schönen Ausblick: „Wir sahen von
da, wie von einer Altane herab, in die weite Ebene,
in den schönen rosigen Abend" — und die dort
angetroffenen feinen Herren und Damen, sowie
vier Tiroler Sänger, drei Männer und ein Mädchen,
welche, schwarze spitze Filzhüte tragend mit breiten
Rändern und Blumen daraus, ihre Alpenlieder
ertönen ließen.
Die vielen Bewohnern Kassels gewiß noch be-
kannte Zauberposse „Herkules oder Ambos und
Aktien" von W. Lynker und I. Braunhvfer, Musik
von Karl Graff (Kassel 1859) hat eine interessante
135
Szene (Akt II, Szene 2), welche auf einem Felsenkeller
spielt. An einem Tische sitzen drei Spießbürger: der
Küfer Hahnemann, der Barbier Schnepper und der
Bäcker Lippert, und jedem von ihnen werden einige
Kasseler Redewendungen in den Mund gelegt,
namentlich dem erstgenannten, welcher z. B. sein
Bierglas prüfend aushebt und offenbar durch
den Genuß des Trankes nicht befriedigt ausruft:
„Se suffens doch!"; dann zum Freunde Lippert,
der kaum ein Wort gesprochen hat und stottert:
„Schwigg stille, Lippert, bist ein langweiliger Kerl!";
hieraus zu ankommenden Bekannten: „Aha, me
huns, me kuns! Vetter Gutmann, wie sich die
Frau Widder uffgedonnert hat", und später Lippert
zu Gutmann: „Diesen Morgen war's trübe. He -
Herr Entmann, aber es hat sich dicke uffgeklärt."
Eine Frau bestellt beim Kellner: „Eine Portion
Kaffee mit 7 Tassen." Endlich fehlt auch nicht
einer der damals schon viele Orte unsicher machenden
Engländer, der auf zwei Stühlen sitzend und im
Anschauen und stillen Bewundern der Gegend ver-
sunken wiederholt ausruft: „Wonderful!“
So verflossen für unsere Vaterstadt schöne
Zeiten und viele fröhliche Menschen saßen und
Aus Ismael
Fu steiniger Müste, auf dürrem Feld,
Hinter spitzigen Klippen und felsigem Mall,
Unterm grauen, grämlichen Himmelszelt
Ist die rauhe Ruhstatt, die uns gefällt.
Die nervige Rechte um's Life« geklammt,
Die Brust von trotzigem !Nut entflammt —
Nun kommt nur näher und greift uns an.
In den lustigen Kampf — und Mann für Mann!
Mir kämpfen für unser Leben!
Mie es schwillt, das gierige Natterngezücht,
von allen Seiten bricht es herein,
Mie es sich duckt und tückisch sicht —
Da — den Schlag Dir in's Gesicht!
Mag's Dir eine Marnung fein.
Haft die Melt Dir unterjocht
Und Dich König stolz genannt —
Millft Du noch dies letzte Land,
Diese öde Felsenwüste? . . .
So komm' nur heran und nimm sie Dir!
Gin trotziges Häuflein wartet hier,
Mir sind aus Jsmaels Geschlecht,
Und die Gemalt ist unser Recht!
Und willst Du die Freiheit uns entwinden,
Die Freiheit, unser schönstes Gut,
Rassel.
kneipten aus den Felsenkellern vor dem Frankfurter
Thore.
„Da starb von den Dreien der eine. der andere folgte ihm nach,
Und es blieb der dritte alleine......"
Jrn Dezember 1867 bezw. Januar 1868 ging
der oberste und feinste Keller, der Schwanersche, erst
an Buchhalter Zwenger, dann an den Maschinen-
fabrikanten Henschel über, beide Male zum Kauf-
preise von 17 000 Thalern und hörte aus ein
öffentlicher Garten zu sein; 1887 geschah dasselbe
in gleicher Weise mit dem Peilertschen, zum Kauf-
preise von 20 000 Thalern — 60 000 Mark.
1898 ist schließlich auch der dritte und letzte, der
Eisseugarthensche Felsenkeller, der jedoch bis zum
Jahr 1901 für das Publikum noch geöffnet blieb,
nachgefolgt. (Kaufpreis 800 000 Mark.)
Solcher Gestalt haben die Kasselaner die in den
zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach
langen Verhandlungen mit verschiedenen Behörden
gemachten Anlagen — die sog. Felsenkeller vor-
dem Kölnischen Thore haben bei weitem nicht den
Reiz der verlorenen vor dem Frankfurter Thore —
noch vor Schluß desselben Jahrhunderts vom Erd-
boden verschwinden sehen.
-----------—
GcscblecDt.
I. Mos. 16, |2. „(Er wird ein wilder Mensch sein; seine
Hand wider jedermann; jedermanns Hand wider ihn!"
Und uns mit Deinen Gesetzen schinden,
Mit Deinen gestohlenen Gesetzen —
So mußt Du uns erst zu Tode hetzen.
Die Freiheit — oder unser Blut!
Doch zittrc vor uns! Du kennst unsre Schar,
Diese glutenden Augen, dieses wilde Haar,
Diese zuckenden Fäuste, die wogende Brust,
In unsrem Blicke die mörderische Lust!
Du kennst unsren Schlachtruf, den gellenden Schrei,
Gr lähmt D i r die Kraft, er macht u n s frei:
Mir sind aus Jsmaels Geschlecht,
Und die Gewalt ist unser Recht!
Und willst uns schmeicheln und Bruder uns nennen —
Soll Dir das Mort auf der Zunge brennen,
Das tückische Mort, das uns knechten soll!
Mir tragen in unsrer Brust den Herren —
Und ließen uns in die Knechtschaft zerren?
Fürwahr, das hieße vernarrt und toll!
In der weiten Müstc ist unser Reich,
Ist jeder von uns dem andren gleich,
Ist jeder König und Unterthan,
Geht jeder feine ureigne Bahn.
Mir sind ans Jsmaels Geschlecht,
Und die Gewalt ist unser Recht!
'Julius ßerstl.
Gß----------------
136
Unterm Hollunöerbaum.
Historische Erzählung aus Oberhesseu von O. Gros.
(Fortsetzung.)
uu gab es einen zehnjährigen Streit, während
dessen durch den stolbergischen Amtmann mit
Genehmigung seiner Herrschaft die Kirche verschlossen
blieb, um sie gleichzeitig auch etwaigen reformierten
Eindringlingen verwehren zu können. Dagegen
wurde lutherischer Gottesdienst im Schloß abgehalten,
während des Sommers im Hof unter den gewaltigen
Lindenbäumen, im Winter in einem der geräumigen
Säle.
Ta während dieser zehn Jahre, von 1711 bis
1721 kein lutherischer Pfarrer von der stolbergischen
Herrschaft eingesetzt war, denn die Hanauer Grasen
bestritten den Stolbergern das Recht, dies einseitig
von sich aus zu thun, so hatten die benachbarten
lutherischen Pfarrer diesen Dienst aushilfsweise zu
versehen. Außer den stolbergischen Pfarrern zu
Gedern und Wenings fiel diese Ausgabe hauptsächlich
unserm Pfarrer Laukhardt zu.
Jedoch die Hanauer blieben auch nicht unthätig;
der Graf von Hanau hatte an den drei Thoren
der Stadt das Schlagbaumrecht, d. h. jeder der
Ein- und Ausgehenden mußte einen bestimmten Zoll
bezahlen; und nun rächten sich die Hanauer in der
Art, daß sie Sonntags die Stadtthore bis zum
Nachmittag geschlossen hielten und so den auswärtigen
lutherischen Pfarrern die Möglichkeit nahmen, in
Ortenberg zu predigen.
So kam es, daß auch Pfarrer Laukhardt eines
Sonntags ausgeschlossen wurde und trotz heftiger
Widerrede unverrichteter Tinge wieder abziehen
mußte. Doch Laukhardt war klug wie die Schlangen.
Als ihn die Reihe des Predigens wieder traf,
kam er nicht zu Pferde, wie gewöhnlich, und die
Hanauer Thorwüchter hielten vergeblich nach ihm
Ausschau; deshalb waren sie auss höchste erstaunt,
als sie, wie sonst üblich, die Männer mit den großen
Holzklappern — denn die Glocken der Kirche waren
ja gesperrt und wurden bloß bei Beerdigungen
und zum Feuergeläute freigegeben — das Städt-
lein durchziehen und zum Gottesdienst einladen
sahen. Sie dachten nicht daran, daß der Bauers-
mann, der am Morgen die zwei fetten Gänse in
der Kiepe auf dem Rücken getragen und in seiner
Vogelsberger Tracht unangefochten das Thor passiert
hatte, ihr Feind Laukhardt von Hirzenhain war,
der, im Schloßhof angekommen, aus der Tiefe der
Kiepe die Amtstracht hervorgeholt und zum Gottes-
dienst eingeladen hatte.
Nachdem Pfarrer Laukhardt aus ähnliche Weise
noch mehrere Male die Wachsamkeit der hanauischen
Wächter getäuscht und diese trotz aller ihrer Gegen-
bemühungen überlistet hatte, gaben diese endlich den
Kampf auf. verfehlten aber nicht, nach Hanau zu
berichten. Pfarrer Laukhardt sei nicht nur die
Haupttriebfeder des ganzen Streites und dessen
Anfänger, sondern habe auch, indem er trotz ihrer
Wachsamkeit oftmals in die Stadt eingedrungen sei,
sie selbst zum Gegenstand des Spottes und Hohnes
in der ganzen Bürgerschaft gemacht.
Der Streit wurde endlich — nach langen Ver-
handlungen zwischen Hanau und Stolberg — da-
hin beigelegt, daß im Jahre 1721 Stolberg einen
eignen lutherischen Pfarrer einsetzte, nämlich den
Pfarrer Johann Heinrich Leidenfrost, während Hanau
seinerseits eine eigne reformierte Pfarrstelle in
Ortenberg gründete, die indessen nur zwei Inhaber
hatte, Pfarrer Kaup und Pfarrer Fritz, und 1785
wieder aufgehoben wurde. Von da an versah der
Pfarrer von Bleichenbach die Amtsgeschäste der
reformierten Pfarrei zu Ortenberg.
Drittes Kapitel:
Familienfrellde und leid.
Im Familienkreis des Pfarrers Laukhardt hatte
es inzwischen auch Veränderungeu gegeben; seine
älteste Stieftochter Elisabeth hatte sich 1709 im
Alter von 23 Jahren mit dem gräflich hanauischen
Amts- und Hofkellerer Wilhelm Küfner zu Bruch-
köbel verheiratet.
Es war gut, daß damals der Ortenberger Kirchen-
streit noch nicht ausgebrochen war, denn sonst hätte
Küfner wohl kaum vom Grasen von Hanau die
Erlaubnis erhalten, die Tochter des Pfarrers
Laukhardt zu Hirzenhain heimzuführen. Küfner
war ein gutmütiger, um nicht zu sagen etwas ein-
fältiger Mensch, der die Stelle eines Amts- und
Hofkellerers durch die Fürsprache eines einfluß-
reichen Verwandten erhalten hatte. Von Geldsachen
verstand er leider garnichts; das Geld zerrann ihm
zwischen den Händen, und doch hatte er jetzt einen
großen Teil des gräflich hanauischen Vermögens zu
verwalten, denn alle Zölle, Steuern, Pacht-, Wein-,
Woll-, Wachs- und Flachsgelder, sowie die militü-
rischen Abgaben des gräflichen Kontingents im nörd-
lichen Teil des hanauischen Gebietes gingen durch
seine Hände.
Er führte am 7. September 1709 Elisabeth
Ellenberger, die Stieftochter Laukhardts, heim als
sein christliches Eheweib. Anna, die zweite Stief-
tochter heiratete 1715 den lutherischen Pfarrer zu
Wenings, starb indessen 1719 bei der Geburt ihres
137
zweiten Kindes, und Peter, der Jüngste, ward
gräflich stolbergischer Reviersörster zu Gedern.
Nun waren Pfarrer Laukhardt und seine Frau
allein im Pfarrhaus zu Hirzenhain; mit den beiden
jüngsten Kindern konnten sie Verkehr pflegen, denn
sie waren in der Nähe, wahrend Bruchköbel schon
zu weit entfernt war, um mit Elisabeth mehr als
ein- bis zweimal im Jahre zusammen zu kommen.
Seit 1719 kränkelte Frau Pfarrer Laukhardt
zusehends; die Aufregungen des Ortenberger Kirchen-
streits berührten auch ihr Gemüt; dazu kam, als ein
schwerer Schlag für das treue Mutterherz, der
plötzliche Tod ihrer Tochter Anna im Jahre 1719,
und so erlosch ihr eignes Leben unmerklich ohne
eigentliche Krankheit im folgenden Jahre, nachdem
sie noch mit ihrem Manne zusammen durch den
Empfang des heiligen Abendmahles ihren Glauben
gestärkt und ihre Seele getröstet hatte.
Ihre letzten Worte waren Offenbarung Johannis
Kapitel 22, Vers 20 gewesen: „Es spricht, der
solches zeuget; Ja, ich komme bald; Amen, ja, komm
Herr Jesu!"
Pfarrer Laukhardt aber schrieb ins Kirchenbuch
ein: „Anno 1720, den 5. Aprilis Frühmorgens
gegen 9 Uhr Ist mein, Johann Philipp Laukhardts,
anitzigen Pfarrers zu Hirzenhain, Gott und den
Menschen liebreich gewesene hertzliche Ehefrau, Frau
Eva Katharina, eine gebohrne Schellin, im Herrn
sanfft und selig entschlossen, und den 9. dieses Christ-
ziemlich in hiesige Kirche neben das Freyherrliche
Ried-Eselische Begräbnis in eine gewölbte Toden-
kammer beigesetzt worden. Aber der Allmächtige und
Gerechte Gott verleihe dem entseelten Körper eine
sanffte Ruhe bis zur heiligen Vereinigung der all-
gemeinen Auferstehung der Toden mit der allbereit
in der Hand Gottes seyenden seligen Seele; mir
aber in aller Gnade umb Jesu willen eine selige
Nachfahrt in Frieden. Amen. Der Leichentext war
Apokal. 22. 20, nach welchem letzten Glaubens-
seufzer sie in Gnaden von diesem Leibe des Todes
erlöset worden."
Über der ausgewölbten Grabstelle seiner Frau
ließ Pfarrer Laukhardt einen Grabstein errichten,
aus dem außer den Namen und dem Leichentext
oben rechts und links zwei hübsche Engelsgestalten
ausgehauen waren; dazwischen ein Lamm mit der
Fahne und im Dreieck das Auge Gottes.
Pfarrer Laukhardt stand nun ganz allein, da er
keine eignen Kinder hatte und seine beiden Stief-
kinder Elisabeth und Peter auswärts wohnten.
Mit Hülfe der alten, treuen Magd, die mit seiner
Frau aus Crainfeld übergesiedelt war, führte er
seinen Haushalt weiter, und alle zwei bis drei
Wochen kam einmal seine Schwester Anna Elisabeth,
die im nahegelegenen Glashütten an den Gasthalter
Johannes Siegfried Knärzer verheiratet war, um
im Pfarrhaus nach dem Rechten zu sehen.
Im Nachsommer des Jahres 1720 nahm Pfarrer
Laukhardt einen mehrwöchentlichen Urlaub, um seinen
Bruder zu besuchen, den fürstlich darmstädtischen
Rentmeister Philipp Jakob Laukhardt, der das Amt
Lichtenberg im Odenwald zu verwalten hatte; er
verweilte dort von Mitte Juli bis Ende September,
und in der fremden Umgebung, in der herrlichen
Schönheit der Natur erholte sich seine Seele von
dem schweren Schicksalsschlage, der ihn getroffen
hatte, und mit neuem Mute und frischer Kraft kehrte
er nach seinem geliebten Hirzenhain zurück.
Er fand dort einen neu angestellten gräflich
stolbergischen Beamten, den Koadjutor Gottlieb
Radefeld, mit dem ihn bald das Band inniger
Freundschaft vereinigte. Radefeld besuchte fleißig
den Gottesdienst und war fast Tag für Tag ein
Gast im Pfarrhaus; an ihm fand Pfarrer Lauk-
hardt einen aufmerksamen, teilnahmsvollen Zuhörer,
wenn er von dem Leben seiner lieben Frau erzählte
und ihren allzu frühen Tod beklagte. — — —
Im folgenden Sommer geschah es, daß Laukhardt
seine zweite Frau kennen lernte. In Wenings, wohin
seine verstorbene Stieftochter Anna verheiratet war,
stand als Befehlshaber der oberhessischen Kreistruppen
der Leutnant Johann Vigelii, bei dem seine Mutter
Anna Marie Vigelii geborene Schmitt und seine
Schwester Marie Margarethe wohnten.
Pfarrer Laukhardt kam häufig nach Wenings,
das nur ein gute Stunde von Hirzenhain entfernt
ist, zum dortigen Pfarrer, seinem Schwiegersohn,
mit dem er durch Liebe und Freundschaft verbunden
war; in dessen Haus lernte er Marie Margarethe
Vigelii kennen.
Radefeld war, wie schon öfters, mit Pfarrer
Laukhardt in Wenings gewesen, als sie Marie
Margarethe Vigelii sahen, und die schöne Schwester
des Kreisleutnants machte aus die Herzen beider
Männer einen tiefen Eindruck. Das zeigte sich
schon äußerlich daran, daß beide aus dem Heimweg,
statt wie gewöhnlich sich lebhaft zu unterhalten,
stumm und gedankenvoll neben einander herschritten.
Als der Herbst des Jahres 1721 kam, holte
sich Pfarrer Laukhardt bei Marie Margarethe
Vigelii das Jawort. Das Herz Radeselds ward
erfüllt von Eifersucht und Neid, obschon er beides
zu verbergen verstand und nach wie vor freund-
schaftlich mit Laukhardt verkehrte. Als jedoch im
Frühjahr 1722 die Hochzeit des Pfarrers stattfand,
lehnte Radeseld die Einladung zur Hochzeitsseier
ab, mied auch einige Wochen lang das Pfarrhaus,
dann aber nahm er zu Laukhardts Freude den
gewöhnlichen Verkehr wieder aus.
(Fortsetzung folgt.)
138
Zwiegespräch offein Fälö.
(Schwälmer
„Hinerch, Annemarth ö Gret
Seng scho met dr Ärwet red’). —
Ö, bo gück doch, bos see mache!
Sist^de net2): Tie Racker lache.
Daß mer noch net fätrig3) seng!
2)ommet4) dich ee beßche schweng!" —
„Äwer, Väter, gückt doch cnfc5)!
Hämelskeeil seng noch kee Schenke.3)
Daß die dott seng etzt scho red,
Leiht 7) o Annemarth ö Gret.
Weßt^ehr, Hinerch es noch lerrig ö),
Ö seng Mähre, die seng errig?)
Jehre glööwt, see Herren scho?3) —
£ dr Hinerch schmonzelt ^7) sroh,
Däß die Zwo so fernen ärweln 12),
£ escht noch dr Ärwet schnärweln ^3)
Ewer ins. Dos baßt^em schie,
Kost kee Gäld ö macht kee Mieh.")
Kesselstadt.
--------------»■
Mundart.)
Däht ehr mer zwo Mähre miehre15),
Däht ich mich doch net geniere,
Spürt da Ärwet, Schweeß ö Gäld
£ schliehk mieh 73) äus insem Fäld,
£ da lacht ich mer in Bocket,
Bann die Zwo mich hieln ser'n ”) Gockel."
Doch do sproch der Väter stolz:
„Jong. best Dü vo mengem Holz?
Hengerm 43) Scherzdüch dos Berkriche
Därf mer bei^nem Bür net siche." —
£ dr Jong gäw^em 1S>) die Hahnd,
Säht: „So bleeiwts! — ich hon Berstahnd."
') mit der Arbeit fertig; 8 * * *) siehst Du nicht; s) fertig;
4) tummle, eile; 5) genau; 6) Hammelskeulen sind noch
keine Schinken; h liegt; ") Wißt ihr. Heinrich ist nach
ledig; *) irr; ,0) Jede glaubt, sie hätte ihn schon; ") lächelt;
") für ihn arbeiten; '8) unterhalten; "1 Das paßt ihm
schön, kostet kein Geld und macht keine Mühe; '°) Thätet
(würdet) ihr mir zwei Mägde mieten; '*) schlüge mehr;
”) hielten für einen; I8) hinter dem; '") gab ihm.
Kurt Muhn.
Aus alter und neuer Zeit
Bericht eines Kasseler Handwerksmeisters
über ein Hoffest im 18. Jahrhundert. Anläß-
lich des historisch berüchtigten Kongresses zu Pillnitz
im August 1791 fanden daselbst verschiedene Hos-
sestlichkeiten statt, worüber ein Kasseler Handwerks-
meister, der ans der Reise dort anwesend war, in
einem aufbehaltenen Briefe an seine Familie berichtet:
„Hier folget die Beschreibung der Belustigung.
Donnerstag den 24. August kamen die Herrschaften
hier in Pillnitz an, nämlich der Kaiser und Erz-
herzog Franz, der König von Preußen mit seinem
Kronprinzen, Herzog von Braunschweig und Prinz
von Hohenlohe, der Prinz von Nassau, der russische
Großadmiral, der Graf von Artois, der Feldmarschall
Gras von Lach, benebst der Herrschaften ganzes
Gefolge, was sehr zahlreich war. Gleich den Abend,
als sie ankamen, war ganz Pillnitz beleuchtet von
70 000 Lampen, das Schloß und die Tempel bis
an die Spitze der Fahnen, den andern Tag war
geheime Unterredung von denen sämtlichen Herr-
schaften, welche über drei Stunden lang gedauert
haben soll; man sagt, daß die geheimen Unter-
redungen wegen Frankreich beschlossen worden waren,
die Zukunft wird's lehren. Den Abend war die
nämliche Beleuchtung benebst ein großes Feuerwerk.
Erstlich die Dekoration desselben. Es war ein
großer Teinpel von Holz mitten auf dem Elbe-Fluß
gebanet, welcher ans beiden Seiten mit Kolonnaden
angeschlossen war und ans jedem Ende wieder ein
kleiner Tempel stand, dieses alles von Transparent
beleuchtet; in dem großen Tempel der Mitte sahe
man einen Altar, auf welchem ein Opferseuer
brannte, die Schutzgeister Österreichs und Preußens
gaben sich die Hände, die Überschrift war Con-
cordia Augustorum, verdeutscht: Die Eintracht der
Potentaten. An dem rechten kleinen Teinpel war
die Göttin des Überflusses mit der Überschrift
Felicitas Temporum, verdeutscht: Das Glück der
Zeiten, in dem linken Tempel die Göttin der
Einigkeit mit der Überschrift Pacatus Orbis, ver-
deutscht : Die ausgesöhnte Welt. Des Abends um
10 Uhr nahm das Feuerwerk seinen Anfang, wo
gewiß bei 10 000 Raketen nach und nach sind
abgebrannt worden, diese sahe man nun auch in
dem Wasser, hernachgehend wurde von Schiffen die
ganze Elbe mit Feuerkegeln bedeckt, welche nun auf
dem Flusse fort schwammen. Hier sahe man einige
hundert Schritt die Elbe ganz im Feuer; hierunter
wurde beständig mit zwölf Stück sechspsündigen
Kanonen gefeuert; der Beschluß war, daß ein
Bouquet mit 1500 Raketen stiegen auf einmal in
die Höhe, dieser Anblick läßt sich gar nicht be-
schreiben und war für das Auge kaum übersehbar.
Es dauerte zwei Stunden lang und war mit der
prächtigsten Türkischen Musik begleitet. Sonn-
abends den 26. kamen die sämtlichen Herrschaften
139
nachmittags um 4 Uhr nach Dresden, wo sie gleich
vor der Bildergallerie abstiegen, hier hielten sie
sich beinahe eine Stunde lang ans, nach diesem
fahren sie in das Japanische Palais, um die
Antiken zu besehen. Der Inspektor Wacker hier-
über ist aber ein Freund von Trinken und saß im
Wirtshause davor, mithin mußten die ganzen Herr-
schaften unverrichteter Sache wieder wegfahren.
Alsdann fuhren sie in das Grüne Gewölbe, um
die Kostbarkeiten zu sehen; nach diesem ging die
Redoute an, welche frei für 3000 Personen war.
Mit dieser glänzenden Redoute wurde zugleich der
neue Saal im Großen Opernhause eingeweihet.
Fünfzig große Kronleuchter zierten diesen Saal,
alle Logen waren noch außerdem mit Brillant-
Kassel.
-----------«
Aus Heimat
H ist arische Ko m in iss i o n. Die fünfte Jahres-
versammlung der historischen Kommission für Hessen
und Waldeck fand am 10. Mai im Senatsaale der
Universität Marburg statt. Von auswärtigen
Patronen und Mitgliedern waren erschienen die
Herren Obervorsteher von Bnumbach-Kassel, Biblio-
thekar Dr. Ebel-Gießen, Generalmajor Eisentrant-
Kassel , Baron G. von Eschwege-Reichensachsen,
Baron F. von und zu Gilsa-Gilsa, Oberbiblio-
thekar Professor Dr. Haupt-Gießen. Dr. Kartels-
Fulda, Landesrat Dr. Osius- Kassel, Geh. Justiz-
rat Professor Dr. Schmidt-Gießen, Sanitätsrat
Dr. Schneider-Fulda, Landesbaukrat Freiherr Wolff
von Gudenberg-Kassel, Akademielehrer Zimmermann-
Hanau. Der Vorsitzende, Herr Professor Freiherr
von der Ropp, begrüßte die Erschienenen und
gedachte zunächst der im verflossenen Berichtsjahre
verstorbenen Mitglieder der Kommission, der Herren
Konservator Dr. Bickell und Major a. D. von
Stamsord-Kassel, deren Andenken die Versammlung
durch Erheben von den Sitzen ehrte. Sodann
teilte er mit, daß Herr Professor Dr. von Below
infolge seiner Übersiedelung nach Tübingen aus dem
Vorstande der Kommission ausgeschieden sei, und
die Versammlung wählte an seiner Stelle Herrn
Professor Dr. Varrentrapp zum Vorstandsmitglied.
Zn Mitgliedern der Kommission wühlte sie überdies
die Herren Professor Dr. Dobenecker in Jena,
Archivassistent Dr. Gundlach in Marburg, Privat-
dozent Dr. Köhler in Gießen, Bibliothekar Dr. Lange
in Kassel und Professor Dr. Maaß in Marburg. —
Als neue Patrone hat die Kommission den Kreis
Fritzlar und das von Eschwege'sche Familienfidei-
kommiß zu Reichensachsen gewonnen. Die Rech-
nung des Schatzmeisters, Herrn Geh. Archivrat
leuchtern besetzt, dieses verursachte ein solches Blitzen,
daß es beinahe die Augen nicht hätten vertragen
können. Die Herrschaften fuhren bald um 8 Uhr
wieder nach Pillnitz, weil sie den andern Morgen
Sonntags frühe wieder wegreisten. Alsdann ging
die Redoute noch recht an, es wurde hinein gelassen
wer da wollte. Wein, Punsch, Kaffee, Kuchen war
alsdann vor alle Menschen frei, auf den Schlag
12 Uhr waren acht Zentner Wachs verschmolzen,
die Quellen des Nektars versiegt wie der Bach
Krit und die Freude hatte ein Ende. Gewiß bei
5000 Menschen sahen in dem Augenblick deutlich
ein, daß alles eitel und vergänglich sei hienieden,
und suchten die Thüre. Von diesem allem bin ich
Augenzeuge gewesen und hat mir sehr wohl gefallen."
Toms Wolff.
■«*-----------
und Fremde. *
Dr. Könnecke, dem die Versammlung die Entlastung
für seine Rechnungsführung erteilte, wies eine
Jahreseinnahme von 6477 Mark auf, gegenüber
einer Ausgabe von 5111 Mark. Im Drucke be-
findet sich je ein Band vom Fuldaer und Fried-
berger Urkuudenbuch, sowie die dritte Lieferung des
hessischen Trachtenbuches von Herrn Geh. Rat
Professor Dr. Justi, und zum Druck gelangt dem-
nächst der von Herrn Privatdozent Dr. Diemar
bearbeitete Band der hessischen Chroniken. Die
übrigen Arbeiten sind zumeist rüstig gefördert
worden. Im Hinblick aus die zum Jahre 1904 bevor-
stehende vierte Zentennarfeier der Gebnrt Philipps
des Großmütigen wurde die Herausgabe einer Fest-
schrift „Das Bild Philipps" beschlossen, deren
Bearbeitung die Herren Geh. Archivrat Dr. Könnecke
und Professor Dr. von Drach übernehmen. Der
Jahresbericht wird demnächst erscheinen.
Ilniversitätsnachricht. Professor Dr. Konrad
H e l l w i g in Erlangen ist zum ordentlichen Professor
der juristischen Fakultät an der Friedrich-Wilhelms-
Universität in Berlin unter Verleihung des Charakters
als Geheimer Justizrat ernannt worden. Professor
Dr. Hellwig ist aus Zierenberg gebürtig.
Hessische Volkskunde. In der Vereinigung
für hessische Volkskunde in Gießen sprach der
Schriftsteller Herr Alfred Bock über „Hochzeits-
brüuche in Hessen und Nassau". Eine Cha-
rakteristik der hessischen Bauern leitete den Vortrag
ein, alsdann zog Redner die Hochzeitsbräuche der
heimatlichen Bezirke in den Kreis seiner Betrachtung
und führte ans der Schwalm, dem Vogelsberg und
dem Westerwald eine Reihe fesselnder und färben-
140
reicher Bilder vor. Die Hochzeitsbräuche in der
Schwalm stellen sich als die weitaus interessantesten
dar, wie denn Redner mit Recht hervorhob, daß
man den Freund der Volkskunde immer und immer
wieder aus das Schwälmer Gebiet verweisen solle,
wo noch mancher Schatz zu heben sei. Das Hochzeits-
sest in Hessen und Nassau zeigt vielfach noch alt-
germanische, vereinzelt sogar indogermanische Eigen-
art. Die Art der Werbung ist uralt, die Ver-
lobung mit dem Handschlag geht auf altdeutschen
Brauch zurück. Die Tagwahl (Dienstag und Donners-
tag) weist auf Ziu und Donar als die Schutzgötter
der Hochzeit hin; der Gemeindecharakter aus die
altgermanische Eemeindeverfassung. Ter vielfach
mit der kirchlichen Handlung verknüpfte Aberglaube
ist nichts als Dümonenfnrcht. Das Ehestandslied
läßt sich dem altdeutschen Hileich, dem griechischen
Hymenäus vergleichen. Der Hochzeitsnachfeier ent-
sprechen die griechischen Anakalypterien und die
römischen Repotia. — Bemerkt sei, daß die Haupt-
versammlung der „Vereinigung für hessische Volks-
kunde" am 24. Mai in der Rosenau zu Frank-
furt a. M. abgehalten wird.
Versammlungen. Zu Marburg wird im
großen Museumssaale am 4. und 5. Juni die
siebente Hauptversammlung des Sparkassenverbandes
für die Provinz Hessen-Nassau und das Fürsten-
tum Waldeck und am 6. und 7. Juni die drei-
zehnte Versammlung des „Hessischen Städtetags"
abgehalten._____________________
Ein preisgekrönter Roman. Im Juni-
hefte 1901 der in München erscheinenden „Litera-
rischen Warte" hatte die „Deutsche Literatur-
Gesellschaft" ein Preisausschreiben für gute
Romane erlassen. Den ersten Preis von 5000 Mark
erhielt nach dem neuesten Heft der genannten Zeit-
schrift Frau M. von Ekensteen für den Roman
„Friede den Hütten". Die Verfasserin ist auch
unsern Lesern durch mehrfache Beiträge im vorigen
Jahrgang bekannt. Eine weitere Erzählung aus
ihrer Feder wird das „Hessenland" in einer der
nächsten Nummern bringen.
Sophien blick. In der Nähe von Marburg
oberhalb Gisselberg ist iu der vom dortigen Ver-
schönerungsverein am Waldrand erbauten Schutzhütte
eine Tafel mit der Inschrift angebracht worden:
„Der edlen Frau. die dort die Burg gebaut.
Die von des Berges Höh' nach hier herüberschaut.
DeS Kinds von Hessens Mutter, Herzogin von Brabant.
Zur Ehr' sei diese Hütte „S o p h i e n b l i cf" benannt."
Todesfall. In der berühmten fürstlich 9)) e n =
bürg schen Steingutsabrik zu Schlierbach bei
Wächtersbach starb am 7. d. Al. der technische Leiter
derselben Dr. Richard Koenig, eine in der
keramischen Welt Deutschlands sehr angesehene Persön-
lichkeit. Er starb in Ausübung seines Berufs, in-
dem er sich bei der Arbeit im chemischen Laboratorium
eine Blutvergiftung zuzog. Unter Dr. Koenigs
Leitung erfreute sich die Schlierbacher Fabrik zu-
gleich des Rufes, die ausgezeichnetsten Wohlfahrts-
Einrichtungen für die Arbeiter zu haben.
Zum „Beitrag zur hessischen Familien-
geschichte" im vorigen Hefte. Nicht zwei T ö ch t e r,
sondern zwei Schwestern der Frau Wilhelmine
Wagner, geb. Colin, waren mit Nachkommen fran-
zösischer Einwanderer verheiratet. Frau Jeannette
Gissot ist 1850, Frau Charlotte le Gvullon
1901 in Kassel gestorben.
Personalien.
Verliehen: dem Direktor der Lnndeskreditkasse a. D..
Geheimen Regierungsrat Dr. zur. Lo tz zu Kassel der Rote
Adlerorden 3. Klasse mit der Schleife; dem Oberlehrer a. D.
Professor Lohmeyer in Marburg, bisher in Altena,
sowie dem seither. Obersekretär beim Landgericht. Kanzlei-
rat A p p e l k a m p in Hanau der Rote Adlerorden 4. Klasse;
dem Oberlehrer Strehl an der Kgl. Baugewerkschule zu
Kassel das Prädikat „Professor".
Ernannt: Pfarrer Altmüller in Geismar zum
Pfarrer in Gudensberg.
Versetzt: der Regierungs- und Schulrat Martin
von der" Regierung zu Merseburg an die zu Kassel; der
RegierungS- und Schulrat Dr. Hinze zu Kassel an die
Regierung zu Aterseburg unter Berufung als Hülfsarbeiter
in das Kultusministerium zu Berlin; Oberförster Kleyen-
steuber von Rennerod nach Doberschütz, Regierungsbezirk
Merseburg.
Geboren: ein Sohn: Kaufmann Julius Knetsch
und Frau Anna. geb. Has (Kassel, 12. Mai); — eine
Tochter: Gutsbesitzer H. Sänger und Frau Milly,
geb. Asbeck (Ochshausen, 3. Mai).
Gestorben: verw. Frau Margarethe Kropf.
82 Jahre alt (Spandau, 30.April); verw. Frau Christine
S t ö l tz i n g. geb. L e r b s, 50 Jahre alt (Kassel, 1. Mai);
Frau Katharina Rivoir, geb. Di lg er. Witwe des
Kurfürstlichen Leibvorreiters, 83 Jahre alt (Kassel, 1. Mai);
Frau Präsident Helene Müller, geb. Müller (Dresden.
2. Mai); Frau Marie Roth, geb. Remhof. 59 Jahre
alt (Kassel, 3. Mai); Kaufmann Karl Roh de, 47 Jahre
alt (Kassel, 5. Mai); Oberpostsekretär a. D. Karl Fenn er.
62^Jahre alt (Kassel, 5. Mai): Turnlehrer PH. Störger.
81 Jahre alt (Hanau. 5.Mai); Frau Martha Mathilde
F e n n e r, geb. Achenbach, 36 Jahre alt (Berlin, 6. Mai);
Direktor Dr. Richard Koenig (Schlierbach, 8. Mai);
Fräulein Else Farenholtz, 28 Jahre alt (Wilhelmshöhe,
8. Mai); Gutsbesitzer Franz Arnold S i n n i n g,
42 Jahre alt (Helmshausen, 11. Mai); Kaufmann Karl
Georg R ü p p e l l, 57 Jahre alt (Kassel, 11. Mai);
Gasthalter Heinrich Schombardt, 40 Jahre alt (Kassel,
12. Mai).
Für die Redaktion verantwortlich: W. Bennecke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.
Die Schönheit.
Einst neigte mir die Schönheit sich:
„M komm —ich will dich lächeln lehren!
Ich thn dir auf mein Götterreich —
Pit mußtest allzuviel entbehren I"
Sie kam als eine schlanke Frau
Mit weißen Iris in den Maaren,
Sie kam im Abendsonnenlicht
Auf roten Wolken angefahren
Und streute Purpur in den Fluß
Und dunkle Gluten auf die Wälder,
Oie peide ließ sie schimmernd wehn
Und wie ein gold'nes Meer die Felder.
Sie sprach: „M wisse, daß mein Reich
So weit ist wie der Menschen Perzen.
Mir dient der Freude Iubelchor —
Mir dienen große, tiefe Schmerzen.
Mir dient der Traum iu Menschenbrust,
Per sich nach meinem Antlitz sehnet
Und, rastlos schaffend Werk auf Werk,
Sich nahe der Vollendung wähnet.
Mir dient das heiße wilde Wort,
Pas nie genügt, um auszusagen,
Welch' ein Geheimnis wunderbar
Pie ftaubgebund'nen Seelen tragen.
Mir dient die Form des Menschenleibs,
Prin alle Leidenschaften schlafen —
Mir dient des Auges Wunderstrahl,
Parin sich Lebensgeister trafen.
Pas Schicksal dient mir, selbst die Schuld.
Mir dienen Sturm und Meer und Wellen.
Mir dient der Krieg, mir dient die Pest
Und Schiffe, die am Fels zerschellen.
Mir dienen Liebe und der Tod,
Pas dunkle Grab, das bittre Scheiden,
Pes Glaubens stolze Ritterschaft,
Pes Pimmels ferne Seligkeiten.
Ich thu dir auf mein Götterreich!
Ich will dich meine Sprache lehren.
Im Schauen sollst du glücklich sein,
Pu mußtest allzuviel entbehren."
Sotnmerstünne.
Mitten in die Sommernacht
Rief des perbstes Sturm: Ich komme!
püte dich, du Rosenpracht!
püte, Lilie, dich, du Fromme.
püte sich, was lose hängt!
püte sich, was hart am Pfade
Staub'ger Mittagshauch versengt,
Penn ich kenne keine Gnade!
Was zu heiß das Licht geküßt,
Was zu voll sich wiegt in Blüte,
Was zu schmuck und lebend ist,
Paß es berge sich und hüte!
peisah höh! Ich spiel' zum Tanz!
Lockend Lied weiß meine Geigen!
Fort zum Wirbel aus dem Kranz,
Junges Leben an den Zweigen!
In die Wolken trag' ich dich,
Laß dich bis zum Pimmel fliegen!
Wo du bleibst? Was kümmert's mich?
Ich will nichts als wehn und siegen!
Kehrt der Morgensonnenschein —
pei — dann wird auf Waldeshöhen,
pei — dann wird an Feld und Rain
Mancher kahle Stengel stehen!
Mitten in des Jahres Buch
Will ich meinen Rainen schreiben —
Und ein scharfer, müder Zug
Wird in Sommers Antlitz bleiben.
Regensburg. ibmse Keiter=Kellner (ITC. Berbert).
Audienz eines Kasseler Bürgers bei -ein letzten Kur
fürsten zu Prag.
Mitgeteilt von Di-. Schwarzkop f.
it der für die preußischen Waffen siegreick)en
Schlacht von Königgrätz war auch das
Schicksal des Kurfürstentums Hessen entschieden,
und der Kurfürst siedelte, dem Beispiele seines
Großvaters folgend, zu dauerndem Aufenthalte
nach Prag über. Schwer, unendlich schwer war
es dem bereits alternden Herrn und Fürsten ge-
worden , die Zügel des von ihm geführten Regi-
mentes aus der Hand legen und fern von der
hessischen Heimat, in der böhmischen Hauptstadt,
in fremder Umgebung und in unfreiwilliger Muße
die Tage seines Alters verbringen zu müssen.
Die Achtung, mit der man allgemein in Prag dem
entthronten Fürsten begegnete, sowie die liebens-
würdige Aufmerksamkeit, welche Kaiser Franz Joseph
und die k. k. Offiziere ihm bei allen Gelegenheiten
erwiesen, waren freilich nur ein geringer Ersatz für
den harten Schlag, der Friedrich Wilhelm I.
im Jahre 1866 betroffen hatte, und so sehr der-
selbe auch bei seiner kerndeutschen Gesinnung sich
des geeinten Deutschlands und seiner herrlichen
Siege im Jahre 1870 freute, so konnte er es doch
nicht verschmerzen, daß die Rüder der Weltgeschichte
so schonungslos gerade über ihn und seinen Thron
hinweggerollt waren. Bor allem war es die Sehn-
sucht nach der Heimat, die den letzten Hessenfürsten
weit mehr als der Verlust seiner fürstlichen Macht
unablässig quälte und ihm in einsamen Stunden
Thränen in die Augen trieb, sobald er seines
Hessenlaudes gedachte, in dem einst seine Wiege
gestanden hatte und in dessen Erde er dermaleinst
ruhen wollte, wenn der unerbittliche Tod seinem
Leben ein Ziel gesetzt haben sollte.
Eine andere fürstliche Natur als gerade Friedrich
Wilhelm I. hätte sich weit leichter in die Berhült-
niffe gefügt. Dem Kurfürsten fehlte in Prag nicht
die gewohnte, wenn auch stark eingeschränkte Hof-
haltung. Schön und behaglich war auch das
Heim, das derselbe in dem ehemaligen Palais des
Fürsten Windischgrütz in der Waldsteingasse zu
Prag bezogen hatte. Mit seinen zierlichen Giebeln
und Erkern und seiner einfachen aber schönen Fassade
galt dieses für die Fürstin von Hanau käuflich
erworbene Palais als eine Zierde der Kleinseite
von Prag und wetteiferte in der Architektur mit
den in seiner Nähe gelegenen Palästen des Fürsten
Lobkowitz. des Grafen Nostiz. des Grafen Czernin
und anderer böhmischer Magnaten. Und doch fühlte
der Kurfürst sich in diesen prächtigen und vor-
nehmen Räumen nicht behaglich, da ihm der ge-
wohnte Blick auf die weite Fläche des Friedrichs-
platzes fehlte. Sobald der entthronte Fürst an
das Fenster seines Palastes trat und hier die
beiden böhmischen Infanteristen bemerkte, welche in
ihren weißen Röcken mit grasgrünen Aufschlägen
vor seinem Palais als Ehrenposten aufgezogen
waren, so dachte derselbe unwillkürlich doch mit
Wehmut daran, daß die stattlichen Söhne seines
Landes in der ihm so lieben Uniform des Re-
giments Leibgarde oder der Garde du Corps
einst bei ihm Wacht gehalten hatten. Umsonst
hatte sich Prag, das goldene Prag, für den ent-
thronten Fürsten mit dem reichsten Zauber seiner
Pracht und Schönheit geschmückt. Prag mit seinen
unzähligen Thürmen und Palästen war ihm doch
kein Kassel geworden, und wenn die Wellen der
Moldau auch noch so anmutig und gefällig fast von
allen Seiten die uralte Stadt der Libussa umspülten,
so sehnte sich doch das Herz dieses Fürsten mit
unwiderstehlicher Gewalt nach den stillen Usern
der Fulda und den dunkeln Wäldern und Bergen,
die sie umsäumten und die ihm von Jugend an
so lieb und vertraut gewesen waren.
Bei allen Fehlern und bei allen Schwächen hatte
der letzte Kurfürst doch ein tiefes Gefühl und vor-
nehme Regungen, wovon Excellenz von Weyrauch
uns noch unlängst in diesen Blättern dankenswerteMit-
teilungen gemacht hat. Auch Herr von Goeddäus
und andere, die ihm früher nahe gestanden hatten,
haben uns manchen schönen Zug aus dem Leben
des Heimgegangenen Fürsten erzählt. Eine große,
fast kindliche Freude empfand der Kurfürst, wenn
ihm während seines Exils in Prag Gelegenheit
gegeben wurde, einen seiner früheren Unterthanen
143
bei sich empfangen und mit ihm über sein ihm so liebes
Kassel und die hessische Heimat plaudern zu können.
Ein angesehener Kasseler Bürger, der lange
Jahre in den städtischen Körperschaften eine einfluß-
reiche Stellung bekleidet hatte, und der, obwohl
er sich in die neuen Verhältnisse völlig hinein-
gelebt, doch persönlich noch seinem angestammten
Landesherrn Treue und Anhänglichkeit bewahrt
hatte, war nach Prag gekommen und hatte eine
längere Audienz bei Sr. Königlichen Hoheit in
dem Palais der Waldsteingasse erhalten. Von
dieser zurückgekehrt, hatte sich mein Gewährsmann
sofort niedergesetzt und den Inhalt dieser Unter-
redung fast wörtlich niedergeschrieben. Diese Auf-
zeichnung war mir mit der Bestimmung von ihm
übergeben worden, dieselbe später den Lesern des
von ihm geschützten „Hessenlandes" mitzuteilen.
Dem Wunsche unseres längst verstorbenen braven
Mitbürgers sei hiermit entsprochen.
Aus der Unterredung geht allerdings hervor,
daß der letzte Kurfürst in betreff der preußischen
Besitzergreifung und der von der Königlichen Re-
gierung getroffenen Maßregeln doch hier und da
falsche und übertriebene Mitteilungen erhalten hatte,
die Sr. Königlichen Hoheit gegenüber richtig zu
stellen, unser Gewährsmann nicht versäumt hat.
Auch die Redeweise des Kurfürsten, der die Ge-
wohnheit, in Infinitiven zu sprechen und durch Weg-
lassung der Pronomina und Relativa die Satze zu
kürzen, angenommen hatte, wird uns eigenartig be-
rühren. Diese kurze und prägnante Ausdrucksweise
ist aber als charakteristisch auch in dem vorliegenden
Referate beibehalten worden.
Nachdem der Hosmarschall und Flügeladjutant
von B er sch u er unsern Kasselaner im Empsangs-
salon zunächst freundlich begrüßt hatte, erhielt der
Kammerdiener Befehl, den aus Kassel eingetroffenen
Besuch Sr. Königlichen Hoheit zu melden.
Bei seinem Eintritt fand der frühere Unterthan
seinen alten Landesherr» mit der rechten Hand
aufgestützt an einem Schreibtisch sitzend. Der
Kurfürst trug einen dunkelblauen, hoch zugeknöpften
Oberrock, aus der Brust den Stern des goldenen
Löwenordens. Er trug ferner dunkle Beinkleider,
und eine schwarze Atlasbinde mit sog. Vatermördern,
die der Kurfürst mit Vorliebe anlegte, sobald er
in Zivil ging, fehlte auch jetzt nicht.
Nach einer Verbeugung führte sich unser Lands-
mann mit folgenden Worten ein:
„Königliche Hoheit wollen einem geborenen Kur-
hessen gestatten, seinem angestammten Landesherrn
die ergebenste Aufwartung zu machen —" woraus
der Kurfürst erwiderte: „O, sehr angenehm" und
den Besucher aus einem Sessel an dem Schreibtisch
neben sich Platz nehmen ließ.
In der Einleitung des nun folgenden Gesprächs,
bei welcher der Kasselaner auf eine Begrüßung
des Kurfürsten in seiner alten Residenz hindeutete,
sagte dieser: „Ja, das wohl noch einige Zeit dauern
wird! Wohl wissen, daß es ein kurhessisches Ver-
hängnis ist, sieben Jahre fortbleiben zu müssen.
Wissen doch von meinem Großvater, der auch hier
gewesen ist. Nun mir sagen wollen, wie es in
meinem lieben Kassel aussieht?"
Der Kasselaner: „Die großen Veränderungen in
Europa sind auch in Kassel nicht spurlos vorüber-
gegangen. Manches hat sich wohl zum Guten
gewendet. Ich kann Königlicher Hoheit aber die
Versicherung geben, daß vieles früher angenehmer
war."
Der Kurfürst: „Mir in Kassel so etwas nie
gesagt ist. Mir sagen wollen, wie es in der Aue
jetzt aussieht? Man Alleen abmachen, alles um-
arbeiten, alles zu Geld machen will? Ob wahr ist?"
Der Kasselaner: „Doch wohl nicht in der Aus-
dehnung, wie Königliche Hoheit anzunehmen scheinen.
Man hat in der Aue im letzten Winter abgeholzt,
nicht mehr und nicht weniger wie sonst."
Der Kurfürst: „O, nein, besser weiß. Alleen
abgeholzt haben, alles abreißen und verkaufen,
alles zu Geld machen."
Der Kasselaner: „Königliche Hoheit, es sind in
der Bellevue nur die eisernen Staketen abgenommen,
und man sagt, Herr Oberpräsident von Möller,
der ein großer Naturfreund ist. habe dieses nur
der Aussicht halber gethan."
Der Kurfürst: „Ach was, Aussichten in Kassel
immer genug gewesen sind."
Der Kasselaner: „Dann hat man auch das
Orangerieschloß fertig ausgebaut."'
Der Kurfürst: „O, gut bauen haben!"
Der Kasselaner: „Auch hat mau bei der Restau-
rierung unsern hessischen Gefühlen Rechnung getragen,
da man an Stelle der römischen Kaiser die Medaillons
unserer hessischen Landgrafen gesetzt hat."
Der Kurfürst: „Ach was; Orangerieschloß ein
ganz italienischer Bau ist. Die hessischen Land-
grafen da gar nicht zu Hause sind."
Der Kasselaner: „Die Medaillons sind aber von
knnstgeübterHandgemacht.vonProsessorHassenpflug."
Der Kurfürst: „Hassenpflug tüchtiger Mann, aber
manchmal närrischer Kauz gewesen. Ich wohl
wissen, daß er in Fulda in der Michaelskirche den
St. Georg mit dem Drachen gemacht hat. aber an
nackte Füße ihm Sporen geschnallt hat."
Während dieser Unterredung hielt der Kurfürst
ein kleines Notizbuch in der Hand, in welches er
von Zeit zu Zeit einen Blick warf. So brach er
I nach einem solchen Blick das Thema vom Oraugerie-
I schloß ab und fragte aus einmal ganz rasch:
144
„Wilhelmshöhe wohl auch ganz verändert? Wohl
auch hier viel Aussicht gemacht haben? Alles ver-
ändern wollen und vergessen machen, wohl weiß
das."
Der Kasselaner: „Wilhelmshöhe,Königliche Hoheit,
ist doch im ganzen im früheren Zustand geblieben.
Hofbauinspektor Knyrim und Hofgärtner Vetter
sorgen noch heute für ausgezeichnete Instandhaltung
der Anlagen und Gebäude."
Der Kurfürst: „Vetter ein sehr guter Hofgürtner
ist und schon sorgen wird, daß mir alles in gutem
Zustande erhalten wird. Schombardt jetzt gute
Wirtschaft hat; bei Napoleon viel Geld verdient
hat. Was wissen Sie von Napoleon?"
Der Kasselaner: „Zu dienen. Königliche Hoheit.
Ich war bei der Restauration des Schlosses nach
dem Abzüge Napoleons gerade oben."
Der Kurfürst: „Sehr interessant. Mir das alles
erzählen wollen."
Der Berichterstatter erzählte nun dem Kurfürsten
sehr weitläufig, wo Napoleon gewohnt hatte. Ver-
schiedenes über die von ihm eingehaltene Haus-
ordnung. wobei ihn der Kurfürst öfters, augen-
scheinlich sehr interessiert, lebhaft unterbrach. Bei
der Bemerkung, daß das Arbeitszimmer des Kur-
fürsten auch das des Kaisers geworden sei, wurde
der Kurfürst sehr erregt und sagte:
„Diesem Manne, diesem Erzspitzbuben, mein
Zimmer eingeräumt haben —! Seinen Lohn be-
kommen hat, uns aber nichts hilft."
Beide verweilten noch längere Zelt bei diesem
Thema, bei der Erzählung jedoch, daß Napoleon
sich eine preußische Batterie zur Besichtigung hatte
vorführen lassen,, schüttelte der Kurfürst zweifelnd
den Kops. Als der Besucher einen Wagen vor-
fahren hörte, wollte er ausstehen und sich entfernen.
Der Kurfürst sagte aber:
„Nur ruhig sitzen bleiben. Isabellen alle Tage
kommen. Isabellen noch zwölf Stück habe. Müssen
mal nach der Villa Kinsky gehen, meinen Marstall
sehen. Schöne Besitzung, schöner Berggarten.
Schöne, große Zimmer. Historische. Nachbarschaft,
Schlösser Wallenstein und Fürstenberg, wo Herzog
von Friedland gewohnt hat. Auch keine schönen
Zeiten damals waren."
Dann standen beide aus, und der Kurfürst sagte:
„Nun einmal sehen, wie ich wohne." Er öffnete
eiireu Salon, wo die Ölgemälde seiner sämtlichen
Kinder hingen, und sagte: „Wohl kennen meine
Kinder?" Aus die bejahende Antwort sagte der
Kurfürst: „Nun meiner Frau auch noch einen
Besuch machen." Er öffnete eine Saalthüre, und
unser Kasselaner befand sich plötzlich der Fürstin
von Hanau gegenüber. Der Kurfürst sagte: „Ich
Dir einen Besuch aus Kassel bringe, der seine
silberne Hochzeitsreise zu lins nach Prag gemacht
hat" und fügte scherzend hinzu: „Ja, grüne
Hochzeitsreise weit besser ist." Die Frau Fürstin
von Hanau war ebenfalls sehr freundlich und er-
kundigte sich nach vielen Kasseler Persönlichkeiten,
besonders nach einer Frau von Lepel, die lange
im Hause unseres Gewährslnaunes gewohnt hatte,
und die sie öfters daselbst besucht habe.
Nach einer halbstündigen Unterhaltung begleitete
Se. Königliche Hoheit den Besuch wieder bis in
sein Zimmer zurück, schüttelte ihm die Hände, be-
dankte sich und sagte: „Sie haben mir eine große
Freude gemacht."
Damit war die Audienz des Kasseler Bürgers
bei seinem alten Landesherrn beendet.
-------------------
Heffen-Oarinstaöts Abfall von Napoleon I
Von Di-, ph.il. Bergör in Gießen.
iFortsetzilng.)
m 24. Oktober überbrachte der bairische Major-
Prinz von Thurn und Taxis, Adjutant des
Königs Mar Joseph, dem Großherzoge Ludwig
von Hessen einen Briefs Wredes, der eine Auf-
forderung zum Beitritt zur Sache der Verbündeten
enthielt. Es heißt darin unter anderem: „Da
in wenig Tagen der Gang der Operationen starke
Truppenabteilungen meiner unterhabenden Armee
in Eurer Königlichen Hoheit Staaten führen wird,
so liegt mir nichts mehr am Herzen, als der
gesamten Armee sagen zu können, daß die groß-
herzoglich hessischen Lande als föderative Staaten
angesehen und behandelt werden sollen." Daher
sei unbedingt nötig: die Entfernung des fran-
zösischen Gesandten Vandeuil vom Darmstädter
Hose und der Anschluß der hessischen Truppen
an die der Verbündeten. Der großherzogliche
Hof glaubte, in Anbetracht der noch unsicheren
Lage sich ablehnend verhalten zu müssen. Eine
Wendung trat ein, als bald daraus der Haupt-
mann Fresenius von der Großen Armee in
Darmstadt erschien und meldete, Prinz Emil von
Hessen sei an der Spitze seiner Truppen bei Leipzig
durch die Verbündeten gefangen genommen worden.
Jetzt wagte man in Darmstadt einen Schritt
vorwärts und ordnete am 26. Oktober den Baron
') Veröffentlicht bei Arthur Kleinschmidt, S. 251.
145
du Thil nach Aschaffenburg ab, um mit Wrede
zu verhandeln. Immerhin war die Lage noch
nicht geklärt: daher verließ Großherzog Ludwig
am 27. Oktober Darmstadt, um sich nach Mann-
heim zu begeben. Bor seiner Abreise ernannte
er eine Landesdirektorialkommission von fünf
Mitgliedern unter dem Borsitze des Landgrafen
Christian.
Am 30. und 31. Oktober hatte sich Napoleon
bei Hanau den Durchmarsch erkämpft, ohne daß
es Wrede gelingen konnte, ihn aufzuhalten.
Napoleon kam am 31. Oktober, 3 Uhr nachmittags,
in Frankfurt an und nahm sein Hauptquartier
im Garten des Herrn von Bethmann. Am
1. November, nachmittags 1V« Uhr, reifte er
von Frankfurt ab, um sein Hauptquartier in
Höchst am Main aufzuschlagen. Von hier begab
er sich am 2. November nach Mainz. Nachdem
Napoleon nach dem Rhein retiriert war, zogen
die Verbündeten am 2. November in Frankfurt ein.
Die feit dem 26. Oktober von Baron du Thil
begonnenen Verhandlungen mit Wrede wurden jetzt,
da der letztere bei Hanau verwundet war, mit
dem österreichischen General Fresnel fortgesetzt
und führten am 2. November zum Abschluß der
Militär-Konvention zu Dörnigheim a. M.
Eingangs dieses Vertrags betont der Großherzog
Ludwig, „daß er es als der Wohlthat seiner
Unterthanen gemäß erachtet habe, sich von der
Rheinischen Konföderation zu trennen, um der
heiligen Sache der koalliierten Allerhöchsten Mächte
beizutreten". Die abgeschlossene Militär-Kon-
vention sollte „bei dem unverzüglich mit den ver-
bündeten Allerhöchsten Mächten abzuschließenden
Definitiv-Traktate zur Basis dienen".
Der Dörnigheimer Vertrag enthält folgende
drei Punkte:
Artikel I. Se. Königliche Hoheit machen Sich an-
heischig in der kürzest möglichen Zeit alle disponiblen
Truppen in Ihren Staaten zu dem verbündeten
österreichifch-baierischen Armeekorps stoßen zu lassen.
Artikel II. Verbinden Sich Se. Königliche
Hoheit, diese Truppen nach Möglichkeit der in
Jhro Gewalt stehenden Mittel zu vermehren und
die Zahl und Gattung der in der Folge zu
stellenden in dem Definitiv-Traktate bestimmt
auszudrücken.
Artikel III. Diese Truppen werden stets einen
integrierenden Teil der verbündeten Armee aus-
machen und in dieser Hinsicht, so wie die der
übrigen Allerhöchsten Alliierten verpflegt und be-
handelt werden.
*) Veröffentlicht bei Geo fyreberic de Martens, Nouveau
recueil de traites d’alliance etc. Tome IV. Göttingen
1820. (Hofbibliothek Darmstadt.)
Der französische Gesandte Vaudeuil in Darm-
stadt, der, wenn auch nicht von dem Abschlüsse
der Konvention unterrichtet, doch wohl die bevor-
stehenden Verhandlttngen Hessens mit den Ver-
bündeten vermuten mochte, traf am 4. November
in Mannheim ein, um im Namen feines Kaisers
vom Großherzoge eine bestimmte Erklärung ab-
zufordern, welcher Partei er sich anzuschließen
gedenke. Zu seiner Sicherheit bot der Gesandte
in Napoleons Aufträge dem Großherzoge ein Asyl
in der Schweiz, Frankreich oder Italien an.
Vaudeuil machte Ludwig Vorwürfe über die
Verabschiedung seiner Truppen, die er doch dem
Kaiser zur Unterstützung nach Frankreich hätte
schicken sollen. Aber alle Überredungskünste und
Drohungen, die in einer zweistündigen Unter-
redung der französische Gesandte anwandte, um
Ludwig an Frankreichs Sache zu binden, scheiterten
an dem festen Willen des Großherzogs, der durch
den Umschwung der Verhältnisse gestärkt war.
Vandenil verließ Darmstadt und begab sich mit
seiner Familie nach Mainz.
Der Frankfurter Vertrag vom 23. November 1813?)
Dem Vertrage von Dörnigheim folgte am
23. November der Vertrag zu Frankfurt, durch
den der Anschluß des Großherzogs von Hessen
in noch weiteren genaueren Bestimmungen vollendet
wurde. Der Frankfurter Vertrag wurde ab-
geschlossen zwischen dem österreichischen Vertreter
Baron Binder von Kriegelstein und dem
hessischen Bevollmächtigten Guillaume Charles
du Bos,Baron d u T h i l. Ein gleiches Exemplar
dieses Vertrags wurde je unterzeichnet von dem
russischen Vertreter Jean d'Anstett und dem
preußischen Baron Wilhelm von Humboldt.
Der Eingang des Schriftstücks beginnt mit den
Worten: „Im Namen der heiligen Dreieinigkeit."
Die fünf Artikel verbreiten sich über folgende Punkte:
Artikel I bestimmt die Lossagung vom Rheinbünde.
Artikel II verpflichtet den Großherzog, die Sache
der deutschen Unabhängigkeit mit allen Mitteln
zu unterstützen. Artikel 111 bespricht nochmals die
Hilfeleistungen, die durch besondere Bestimmungen
genauer festgelegt werden. Artikel IV sichert dem
Grvßherzoge die Souveränetät und den Besitzstand
zu. Dagegen verheißt der Großherzog, sich nach
den Anordnungen zu richten, die später getroffen
werden sollen, um Deutschlands Unabhängigkeit
endgültig aufrecht zu erhallen. Durch Artikel V
wird die schnellste Ausführung des Vertrages
bestimmt.
s) Veröffentlicht bei Martens, Nouveau recueil de
traites etc.
146
Ein ähnlich lautender Bertrag wurde am
gleichen Tage zwischen dem Herzoge von Nassau
und Österreich abgeschlossen. Dem Bündnisverträge
folgten an demselben Tage noch besondere Be-
stimmungen als Nr. 2: über den „Plan zu
einer unter den deutschen Fürsten zu schließenden
Bereinigung zur Herbeischassung der Kriegs-
kosten" und als Nr. 3 „Unterhaltung der
Truppen."
Der Plan über die gemeinschaftliche Herbei-
schaffung der Kriegskosten berührt folgende Punkte:
Die von dem Rheinbund sich lossagenden Fürsten
verpflichten sich noch „mit ihrem Kredit mit-
zuwirken und diesen Kredit bis zum Betrage der
Brutto-Einnahme ihrer Länder von einem Jahre
auszudehnen" (1). Der Betrag wird ermittelt
nach den statistischen Tabellen oder nach den Ver-
hältnissen zu der bekannten Seelenzahl (2). Die
erhobenen Summen werden in 24 Raten von
3 Monaten zu 3 Monaten zurückgezahlt. Die
verbündeten Mächte verpflichten sich, beim Friedens-
schluß einen Artikel aufzunehmen, durch den die
richtige Zahlung der Schuld sicher gestellt wird (4).
Bierteljährlich wird der 6. Teil des ganzen Be-
trags der Obligationen ausgelost und nebst
Zinsen (6 °/o) zurückgezahlt (6). Gegen die Teil-
nehmer, die ihrer Verbindlichkeit nicht nachkommen,
werden auf Antrag des Komitös die nötigen
Maßregeln ergriffen (9).
Die als Anhang III über die Unterhaltung
der Truppen erlassenen Bestimmungen verbreiten
sich über folgende Hauptpunkte: Österreich, Rußland
und Preußen werden zur Verpflegung ihrer Heere
den sechsmonatlichen Bedarf aus ihren Ländern
nachschieben (1). Wassersrachten werden bezahlt.
In dem Gebiete der verbündeten Staaten sind
die Fahrzeuge gegen den gewöhnlich üblichen
Frachtsatz zu stellen (2). Das benötigte Fuhr-
wesen ist unentgeltlich zu stellen (3). Requisitionen
für Bekleidungsbedürsnisse dürfen nur für Schuhe,
Stiesel, Tuch und Beinkleider stattfinden (8).
Die Requisition erfolgt nur durch den Korps-
Kommandanten und durch die General-Intendanten.
Die Bezahlung geschieht in Obligationen nach
den landesüblichen Preisen (9). Sie findet statt
für alle seit dem 1. November ausgeschriebenen
Naturalien- und Bekleidungsbedürsnisse (10).
Transporte, sowohl der eigenen Lieferungen als
der von rückwärts ankommenden Ausschreibungen,
werden als Kriegslast unentgeltlich geleistet (11).
Jeder Bundesstaat übernimmt die Verpflegung
seiner Truppen auf ein Jahr (12).
Die nach dem Frankfurter Vertrag Hesse» zu?
stehende Verpflichtung zur Leistung von Geld-
beiträgen an die gemeinsame Kasse sowie zur
Lieferung von Naturalien erforderte für das
Land ganz bedeutende Opfer. Die Bildung hin-
reichender Magazine, die Lieferung von Lebens-
mitteln aller Art hielten nicht nur die unmäßigen
Preise aufrecht, so daß z. B. ein Zentner Heu
5 Guldeu kostete, sondern trieben sie noch weiter in
die Höhe, da namentlich an Fourage ein großer
Mangel in Aussicht stand. Jeder Staat mußte
nach Verhältnis seiner Quadratmeilenzahl Beitrüge
und Lieferungen ausbringen: man nahm für das
Großherzogtum Hessen 205 Quadratmeilen an.
Dazu kamen noch Leistungen anderer Art, die
im Vertrag gar nicht vorgesehen waren; so mußte
z. B. die Provinz Starkenburg 500 Klafter
Brennholz für die Vorposten in Hochheim liefern,
obwohl letzteres im Herzogtum Nassau lag; hier
fand sich aber wenig Holz. Zur Öperationskasse
mußte Hessen-Darmstadt nach dem Fuße von
40 Millionen Gulden Einkünfte beitragen, eine
Summe, „die man hier wenig geneigt ist, als
erakt anzunehmen, und von der man einen Rabatt
zu erhalten hofft".
Rückkehr des grokherwalichen Kotes und fürstlicher
Leluch in Darmstadt.
Am 5. November kehrte der großherzogliche
Hof von Mannheim nach Darmstadt zurück. An
demselben Tage machte der Staatsminister von
Lichtenberg durch folgende ProklamationZ,
die in der Großherzoglichen Landeszeitung ver-
öffentlicht wurde, den Übertritt zu den Alliierten
dem Lande bekannt: „Nachdem des Großherzvgs
von Hessen, unseres allergnüdigsten Souveräns,
Königliche Hoheit, Sich bewogen gesunden haben,
mit den gegen Frankreich verbündeten und im
Krieg stehenden Mächten unter dem 2. dieses
Monats eine vorläufige Allianz-Konvention ab-
zuschließen, durch welche Se. Königliche Hoheit
aus deu bisher mit Frankreich bestandenen Kon-
föderations-Verhältnissen getreten, und der Sache
der gegen Frankreich verbündeten Mächte beizu-
treten und Mitalliierter derselben geworden sind,
so wird solches allen Dienern, Unterthanen und An-
gehörigen im ganzen Großherzogtum zur Nachricht
und Nachachtung hierdurch zu dem Ende öffentlich
besannt gemacht, daß sie alle in die Großherzog-
lichen Lande einrückenden Truppen der alliierten
Mächte als ihre treuen Freunde anzusehen, sie
bestens aufzunehmen und sich von ihnen eine
diesen Verhältnissen ganz entsprechende Behandlung
zu gewärtigen haben."
ff Veröffentlicht in der Großherzoglich Hessischen Zeitung
auf das Jahr 1813.
147
Mit der Rückkehr des Hofes hörte die fünf-
gliedrige Kriegs-Laudeskommission auf, und an
ihre Stelle trat eine Landes-Kriegskosteukommission
unter dem Borsitze des Freiherrn von Biege-
leben. Am 6. November um 11 Uhr zog Kaiser-
Franz von Österreich in Frankfurt ein. Der
bereits anwesende Kaiser von Rußland ritt ihm
auf der Hanauer Landstraße entgegen. Eine
halbe Stunde vor der Stadt trafen sich die beiden
Monarchen, die sich dann durch die Allerheiligen-
gaffe, Zeit, Katharinenpforte/Römerberg nach
dem Dom begaben, woselbst ein feierliches Te-Deum
für die glorreichen Tage von Leipzig und Hanau
abgehalten wurde. Darauf fand eine große
Truppenschau statt. Alle Straßen, alle Fenster
und viele Dächer waren von Menschen besetzt,
und „die ehrwürdigen Stätten, die mehre Jahr-
hundert Zeugen deutscher Einheit waren, ertönten
wieder von tausend Stimmen freier Deutschen".
Abends besuchten die Majestäten das Schauspiel-
haus, in dem die Oper „Titus" von Mozart ge-
geben wurde, bei welcher Gelegenheit die Majestäten
mit lautem Jubel und Trompeten- und Pauken-
schalle begrüßt wurden. Nachts war die ganze
Stadt erleuchtet. Am 13. November nahm der
Kaiser von Österreich in Frankfurt die Huldigung
des Großherzvgs von Baden, des Erbgroßherzogs
von Hessen und des Prinzen Christian von Hessen
entgegen. Am 19. November besuchte der König
von Baiern aus der Rückreise von Frankfurt den
großherzoglichen Hos zu Darmstadt und verließ
die Stadt wieder am 20. Am 27. machten der
Kaiser von Rußland und der König von Preußen
in Begleitung der Frau Erbgroßherzogin von
Weimar, des Kronprinzen und der Prinzen
Wilhelm und Friedrich von Preußen am groß-
herzoglichen Hose ihre Aufwartung. An demselben
Tage verließen die hohen Gäste wieder Darmstadt,
der König von Preußen begab sich nach Frankfurt,
der Kaiser von Rußland nach Heidelberg. Am
2. Dezember erneuerte der russische Herrscher seinen
Besuch in Darmstadt, desgleichen am 12. Dezember,
„woraus bei Hofe große Tafel und am Abend
Ball gegeben wurde, wobei auch des Kronprinzen
und der Prinzen Wilhelm und Friedrich von
Preußen Hoheit und der Frau von Thurn und
Taxis Durchlaucht zugegen waren. Diesen Morgen
<am 13.) ließen des Kaisers Majestät Ihre In-
fanterie-Garde in Parade vor sich vorbeidefilieren
und reisten am Abend nach Heidelberg ab"?)
Darmstadt war von fremden Truppen überfüllt;
soll doch der Kaiser von Rußland allein über
11 000 Russen Revue abgehalten haben.
0 Großherzoglich Hessische Zeitung auf das Jahr 1813.
(Fortsetzung folgt.)
Unterm Hollunöerbauin.
Historische Erzählung aus Oberhessen von O. Gros.
(Fortsetzung.)
ottes Güte schenkte der Pfarrsamilie in den
nächsten Jahren zwei Kinder. Das älteste ward
1723 geboren und ward nach seiner Großmutter ,
und Patin Marie genannt. Das zweite Kind
war ein Söhnlein, und Radefeld hätte es gerne über
die Taufe gehoben als Pate; da jedoch Pfarrer
Laukhardt nach der Sitte jener Zeit nur einen
Paten nahm, und sein Bruder, der darmstüdtische
Rentmeister Philipp Jakob Laukhardt zu Lichtenberg,
um die Patenschaft gebeten hatte, so lehnte Lauk-
hardt die Patenschaft Radefelds dankend ab und
nannte sein Söhnlein Philipp Jakob.
Im September 1725 ward der Koadjutor Rade-
feld als hanauischer Amtmann nach Selters versetzt.
Ihm war der Aufenthalt in Hirzenhain verleidet. j
Tie Pfarrsrau. deren Bild er noch im Herzen trug, i
mochte er nicht länger als eines andern Hausfrau
vor Augen sehen; von Laukhardt selbst fühlte er
sich seit der Ablehnung der Patenschaft gekränkt,
und so nahm er denn, als die Amtmannsstelle in
Selters vakant wurde, mit Erfolg die Fürsprache
des gräflich hanauischen Hoskellerers Küsner in
Bruchköbel in Anspruch, um diese zu erlangen.
Der Abschied von Radefeld that dem Pfarrer
Laukhardt von Herzen leid; denn wenn auch das
Verhältnis zwischen ihm und Radeseld seit seiner
Verheiratung und besonders seit der Geburt seines
Söhnleins etwas getrübt worden war, so war es
doch dem arglosen Gemüt Laukhardts kaum auf-
gefallen, daß Radeselds Benehmen kühler war als
früher. Pfarrer Laukhardt war indessen auch nicht
in der Lage, sich hierüber viel Gedanken zu machen,
denn etwas anderes hatte kurz nach Radeselds Ver-
setzung Kummer und Sorge in sein Haus getragen.
Seine Stieftochter Elisabeth von Bruchköbel kam
mit allen Anzeichen des Schmerzes und Herzeleids
nach Hirzenhain zum Besuch, und sie erzählte, daß
ihr Mann durch seine Unfähigkeit, Geldgeschäfte zu
verwalten, durch verschiedene Mißgeschicke und
Unglücksfälle, sowie nicht am wenigsten durch
148
seine Spielsucht, eine Leidenschaft, der er im Ge-
heimen sröhnte, ties in Schulden geraten sei und
zwar mit herrschaftlichen Geldern. Mit Thränen
und Schluchzen berichtete sie, daß die Hanauer
Herrschaft über sechstausend Gulden non ihm zu
verlangen habe.
Der Gras sei gestern bei ihnen in Bruchköbel
gewesen und habe gedroht, wenn nicht Küfner binnen
acht Tagen die Summe bezahle oder doch einen
annehmbaren Bürgen stelle, so werde er seines
Amtes entsetzt und als „gottloser Schuldenmacher"
ins Gefängnis geworfen. Nur die Rücksicht auf
Küfners einflußreiche Verwandschaft habe den Grafen
abgehalten, schärfere Maßregeln zu ergreifen.
Aus der Herreise habe sie bereits beim Amtmann
Radefeld in Selters vorgesprochen und ihn gebeten,
ihrem Manne durch Übernahme der Bürgschaft zu
helfen, da derselbe ihm ja auch geholfen habe, die
Stelle in Selters -zu erlangen. Der Amtmann
Radeseld aber habe die Achseln gezuckt und erklärt:
„er bedaure sehr, aber bei den jetzigen Zeitläuften
sei das Geld so rar, und er wisse wirklich keinen
Ausweg, wie dem Herrn Amt- und Hoskellerer, den
er im übrigen sehr hoch schütze, zu helfen sei".
„Ich weiß keinen anderen Rat," schloß Elisabeth :
ihre Klage, „als daß Ihr mir helft, lieber Vater;
ja um Gottes Barmherzigkeit willen helft doch, und
laßt uns nicht im Stich; was soll denn sonst aus
mir werden und meinen fünf Kindern?" und dabei
warf sie sich ihrem Vater-zu Füßen und umfaßte
schluchzend seine Kniee.
Laukhardt war ein bibelfester Mann, aber bei
dem Jammer seiner Tochter dachte er nicht an die
alttestamentlicheu Worte aus den Sprüchen Salomos:
„Wer für einen andern Bürge wird, wird gewiß
Schaden haben," und: „Es ist ein Narr, wer
in die Hand gelobt und Bürge wird für seinen
Nächsten," oder was Sirach sagt: „Bürge werden
hat schon viele reiche Leute verderbet", sondern er
wandte seinen Blick hinüber nach seiner Frau, die
still weinend dabeisaß, und als sie ihm ermunternd
zunickte, da zog er die vor ihm Knieende herauf
an seine Brust und sagte: „Sei getrost, Elisabeth,
um Deiner verstorbenen Mutter willen sollst Du
nicht im Stich gelassen werden. Wenn ich auch
selbst nicht weiß, wie ich eine solche Summe aus-
bringen sollte, so will ich doch die Bürgschaft über-
nehmen; aber Du und Dein Mann müßt sehen,
wie Ihr alsbald die ungeheuere Summe könnt an-
fangen zu tilgen, daß ich nicht selbst noch zu
Schaden komme."
Mit den herzlichsten Dankesworten versicherte
Elisabeth, alles thun zu wollen, was nur möglich
sei, um ihrem lieben Vater jede Unannehmlichkeit
zu ersparen; sie selbst wolle sich mit ihres Mannes
Rechnungsbüchern vertrant machen, und so hoffe sie,
im Laus der Jahre die Schuld abtragen zu können.
Tags darauf reiste Elisabeth in aller Frühe zurück,
den wohlverbriesten und versiegelten Schuldschein
in der Tasche, um ihrem Manne die frohe Botschaft
zu bringen, und im Pfarrhaus zu Hirzenhain ging
alles wieder seinen gewohnten Gang.
Im November 1726 wurde im Pfarrhaus ein
zweites Töchterlein geboren, das die Namen Sabine
Christiane erhielt nach seiner Taufpatin, der Tochter
des Kreisleutnants Vigelii zu Wenings.
Ein weiteres Jahr verfloß, welches die Psarr-
samilie mit Gottes Hülse glücklich und gesund ver-
lebte ; Pfarrer Laukhardt stand in freundschaftlichem
Verkehr mit seinem Schwiegersohn, dem Pfarrer
zu Wenings, sowie mit seinem Schwager, dem
dortigen Kreisleutnant, besonders aber auch mit
dem schon vorhin genannten lutherischen Pfarrer
Leidenfrost zu Ortenberg.
Da endlich kam die Stunde für den Grafen von
Hanau, Rache zu nehmen an dem tapferen Pfarrer,
der vor 17 Jahren im Ortenberger Kirchenstreit
so tapfer „für das Vaterland" gefochten hatte.
Viertes Kapitel:
Der falsche Freund.
Mit Radeseld war der Verkehr fast gänzlich ein-
geschlafen. Der weite Weg von Hirzenhain nach
Selters, sowie die vielfachen Amtsgeschäfte ver-
hinderten den Pfarrer Laukhardt „seinen alten Be-
kannten und Freund" — wie Radeseld immer in
der Chronik genannt wird — aufzusuchen, zumal
ihn sein Familienglück auch vielfach ans Haus fesselte.
Radeseld dagegen hatte in den letzten drei Jahren
noch mehrfach die Gastfreundschaft des Hirzenhainer
Pfarrhauses in Anspruch genommen, was übrigens
der Psarrsrau niemals sehr angenehm war, denn
sie mochte den Amtmann nicht leiden; allerdings
verlieh sie ihren Gefühlen keine Worte, nicht ein-
mal gegen ihren Mann, weil sie sah, wie sehr der-
selbe sich freute, so oft „sein alter Bekannter und
Freund" ihn besuchte.
Deshalb sagte sie auch nichts dawider, als am
2. November einige Hirzenhainer Ortsbürger, die
vom Ortenberger „Kalten Markt" heimkehrten, ein
Brieflein des Amtmanns Radefeld überbrachten,
in dem dieser seinen lieben Freund Laukhardt ein-
lud, ihn doch endlich einmal in Selters zu besuchen
und so die alte Freundschaft zu erneuern. „Ich
würde mich sehr freuen," lauteten die Schlußworte
des Briefes, „wenn Ihr, mein lieber Freund, am
nächsten Sonntag Nachmittag zu mir kommen und
von der Gastfreundschaft eines hanauischen Amt-
manns Gebrauch machen wolltet."
149
Für Laukhardt war diese Einladung eine große
Freude.
Am kommenden Sonntagnachmitkag sattelte er
seinen Braunen,- nahm Abschied von Frau und
Kindern und ritt wohlgemut nach Selters zu, ohne
zu ahnen, daß er seine liebe Frau auf Erden nie-
mals mehr Wiedersehn sollte.
Er ritt über Lißberg und Ortenberg nach Selters,
fragte nach dem Haus des Amtmanns Radeseld
und ward von diesem auf das freundlichste bewill-
kommt.
Radefeld ließ einen kleinen Imbiß kommen, und
bald saßen die beiden alten Freunde in traulichem
Gespräch beim Mahle, wenn es auch Pfarrer Lauk-
hardt auffiel, daß sein Freund so unruhig und
zerstreut war und alle Augenblicke aus dem Fenster
schaute, gleich als wenn er jemand erwartete.
Laukhardt, der seinen Blicken folgte, sah, wie
zwei Landjäger in der gräflich hanauischen Uniform,
in voller Rüstung mit Flinte und Säbel aus das
Haus zukamen.
„Nun, lieber Freund, habt Ihr denn auch am
Sonntag keine Ruhe vor Amtsgeschäften?" fragte
er den Amtmann.
„Es scheint so", entgegnete Radeseld kurz, seinen
Gast mit scheuem Blick streifend.
Unterdessen traten auch schon die Landjäger ins
Zimmer und Radefeld befahl ihnen in herrischem
Ton: „Bindet den Mann hier und liefert ihn
sicher nach Hanau ins Gefängnis!"
Pfarrer Laukhardt schaute seinen Freund mit
irrem Blick an, ungewiß, ob es Ernst oder Scherz
sei, — aber es war bitterer Ernst, denn schon
waren die Landjäger herzugetreten und hatten dem
bestürzten Pfarrer, der gar nicht daran dachte, sich
zu wehren, die Hände gefesselt. Da begriff Pfarrer
Laukhardt, daß er einem tückischen Judasstreich zum
Opfer gefallen war; Thränen stürzten ihm aus den
Augen, fassungslos sank er auf seinen Sessel nieder.
Tie beiden Landjäger wußten nicht, was sie aus
der Sache zu machen hatten, und erwarteten weitere
Befehle des Amtmannes; dieser kehrte ihnen in-
dessen den Rücken zu und trommelte ungeduldig an
den Fensterscheiben.
Rach einigen Minuten hatte sich Pfarrer Lauk-
hardt wieder soweit gefaßt, daß er reden konnte.
„Radefeld, lieber, lieber Freund," flehte er, „ist
das Euer Ernst, daß Ihr mich armen Mann ins
Unglück stürzen wollt? denkt Ihr denn nicht an
unsre alte, langjährige Freundschaft? Hab' ich Euch
je etwas zu Leids gethan? Wie wollt Ihr den
Kummer verantworten, den Ihr über meine liebe
Frau und meine lieben Kinderlein bringt? O, Ihr
kennt ja meine Kinder, erbarmt Euch meiner doch
um ihretwillen! Ach, lieber Freund, so redet doch
und erbarmt Euch meiner!"
Der Amtmann aber antwortete seinem Freunde
ltnb Gast kein Wort, sondern befahl nochmals mit
rauher Stimme: „Thut, was ich Euch befohlen
habe!" und verließ das Zimmer, um in sein neben-
liegendes Schlasgemach zu treten.
Nun sah Laukhardt, daß alle Hoffnung verloren
sei, daß alles Bitten und Flehen vergeblich sein
würde; denn die beiden Landjäger rissen ihn empor
und führten ihn aus dem Hause, und trotzdem die
Nacht hereingebrochen war, geradewegs auf die Land-
straße nach Hanau zu.
Die ganze Nacht hindurch dauerte der Marsch,
während dessen Pfarrer Laukhardt manch heißes
Gebet zu Gott emporsandte und viele bittere
Thränen vergoß.
In der Frühe des nächsten Morgens begegnete
ihnen eine Schar Landleute, die von Frankfurt
zurückkehrten, und dabei erkannte Laukhardt einen
Hirzenhainer, der ganz erschrocken stehen blieb, als
er seinen lieben Pfarrer, von zwei Landjägern
transportiert, des Weges kommen sah.
Pfarrer Laukhardt rief ihm schluchzend zu: „Ach.
Straub, sagt doch meiner Frau, daß der Amtmann
Radefeld an mir gehandelt hat wie ein rechter
Judas und mich gefangen nach Hanau einliefern
läßt." —
(Fortsetzung folgt.)
-------------------------------
Aus alter urtò neuer Zeit.
Authentisches über die Vergiftung des
Hoslakaien Bechstädt. Über den Fall Bech-
städt sind in letzter Zeit wieder verschiedene
Meinungen laut geworden. Da es nun wohl von
allgemeinem Interesse sein dürfte, etwa bestehende
Zweifel aufzuklären, so möchte ich eine kurze Ab-
fassung aus dein Tagebuch meines Großvaters, des
Leibarztes Sr. Königlichen Hoheit des Kurprinzen
und Mitregenten, Geheimen Hosrats und General-
stabsarztes Dr. Bäu ml er, in wörtlicher Abschrift
zur Verfügung stellen.
„Mit dem neuangehenden Jahre 1822 trat
auch bald neuer Verdruß ein, besonders aber er-
eignete sich ein Unglück an unserem Hose, das mir
trotz der größten Mühe und pflichtmäßigster Dienst-
erfüllung recht viel Verdruß machte. Es ging
nämlich Se. Hoheit der Kurprinz im Monat Januar
zwei verschiedenmal aus die Maskerade, in der
150
angenehmen Überzeugung, nicht gekannt zu sein.
Um diese Überzeugung um so gewisser fassen zu
können, ging der Prinz in den letzten Tagen des
Januar mit dem Hoslakai Bachstedt ganz allein
aus den Maskenball; die Sache selbst war sehr
verschwiegen gehalten worden, und um gar kein
Aussehn zu erregen, waren Herr und Diener in
schwarze Dominos gleich gekleidet. Dennoch aber
trieb die Bosheit in dieser Nacht ihr Spiel, und
jener unglückliche Bachstedt, ein sehr braver Mann
und Vater einer Familie von vier unerzogenen
Kindern, wurde das Opfer eines ihm gereichten
Giftkelches. Die Vergiftung selbst war nach seiner
Angabe durch eine Maske in schwarzem Domino,
welche ihm ein Glas Grog gereicht hatte, des
Nachts gegen ein Uhr geschehen; er hatte sich kurz
darauf sehr unwohl gefühlt. Schmerz und Erbrechen
bekommen, was ihn genöthigt hatte, schnell nach
Hause zu gehn, und so hatte er sich unter den
fürchterlichsten Schmerzen die ganze Nachmitternacht
herumgequält, bis es ihm am Morgen gegen 6 Uhr
erst mit den Seinigen einfiel, nach Hülse zu schicken,
und wurden mir dann um diese Zeit schnell hinter-
einander drei Boten geschickt.*) Ich begab mich so
schnell als nur möglich zu demselben und fand ihn
in der bedauernswürdigsten Lage und dem Tode
nahe. Die Zeichen einer stattgehabten Arsenik-
vergiftung lagen zu hell am Tage, weshalb ich
auch nicht verfehlte, hiergegen speziell die nötigsten
Maßregeln zu ergreifen. Nachdem die erforderlichen
Gegengifte verordnet und nebst anderen Heilmitteln
angewendet waren, säumte ich nicht, schleunigst
dem Prinzen von dem Unglücksfall Meldung zu
machen und ihm den wahrscheinlich unglücklichen
Ausgang der Sache wissen zu lassen. Dann wurde
der Polizei Anzeige gemacht, und hieraus ersuchte
ich nicht allein zu meiner Sicherstellung, sondern
auch zum Heil des unglücklichen Kranken den Ober-
Hofrat H......., sich mit mir zu demselben zu
begeben und mir in diesem höchst wichtigen Falle
seinen Rat zu erteilen, welcher sich aber nicht sofort
mit mir zu dem Kranken begab, sondern zuvor
dem Kursürsteu von meiner Anzeige Meldung
machte und dann nach einer halben Stunde mit
dem Obermedizinaldirektor G.............. zu dein
Kranken kam, dessen Zustand sich bis dahin sehr
verschlimmert hatte. Beide erkannten den
Zustand des Kranken für Vergiftung,
stimmten vollkommen mit meiner ihnen
*) H. von Treitschke schildert im 3. Band seiner
„Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert", Seite 533/
die Wirkung des gereichten Grogs, den Thatsachen wider-
sprechend, in nicht zu übertreffender Kürze mit den Worten:
„Der Mann nahm, trank und stürzte vergiftet
zu Boden." (!) D. Red.
angezeigten Behandlungsart überein
lind rieten außer noch einigen Senfpflastern als
Gegenmittel nichts mehr an. — Schon gegen 8 Uhr
war Bächstedt tot, und nach wenigen Stunden
entstand bei den beiden obengenannten Herren der
Gedanke, daß jenes Leiden auch eine Cholera ge-
wesen sein könnte und dann meine gereichten Gegen-
gifte höchst nachteilig gewesen wären. — Die Sektion
wurde am nächstfolgenden Tage im Beisein vieler
Ärzte von einer gerichtlichen Kommission unter-
nommen, und es ergab sich bald, daß sotvohl der
Schlund als auch der Magen von einer Menge
weißer Körner nicht allein entzündet und brandig,
sondern sogar aus mehreren Stellen fast durchfressen
waren. Dennoch aber stimmten die Herren G.
und H. noch nicht vollkommen für Bergiftung, ja.
es ging soweit, daß man mir sagen konnte, es sei
möglich, daß jene weißen Körner die von mir in
Mandelöl und Wasser aufgelöste Schwefelleber sein
könnte, und nach dieser schönen Rede hätte ich
denn erst durch meine Behandlung ein Mittel dem
Kranken zugeführt, was als Gift hätte wirken
können. — Auch riet man mir noch Mittel an,
welche ich, wenn es wirklich Vergiftung gewesen
wäre, hätte in Anwendung bringen sollen, worauf
ich aber mit ganz dürren Worten entgegnete, daß ich
ihren Rat mir am Krankenbette erbeten hätte, jetzt
aber, nachdem sie den Orfilla Zeit gehabt Hütten zu lesen,
könne mir der Rat am Sektionstisch nichts mehr nützen.
Schon in den ersten Tagen begann die chemische
Untersuchung des herausgenommenen Magens und
dessen Inhalts, und es ergab sich bald, daß meine
Aussage gegründet war, indem sich an 30 Gran
Arsenik darin fanden. Daß diese bis dahin zweifel-
hafte Sache mich sehr beunruhigen mußte, war
wohl außer Zweifel, indem mein Ruf dabei aus
dem Spiel stand;' dennoch aber hatten die hohen
Herren nicht einmal soviel schonendes Gefühl für
mich, daß sie mich das Resultat der Untersuchung
zu meiner Beruhigung hätten wissen lassen, wenn
ich es nicht durch den Assessor F. gleich nach voll-
brachter Untersuchung wäre gewahr worden. Zentner-
schwere Steine wälzten sich mir bei dieser Nachricht
vom Herzen, und nur darin fand ich hinreichende
Ruhe, daß meine Ansicht gegen die der hochweisen
Herren als die richtigere sich bestätigt hatte. Auch
Se. Hoheit der Kurprinz nahm an der Sache für
die Erhaltung meines Rufs vielen Anteil und
ließen mich, nachdem sie die Nachricht über das
Resultat der Untersuchung durch den Obergerichtsrat
Sch...... gehört, es sofort wissen. Wenn zwar
der Kurfürst mir den harten Vorwurf machte, daß
ich, nachdem ich zum Kranken verlangt, nicht schnell
genug bei Hand gewesen wäre, so ließ er mir doch
noch durch den Hosmarschall v. D........ an dem-
151
selben Tage sagen, daß ich Wer den mir gemachten
Vorwurf mich beruhigen mochte, indem er später
eines Besseren über mich berichtet worden wäre. —
Tie unglückliche Witwe erhielt mit ihren vier
Kindern von Sr. Hoheit dem Kurprinzen das
------------
Aus Heiinat
Zentennarseier. Am kommenden 20.August
werden bekanntlich seit der Geburt des letzten Kur-
fürsten von Hessen Friedrich Wilhelm I. hundert
Jahre verflossen sein. Das Andenken an diesen
Fürsten soll in Kassel durch eine Gedächtnisfeier in
der Hos- und Garnisonskirche, durch eine Ausstellung
von Gegenständen, die auf den Kurfürsten Bezug
haben, sowie durch einen Vortrag des Herrn
Kabinetsrats Adolph Schimmelpseng gefeiert
werden. Auch ist ein Festessen der ehemaligen
kurhessischen Offiziere geplant.
Fuldaer Geschichtsverein. Am 23. April
hielt der Fuldaer G e s ch i ch t s v e r e i n im großen
Saale der „Harmonie" eine Versammlung ab, die
von Herrn Professor l)r. Lei mb ach, dem stell-
vertretenden Vorsitzenden, eröffnet wurde. Den
ersten Vortrag hielt Herr Stadtarchivar Dr. Kartels
über die Geschichte der Pest in Fulda. Vom
Auftreten dieser Krankheit im Altertum beginnend,
gab Redner einen geschichtlichen Abriß derselben
bis zur Gegenwart und verbreitete sich darauf über
die Pest in Deutschland und besonders im Fuldaer
Gebiet Mitte des 14. Jahrhunderts. Die Er-
innerung an diese Schreckenszeit ruft noch heute
die alljährlich nach dem Frauenberg stattfindende
Pestwallfahrt wach. Ta die Pest aber auch im
16. und 17. Jahrhundert in Fulda auftrat, so
legte der Vortragende die Ursachen dar. durch die
eine solche schreckliche Seuche damals festen Fuß
fassen konnte. Sodann hielt Herr Bibliothekar
Di-. Scherer einen Vortrag über die Barockbauten
in Fulda, zu denen der Tom und die Orangerie
zählen, und über den Baumeister Johann Dientzen-
höser, unter Zugrundelegung zweier in jüngster
Zeit erschienener Werke: „Beiträge zur Geschichte
der Dientzenhöser" von Weigmann, und: „Eine
Bamberger Künstlerfamilie" von Schmerber. Redner
brachte manches Reue, so auch über das Dientzen-
höfersche Haus, dessen jetzige Inhaberin, Frau
Hauptmann Henkel, die Forschungen bereitwilligst
unterstützt hatte, und sprach zum Schluß über das
Deckengemälde im Orangeriegebüude, welches erläutert
und auf seine Vorlage verfolgt wurde. Beiden
Rednern sprach der Herr Vorsitzende den Dank
Gehalt des Mannes als Pension; und die Sache
blieb so, ohne daß es den größten Bemühungen
der Gerichte möglich gewesen wäre, den Bösewicht,
welcher die That verübt, auszumitteln."
E. Aäumker.
-----------
und Fremde.
des Vereins aus, wonach die Versammlung ge-
schlossen wurde
Freie Feder. In den letzten Versammlungen
der Kasseler Schriststellervereinignng „Freie Feder"
kamen u. a. Gedichte von Karl Preser und das
vieraktige Lebensbild „Lear in der Dachstube" von
B. von Bodenhausen zur Vorlesung.
Jubiläum. Am 28. April beging Herr
Kreistierarzt Textor in Ziegenhain sein 50jähriges
Berufsjubiläum. Nach seiner Approbation ließ er
sich 1853 in Neukirchen nieder, wurde 1862 Kreis-
tierarzt in Gelnhausen und übernahm am 4. Mai
1864 dieselbe Stelle in Ziegenhain, die er seitdem
ununterbrochen in gewissenhaftester und erfolgreichster
Weise verwaltet, wie dies in einem Schreiben des
Herrn Regierungs-Präsidenten von Trott zu Solz,
das dem Jubilar an seinem Ehrentag überreicht
wurde, besonders hervorgehoben worden ist. Der
Stadtverordneten-Versammlung und später dem
Magistrat von Ziegenhain gehörte er lange Zeit
an und ist noch hellte Mitglied des Kreistags und
des Kreisausschusses. Geboren ist Herr Kreistier-
arzt Textor am 24. April 1827 in Fritzlar.
Todesfälle. In Marburg starb am 13. Mai
der Landesgerichtspräsident z. D. Geheime Ober-
Justizrat Dr. jur. Anton Schultheis. Am
13. Februar 1823 zu Fulda als Sohn des
damaligen Obergerichtsrates, nachherigen Ober-
appellationsgerichtsrates Schultheis, geboren, ver-
lebte er seine Schuljahre in Marburg und Kassel.
In Marburg, wo er dem Korps „Teutonia" an-
gehörte, und in Heidelberg studierte er die Rechte,
wurde 1845 Obergerichtsreferendar in Kassel, 1852
Amtsassessor in Fulda und im selben Jahre noch
Obergerichtsassessor in Kassel. Das Jahr 1866
fand ihn daselbst als Obergerichtsrat. Alsdann
war er dort Appellationsgerichtsrat und Kreis-
gerichtsdirektor. 1875 wurde er zum Obertribunals-
rat und 1879, unter Beilegung des Charakters
als Geheimer Ober-Justizrat, zum Landgerichts-
präsidenten in Marburg ernannt. Am 14. November
1895 feierte er unter großen Auszeichnungen sein
152
50 jähriges Dienstjubiläum. Am 1. Oktober 1899
trat er aus fein Nachsuchen in den Ruhestand.
Seine Gattin, eine Tochter des Ober-Medizinalrates
Dr. Bauer in Kassel, verlor er am 28. Mai 1898.
Der Dahingeschiedene war ein hervorragender Jurist,
dessen Hauptgebiet das Zivilrecht war. Ein um-
fassendes Bild von Anton Schultheis' sonstigen
Eigenschaften gab die juristische Fakultät der
Universität Marburg bei der Verleihung des Diploms
eines Doktors beider Rechte, indem sie ihn darin
einen „durch Würde, Wohlwollen, Thatkraft, Billig-
keit und Lauterkeit des Charakters gleichmäßig
ausgezeichneten Mann" nannte. — In Darmstadt
starb der Ober-Konsistorialrat und Prälat Dr. Viktor-
Habicht. Derselbe hatte am 5. Februar noch in
voller Rüstigkeit, wie wir in Nr. 5 dieses Jahrgangs
berichtet, sein 80. Lebensjahr vollendet. — In seiner
Villa zu Wilhelmshöhe verschied am 29. Mai
der in den weitesten Kreisen Hessens bekannte und
angesehene Großhändler Louis Reuse nach kurzem
Krankenlager im 59. Lebensjahre. Geboren zu
Holzhausen im Reinhardswalde widmete er sich dem
Kaufmannsstande und war in dieser Laufbahn von
außergewöhnlichem Erfolg begleitet, wozu seine
praktischen, gesunden Anschauungen und seine That-
kraft das Ihrige beitrugen. Er war bei vielen
gemeinnützigen Unternehmungen beteiligt uttb hat
sich um seine Mitbürger manche Verdienste er-
worben.
Denkmalseinweihung. Ein Leser unserer
Zeitschrift schreibt: „In den Tagen vom 21. zum
28. Mai wurde auf der Göpels kuppe bei
Eisenach in Gegenwart von etwa zweitausend
alten und jungen Burschenschaftern das große,
herrliche Denkmal geweiht, das die deutsche Burschen-
schaft dem Andenken an die Reichsgründung und
die gefallenen Mitstreiter errichtet hat. An der
Feier nahmen alle 60 deutschen Burschenschaften
mit ihren Fahnen teil, darnnter die Alemannen,
Arminen und Germanen aus Marburg, sowie
die Alemannen und Germanen aus Gießen. Uns
allen, die wir das schöne Fest mitfeiern konnten,
wird es unvergeßlich bleiben, nicht zum wenigsten
auch die erhebende Wartburgseier im Burghose
der ehrwürdigen Veste. Den lieben hessischen
Teilnehmern und Teilnehmerinnen besten Gruß!"
?. W.
---------
Personalien,
Ernannt: die Landesbankräte Dr. Osius, Freiherr
Wolff von Gudenberg und Dr. Weigel zu Landes-
räten ; Dr. Emil M a u r m a n n in Marburg zum
Bibliothekar an der Königlichen Bibliothek in Berlin;
Hülfslehrer Schmidt in Kassel zum König!. Baugewerk-
schullehrer; die Referendare Bröckelmann. Hornthal
und Schenk zu Gerichtsassessoren; die Rechtskandidaten
Berlit und von Boxberger zu Referendaren.
Verliehen: dem Direktor des Gymnasiums zu Hers-
feld Dr. Konrad Duden der Charakter als Geheimer
Regierungsrat; dem Oberlehrer a. D. Professor Dr. Hassel-
ba um zu Kassel der Rote Adlerorden 4. Klasse.
Versetzt: Amtsgerichtsrat Weihe von Bünde in West-
falen an das Amtsgericht zu Kassel; Kataster-Inspektor
Steuerrat Henning in Schleswig in gleicher Diensteigcn-
schaft nach Kassel.
Entlassen: der außerordentliche Professor in der theo-
logischen Fakultät der Universität Marburg Die. Cr einer
zum Zweck des Übertritts in das Pfarramt; der Referendar
Dr. Pieper aus dem Justizdienst behufs Übertritts zur
allgemeinen Staatsverwaltung.
In den Ruhestand getreten: die königlichen Kammer-
musiker Kogel. Ludwig und T i m p e zu Kassel.
Geboren: ein Sohn: Oberbuchhalter .Julius
Stipp ich und Frau (Kassel, 18. Mai); Kaufmann
Willy Fischer und Frau Gisela, geb. Falken-
hayner (Kassel, 22. Atai); Fabrikant Fritz Heine
und Frau E m m a, geb. I o e d i ck e (Kassel, 23. Mai);
prakt. Arzt Dr. mell. W. Schlaefke und Frau (Kassel,
25. Mai); eine Tochter: Fabrikant Oskar Ernst
und Frau (Kassel. 14. Mai); prakt. Arzt Dr. mell. Fuhr
und Frau, geb. Liebrich (Niederzwehren, 21. Mai).
Verlobt: Dr. phil. Karl Fries mit Fräulein
Emmy D. Moesta (Marburg in Hessen, Mai).
Gestorben: Geheimer Ober-Justizrat Dr. jur. Anton
Schultheis. Landgerichtspräsidcnt z. D., 79 Jahre alt
(Marburg, 13. Atai); Frau Hermine Schlemming, geb
Werner, 54 Jahre alt (Kassel, 14. Mai); Frau Helene
R o ch o l l. geb. H e ck l e r, 81 Jahre alt (Kassel, 14. Atai);
Pfarrer Fromme, 48 Jahre alt (Lohne, 18. Atai); Frau
Atathilde vvn Kutzleben, geb. P o w a l ky. 82 Jahre alt
(Gelnhausen, 21. Mai); Arzt Dr. Lohmann, 55 Jahre
alt (Hofgeismar, 23. Mai); Privatmann Louis Hering
aus Kassel, 71 Jahre alt (Neuukirchen, Reg.-Bez. Trier,
24. Atai); Großhändler Louis Reuse, 59 Jahre alt
(Wilhelmshöhe, 29. Mai).
Briefkasten.
C. G. in F. Die „alten Akten" werden demnächst
erscheinen.
E. F. in Frankfurt a. M. Das erwähnte Bild ist von
dem Photographen Herrn Machmar in Kassel photographiert
worden und von demselben zu beziehen. Die Namen der
damaligen Magistratsmitglieder sollen nach Möglichkeit
festgestellt werden.
Für die Redaktion verantwortlich: W. Ben necke in Kassel. Druck und Verlag von Fried r. Scheel, Kassel.
M 12.
XVI. Jahrgang. Kaffil, 16. Juni 1902.
Der junge
I.
Unter den Tiefen im Nebelmeer,
In Finsternissen liegt die Welt.
Die Macht des Lichtes ist zerschellt
An wilder Riesen schwarzer wehr,
Die sich, ein Wetterwolkenheer,
Der Sonne kühn zum Kampf gestellt.
Und kalten Auges stiert die Rächt
Und freut sich ihrer Siegermacht.
Und ihr zur Seite hockt der Tod,
Der von der Sense längst das Rot,
Des letzten Lebens warmen Schaum,
Abstrich mit seines Mantels Saum . . .
Die Nebel kreisen, es flutet und zischt
Und auf der wogen brodelndem Gischt
Treibt, den das paar zuletzt entthront,
Der bleiche, starre, tote Mond---------
versunken ist seine Krone . . .
II.
Auf einmal recken sich auf die Zwei,
Doch auf der Lippe erstirbt ihr Schrei,
Der Schrei in Schrecken und Staunen;
Sie starren sich an und raunen . . .
Und neuer Wolken finsteres Ljeer
Und flutender Nebel stürmendes Meer
Bäumt sich entgegen dem Feinde,
Der fernher rudert durch nächtige Flut,
Lin junger Riefe mit stolzem Mut . . .
Er zerteilt die wogen und schüttelt das Haupt
Und rudert und ringt und kämpft und glaubt! —
wie wild ihn die Fluten wiegen,
Die Wolken entgegen ihm fliegen.
Er glaubt an ein königlich' Siegen.
Und über dem starken Schwimmer
Schwebt leise ein lichter Schimmer.
R a us ch e »l> e rg.
Sieger.
III.
Und nach dem schwarzen Kleid der Nacht
Greift keck der jugendliche Fant,
Stößt in den Nebelqualm mit Macht
Den grimmen Tod mit rascher Hand,
Ersteigt den Gipfel, wo das paar geruht,
Und schürt, bis jäher Glanz erwacht,
Zum Fimmel schlägt die rote Glut.
Die Asche stiebt, der Rauch verfliegt,
Der neue Morgen hat gesiegt.
Und mit der Jugend Feuergeist
Hebt er sein Lieb zum Himmelszelt;
Der Nebel immer matter kreist,
Und immer goldner glüht die Welt.
Sein blaues Auge glänzt und lacht
Herab von freier Berge Pracht.
Des Todes Stirnreif schmilzt er ein
Und singt dazu ein Schelmenlied;
Dann setzt er sich aufs Felsgestein,
Um das fein Adler jauchzend zieht,
Und hämmert lustig Glied an Glied:
Aus lichtem Gold sein panzerkleid! —
Ein Siegfriedschwert, so lang und breit!
Der Hochwald rauscht, die (Duelle rinnt,
Aufwacht nun Freud' und Lust;
Zn's Schlachthorn stößt der Morgenwind,
Und seines Siegs bewußt
Eilt dann zu Thal in blanker wehr
Der Morgen und zieht vor uns her.
Licht von den Höh'n flammt fein panier:
In diesem Zeichen siegt auch Ihr!
Valentin Craudt.
Oer Reformator Johann Sutel?)
Von L. Armbrust.
in Prophet ohne Jünger ist ein Stern ohne
Strahlen, er bleibt unsichtbar und unwirksam
für weitere Kreise. So haben denn die großen
Pfadfinder, die führenden Geister in der Welt-
geschichte, eine Anzahl von tüchtigen Mitarbeitern
nötig, die von der Hauptstraße aus die Neben-
wege anlegen und die neuen Gedanken in die
tieferen und ferneren Schichten des Volkes tragen.
Zn den wichtigeren Mitarbeitern der großen
Kirchenreformatoren des 16. Jahrhunderts gehörte
der Hesse Johann Sutel. Im Jahre 1504
wurde er zu Altmorschen an der Fulda geboren.
Er stammte dort wahrscheinlich aus ganz kleinen
Verhältnissen, denn vergeblich sucht man den
Namen eines Familienmitgliedes in den Urkunden
Alt- ltnb Neumorschens und des benachbarten
Klosters Heida. Johann war der älteste Sohn.
Seine Schulbildung scheint er in Melsungen er-
halten zu haben. In die Studentenlisten der
Universität Erfurt trug er sich als Melsunger
*) Die Beweise für die hier zusammengestellte Lebens-
beschreibung finden sich in dem Werke von Tschackert,
Magister Johann Sutel lZeitschr. für niedersächs. Kirchengesch.
1897 und Sonderabdruck Braunschw. 1897); zuni Teil
auch in meinem Aufsähe: Sütels Verwandte und Bekannte
in Melsungen lZeitschr. für uiedersächs. Kirchengesch. 1901.
VI, S. 249 ff.). Außerdem sind folgende Quellen und
Bearbeitungen benutzt: Franciscus Lubecus. Chronik«
und Annales der Stadt Göttingen bis 1588 lHandschr.
in der Universitäts-Bibliothek Göttingen). — Urkunden der
Klöster Breitenau. Eppenberg und Heida, der Stadt
Melsungen u. s. w. im Staatsarchiv Marburg. — Sixt.
Reformationsgeschichte der Stadl Schweinfurt. Schweins.
1794 — Stein, Monumenta Suinfurtensia. Schweins.
1875. — Heinr. Christ. Beck, Joh. Sutellius. Schwein-
surt 1842. — Urkundenbuch der Stadt Göttingen. III. Teil
hrsgeg. v. Hesselblatt u. Kaestner. — fGudenj, Zeit-
u. Geschichtsbeschreib, der Stadt Göttingen, 3 Teile. Gött.
u. Hannover 1734—38. — G. Erdmann, Gcsch. der
Kirchenreformation in Göttingen. Gött. 1888.— Friese.
Andeutungen zur Gesch. der Stadt Northeim (Baterländ.
Archiv f. Niedersachsen Jahrg. 1840, Heft 2. Hann. 1841).—
Stölzel, Hess. Studierende 1368—1600 lZeitschr. f. Hess.
Gesch. N.F. V. Suppl.).— Car. Gottl. Bretschneider,
Corpus Reformatorum. 9 Teile. Halte 1835—42. —
Tschackert. Ungedruckte Melanchthon - Handschriften des
Göttinger Stadtarchivs lZeitschr. für Kirchengesch. XVIII, !
S. 190 ff. Gotha 1897). — F r i tz Her r m a n n , Tas
Interim in Hessen. Marb. 1901.
ein; oncf) besaß er in Melsnngen einen wohl-
habenden Verwandten namens Konrad Sutel,
| der Priester des Katharinenaltars in der Stadt-
kirche war.**)
Im Alter von 14 Jahren bezog Johann bereits
die Universität Erfurt. Damals blieb vielerlei,
was jetzt ans dem Gymnasium erledigt wird, der
Hochschule vorbehalten. Dafür ward denn auch
die Studienzeit recht lange ausgedehnt; die
Stipendienstiftungen des 16. Jahrhunderts be-
dachten gewöhnlich sieben Jahre lang einen und
denselben Studenten.
Seitdem Johann das sechzehnte Lebensjahr
überschritten hatte, bezog er eine jährliche Unter-
stützung von seinem Oheim Konrad. Johann
mußte recht fleißig und begabt sein, denn als
angehender Jüngling (1525) war er bereits
Magister der freien Künste.
Nun trat ein Ereignis ein, das für seine
nächsten Lebensjahre bestimmend wurde. Während
Johann noch in der Fremde weilte, setzte der
Priester Konrad Sutel zu Melsungen seinen
letzten Willen auf (am 4. Juli 1525). Zn
Testamentsvollstreckern wurden der Abt Johann
Meyer in Breitenau, der Amtmann Nnland in
Kanfnngen, der Vikar Johann Platz in Homberg
und Magister Johann Sutel bestellt, dessen
Aufenthaltsort nicht genannt wird. Aus einem
Teile seines Vermögens machte Konrad eine
: Stiftung für mindestens sechzehnjährige fromme
und fleißige Studenten, die sieben Jahre lang
alljährlich zwanzig Gulden erhalten sollten. Zum
ersten Nutznießer aber ernannte das Testament
den Magister Johann Sutel, der damals (1525)
die Unterstützung schon viermal erhalten hatte.
Die 20 Gulden wurden ihm noch auf weitere
**) 17 Urkunden im Marburger Staatsarchiv berichten
von Konrad Sütels Wohlhabenheit und Wohlthätigkeit,
aber auch von seiner Bequemlichkeit im Dienste und von
seinem Geschick, sich durch Schenkungen die Gunst einfluß-
reicher Klosterinsassen zn verschaffen. Ans seinen vermög-
lichen Umständen möchte man schließen, daß er nur ein
Stiefbruder oder ein Vetter von Johann Sütels Vater
gewesen ist. Konrads Siegel zeigt einen Kelch zwischen
den Buchstaben C. 8.
155
drei Jahre in sichere AuZsicht gestellt, und wenn
er sich ehrlich und redlich hielte, auch für ein
viertes.
Durch Konrads letzten Willen wurde außerdem
ein anderes Familienglied bedacht: Gude Sütels.
Der Priester bezeichnet sie mehrfach als seine
junge Maid, auch als „Waffe", d. h. Base (hier
wohl Nichte). Anscheinend führte sie Konrad den
Haushalt. Das Testament sprach Gude jährlich
einen Gulden zu, falls die Zinsen dazu ausreichten.
Außerdem sollte ihr zukünftiger Ehemann einer
der vier bleibenden Vorsteher der Stiftung werden.
Endlich warf Konrad 400 Gulden aus, von deren
Zinsen Mädchen seiner Verwandtschaft, abwechselnd
mit armen Melsunger Bürgertöchtern, bei ihrer
Verheiratung auszustatten waren. Sicherlich galt
Gude Sütels auch hier als die nächste, welche
Ansprüche auf diese Aussteuer erheben durste. Sie
schien also für kleinbürgerliche Verhältnisse der da-
maligen Zeit keine ganz übele Partie zu sein. Ob
dieser Umstand und ihre wirtschaftlichen Talente
mitgewirkt haben, oder nur ihre körperlichen und
seelischen Vorzüge den Ausschlag gaben, kurz und
gut. Magister Johann fand bei seiner Rückkehr
Gefallen an seiner Base. Einer ehelichen Ver-
bindung stellten sich aber schier unüberwindliche
Schwierigkeiten in den Weg, da das kanonische
Recht eine Heirat in der näheren Blutsverwandt-
schaft verbot. Über diese Schwierigkeiten setzten
sich die jungen Leute hinweg, etwa um die-
selbe Zeit, als die Reformation in Hessen ein-
geführt wurde (im Oktober 1526). Natürlich
blieb der Schritt nicht ohne böse Folgen. Der
Priester Konrad war anscheinend sehr betrübt und
aufgebracht über die Verbindung seines Neffen
und seiner Nichte. Kurz vor seinem Tode, der
im Frühjahre 1527 erfolgte, fügte er in sein
Testament eigenhändig einen Nachtrag ein. Er
bestimmte darin, daß irgend einer ans seiner
Verwandtschaft zum dauernden Vorstande seiner
Stiftung gehören sollte. Früher war Gndens
Ehemanne diese Ehre zugedacht. Auch litt in der
nächsten Zeit, wenn wir einer späteren Äußerung
des Göttinger Stadtrats glauben wollen, Magister
Johanns Ansehen und Weiterkommen,, er wurde
„etzlicher Sache halben zurückgeschoben". Noch
nach anderthalb Jahrzehnten machte ein feind-
seliger Amtsgenosse (Inst Jsermann) dem Magister
Sutel die nahe Blutsverwandtschaft mit seiner
Frau zum Vorwürfe. Ja, es blieb nicht bei ein-
fachen Vorwürfen. Johann sowohl wie Ende
Sutel mußten arge Schmähungen über sich ergehn
lassen.*) Und das übte neben andern Umständen
*) Lubecus Bl. 253b zum Jahre 1542.
| starken Einfluß auf ihr Leben aus; denn sie
. waren nicht von so hartem Holze geschnitzt, um
! übeler Nachrede ruhig die Stirn zu bieten.
Johann war aller Wahrscheinlichkeit nach der
j erste evangelische Rektor der Melsunger Schnle.
In diesem Amte blieb er trotz der Verbindung mit
seiner Base.*) Freilich ließen sich die Melsunger
gewiß weniger durch den Glauben an seine Tüchtig-
keit beeinflussen als durch den Gedanken, daß er
der Gemeinde ungewöhnlich billig kam. Er erhielt
ja 20 Gulden aus Konrad Sütels Stiftung, und
! allzu viel wird man ihm nicht dazu gegeben
haben. Noch 1536 bezog der Melsunger Lehrer
nur 26 Gulden Bargeld aus der Kasse des
Hospitals, und zwar ohne daß er aus dem Sutel-
schen Testamente eine Unterstützung empfing.
Um das Jahr 1529 hörte für den Magister
Johann der Zuschuß aus des Oheims Hinterlassen-
schaft auf. Nun setzte er offenbar alles in Bewegung,
nm ein Pfarramt zu bekommen. Sein Freund,
> der Pfarrverweser Johannes Lening in Mel-
sungen**), war damals noch nicht einflußreich genug,
um durch seine Fürsprache viel zu wirken. Später
hat er seine Macht zu Gunsten Sütels entscheidend
in die Wagschale geworfen. Geradeste Freundschaft
mit Johannes Lening, dem ehemaligen Mönche
in der Karthause (Kloster Eppenberg) unter dem
Heiligenberge, wirst ein helles Licht auf Sütels
I Charakter. Lening war etwa sieben Jahre älter als
jener und mehrere Jahre lang sein unmittelbarer
Vorgesetzter, gewann aber nicht den mindesten
Einfluß aus ihn. Es gibt selten schärfere Gegen-
sätze als in diesem Frenndespaare: Lening wirt-
schaftlich bis zum Eigennutze, einem guten Trünke
nicht abgeneigt und in seinen religiösen Anschau-
ungen beinahe radikal, d. h. den Gegensatz zur
katholischen Kirche, oft auch zu den konserva-
tiveren Glaubensgenossen scharf betonend, soweit
es die Rücksicht ans den Landgrafen erlaubte;
Sutel dagegen in ewiger Geldnot, nüchternen
Sinnes und gelehrter Arbeit zugethan, im Streite
der theologischen Parteien nach Möglichkeit ver-
mittelnd und die Unterschiede nach der Rechten
hin überbrückend. In zwei Stücken findet sich
nur einige Ähnlichkeit zwischen beiden. Einmal
waren sie ihrer Obrigkeit gegenüber nachgiebig
und entgegenkommend, vermutlich weil sie so das
Wohl aller (und damit ihr eigenes) am besten zu
fördern glaubten. Jedoch gab es auch Fälle, in
denen sie ihre Selbständigkeit nach oben bewahrten.
Lening konnte von dem Landgrafen nicht dazu
gebracht werden, in der Abendmahlslehre sich dem
*) Das Paar hatte wohl nachträglich eine förmliche
Ehe abgeschlossen.
**) Vgl. über ihn „Hessenland" 1898, S. 98.
156
Lutherschen Standpunkte zu nähern, und in der
bösen Zeit des Augsburger Interims schloß er sich
— wenn auch nach starken Schwankungen — dem
Widerstande gegen den Erzbischof von Mainz an.
Und Sutel ließ sich weder durch die Rücksicht auf den
Göttinger Stadtrat noch auf die Herzogin Elisabeth
bewegen, der Wiedereinsetzung eines abgesetzten
Pfarrers zuzustimmen. Einem Feinde aber, der
mit Tod und Ketten drohte, wichen sie aus.
So machte es Lening bei den Wiedertäufern in
Münster, wie Sutel beim Anzuge der Kaiserlichen
gegen Schweinfurt. Dabei mochten sie nicht bloß
von Furcht beherrscht werde», sondern vielleicht
auch von dem Gedanken, daß sie anderswo noch
eine gedeihliche Wirksamkeit entfalten könnten,
und ihre Aufopferung ihren Anhängern und ihrer
Sache eher schädlich als nützlich wäre.
Diese beiden Männer waren also freundschaft-
lich verbunden. Und Lening ist es nach eigenem
Geständnisse gewesen, der den Landgrafen Philipp
auf den tüchtigen und.gelehrten Magister Johann
aufmerksam machte.
(Fortsetzung folgt.)
------------------------
Hessen-Darnrstaöts Abfall von Napoleon I.
Von Or. phil. Vergor in Gießen.
(Fortsetzung.)
Rückkehr der hessischen Truppen Ende 1813.
Bei Hünfeld zweigte eine Abteilung hessischer
Truppen von Napoleons Heer ab und zog über
Schlitz nach Gießen. Vom großherzoglichen Ar-
tilleriekorps blieb der Kapitän Müller auf der
Hauptstraße und kam in der Nacht vor der
Schlacht bei Hanau dort an. Hier ging er aus
der Marschkolonne über den Main nach Stein-
heim und erreichte am 3. November Darmstadt.
Seine Abteilung zählte 71 Mann') und 54 Pferde.
Die Mannschaften bestanden aus 2 Offizieren,
1 Militärchirurgen, 10 Unteroffizieren, 1 Tambour,
1 Bombardier, 1 Oberkanonier und 20 Kanonieren,
ferner aus 1 Train-Leutnant. 2 Train-Dragonern,
30 Soldaten und 2 Handwerkern. Sie führten
bei sich 6 Geschütze, 4 Munitions- und Geräte-
wagen, 2 Feldschmieden, 1 Bagagewagen, in Summa
13 Fahrzeuge.
Zwei hessische Bataillone bildeten einen Teil
der Besatzung der Festung Torgau. In der mit
27 000 Menschen angefüllten Stadt herrschte in-
folge der ausgebrochenen Epidemien große Not.
Aus die Nachricht von dem Ausgange der Schlacht
bei Leipzig fanden täglich zahlreiche Desertionen
statt. Der Kommandeur der hessischen Bataillone
entsandte deshalb einen Offizier nach Darmstadt
und erbat sich Verhaltungsmaßregeln vorn Groß-
herzog Ludwig 1. Nachdem der abgeordnete Offizier
am 23. November wieder zurückgekehrt, und der
Beitritt Hessens in Torgau bekannt geworden
war, ließ der französische Kommandant der Festung
Torgau die beiden hessischen Bataillone die Gewehre
') Darmstädter Archiv: Ober-Kriegs-Kollegial-Akten,
die Reorganisation des großherzvglichen Truppenkorps
betreffend vom 13. November 1813 bis August 1814.
Id. — Kleinschmidt, S. 261 (ohne genauere Einzelheiten).
zusammensetzen, erklärte sie für kriegsgefangen,
erlaubte ihnen jedoch freien Abzug ohne Waffen,
wenn die Offiziere sich auf Ehrenwort verpflichteten,
innerhalb Jahresfrist nicht gegen Frankreich zu
dienen. Da die Offiziere dies beharrlich ver-
weigerten, wurde ihnen der Abzug mit Gepäck
bewilligt. Sie kamen in einer Stärke von
320 Mann anfangs Dezember 1813 in Darmstadt
an, nachdem sie in Groß-Umstadt eine Quarantäne
durchgemacht hatten. Prinz Emil, der bei Leipzig
gefangen genommen worden war, kehrte mit seiner
aus 130—140 Mann zusammengeschmolzenen
Mannschaft aus der Haft nach Darmstadt zurück.
Mobilmachung der hessischen Truppen.
Ein Erlaßt) des grvßherzoglich hessischen Ober-
kriegskollegiums zu Darmstadt vom 30. November,
die Einberufung der Soldaten betreffend, mahnt,
„da ein großer Teil der zum Dienst einberufenen
Soldaten bis jetzt, auf die ergangene Ordre, bei
den Regimentern, Bataillons, Korps rc. noch
nicht erschienen, die Versammlung derselben aber
dermalen von der dringendsten Eile ist", alle
Justiz- und Hoheitsbeamten des Großherzogtums
zur ungesäumt thätigsten Befolgung des General-
reskripts vom 16. d. M.
Donnerstag den 30. Dezember 1813 wurde
vom großherzoglich hessischen Oberkriegskollegium
„aus Allerhöchstem Spezial-Auftrag" ein Aufruf
zur Bildung freiwilliger Iäger-Kom-
is» agnieen erlassen. Der Aufrufs beginnt:
„Da in dem gegenwärtigen Zeitpunkte das Vater-
land die Gesamtkrast aller waffenfähigen Mann-
®) Veröffentlicht in der (tzroßh. Hess. Zeitung für das
Jahr 1813.
s) Ebenda.
157
schaft in Anspruch zu nehmen genötigt ist, und
da Se. Königliche Hoheit der Großherzog, unser
allergnädigster Souverain, zu Höchst Ihrer be-
sonderer Zufriedenheit den patriotischen Eifer
Ihrer Unterthanen bemerkt haben, so haben Aller-
höchst Sie, um auch den von der persönlichen
Kriegs-Dienstleistung seither freigelassenen Adligen,
Hof- und Staatsdienern und schriftsässigen Familien
in den Städten Darmstadt und Gießen die er-
wünschte Gelegenheit zu geben, an der Verteidigung
des Vaterlandes teil zu nehmen, beschlossen, Frei-
willige Jäger-Kompagnieen, Bataillons und Korps,
je nachdem die sich ergebende Masse dazu hin-
reicht, zu errichten .... Alle jungen Männer
und Jünglinge dieser Klasse werden hiermit auf-
gefordert, sich zur Aufnahme in die Freiwilligen
Jäger-Kompagnien binnen 15 Tagen .... an-
zumelden und zwar nach den Provinzen des
Großherzogtums, worin sie wohnen oder im Augen-
blick sich aufhalten." Der Generalmajor Freiherr
von Sch äffe r in Arnsberg übernimmt die
Formation und Organisation des Korps. Weiter
wird bestimmt:
8 1. Die Existenz des Korps bezieht sich nur
auf den Felddienst, keineswegs auf den Garnison-
dienst. Jeder Freiwillige montiert und armiert
sich aus eigenen Mitteln. Vorschriften über Be-
schaffenheit der Kleidung und den zu wählenden
Sammelplatz werden noch erlassen. Unvermögenden
Personen kann auch Unterstützung zu teil werden (2).
Offiziere. Unteroffiziere und Mannschaften erhalten
gleiche Gage wie die Linientruppen (3). Sämt-
liche Leute werden bis zur Dienstfühigkeit eingeübt.
Die Ernennung des Kommandeurs geschieht durch
den Großherzog. Offiziere und Unteroffiziere
werden aus der Mitte bc§- Korps gewählt (4).
Den Hof- und Staatsdieneru, die in das Korps
treten, werden die innegehabtes! Stellen offen ge-
lassen. Anspruch auf Pension wird bewilligt (5).
Solche, die keine Staatsstellen bekleiden, erhalten
auch Gnadengehalt bei Dienstnnfühigkeit. Während
des Kriegsdienstes beziehen die Staatsdiener den
vollen Gehalt ihrer Stelle als Gage und Löhnung.
Sollte der Gehalt geringer sein als die Gage,
so haben sie die Militärbezüge zu empfangen (8).
Über gute Behandlung der Untergebenen seitens der
Vorgesetzten werden Reglements erlassen werden (9).
Mutvolles und sittliches Betragen wird die Ver-
anlassung zu Ehrenzeichenverleihung sein. Avance-
lnents in Zivilstellungen sind gleichfalls zu er-
warten (10). „Se. Königliche Hoheit erwartet von
der Vaterlandsliebe Ihres Adels und der Staats-
dienerschaft, von den Stadtbewohnern, überhaupt
von allen Stünden des Großherzogtums, welche
die Milde der Gesetze bisher nicht zum Kriegs-
dienst berufen hat, daß sie zu den Waffen eilen
und durch ihren Mut und Tapferkeit den Zweck
der allgemeinen Sache des Vaterlands kräftigst
befördern helfen."
Zum Schutze nach außen und zur Sicherheit
nach innen wurde die Landwehr gebildet, die
im Notfälle eintreten sollte. Die zur „Landes-
bewaffnung" einberufene Mannschaft wurde in
drei Klassen eingeteilt. Die erste Klasse um-
faßte alle militärpflichtigen Leute vom 17. bis
25. Jahre, die dienstfrei waren, wenn sie ein-
zige Söhne alleinstehender Eltern oder elternlose
einzige Söhne waren, die noch Geschwister zu er-
nähren hatten, oder die, wenn auch nicht dienstfrei,
doch eine temporäre Befreiung auf Urlaub
oder Jnterimsschein beanspruchen konnten. Ferner
gehörten dieser Klasse an die waffenfähigen, zum
Teil gedienten Männer vom 25 bis 30. Jahre
und die Bürgersöhne aus Darmstadt und Gießen,
insofern ihre Familien nicht wenigstens einen
Mann zum freiwilligen Jägerkorps gestellt hatten.
Die zweite Klasse umfaßte die waffenfähigen,
tonskriptionspflichtigen Männer vom 36. bis
45. Jahre, die Bürger und Bürgersöhne von
Darmsladt und Gießen vom 17. bis 45. Jahre,
„die zur ersten Klasse der Landwehr nicht gezogen
worden sind", ferner die von der Konskription
befreiten Hos- und Staatsdiener und die übrigen
„schriftsässigen" Personen vom 20. bis 45. Jahre.
Die dritte Klasse enthielt die Personen vom
46. bis 60. Jahre und alle „Konskriptions-
erempten" vom 36. bis 60. Jahre einschließlich.
Der Großherzog stellte sich als General en chef
an die Spitze des ganzen Landwehrkorps.
Um die Ausbildung zu beschleunigen, wurden
alle drei Klassen zusammengeschlagen und alle
Männer, die nicht in wirklichem Kriegsdienst
standen, vom 17. bis 60. Lebensjahre zu Übungen
herangezogen. Die Aushebung und Formation
geschah nach den Amtsbezirken in Bataillons-,
Regiments- und Infektionsabteilungen. Ein
Jahr später wurde die dritte Klasse von Übungen
freigegeben. Die zu diesen drei Klassen gehörenden
Landwehrleute standen nach den drei Provinzen
unter drei Generalkomuiandos. Im ganzen wurden
im Lande 48 Landwehrregimenter gebildet, die
sich nach den Provinzen durch rote, hellblaue und
gelbe Achselausschläge und Kragen unterschieden.
Die Offiziere und Unteroffiziere waren zumeist
ausgediente, in Zivilstellungen befindliche Militär-
personen, dann auch angesehene Bürger. Die
Ausbildung geschah durch Offiziere und Unter-
offiziere der Linie. Nach zwei Jahren waren
die Mannschaften mancher Regimenter so tüchtig
ausgebildet, daß sie sich von den Linienregimentern
158
kaum unterschieden. Um die Bürger nicht in
ihrem Berufe zu behindern, geschahen die Übungen
nur an Sonntags- und Feiertags-Nachmittagen.
Ans dieser Landwehr beabsichtigte man eine brauch-
bare Mobillandwehr zu bilden, die dann ins
Feld rücken sollte. Die hierzu tauglichen Mann-
schaften würden ans den einzelnen Regimentern
ausgewählt und in besondere Listen eingezeichnet.
In Wirklichkeit wurde dieser Plan doch nicht
ausgeführt. Erst am 20. November 1819 wurde
das Institut der Landwehr durch ein landes-
herrliches Edikt ausgelöst. Der Schluß desselben
lautet: „Da somit der heilsame Zweck, welchen
Wir durch die Landwehr zu erreichen beabsichtigten,
verschwunden und nur noch das Lästige der Sache
geblieben ist, so müssen Wir Uns. in unaus-
gesetzter Sorge für das Wohl des Landes, hier-
durch aufgefordert fühlen, auch diese Belästigung
ohne Aufschub von Unseren Unterthanen zu
nehmen".
(Schluß folgt.)
Das deutsche Haus zu Marburg.
Bon Ludwig Müller, Marburg.
icder ist ein Stück ans guter, alter Zeit, ein
Wahrzeichen Marburgs, vom Erdboden ver-
schwnnden und ein Opfer des rastlos eilenden, all-
bezwingenden Geistes: Fortschritt geworden. Wenn
einst der Nachkomme durch schön gepflegte, mit
Anlagen geschmückte breite Straßen wandert, um-
säumt von Häuserpalästen, Straßen, die er vielleicht
gar mit elektrischem Wagen im Fluge durcheilt, so
wird er kaum ahnen, daß ans diesem Grunde einst
ehrwürdige Mönche bedächtig wandelten, oft auch
Schwert- und Schildklang zu frohem Tourniere
hallte. Ter Okonvmiehos der ehemaligen deutschen
Ordensritter ist es, der in diesen Tagen mit seinen
weitläufigen Wirtschaftsgebäuden niedergelegt wurde,
um neuen Straßenanlagen Platz zu machen. Wie
so Manches so verdankt auch diese Ansiedelung der
heiligen Elisabeth ihren Ursprung. In der Nähe
eines dicht bei Marburg gelegenen Franziskaner-
klosters ließ die Landgräfin, die seither in Werda
wohnte, ein St. Franziskus-Hospital und daneben
für sich eine Wohnung erbauen, die noch vor
Ablaus des Jahres 1229 vollendet war und in
welche sie übersiedelte, um sich ganz einem Leben
voll thätiger Nächstenliebe und tiefer Frömmigkeit
zu weihen. Als die Fürstin am 19. November 1281
in ihrer Wohnung starb, ward ihr Leichnam am
siebenten Tage nach ihrem Tode ihrem Wunsche
gemäß in jene Kapelle überführt und beigesetzt.*)
Ter Boden, aus dem das Hospital stand und die
Güter, mit denen sie es ausgestattet hatte, waren
landgräfliche Familiengüter, über die der Fürstin
keine Hoheitsrechte zustanden. Weil nun Elisabeth
befürchtete, ihre Stiftung würde nach ihrem Tode
aus diesem Grunde untergehen, so hatte sie dieselbe
dem Schutze des deutschen Ordens unterstellt und
ihm als Eigentum überlassen. Dagegen nahmen
*) Vgl. C. W. Justi, Elisabeth die Heilige, S. 199.
die Landgrafen von Thüringen und Hessen, die
sich als Erb- und Grundherren betrachteten, die
Aufsicht für sich in Anspruch. Hierauf wurde
eine Untersuchnngskommission ernannt, die am
2. August 1232 zu dem Resultate kam, dem
Johanniterordensmeister von Deutschland Konrad
von Heimbach, der gleichfalls Ansprüche erhoben
hatte, diese abzuerkennen und ihm ewiges Still-
schweigen aufzuerlegen. Später wurde Landgraf
Konrad friedlicher gegen den deutschen Orden gesinnt
und berief mit Zustimmung seines Bruders Heinrich
Raspe im Jahre 1233 die deutschen Herren
nach Marburg, übergab ihnen das gestiftete Hospital
und entzog den Barfüßer-Mönchen die Kapelle und
St. Elisabeths Wohnung. Außerdem erhielt der
Orden nicht unbeträchtliche Begünstigungen. So
wurde Marburg der Sitz einer bedeutenden Kom-
menturei des deutschen Ordens, der Balley Hessen,
zu der noch Schiffenberg bei Gießen, Griesstädt in
Thüringen und Flörshain in der Pfalz gehörten.
Mehrere Jahre hindurch befand sich in Marburg
sogar der Sitz der Hochmeister des deutschen Ordens.
Soll doch hier der hochherzige Hermann von Salza
mit seinen vertrauten Rittern den ersten Plan zur
Eroberung Preußens gefaßt haben!
Bald nach dem Tode der Landgräfin Elisabeth
fand der Glaube an die wunderthätige Wirkung
ihrer Gebeine solche Verbreitung, daß aus ganz
Deutschland Scharen frommer Pilger zu ihrer Gruft
wallten. Landgraf Konrad, der im Jahre 1234
dem Weltleben entsagte, trat nun mit zwei Freunden
und 24 Edelleuten in den deutschen Orden in
Marburg ein und übergab demselben laut Schenkungs-
urkunde vom 0. November 1234 einen bedeutenden
Teil seiner Besitzungen, die er in Thüringen und
Marburg hatte, wo nunmehr die Ordensgebäude
des deutschen Hauses errichtet wurden.*)
*) Retters Hess. Nachrichten. Zweite Sammlung S. 54.
159
Auf den an der Lahn gelegenen Grundstücken
ließ Konrad in der Nähe des Franziskushospitals
die Kommende erbauen, die er nach ihrer Vollendung
zn seinem Ho chm eist er sitz erwählte und die auch
später Sitz der Balley Hessen geblieben ist. Am
14. August 1235 legte er den Grundstein zu dem
am 1. Mai 1283 vollendeten Elisabeth-Münster.
1240 soll Konrad in Rom gestorben sein. Seine
Leiche wurde nach Marburg gebracht und in der
Elisabethkirche beigesetzt.
Von 1291 — 1309 war abermals der Sitz des
Hochmeisters in Marburg.
Das deutsche Haus in Marburg besaß das ihm
vom Landgraf Ludwig verliehene Asylrecht. Danach
durfte kein herrschaftlicher Beamter einen Flüchtling
über die Ringmauern der Kommende hinaus ver-
folgen. Tie zwischen dem deutschen Haus und
den hessischen Landgrafen bestehenden freundschaft-
lichen Beziehungen erfuhren indeß infolge der im
Laufe der Zeit sich herausbildenden territorialen
Hoheit des Landesherrn eine Änderung, so daß das
deutsche Ordenshaus später oft der Zeuge schwerer
Vergewaltigungen und Rechtsverletzungen wurde.
Im Jahre 1483 befanden sich im Deutschordens-
hause zu Marburg 20 Brüder mit dem Kreuze, ;
13 Priester und 64 Knechte und Mägde. — An j
jedem Donnerstag fand eine Brodausteilung an >
Arme statt.
Ter Begräbuisplatz der deutschen Herren befand
sich aus der Südseite der Elisabethkirche. Das
daselbst noch vorhandene Kruzifix bezeichnet die >
Stelle, wo der 1568 verstorbene katholische Komtur-
Johann von Re hu begraben liegt. Auch der
1540 verstorbene lateinische Dichter und Marburger ;
Professor Evbanus Hessus hat allda seine
Ruhestätte gefunden.
Lassen wir nun vor unserem geistigen Auge die j
prächtige Gruppe stattlicher altdeutscher Bauten mit
hohen Staffelgiebeln, Erkern. Türmen, spitzbvgigeu
Thoren und Pforten erstehen, die als zahlreiche
Wohn-, Verwaltnngs- und Ökonvmiegebäude nebst
dem dazu gehörigen St. Elisabethmünster und
-Hospital das deutsche Haus in Marburg bildeten.
Das ganze Gebiet, dessen natürlichen Schutz aus
der Nordseite ein Lahnarm, im Süden der zur
Zeit noch offen fließende Ketzerbach bot, war von
einer hohen, starken, oben keilförmig zugespitzten
Ringmauer umgeben, von außen und innen be-
festigte Thore bildeten den Zugang. Im Mittel-
punkt dieser wehrhaften Burg, von der ein Teil
noch erhalten geblieben ist, wohnten die Ritter-
brüder. Das Hauptthor, aus dessen Thorpfosten
zwei in Stein gehauene Löwen standen, die noch
heute am südlichen Eingang zum Marburger Stadt-
park zu sehen sind, befand sich da wo heute der
Deutschhausweg zwischen Elisabethkirche und Physio-
logischem Institut in den Pilgrimsteiu einmündet.
Trat man durch dieses Thor ein, so erblickte man
rechts das in den Jahren 1889 — 1891 abgebrochene
St. Elisabeth-Hospital, nebst der davon getrennt
liegenden Wohnung des Spitalmeisters — 1884
abgebrochen — und den übrigen zugehörigen Neben-
gebäuden, links dagegen unmittelbar am Thore lag
das Waffen haus der Ritterbrüder, dahinter die
St. Elisabethkirche. Starke Mauern schieden diese
beiden Gebäudegruppen. Dem linken Ketzerbachuser
entlang zog sich nach der Kirche zu eine starke
Mauer, welche zur Befestigung des natürlichen
tiefen Burggrabens beitrug. Verfolgte man den
Fahrweg'weiter, so gelangte man durch eine kleine
Pforte mit einem größeren, daneben gelegenen über-
bauten Spitzbogenthor in den Ökonomiehof des
Ordens. Das mit dem Deutschordenswappen, sowie mit
dem Wappen der Komture Dietrich von Cleen und
Daniel von Lauterbach geschmückte Thorgebäude
diente dem Trappierer und Zinsmeister als Wohnung.
Dieses Gebäude wurde nebst dem am Bach entlang
stehenden Fechtboden 1884 abgebrochen. Wandte mau
sich nun im Okouomiehos links, so durchschritt man
über eine Brücke des Baches hinweg ein drittes
Thor, welches den Eingang zum deutschen Haus
im engeren Sinne, zur Wohnung der unter Klausur
lebenden Ordensbrüder bildete. Links von diesem Thore
war der Eingang zum Zinsmeistereigebäude
mit dem Wappen des Komtur Georg von Hörde.
Der jetzt vom Staat angekaufte stattliche spät-
gotische, mit hohem Giebeldach gezierte Bau zur
Rechten, aus dem Jahre 1518 stammend, diente
als Backhaus und Fruchtspeicher. Dahinter lag
die Wohnung des Hausmeisters und eine Brauerei.
Die dem Lahnarm entlang ziehenden, zum Teil
mit zwei Flügelbauten nach Süden vorspringenden
Gebäude, das eigentliche deutsche Haus, bewohnten
die Ordensbrüder. Da die ursprünglichen alten
Fenster meist vermauert oder verändert sind oder
spätere Anbauten die ältere Form verdecken, so
machen die noch erhaltenen Gebäude nicht mehr
den altertümlichen Eindruck, der ihnen nach ihrem
Ursprung zukäme. Das im Laus der Zeit sehr ver-
fallene und deshalb 1889 abgebrochene Gebäude
rechts von dem nach Süden vorspringenden Flügel
mit einer Rokokothüre diente ehemals dem Land-
komtur als Wohnung, der gleich dem Prior von
den Brüdern getrennt, sogar längere Zeit auf dem
ehemaligen Fron hos am Grün wohnte. Nach dem
Abbruch dieses Hauses hat man die Hausthüre
mit dem Wappen des Laudkvmturs Gras Damiau
Hugo von Schönborn (1700—1743) zwischen den
beiden Eingangsthüren am Langhaus eingemauert.
(Fortsetzung folgt.)
160
Erinnerung
Von Louis
s war zu Mitte der 50er Jahre, als ich, einer
Einladung von nahen Verwandten folgend,
zur See nach Portugal reiste. Während Spanien
mit seiner Fülle von unvergleichlichen Kunstschätzen,
der Schönheit seiner südlichen Landesteile und nicht
zuletzt den Überbleibseln der maurischen und arabischen
Zeit, der Alhambra von Granada und der Moschee
von Cordova, immer wieder Scharen von Reisenden
in das Land zieht, bleibt Portugal verhältnismäßig
unbeachtet. Mit Unrecht, denn wenn es auch keine
so glorreichen Epochen der Malerei aufzuweisen
hat wie das Nachbarland, an architektonischen Meister-
werken aus seiner Blütezeit steht es ihm nicht nach.
Lang hingestreckt, terrassenförmig aufgebaut am
Ufer des Tajo, bietet Lissabon eine der schönsten
Stüdteansichten von Europa, d. h. vom Wasser aus
gesehen. Es ist fast eine neue Stadt zu nennen,
die nach dem Erdbeben im Jahre 1755 in trost-
loser Regelmäßigkeit und ohne jede Rücksicht aus
architektonische Schönheit wieder aufgebaut wurde.
Einzelne großartig angelegte Bauten wurden an-
gefangen, wie beispielsweise der Palast Ajuda, den
man, nachdem er kaum zum Drittel fertig war, liegen
ließ, als moderne Ruine. Ein Bauwerk aus der
besten Zeit der Gothik ist hingegen in seiner ganzen
Schönheit erhalten geblieben und gewiß einzig in
seiner Art. Es ist das Kloster und die Kirche
San Jeronimo in Belem, im Norden der Stadt
am Tajouser gelegen, erbaut im Jahre 1499.
Ein wahres Wunder von Steinhauerarbeit ist das
Portal mit seinen zahllosen Figuren und Arabesken.
Der warme und rötliche Ton des Steins, hin und
wieder von moosgrünen Tinten malerisch unterbrochen,
bringt bei voller Sonnenbeleuchtung eine so glänzende
Wirkung hervor, daß der ganze Bau wie in Feuer
vergoldet erscheint.
Um mich vor der grellen Sonnenglut zu schützen,
flüchte ich in den Kreuzgang und habe da ein Archi-
tekturbild von unbeschreiblicher Schönheit vor mir.
Herrlich gemeißelte Pilaster unterstützen die breiten
Bögen, welche die Aussicht aus den blumenbepflanzten
Klostergarten bieten. Jeder dieser Bögen hat sein
besonderes Dessin in seinen steinernen Verzweigungen,
welches die Sonne zierlich auf die Steinplatten
zu unsern Füßen malt. Nur das leise Plätschern
des Springbrunnens im Garten unterbricht die
feierliche Stille des Ortes.
Ich glaube nicht, daß aus der ganzen Peninsula,
vielleicht mit Ausnahme der Alhambra, ein Fleckchen
Erde zu finden ist, welches an Zauber diesem gleich
kommt.
an Portugal.
K a tz e n st e i n.
Man ist hier dicht am Ufer des Tajo an einer-
denkwürdigen Stelle. Fast 400 Jahre sind ver-
flossen, da mochten die armen Fischer in den hier
liegenden Hütten wohl mit Erstaunen die großen
Schiffe betrachten, die hier vor Anker lagen und
mit scheuer Ehrfurcht einen Mann vor dem Altar
der bescheidenen Kirche liegen und inbrünstig den
Segen des Himmels auf eine gefahrvolle und aben-
teuerliche Unternehmung herabflehen sehen. Das
war einer jener gewaltigen Charaktere, an denen
das Zeitalter der Renaissance so reich war, Vasco
da Gama, der Endecker des Seewegs nach Ostindien.
Nicht viele Jahre nachher verließ ein anderer
Mann hier das portugiesische Land in freiwilliger
Verbannung mit dem Ausrufe: „ingrata patria, non
possidebis ossa mea“ — Luiz de Camoens, der
Dichter par excellence von Portugal. Aber er
kehrte wieder, nachdem er 16 Jahre lang abwechselnd
den Degen und die Feder für den Ruhm seines
Vaterlandes geführt, gebräunt von der indischen
Sonne und nach einem Schiffbruche an der Küste
von Malabar, ans dem er sich schwimmend und
in der einen Hand das Manuskript seines Gedichtes
„Die Lusiaden" hoch empor haltend, als sein einziges
Besitztum, gerettet, er kehrte wieder, um das Maß
seiner Leiden bis auf die Hefen zu leeren. Als
einäugiger Bettler, begleitet von einem treuen
indischen Diener, wanderte er in den Straßen von
Lissabon, die heute das Marmordenkmal des herr-
lichen Dichters haben erstehen sehen. Aber niemand
kennt die Stätte, wo die Asche des Camoens ruht.
Während meines Aufenthalts in Lissabon starb
der bedeutendste der lebenden portugiesischen Dichter,
Almeida Garret. Sein schönes Gedicht „Camoens"
soll die Manen des unglücklichen, schnöde behandelten
Dichters versöhnen und der letzte Vers müßte die
Schamröte auf die Wangen des Portugiesen treiben:
Nem o humilde lugar, onde reposas
As cinzas de Camoens, conhece o Luso.*)
Meine Schilderungen von Land und Leuten in
Portugal waren während meines Aufenthalts dort
in dem Cottaschen „Magazin für die Litteratur des
Auslands" erschienen und verschafften mir Zutritt
zu dem König-Regenten, der ein reges Interesse
für alle auf Portugal bezüglichen Erscheinungen in
Litteratur und Kunst hatte. Der deutsche Leib-
arzt des hohen Herrn stellte mich vor, und ich
wurde auss freundlichste empfangen. Der König
brachte sogleich die Rede auf meine Schilderungen
*) „Auch nicht die bescheidene Stelle, wo die Asche des
Camoens ruht, kennt der Portugiese."
161
und lobte besonders daran, daß ich auch Schatten-
seiten und Mängel nicht verschwiegen habe.
Schließlich beauftragte er mich, sein Portrait zu
malen und damit gleich, nachdem ich ein Zimmer
im Schloß als Atelier eingerichtet, anzufangen.
Ich lernte nun einen Fürsten kennen, der so wenig
der Vorstellung entsprach, die man sich ?twa bei
uns von einer so hochgestellten Persönlichkeit macht,
daß man im nähern Verkehr seine Würde ganz
vergessen konnte, und dessen äußere Erscheinung ich
mir gern in die Erinnerung zurückrufe.
Don Fernando, ein Österreicher aus dem Hause
Koburg-Cohari, die Franzosen nannten ihn scherz-
weise haricot, war der zweite Gemahl der Königin
Donna Maria da Gloria, der Tochter Don Pedro's
und Nichte des Thronprätendenten Don Miguel.
Jung verwitwet und kinderlos, sollte sie wieder
vermählt werden, und man hielt Umschau unter
den wählbaren Fürstensöhnen der europäischen
Herrschergeschlechter. Es wurden der jungen könig-
lichen Witwe Bildnisse vorgelegt, nach denen sie
eine Wahl treffen sollte. Diese fiel auf den statt-
lichen Koburger Prinzen, der auch bei persönlicher
Vorstellung Gnade vor der hohen Dame fand.
Nicht viele Jahre währte das eheliche Glück.
Drei bildschöne Kinder waren der Verbindung
entsprossen, als die bedenklich zunehmende Korpulenz
der Königin die ernstlichsten Befürchtungen hervor-
rief, und diese waren nur zu sehr begründet.
Don Fernando, noch nicht dreißig Jahre alt,
war Witwer und sah sich als Regent an der
Spitze des portugiesischen Staates.
So lernte ich ihn kennen.
Ein auffallend schöner Mann war Don Ferdinand,
und er war sich dessen bewußt. Der prächtige
Kops mit der schön geformten Nase, den feurigen
Augen, erinnerte ausfallend an das berühmte Profil-
bildnis Franz des Ersten von Tizian im Louvre
zu Paris. Das braunlockige Haar fiel ihm fast
bis aus die Schultern und, zum großen Verdruß
der gesamten Hofgesellschaft, bestand er daraus,
-----------<£>•
weltflucht utt
Weltflüchtig nennt Ihr mich mit Recht,
Und doch mit Unrecht auch:
Ich flüchte nur vor jener Welt,
Die nichts als Schall und Rauch,
Die nur den vollen Humpen schwingt
Und jagt nur nach Genuß,
Und schwätzt und.lästert, tanzt und springt
Und schwelgt im Überfluß,
Die kalten Herzens, matten Hirns,
Dem Götzen nur der Zeit
Im Frohndienst huldigt unentwegt:
Der Schein-Geselligkeit.
Doch flücht' ich vor der andren nicht.
In die mich Gott gestellt.
Kassel.
Locken, nach Art der polnischen Juden, an den
Schläfen zu kultivieren.
Gleich bei der ersten Sitzung erklärte er mir,
daß ich ihn nicht in irgend einer Uniform oder
mit Orden geschmückt malen dürfe. Alles Uniformen-
wesen war ihm zuwider, dem höfischen Zeremoniell
fügte er sich nur widerwillig.
Gründlich musikalisch, im Besitze eines herrlichen
Baritons, kannte er kein größeres Vergnügen als
in seinen Abendgesellschaften Musiker und Sänger
bei sich zu sehen und zu singen und Klavier zu spielen.
Die Portraitsitzungen waren ihm augenscheinlich
angenehme Plauderstündchen, in denen er sich nach
Herzenslust in der lieben Muttersprache unterhakten
konnte, und ich hatte ihn heimlich in Verdacht, daß
er mir den Auftrag nur gegeben, um den ewigen
Repräsentationspfiichten aus kurze Zeit zu ent-
rinnen. Mit Geschäften durfte man ihm da nicht
kommen, und der deutsche Kammerdiener hatte Befehl,
alle dahin zielenden Besuche mit dem Bescheid ab-
zuweisen: „Majestät sitzen zu ihrem Portrait".
Mit einer merkwürdigen Offenheit erzählte er
mir aus seinem Leben, schilderte mir seine Jugend
in der österreichischen Heimat und seine Erlebnisse
als Prinz-Gemahl in dem bewegten portugiesischen
Treiben. Militärische Revolten waren damals in
Portugal nicht selten, und eine Persönlichkeit machte
der Regierung viel zu schaffen, es war der General
Saldanha, ein einflußreicher Militär, der „alte
Verschwörer", wie man ihn nannte.
Unvergeßlich ist mir, wie mir der König seine
Lage schilderte, als er sich eines Tages auf dem
Marsche nach dem Norden des Landes, um einen
Aufstand zu unterdrücken, plötzlich von den Truppen
verlassen sah, wie sein Adjutant frühmorgens zu
ihm hereinstürzte mit den Worten: „Majestät, die
Truppen sind auf und davon".
Der breite österreichische Dialekt des hohen Herrn,
der Humor, mit dem er von seinem Mißgeschick
sprach, wirkten so unwiderstehlich, daß ich kaum
das Lachen unterdrücken konnte. (Schluß folgt.)
<4------------
d Einsamkeit.
Das Hochgefühl erfüllter Pflicht
Kein Weltschmerz mir vergällt.
Auch flücht' ich vor dem Zauber nicht
Der schönen Gotteswclt,
Die immer mir ihr Füllhorn beut
Und frisch das Herz erhält.
Nicht flücht' ich auch vor jener Welt,
Die tief im Herzen lebt,
Auf Liedesschwingen himmelan
Die Menschenseele hebt,
Den Bruder nur im Menschen sieht.
Teilt mit ihm Freud und Leid —
So spendet Segen ihm und mir
— Weltflucht und Einsamkeit!
Äl'bert Weiß.
162
unterm Hollunöerbaum.
Historische Erzählung aus Oberhessen von O. Gros.
(Fortsetzung.)
rau Pfarrer Laukhardt in Hirzenhain war
gar nicht beunruhigt gewesen, als ihr Mann in
der Nacht von Sonntag aus Montag nicht zurück-
kehrte, denn Laukhardt hatte ihr gesagt, daß er
möglicherweise bei seinem Freunde Radeseld über
Nacht bleiben, aber dann spätestens bis Montag
Mittag um zwölf Uhr wieder daheim sein wolle.
Anstatt ihres Mannes aber kam gegen 10 Uhr
morgens ein Bote des Amtmanns Nadefeld mit
Lankhardts Pferd und richtete ans: „Einen Gruß
vom Herrn Amtmann, und Herr Pfarrer Laukhardt
hätte plötzlich zu seiner Tochter Elisabeth nach Bruch-
köbel reisen müssen."
Die Pfarrsran war auss äußerste hierüber er-
staunt. Was konnte geschehen sein? Warum wollte
ihr Mann den weiten Weg zu Fuß zurücklegen
und benutzte nicht sein Pferd? — sie fragte den
Boten: „Hat mein Alaun nicht gesagt, was für
Geschäfte er in Bruchköbel hat, und wann er wieder
zurückkehren will?"
„Nein," antwortete der Mann, „einen anderen
Auftrag, als ich ausgerichtet, habe ich vom Herrn
Amtmann nicht bekommen."
Nach freundlicher Bewirtung ward der Bote ent-
lassen.
Denselben Abend kam der Ackersmann Straub
ins Pfarrhaus und richtete die Botschaft aus, die
er unterwegs von seinem Pfarrer erhalten hatte.
Ta er seine Hiobspost ganz plötzlich und unvermittelt
überbrachte, und diese Nachricht die arme Frau
ganz unvorbereitet traf, so war es nicht zu ver-
wundern, daß die Pfarrsran — die zudem der
Geburt ihres vierten Kindes entgegen sah — mit
einem lauten Schreckensschrei zu Boden stürzte. Tie
schnell herbeigerufene Magd hatte lange zu thun,
bis sie ihre Herrin wieder ans der Ohnmacht er-
weckt hatte.
Thränenlos, in stummem Jammer saß die arme
Frau da; der Gedanke an ein Gefängnis erschien
ihr entsetzlich, das Los eines Gefangenen hielt sie
für das traurigste, und nun war ihr lieber Alaun
an einem solchen Ort des Elends! Aber die Pfarr-
sran verzagte nicht; sie raffte sich ans und sandte
sofort Boten nach Wenings zu ihrem Bruder und
dem dortigen Pfarrer, sowie gleichzeitig zu ihres
Alannes Freund, dem Pfarrer Leidenfrost nach
Ortenberg.
Am anderen Morgen, als kaum der Tag graute,
waren die drei Männer schon erschienen; sie rieten hin
und her, was die Hanauer vor hätten, aber sie kamen
zu keinem Resultat; wollte der Graf den Pfarrer
dafür bestrafen, daß er vor 17 Jahren in Ortenberg
für sein Bekenntnis gestritten hatte, dann war es
schwer, ihm Hülse zu leisten; handelte es sich aber
bloß um die Bürgschaftssumme des gräflichen Amts-
und Hoskellerers Küsner, so ließ sich, wenn auch nicht
die bedeutende Summe selbst, so doch eine andere
ausreichende Bürgschaft, mit der sich der Gras be-
gnügen konnte und wodurch Pfarrer Laukhardt ent-
lastet wurde, beschaffen; denn die drei treuen Freunde
beschlossen einmütig, die Bürgschaft aus sich selbst,
jeder zu einem Drittel der Summe zu übernehmen.
Leidenfrost aber tröstete die Pfarrsran mit dem
Worte: „Aus sechs Trübsalen wird Er dich erretten,
und in der siebenten soll Dich kein Übel rühren",
und der Pfarrer von Wenings setzte hinzu: „Denket
doch, liebe Frau Dlutter, an Daniel in der Löwen-
grube; hat Gottes Hand aus solcher Fährlichkeit
erretten können, wie sollte er nicht unsern lieben
Bater aus dem Gefängnis zu lösen vermögen?"
Tie Worte der Freunde waren nicht verloren an
der Pfarrsran; wenn auch ihr Herz schwer blieb,
so war ihr Mut doch gewachsen, und wenn auch
mit Thränen in den Augen, so blickte sie doch
voll Hoffnung und Zuversicht auf zu dem, der da
lebet und regieret in Ewigkeit.
Pfarrer Leidenfrost reiste gleich anderen Tags
mit dem Bürgschein in der Tasche nach Hanau ab,
um zu erfahren, aus welchem Grunde Pfarrer
Laukhardt gefangen gesetzt worden sei. Er kam
aber tief betrübt wieder zurück; beim Grasen war
er gar nicht vorgelassen worden, sondern der gräfliche
Oberamtmann hatte ihm erklärt, Pfarrer Laukhardt
würde nur dann freigelassen werden, wenn die
Bürgschaftssumme völlig bezahlt sei. Der Zutritt
zu dem Gefangenen, mit dem er sich berateil wollte
über einen etwaigen Ausweg, war ihm trotz seiner
Bitten verweigert worden. Diese Kunde traf die
Pfarrsran wie ein Donnerschlag; all ihre Hoffnung
war mit einem Male vernichtet; denn die Ent-
scheidung des Grasen bedeutete lebenslängliches
Gefängnis; wie sollte ein Pfarrer, der jährlich
27 Gulden Bargeld einzunehmen hatte, in abseh-
baren Jahren 6000 Gulden ausbringen?
Pfarrer Leidenfrost, der treue Freund, wußte auch
jetzt wieder Rat. „Unser gnädiger Gras von Stol-
berg muß die Bürgschaft an unserer Statt über-
nehmen, und wir drei Freunde sind ihm dann
haftbar; seine Bürgschaft kann der Graf von Hanau
doch nicht zurückweisen."
Da keiner der drei Freunde einen so langen Urlaub
nehmen konnte, als zu dieser Reise erforderlich
163
war, und auch die Einholung eines etwaigen Urlaubs
längere Zeit in Anspruch genommen hätte, so
mieteten sie einen berittenen Eilboten. Dieser sollte
einen längeren Bericht, in welchem alle Umstände
genau erzählt waren, zum Grasen von Stolberg
bringen. Der Bote hatte den Auftrag, falls der
Gras in Stolberg nicht anwesend sei, ihm nach-
zureisen, wohin es auch immer sein möge. Zu den
Kosten der Reise steuerten die Einwohner Hirzen-
hains aus freien Stücken 100 Gulden zusammen. —
Wieder faßt die Pfarrfrau neuen Mut. Der
Graf von Stolberg, dem ihr Mann nun 31 Jahre
treu gedient hat, wird ihn, das hofft sie bestimmt,
nicht im Stich lassen. Und wenn es auch noch
drei bis vier Wochen dauern soll, und wenn es '
auch Weihnachten darüber wird, es ist doch wenigstens
jetzt die begründete Aussicht, daß in kurzer Zeit
dem jetzigen Elend ein Ende gemacht wird. — —
Ter Bote reist ab, und die Wünsche und Gebete
der Pfarrfrau, der drei Freunde uitb der ganzen
Hirzenhainer Gemeinde geleiten ihn. Ein zweiter
Bote wird nach Hanau gesandt, um den gefangenen
Pfarrer von dem Geschehenen in Kenntnis zu setzen
und zum Ausharren zu ermutigen.
Aber es vergehen Wochen, es wird vollends j
Winter, das Weihnachtsfest geht vorüber, das Jahr j
neigt sich zu Ende, und noch ist vom Boten nichts !
zu sehen und zu hören, noch ist vom Grasen keine
Antwort eingetroffen.
Tie Pfarrfrau gerät fast in Verzweiflung; ihre
Hoffnung, ihr Gottvertraueu lassen sie im Stich;
dabei rückt ihre schwere Stunde von Tag zu Tag
näher, — wie soll das enden?
Endlich am 27. Januar 1729 kommt der Bote !
zurück. Der Gras von Stolberg war nach Wien !
zum Kaiser gereist, und der treue Bote war ihm 1
dahin nachgefolgt. Der Graf hatte ihn in seinem
Quartier freundlich empsangeu und verheißen, alles
zu thun, um seinen Pfarrer aus der Gesaugenschast
zu lösen; er hatte dem Boten ohne Verzug einen
Bürgschaftsschein ausstellen lassen, gegen dessen Aus-
händigung der Gras von Hanau den unglücklichen
Gefangenen wohl sofort loslassen werde.
Welch eine Freude für die Pfarrfrau, welch eine
frohe Botschaft für die schnell benachrichtigten nnb
nach Hirzenhain eilenden Freunde sowie für die
ganze Gemeinde! Einer sagte es dem andern, und
den ganzen Tag ward das Pfarrhaus nicht leer
von Besuchern, die alle ihre Freude über die be-
vorstehende Freilassung des geliebten Pfarrers aus-
sprechen wollten. — —
Mit frohen Hoffnungen geht Leidensrost am
Abend von Hirzenhain nach Ortenberg zurück; er
will noch einige Vorbereitungen treffen, um sich
andern Tags den Befreiern Lankhardts anzuschließen.
Sanftes Mondlicht leuchtet ihm auf dem schneeigen
Wege durch den Hochwald; ringsum schimmert
alles weiß, und die Fichten und Tannen beugen
ihre Äste tief unter der Last des Schnees. Doch
von der ganzen Herrlichkeit der Winternacht merkt
Leidensrvst nichts, denn sein ganzes Denken gilt
seinem lieben Freunde Laukhardt, der nach den
endlos langen Wochen der Gefangenschaft nun
endlich — endlich wieder frei werden soll.
Mit welch andern Gefühlen als in der entsetzlichen
Zeit vorher betete die arme Pfarrfrau au diesem
Abend mit ihren Kindlein für die Befreiung des
Vaters; wie dankte sie Gott so herzlich für die Güte
des Stolberger Grasen!
Es war ein Triumphzug, der sich am andern
Tage von Hirzenhain nach Hanau ausmachte. Nicht
nur der Bote und des Pfarrers Schwager und
Schwiegersohn von Wenings, sondern auch noch
20 der angesehensten Bürger von Hirzenhain zogen
mit; sie wollten es sich nicht nehmen lassen, selbst
ihren Pfarrer heim zu holen. In Ortenberg schloß
Pfarrer Leidensrost sich ihnen an.
Von Stunde zu Stunde schaute die Pfarrfrau
die Straße entlang, wo der sehnlich Erwartete her-
kommen sollte, wenn sie ihn au diesem Tage auch
noch gar nicht erwarten konnte; denn der Hin- und
Herweg dauerte doch wenigstens achtzehn bis zwanzig
Stunden — aber sie konnte ihrer Ungeduld keine
Zügel anlegen.
Am nächsten Tage ward es ine Pfarrhaus früher
lebendig als sonst; das tiefe Nidderthal lag noch
in düsterem Schatten unter dem leichteil Nebelschleier,
der allmählich und leise vom Bach zu den hohen
Tannen der Bergschlucht aufstieg; langsam erhob
sich die Sonne über die bewaldeten Berge, und
ihre ersten Strahlen erglänzten in den kleinen, blei-
gefaßten grünlichen Fensterscheiben des Pfarrhauses,
in dem die Hausfrau schon munter hantierte.
Die Kindlein waren im Sountagsgewaud, um
ihren Vater festlich zu empfangen; und die Psarr-
srau selbst? — zum ersten Mal nach den laugen,
traurigen Wochen umspielte ein sonniges Lächeln
ihr Angesicht und verscheuchte alle Schwermut; es
war ihr zu Mute, als ob sie singen und zum Himmel
jauchzen müsse aus Dankbarkeit gegen Gottes Gnade.
Fünftes Kapitel:
Am Küstern Chnle.
Mit frohen Hoffnungen waren Pfarrer Laukhardts
Befreier von Hirzenhain ausgezogen; traurig kehrten
sie von Hanau zurück. Der Gras von Hanau hatte
einen vollständigen Triumph gefeiert über die ver-
haßten Stolberger. In feierlicher Audienz hatte
er sie empfangen. Er stand vor dem etwas erhöhten
164
Herrensitz mitten im Schloßsaale, als die Schar
eintrat. Die Wände des geräumigen Saales waren
so reich behängen mit Waffen, Fahnen, Teppichen
und Hirschgeweihen, daß nur wenig von dem ge-
schnitzten und vergoldeten Holzgetüfel zu sehen war;
ebenso war der Fußboden überaus reich mit Tier-
fellen und die Sitze und Tische mit Teppichen und
Decken belegt.
Ter Graf war sonst unbewaffnet, nur mit einem
laugen Schwert mit goldenem Griff bewehrt, das
er aus der Gurt gelöst und vor sich aus den Boden
gestellt hatte, indem seine beiden Hände auf dem
Kreuzgriff ruhten. Er trug ein eng anliegendes
Wams aus blauem Samt, mit Gold, Silber und
Seidenverzierungen bestickt: die Beinkleider waren
von seinem Leder und mit zierlichen Borten besetzt.
Hochmütig schaute er auf die Eintretenden herab
und neigte kaum merklich sein Haupt zum Gruß,
als sie mit ehrfurchtsvollen Verbeugungen aus ihn
zutraten. Leidensrost trat vor als Sprecher, aber
kaum hatte er begonnen, so schnitt ihm der Gras
-------------»■
Aus alter un
Die Personen des Verfassungsbildes.
Schon mehrfach ist die Frage nach den Namen
der Stadtratsmitglieder und der Bürgerdeputierten
gestellt worden, die aus dem von Ludwig Grimm
gezeichneten Bilde, die berühmte Audienz im Palais
zu Kassel am 15. September 1830 darstellend,
porträtähnlich wieder gegeben sind. 1. Kurfürst
Wilhelm II., 2. Bürgermeister Karl Schom-
burg, die Bittschrift überreichend, und der ein
weißes Taschentuch schwingende Küfermeistcr Karl
Herbold (3) sind allgemein bekannt. Die Namen
der andern aus dem Bilde befindlichen Personen
werden uns von einem Freunde des „Hessenland"
wie folgt mitgeteilt: 4. Adam Berninger,
Weinhändler, 5. Heinrich Eskuche, Kommissions-
rat, 6. Wilhelm Jäckel, in Firma Jäckel & Herzog,
7. Friedrich Ludwig, Kaufmann. 8. Ludwig
Christ. Nagell, Kaufmann, 9. Heinrich Escherich,
Kaufmann, 10.1 o h. H e i n ri ch K e ß l e r, Kommerzien-
rat, 1l. Wilhelm Kolbe, Fabrikant, 12. Simon
Wille, Kaufmann, 13. Joh. Chr. Arnold,
Tapctensabrikant und Kommerzienrat, 14. Wil-
helm Köber, Partikulier, 15. Jakob Ludwig
Clement, 16. Lukas Bernhard Möli, Konditor,
17. Wilhelm Korckhaus, Partikulier, 18. Hein-
rich Pinhard, Lederfabrikant, 19. Christian
Dietrich, Inspektor, 20. August Schellhase,
Kunstgärtner (sämtlich Mitglieder des Stadtrats).
Ferner außer Herb old noch zwei Bürger:
mit einer raschen Handbewegung das Wort ab und
erklärte in grausamer Kürze, er habe sich jetzt lang
genug mit Bürgen herumgeschlagen; er verlange
keine neue Bürgschaft mehr, sondern das Geld,' um
das ihn der Amtskellerer Küsner von Bruchköbel
betrogen habe; und ehe das Geld nicht bezahlt sei,
könne kein Kaiser ihn bewegen, den Pfarrer Lauk-
hardt aus der Schuldhast freizugeben.
Ten Bürgschaftsschein des Grasen von Stolberg
nahm er gar nicht an; alles Bitten und Flehen
war umsonst, ja sogar ein Kniefall, den die beiden
Pfarrer thaten, machte nicht den geringsten Eindruck
auf den Grasen. Mit Hohnlachen wandte er sich
von den betrübten Männern ab, die mit Thränen
in den Augen den Saal verließen.
Mit höhnischem Grinsen geleitete die gräfliche
Dienerschaft die Gesandtschaft die Treppe hinab
zum Thore; ihre Mienen zeigten offenkundig die
Schadenfreude über die Niederlage, die die Stol-
berger erlitten hatten.
(Fortsetzung folgt.)
-------------
ö neuer Zeit.
21. Heinrich Wenzel, Gastwirt zur „Stadt
Bremen" und 22. Konrad Kersting, Gastwirt
zur „Stadt London", welcher letztere allein seine
Züge nicht zur Verfügung stellen wollte und des-
halb nur vom Revers sichtbar ist.
B e r m ä h l u n g s m e d a i l l e. Der kürzlich ge-
storbene Fürst Wilhelm von Hanau hatte
sich am 12. Mai 1890 zum zweiten Male ver-
heiratet mit Gräfin Elisabeth zur Lippe-
Biesterfeld-Weißenfeld, geb. den 1. Jnli
1868, nachdem seine erste Ehe im Juni 1868
geschieden worden war. Auf diese zweite Ehe-
schließung bezieht sich eine gegossene Eisenmedaille
von 65 mm Durchmesser, die von den damals im
Besitze des Fürsten befindlichen Eisenwerken zu
Komarau gewidmet worden war. Die Medaille,
die die Brustbilder des fürstlichen Paares, sowie
in deutscher und czechischer Sprache ihre Namen,
das Datum 18 j 90 und die Widmung enthält, ist
beschrieben in Nr. 8/9 der „Blätter für Münz-
freunde", herausgegeben von vr. H. Buchenau,
1901, S. 222, und abgebildet daselbst auf Tafel 144.
__________ P. W.
Kurze Bemerkung zu den Mitteilungen
des Herrn E. Bäumler über die Vergiftung
des Hoflakaien Bechstädt. In Nr. 11 des
„Hessenland" gibt Herr E. Bäumler sehr schützens-
165
werte Mitteilungen über die Vergiftung des Hof-
lakaien Bechstädt aus der Feder des mir uoch
sehr wohlbekannten, allgemein hochverehrten General-
stabsarztes Dr. Büumler wieder. Es wird in
diesen Aufzeichnungen (S. 150) auch der Ober-
medizinaldirektor G........... erwähnt. Dies
war der Vater meiner Mutter, Cornelius
Grandidier, der vom 17. Juni 1814 bis
4. November 1821 mit dem Amte eines Hosmedikus
d. h. mit der „ärztlichen Besorgung der sämtlichen
Hoslivröe- und Marstall-Dieuerschast", wie die An-
stellungsurkunde besagt, betraut, seit 1. April 1818
aber auch kurfürstlicher Leibarzt war. Nach den
Mitteilungen meiner 1894 verstorbenen Mutter
------------<»•
Aus Heiinat
Todesfall. Am 3. Juni starb im Schloß zu
Horschowitz (Hokovies) in Böhmen F ü r st W i l h e l m
von Hanau, der dritte Sohn des Kurfürsten
Friedrich Wilhelm von Hessen. Geboren am 19. De-
cember 1836, wurde er, wie bie übrigen Kinder des
Kurfürsten, durch Hauslehrer erzogen und trat 1855
als Sekondleutnant in das Leibgarde-Regiment ein.
1862 avancierte Prinz Wilhelm zum Hauptmann
und 1866 zum Major ü 1a suite desselben Re-
giments. Der Kurfürst nannte ihn scherzweise
seinen „reichen Sohn", da er von seinem Großvater,
Wilhelm II., als dessen Pathe, mit 400 000 Thalern
bevorzugt worden war. *) Vermählt war der Dahin-
geschiedene mit der Prinzessin Elisabeth von
Lippe-Schnumburg in erster Ehe, welche aber
bereits nach zwei Jahren, 1868, wieder getrennt
wurde. Eiue zweite Ehe ging er 1890 mit der
Gräfin Elisabeth zur L i p p e - B i e st e r s e l d -
Weißenfeld ein, nachdem er am 24. März 1889
durch den Tod seines älteren Bruders, des Fürsten
M oritz von Hanau, den Fürstentitel sowie das
vom Kurfürsten gestiftete Majorat geerbt hatte.
Er starb ohne direkte Nachkommen zu hinterlassen,
so daß die Herrschaft Horschowitz mit den andern
dazu gehörigen Gütern an seinen jüngeren Bruder,
den nunmehrigen Fürsten Karl von Hanau, über-
gegangen ist.
Persönliches über den verstorbenen Fürsten teilt
uns der treue Mitarbeiter des „Hessenland" Adam
Trabert zu Wien in Nachfolgendem mit:
„Nach mehrtägiger Abwesenheit von Wien trete
ich wieder in mein bescheidenes Heim zu Döbling.
Auf meinem Schreibtische liegt ein Brief mit
*) Siehe „Hessische Erinnerungen". Verlag von Klaunig,
Kassel 1882.
hat Graudidier von vornherein die Erkrankung
Bechstädts als eine Arsenikvergiftung anerkannt und
dies offen in seiner Familie ausgesprochen. Die
Angriffe gegen Bechstädts Behandlung durch
Dr. Bäumler können also, wie auch mit der Nieder-
schrift desselben sehr wohl vereinbar ist, von Gran-
didier nicht ausgegangen sein. — Ich selbst gebrauche
uoch täglich einen Lichtschirm, der früher zum kur-
fürstlichen Schloßiuveutar gehört hat, auf irgend
eine Weise in Bechstädts Besitz gelaugt, von dessen
Hinterbliebenen aber meinem Großvater als An-
denken an die Behandlung Bechstädts durch ihn
geschenkt worden ist.
Hildesheim. Ätto Gerkand.
<4*------------
unö Frernöe.
schwarzem Rande. Unwillkürlich pocht mein Herz.
Hat der grausame Tod mir schon wieder Einen
von den Wenigen, die mir nahe gestanden sind
und noch unter den Sterblichen auf Erden weilen,
in die stille Heimat der Gräber abgerufen?
Ich öffne das Couvert hastig und mit zitternder
Hand. Tief erschüttert lese ich:
„Karl Fürst von Hanau und Horschowitz, Graf von
Schaumbnrg, gibt hierdurch tief betrübt die Nachricht
von dem am 3. Juni 1902 zu Horschowitz erfolgten
Hinscheiden seines vielgeliebten Bruders Sr. Durch-
laucht des Herrn W i l h e l m F ü r st e n v o n H a n a u
und zu Horschowitz, Grafen von Schaumburg,
k. u. k. Majors i. E. des österr. Landwehr-Ulanen-
regiments Nr. 6, Besitzers des fürstlich Hanan'fchen
Familien - Fideikomisies Horschowitz und Jinetz mit
Bezdeditz rc. rc."
Mit dieser Trauerbotschaft in der Hand trete
ich in mein kurhessisches Sanctissimum. Ich darf
lvohl so das schönste Zimmer meiner bescheidenen
Wohnung nennen, denn dort steht als dessen herr-
lichste Zierde eine Statue unseres seligen Kurfürsten,
ein Kunstwerk von der Hand Rätters, das Fürst
Wilhelm mir einst verehrt hat. Die Statue ist
eine verkleinerte Kopie des Kolossal-Standbildes
des Kurfürsten, einer genial ausgeführten Kunst-
schöpfung Rätters, mit welcher Fürst Wilhelm
seinen Schloßpark zu Horschowitz geschmückt hat. Bei
ihrer festlichen Enthüllung war ich persönlich zu-
gegen.")
In meinem Sanctissimum befindet sich auch
neben den Bildern, mit denen mich andere Nach-
kommen und Familienglieder des seligen Kurfürsten
beglückt haben, das sprechend ähnliche Bild des
oben genannten Toten, der heute schon im Horscho-
witzer Parke in kühler Erde ruht. In meinem
*) Bergl. „Hessenland" 1890, Seite 244.
166
Sanctissimum befindet sich gleichfalls das Bild
feiner ebenso schönen wie liebenswürdigen durch-
lauchtigsten Gattin, einer geborenen Gräfin Lippe-
Biesterfeld-Weißenfeld. Das Bergknappenkostüm,
in welchem die Fürstin sich hat photographieren
lassen, verleiht ihrem Bilde einen ganz besonderen
Reiz. Es erinnert uns wie auch die im Horschowitzer
Parke vom Fürsten ausgestellten Marmor-Statuen
der altdeutschen Götter und Helden, die Richard
Wagner in seinen mächtigen Tonschöpsnngen wieder
lebendig gemacht und Natter gemeißelt hat. an die
Lieblingsbeschäftigung des Fürsten Wilhelm: an
seinen von hoher Begeisterung getragenen Kultus
Wagnerischer Musik. Ans den zahllosen Knappen
des Fürsten, welche die Schätze seiner Bergwerke
heben, hatte er ein ganz unvergleichliches Orchester
geschaffen, dessen musikalische Produktionen in dem
von ihm erbauten Musiksaale des Horschowitzer
Schlosses er selbst meisterhaft zu leiten verstand.
Nun modert die Hand, die ich den Taktstock
in virtuoser Weise führen sah. Sein Geist aber
mag jetzt — das ist ja für uns sterbliche Menschen
die schönste Versöhnung mit dem Tode — der noch
viel schöneren und reineren Musik, dem göttlichen
Gesang der Sphären, lauschen.
Ich habe nicht das Zeug dazu, mich hier als
den Biographen des Fürsten Wilhelm zu zeigen.
Tie Verhältnisse haben es mit sich gebracht, daß
ich sowohl dem verstorbenen Kurfürsten wie auch
der Mehrzahl seiner Kinder erst relativ spät näher-
getreten bin. Anderen aber einfach nachzuerzählen,
liebe ich nicht. Bin auch schon zu alt dazu.
Des Fürsten Wilhelm Bild zeugt von männ-
licher Kraft und Schönheit. Und als er mich
einst nach Horschowitz einlud, um sich meines Rates
bei Ordnung seiner Familienangelegenheiten rc. zu
bedienen, konnte ich mich auch überzeugen, daß er
ein Mann von scharf denkendem Geiste und für
die Seinigen, zu denen ich auch die niedrigsten von
seinen Untergebenen zähle, ein Herr von väterlich
fürsorgendem, ebenso warmem wie gerechtem
Herzen war.
Indem ich sein Bild betrachte — das Bild
eines Mannes von echt hessischer Reckengestalt —,
weihe ich ihm gern eine Thräne trauernder Liebe.
Möge ihm die Erde leicht sein; die fremde
Erde, in welcher er fern von der Asche seines einst
am Heimweh gestorbenen Vaters ruht. Möge jeder
Hesse, der einmal in die Nähe von Horschowitz kommt,
seinem Grabe einen Besuch abstatten. Ich ver-
spreche, daß es keinen gereut."
U ni v ers i tä ts Nachrichten. Der außerordentliche
Professor an der Wiener Universität Di-. Wilhelm
Tra b e r t ist vom Kaiser von Österreich zum ordent-
lichen öffentlichen Professor der kosmischen Physik
an der Universität Innsbruck ernannt worden. —
Der kaiserliche Regierungsrat im Patentamt zu
Berlin Professor Di-. Arnold Reißert hat sich
an der Universität zu Marburg als Privatdozent der
philosophischen Fakultät niedergelassen.
F ü n s t e r I a h r e s b e r i ch t der historischen
K o m m i s s i o n für Hessen n n d W a l d e ck. Im
Anschluß an unsere in Nr. l0 gebrachte Notiz über
die am 10. Mai d. I, zu Marburg stattgefnndene
Versammlung der vorgenannten Kommission ist
ans dem nunmehr erschienenen Jahresbericht über
die verschiedenen wissenschaftlichen Unternehmungen
das Nachfolgende mitzuteilen:
Fulda er Urkunden buch. Herr Professor
Tan gl hatte im verflossenem Sommer mit dem
Druck des ersten Bandes begonnen, sah sich jedoch
im Herbst gezwungen, ihn zu unterbrechen. Ein
längerer, durch seine Arbeiten für die Monumenta
Germaniae historica bedingter Aufenthalt in Paris
sowie der Druck des ersten Bandes der Karolinger-
urkunden und vermehrte Amtsgeschäfte beanspruchten
seine volle Zeit, Er hofft jedoch, den Druck gleich
nach Pfingsten wieder aufnehmen zu können.
Landtagsakteu. Herr Dr. Glagau hat die
Bearbeitung des zweiten Bandes begonnen und
zunächst die Landtagsabschiede von 1527 bis 1591
ausgezogen. Er hat dann aus Zweckmäßigkeitsgründen
die Bearbeitung der Landtagsakten ans der Zeit
Wilhelms IV. (1567 —1592) nahezu erledigt und
wird sich nun der Zeit Philipps des Großmütigen
zuwenden. Benutzt wurden hauptsächlich die Staats-
archive zu Marburg und Tarmstadt so wie die im
Marburger Staatsarchive deponierten Archive der
Stadt Marburg und der vormals knrhessischen
Landstünde. An Stelle des Herrn von Below
wurde Herr Varrentrapp in den Ausschuß
gewählt.
Chroniken von Hessen und Wnldeck. Herr
Dr. Diemar hat die Textgestaltung der beiden
Chroniken von Gerstenberg vollendet, znm Teil
unter Heranziehung von weiteren Handschriften und
Archivalien aus Darmstadt und Marburg, und cmd)
die Quellenuntersnchnngen in allem Wesentlichen
abgeschlossen. Tie Drucklegung des Bandes wird
somit nach Erledigung einiger kleineren Fragen
sofort beginnen und ohne Unterbrechung fortgesetzt
werden können. Dem Bande sollen einigeJllustrationen
aus der Orginalhandschrift von Gerstenberg in Licht-
druck beigegeben werden. — Herr Dr. Iarges hat
die Bearbeitung der waldecker Chroniken zufolge
seiner Übersiedlung nach Wiesbaden leider nicht in
dem Maße zu fördern vermocht, wie er gehofft. Er
167
hat indessen in Arolsen und Köln wertvolle Beiträge
zur Lebensgeschichte von Klüppel gefunden und wird
die Arbeit mit möglichster Beschleunigung fertig-
zustellen suchen.
Laudgraseuregesten. Herr Geheimer Archiv-
rat Di-. Könnecke hat seine Sammlungen eifrig
fortgesetzt, jedoch die geeignete Hilfskraft noch nicht
gewinnen können. Der Beginn der Bearbeitung
mußte demzufolge vertagt werden.
Ortslexikon. Herr Archivrat Di-. Reim er-
legte den Probedruck einiger Artikel vor, um zu
zeigen, wie sich der Text bei Zugrundelegung der
von dem Gesamtverein der deutschen Geschichts- und
Altertnmsvereine festgestellten Grundsätze etwa ge-
stalten wird. Die Sammlung des Materials ist
ziemlich weit vorgeschritten.
Urknndenbuch der Wetterauer Reichs-
städte. Der Druck des Urkundenbuches von Fried-
berg hat begonnen und ist soweit vorgeschritten,
daß der erste Band auf der nächsten Jahres-
versammlung wird vorgelegt werden können. Herr-
Di-. Foltz hat im Herbst die Archive in Frankfurt,
Darmstadt, Wetzlar, Braunfels und Limburg besucht
und außerdem die auch in diesem Jahre von den
Staats- und Stadtarchiven in Darmstadt, Frankfurt,
München und Münster in entgegenkommendster
Weise nach Marburg gesandten Friedbergensien
bearbeitet.
Hessisches Tr achten buch. Die Herstellung
der dritten Lieferung stieß aus nicht vorherzusehende
Schwierigkeiten, und wurde zur Entscheidung einiger
Fragen eine Kommission, bestehend aus den Herren
Haupt, Könnecke und Zimmermann, gewählt.
M ü n z w e r k. Die Vorarbeiten für das Münz-
werk haben eine wesentliche Förderung dadurch
erfahren, daß der Bearbeiter, Herr Oberlehrer-
Di-. Buchenau in Weimar, ans einer beinahe halb-
jährigen Reise von Oktober 1901 bis März 1902
die wichtigsten öffentlichen und privaten Münz-
sammlungen Mitteleuropas zwischen Kopenhagen,
Berlin, Darmstadt und Wien besucht und für die
Zwecke des Münzwerks ausgebeutet hat. Besonderen
Dank ist die Kommission dem großherzoglich
weimarischeu Staatsministerium schuldig, welches
den erforderlichen Urlaub bewilligt und damit die
Möglichkeit geschaffen hat die Reisen auszuführen.
Das Ergebnis der Forschungsreisen ist ein recht
erfreuliches. Die Grundlagen für den ersten Teil
des Münzwerkes, der die Beschreibung und Licht-
druckreproduktionen der Münzen enthalten soll, sind
damit gewonnen; bis zum Winter hofft Herr
Di-. Buchenau das Material soweit gesichtet zu haben,
daß mit der Bearbeitung der Münzen des brabantischen
Hauses (1247 — 1567), für die der Stoff im ganzen
abgeschlossen vorliegt, begonnen werden kann. Es
darf erwartet werden, daß noch vor Ablauf des
kommenden Arbeitsjahres die ersten Lichtdrncktaseln
hergestellt werden können.
' Urkundliche Quellen zur Geschichte Land-
graf Philipps des Großmütigen. Die bereits
begonnenen Arbeiten haben durch die zu Ostern
erfolgte Berufung des Herrn Professor Dr. Brandt
nach Göttingen eine so empfindliche Störung erfahren,
daß der Plan, den ersten Band dieser Publikation
als Festgabe zur 4. Zentennarseier der Geburt
Philipps im Jahre 1904 erscheinen zu lassen, auf-
gegeben werden muß. Doch sollen die Arbeiten
nach Kräften gefördert werden, sobald es sich ent-
schieden haben wird, in wie weit Herr Brandt auch
fernerhin sich an ihnen wird beteiligen können. An
Stelle des ausgeschiedenen Herrn von Below wurde
Herr Barren trapp in den Ausschuß gewählt.
Tie Vorbereitungen für die von dem Verein für
Geschichte und Altertumskunde in Frankfurt a. M.
angeregte Herausgabe eines h i st o r i s ch e n Karten-
werkes für Hessen-Nassau, Waldeck, Großherzogtum
Hessen und Aschaffenburg sind im verflossenen Jahre
leider noch nicht soweit gediehen, daß die finanzielle
Sicherung des Unternehmens bereits erreicht worden
wäre. Immerhin stehen jedoch noch mancherlei
Zeichnungen in Aussicht und ist die Hoffnung be-
gründet, daß mit der Arbeit in nicht zu langer
Frist wird begonnen werden können. Ähnliches
gilt von der von dem Verein für hessische Geschichte
und Landeskunde in Kassel geplanten Herstellung
von Grundkarten. Dieses Unternehmen wird
dem Ortslexikon und dem historischen Atlas wert-
volle Dienste leisten, seinerseits aber auch durch die
Ergebnisse dieser Arbeiten vielfach unterstützt werden.
Hanauer Geschichtsverein. Am 25. Mai
wurde im Altstädter Rathaus zu Hanau das
r ö m i s ch - g e r manische Ntuseum eröffnet, welches
die seit sechzig Jahren in Hanau und Umgebung
gefundenen altertümlichen Gegenstände enthält. Die-
selben rühren hauptsächlich aus der Zeit her, als
die Römer die dortige Gegend militärisch besetzt
hielten und dabei auch viele bürgerliche Nieder-
lassuugen gründeten. Am Salisberg, an der heutigen
Werft am Main und bei Rückingen sind wertvolle
Funde gemacht worden.*) Auch Spuren, welche auf
die Bewohner noch vor der Römerzeit zurückführen,
sind vorhanden. Ferner gibt der Inhalt der sog.
Hünengräber von der alemannisch-fränkischen Zeit,
4. -8. Jahrhundert n. Chr.. Kunde. Aber auch
eine Anzahl zum Teil wertvolle Erzeugnisse der
neuereu Zeit werden in dem Museum aufbewahrt.
*) Vergl. auch die Aufsätze von Prof. Wolf und
IM Ouilling tut „Hessenland": 1894, S. 206 und
5. 114 des laufenden Jahrgangs.
168
Weiter hat auch die Ruthsche Münzensammlung da-
selbst einen festen Standort erhalten. Diese vom
Regierungsrat Peter Ruth angelegte und nach
seinem Tode 1845 von seinen Erben der Stadt
Hanau für 500 Gulden überlassene Sammlung
hessischer Münzen befindet sich seit dem Jahre 1874
unter der besonderen Verwaltung des Herrn Professor
Dr. Suchter, welcher sie bereichert hat, indem er
die Dubletten und wertlosen Stücke verkaufte und
für den Erlös wertvolle seltene Münzen anschaffte.
Jedenfalls hat die Stadt Hanau durch dieses
von dem dortigen Geschichtsverein hervorgerufene
Museum eine hochinteressante Sehenswürdigkeit er-
halten. Eine andauernde Bereicherung der Samm-
lung wird nicht ausbleiben, sodaß hiermit der Grund
zu einer wissenschaftlichen Anstalt gelegt worden
ist, die ihren Schöpfern auch den Dank der Nach-
kommen sichert. __________________
Städtetag. Am 6. und 7. Juni wurde in
Marburg die XIII. H a u p t v e r s a m m l u n g des
hessischen S t ä d t e t a g s unter Vorsitz des Herrn
Oberbürgermeisters M ü l l e r - Kassel abgehalten.
Es fanden bemerkenswerte Verhandlungen über
-------------
Personalien.
Verliehen: dem Major Breithanpt in Kassel und
dem Kreistierarzt Textor in Ziegenhain der Kronenorden
3. Klaffe; dem Oberlandesgerichtsrat Dr. Schellmann
in Kassel der Charakter als Geh. Justizrat; dem Sanitäts-
rat Dr. E m e r in Nenndorf der Charakter als Geh.
Sanitätsrat; den prakt. Ärzten Dr. Alsberg in Kassel,
Dr. Braun in Neustadt, Dr. Kothe in Marburg,
Dr. R a a b e in Fulda und Dr. von N o q u e s in Treysa
der Charakter als Sanitätsrat.
Ernannt: Landrichter Limberger in Kassel zum
Landgerichtsrat; die Amtsrichter Bücking in Hessisch-
Lichtenau, Dr. Schemann in Neukirchen, Hinsei mann
in Eschwege und Roßbach in Hersfeld zu Amtsgerichts-
räten; Gerichtsassessor Wertheim zum Amtsrichter in
Fulda; Gerichtsassessor S ch e f f e r zum Staatsanwalt in
Saarbrücken; die Rechtskandidaten Fürer, Atöhl und
von W i t t i ch zu Referendaren.
Übertragen: dem Direktorial-Assistenten am König!.
Museum in Kassel Dr. Johannes Bo eh lau die selbst-
ständige Verwaltung der Sammlungen des Museum
Fridericianum und der Münzsammlung unter Beilegung
des Titels „Museumsdirektor".
Versetzt: Amtsrichter von Kienitz in Steinbach-
Hallenberg an das Amtsgericht in Zellerfeld; Gerichts-
assessor Sethe in den Bezirk des Oberlandesgerichts zu
Königsberg i. Pr.
In den Ruhestand getreten: Eisenbahndirektor Urban
zu Kassel.
Ruhegehälter für Gemeindebeamte, kommunale Ver-
brauchsabgaben, Feuerwehrsicherstellung, Haftpflicht
der Lehrer und andere Gegenstände statt. Der
Vortrag des Herrn von Boden Hausen-Kassel,
die Gründung eines Städtebundtheaters betreffend,
blieb ohne Diskussion. Am zweiten Tag hielt Herr
Geheimer Medizinalrat Professor von Behring-
Marburg einen sehr interessanten Vortrag über
„die Versorgung der Stadt Marburg mit Trink-
wasser", und Herr Oberbürgermeister Schüler-
Marburg sprach über die Reinigungsverhältnisse
Marburgs vor der Kanalisation. Der Nestor und
Mitbegründer des hessischen Städtetags Herr Bürger-
meister F e n g e - Felsberg wurde aus Antrag des
Vorsitzenden einstimmig zum Ehrenmitglied ernannt.
Als Ort für den nächstjährigen Städtetag wurde
Orb gewählt.
Rhönklub. Am 9., 10. und 11. August findet
in Bischofsheim vor der Rhön die 26. Jahres-
versammlung des Rhönklub statt. Der dritte Tag
ist zu einem Ausflug auf die Osterburg und den
Kreuzberg bestimmt.
■4^--------------
Ausgeschieden aus dem Justizdienst: Gerichtsassessor
Dr. Eisenmann infolge seiner Übernahme zur Verwaltung
der indirekten Stenern; Referendar von Buttler behufs
Übertritts zur allgemeinen Staatsverwaltung.
Geboren: ein Sohn: Fabrikant Karl Pfankuch
und Frali Marie, geb. Reuß (Kassel, 3. Juni); Fabrikant
Ludwig Schnell und Frau Betty (Kassel, 7. Juni);
Kaufmann Adolf Stück und Frau Lucie (Kassel,
8. Juni); eine Tochter: Rechtsanwalt Heeren und Frau
Rosa, geb. Reinecker (Kassel. 5. Juni).
Gestorben: Turnlehrer Volpertus Schneider,
58 Jahre alt (Marburg. 30. Mai); Privatmann Jo-
hannes Meiß, 70 Jahre alt (Kirchditmold, 30. Mai);
Verleger der „Schlüchterner Zeitung" Buchdruckereibesitzer
Hohmeister (Schlüchtern. 1. Juni); Privatmann Her-
mann Fa übel, 73 Jahre alt (Kassel, 3. Juni); ver-
witwete Frau Hanptsteueramtskontrolleur Wilhelmine
Schweickhardt, geb. Frank (Marburg, 4. Juni);
verwitwete Frau Rittergutspächter K a r o l i n e Hold,
geb. Cornelius (Zimmersrode, 4. Juni); lutherischer
Diakonus Pfarrer Aßmann (Karlsbad, Juni); Privat-
mann Wilhelm Heine, 79 Jahre alt (Kassel, 11. Juni).
Briefkasten.
F. .1. D., Hanau; E., Eschwege. Die eingesandten Gedichte
können leider nichl im „Hessenland" gebracht werden.
ö. 8. 6., Rotenburg. Ihre Anfragen werden brieflich
erledigt werden.
ZM- Mit dem heutigen Heft beschließt das „Hessenland" das II. Quartal des XVI. Jahr-
gangs. Wir bitten namentlich die verehrlichen Post-Abonnenten um rechtzeitige Neu-Bestellnng.
Mit dem 1. Juli neu zugehenden Abonnenten können die Hefte 1—12 nachgeliefert werden.
Probe-Hefte stehen jederzeit gern zur Verfügung. Der Vertag des „Hessentand".
Für die Redaktion verantwortlich: W. Ben necke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.
M 13.
XVI. Jahrgang.
Kassel. 1. Juli 1902.
Zommerliea.
Rosen leuchten, Lilien prangen
Und, benachbart ihrem Flor,
Dringt, von Büschen überhangen,
Der Narcissen Stern hervor.
Alle blühen sie gesellig,
Jedem Auge wohlgefällig.
Einer nur, fern allein Glücke,
Wenn er trüb die seinen senkt,
)n der Stille gern zurücke
An das frühe Veilchen denkt.
Das geblüht, bevor noch wieder
Stand in Pracht der junge Glieder.
Martin 6reif.
A c> s f e I, im guni J902.
? » »
bcinuoch.
Dir klingt etwas im Perzen.
Das macht Dir taufend Schmerzen
lind läßt Dir keine Ruh'.
In Arbeit, Freude, Sorgen,
Am Abend und am Morgen
Alingt's immer, iminerzu.
Es ist, als locke leise
Dich eine fremde Weise
I« eine schön're Welt. —
Das sind die peimatglocken,
Die Deine Seele locken,
Bis ihre pülle fällt.
varmstadt. LKerrSL liöstlm.
mittag.
Schweigend liegen Wald und See
Im süßen Soininermittagstraum
Drüben, weit drüben überm Sec
Unterin Eschenbanm
Aiil Wiesenhang
Sitzt die holde, sonnige Lee.
Tönt ein zitternder, bebender Alang
Über Wiesen und dämmernden Wald —
Ein leiser, lockender, sehnender Sang
Sterbend in meiner Brust verhallt . . .
Weiße Wölkchen ziehen sacht'
Durch das blaue Pimmelsmeer —
Roch immer klingt's vom Ufer her
Und schluchzt und lacht
In Schmerz und Lust,
In Rümmer und Seligkeit
Und zieht inir ahnend durch die Brust
Wie Sommerglück und perbstesleid.
Aassei. 3. Berstl.
V ¥ V
Der Dichter aber . . .
Die Menschen alle sehn die Welt
Und machen die Lust sich 3x1 eigen.
Ein jedes Glück, das heimsen sie ein
Und wahren es tief iin perzensschrein
Und möchten es niemand zeigen.
Der Dichter aber sieht der Welt
Buntschillerndes Gefieder
Und nimmt sie ans mit ihrem Glück
Und gibt sie neidlos euch zurück
Int Wohllaut klingender Lieder.
Zürich. fienri llu §ai5.
¥ ¥ ¥
¥ ¥ ¥
Beiträge zur Geschichte öer Staöt Felsberg
Von Dr. Fenge.
3rt seinem Aufsatze „Zur Geschichte von Burg
und Stadt Felsberg" („Hessenland" 1891) hat
Dr. W. Grotes end die spärlichen Nachrichten, die
ans dem Dunkel, in das die älteste Geschichte der
Burg gehüllt ist, auftauchen, zu einem Gesamt-
bilde zusammengefaßt, das uns doch wenigstens
einige wichtige gesicherte Aufschlüsse über das alte
Felsberger Grasengeschlecht, gibt. Auch über die
Geschichte der Stadt hat Dr. Grotefend beige-
bracht, was ihm die größeren, die hessische Gesamt-
geschichte behandelnden Werke, die er in der Ein-
leitung seines Aussatzes als Quellen angibt, boten. —
Ehe es jedoch möglich sein wird, eine Chronik der
Stadt Felsberg zu schreiben, die annäherend auf
Vollständigkeit rechnen kann, bedarf es noch vieler
Vorarbeiten. Namentlich müssen die noch vor-
handenen Saalbücher, Stadtrechnungen. Stadt-
gerichts-Urteile u. s. w. ausgebeutet werden.
Für die geschichtliche Forschung am wichtigsten
sind die Saalbücher, die uns hauptsächlich über
die Rechts- und Besitzverhältnisse der Stadt Aus-
kunft geben. Vvn diesen Saalbüchern sind mir
drei bekannt geworden: zwei habe ich ans dem
Staatsarchive zu Marburg vorgefunden; das dritte
befindet sich auf dem Rathause zu Felsberg.
Das ältere der beiden in Marburg aufbewahrten
Saalbücher stammt aus dem Jahre 1555 (begonnen
am St. Lanrentius-Tage). Sein Inhalt ist von
einer fürstlichen Kommission, an deren Spitze der
Homberger Schultheiß Hans Geilmann stand, unter
Zuziehung der beiben fürstlichen Beamten zu Fels-
berg, des Schultheißen Hans Dietrich und des
Rentmeisters Heinrich Gleym, sowie des Bürger-
meisters lmb Rats und einiger Ältesten der Stadt
(Hofmann, Bachmann, Vogt, Winckel, Briede,
Stieglitz) festgestellt worden. Das zweite stammt
ans dem Jahre 1588; die Entstehungszeit des
in Felsberg liegenden Saalbuches ist nicht genau
zu ermitteln, dürfte aber auch ins 16. Jahrhundert
fallen.
Ans dem Inhalte dieser Saalbücher will ich
im folgenden eine Reihe von Eintragungen mit-
teilen, die mir einige Wichtigkeit für die Geschichte
der Stadt zu besitzen scheinen.
In der Mitte des 16. Jahrhunderts befanden
sich in der Stadt Felsberg die folgenden fünf
B u r g s i tz e:
1. Der älteste: ursprünglich der Familie derer
von Felsberg zuständig, dann im Besitze der
Familie vvn Besse, die sich nach Grotefend
gegen Ende des 12. Jahrhunderts von der ersteren
abgezweigt hatte. Dies ist der einzige Burgsitz,
der den Namen seiner ehemaligen Besitzer bis ans
die Gegenwart bewahrt hat; er ist noch vorhanden
und führt bis auf den heutigen Tag den Namen
„Bessenhof". Im 16. Jahrhundert war er im
Besitze der Frau Margarete Spiegel zum Desen-
berge, einer geborenen von Boineburg zu Lenge-
feld. Nach dem 30jährigen Kriege — im Jahre
1651 — ging der Burgsitz (das alte Haus
war im 30 jährigen Kriege abgebrannt) in das
Eigentum der Wittwe des Capitains Georg
Michael Poppenhausen über, der im Jahre 1639
mit seiner Kompagnie in der Stadt gelegen und
sich nach dem Kriege wohl daselbst niedergelassen
hatte.
2. Der Boineburgsche Burgsitz, ein land-
gräfliches Mannlehen, mit dem ursprünglich die
Familie von Lugnlin belehnt gewesen war, und
das daher das „Lügelinshaus" genannt wurde.
3. Der Hebelsche Burgsitz, in ältester Zeit
im Besitz der auch sonst vielfach begüterten Familie
von Hebel oder Hebelde. Es war kein eigentliches
Mannslehen, sondern ein sogenanntes „erbfreies
Gut", das später die Boinebnrgs von dem letzten
Sproß derer von Hebel, der Feyge | Sophie j von
Hebelde, „ältester Jungfrauen" im Kloster Anna-
berg zu Kassel, erworben hatten. (Die Boinebnrgs
hatten auch zu Gensungen einen Freihof.)
4. Der Meysenbugsche Bnrgsitz, von dem
wir nur wissen, daß das Hans im Jahre 1588
umgebaut wurde.
5. Der Gleimsche Burgsitz. Welche adlige
Familie ursprünglich dies Gut zu Lehen getragen
hat, habe ich leider nicht ermitteln können; im
16. Jahrhundert war es im Besitze des früheren
Kammerschreibers Otto Gleim aus Kassel. Diese
Gleimschen Güter, die im Laufe des 30jährigen
171
Krieges wohl herrenlos geworden waren, zog im
Jahre 1639 die Stadt nach Bewilligung fürstlicher
Negierung als städtisches Eigentum ein. Später
(1661 ?) wurden sie an den Kommissar Reinhard
Scheffer verkauft. Ob das jetzige Schessersche Gut
(der Oberförsterei gegenüber) mit dem alten Gleim-
scheu Bnrgsitz identisch ist, vermag ich nicht zu sagen.
Die Inhaber dieser fünf Burgsitze waren von
allen Abgaben, gebotenen und ungebotenen, Frohnen
und Diensten, von Geschoß, Tischgeld, Soldaten-
steuer, Schatzung und was dessen mehr sein mag,
gänzlich befreit, durften jedoch altem Herkommen
nach Trist, Hute, Wasser, Weide, Beholzung und
anderes mit ihrem großen und kleinen Vieh un-
begrenzter Zahl gleich den anderen in der Stadt
eingesessenen Bürgern benutzen.
Neben diesen Burglehen gab es noch sogenannte
„freie Güter oder Behausungen", deren Inhaber
zwar jährlich 8 Albus Beisitzer-Geschoß zu entrichten
hatten, dafür aber sich mit ihrem Vieh der Trift,
Hute, Weide und des Wassers bedienen durften.
Jedoch hatten sie keinen Anteil an den gemein-
samen städtischen Wiesen, die jährlich unter die
Bürgerschaft ausgeteilt wurden, am Edder-Frnsen
und an der Nutzung des Beuerholzes.
Auch die in "der Gemarkung und „Terminei"
von Felsberg liegenden fürstlichen Ländereien,
Wiesen und Gürten sind von städtischem Geschoß,
Dienst und sonstigen Beschwerungen frei, jedoch
hat Landgraf Wilhelm 1589 „gnädig bewilligt,
daß von der ausbesamten Winter- und Sommer-
frucht, gleich wie von den anderen Nachbauern
und Bürgern, die Feldhute entrichtet werde".
Anderseits hatte die Stadt an den Staat bezw.
an die fürstliche Renterei nicht unbeträchtliche Ab-
gaben zu leisten. Nach dem Saalbuche von 1588
bestanden dieselben in 104 Reichsthalern 4 Albus
4'/2 Heller bareu Geldes, 25 Gänsen, 30 Hahnen,
11 x/2 Steigen Eier, 14 V« Maß Butter, 31 Viertel
8 Metzen Korn, ebensoviel Hafer. 41/ä Viertel
Weizen, ebensoviel Gerste und 1 Viertel Rübe-
samen. — Dazu kamen die Gefälle an die Deutsch-
Orden s-Komturei, die bekanntlich Hans und
Hof mit großem Fruchtboden in Felsberg besaß,
auch das Patronat über die Kirche hatte, an die
Universität zu Marburg, an die vonMeysen-
bug, von Bvineburg, von Wallenstein
und Baumbach. — Von einzelnen in der Fels-
berger Gemarkung gelegenen Äckern war der Zehnte
zu liefern: außer an die Ordeusrenterei, an das
Stift zu Fritzlar und die Klöster zu Breitenau
und Nordshausen (bei Kassel).
Der Fürst hatte vor dem Oberthore eine
Schäferei-Behausung und Scheuer samt einem
1 Acker großen Garten, das Ganze von einer Mauer
umschlossen. Den Garten hatten die fürstlichen
Beamten zur Benutzung inne. Nachdem dieser
sogenannte Schafhof im 30jährigen Kriege ab-
gebrannt war, ließ der Landgraf auf diesem Grund
iinb Boden ein stattliches Herrenhaus aufführen,
das aber in Privatbesitz überging, und dessen
Besitzer sehr häufig gewechselt haben. Es war
zunächst Eigentum des fürstlichen Schultheißen
Johann Martin Seydt. Dieser verkaufte es 1673
an den Oberstleutnant Toussaint, von dem eS
dann Franz Elger von Dalwig erwarb. Dessen
Tochter Antoinette Elisabeth«, Ehefrau des Oberst-
leutnants von Carspach, veräußerte 1723 das Haus
an den Oberstleutnant von Blome. Dessen Tochter
wiederum, Frau Karoline von Hahn, verkaufte es
1783 an den in holländischen Diensten stehenden
Leutnant Kinen für 2150 Thaler. Aus dem
ursprünglichen Eigentumsrecht des Fürsten beruhte
offenbar die Bestimmung, daß ein Verkauf des
Hauses stets nur mit Erlaubnis des Landesherrn
erfolgen durfte. Heute ist das schöne Besitztum
Eigentum der Wittwe Heide.
Die Mühle zu Altenburg, die Eigentum
der Fürsten zu Hessen war, stand unter Aus-
sicht und Verwaltung des Magistrats
zu Felsberg. Es soll „zu Folge altem Hcr-
kommen Bürgermeister samt einem ehrbaren Rate
sich danach richten, daß sie alle Vierteljahr ein-
mal, oder so oft Klage vorkommt, sich in Person,
samt und sonders in die gedachte Mühle verfügen,
alle Dinge sein, genau und eigentlich, sonderlich
aber um die Zargen her, und die zugerichteten
Beutel besichtigen, die Metzen oder verfertigten
Maaße mit der Stadt Zeichen psechten und
brennen, und jederzeit darauf sehen, daß alles
fein ordentlich und der Gebühr nach zugehen
möge". — Die Mühle war eine Erbleih-Mühle.
der Bannrechte zustanden. Bannpflichtig waren
folgende Ortschaften: Felsberg, Vorwerk Mittel-
hof mit der Karthause, Gensungen, Beuern,
Sundhof, Hilgershausen, Heßlar, Melgershausen,
Hesserode, Rühnda, Altenburg, Lohre, Nieder-
möllrich und Deute. Das Bannrecht erstreckte
sich auf das Mahlen aller Fruchtgattungen, sowie
auf das Schroten der Früchte. Der Molter be-
trug vom Viertel Mahlsrucht eine Metze, vom
Viertel Schrotfrucht eine halbe Metze. Holte der
Müller die Frucht ab, so erhielt er außerdem
eine Metze Kleien. — Im Jahre 1551 verkaufte
der Staat die Altenburger Erbleihmühle mit dem
bisherigen Bannrecht an Jakob Lindemann für
500 gute harte Joachimsthaler. Das Bannrecht
wurde erst im Jahre 1844 aufgehoben.
Neben dem Wegegeld, das die Stadt erhob
(s. „Hessenland" 1893, S. 42), hatte sie auch die
172
Einnahme eines- Zolles auf die E d d e r b r ü ck e.
Landgraf Philipp hatte unterm Dienstag nach
Trinitatis 1540 (signatum Carthans-Eppenberg)
der Stadt Felsberg bewilligt, einen Zoll auf die
Brücke zwischen Felsberg und Gensungen schlagen
zu dürfen, mit der besonderen Bestimmung: „wenn
die Fuhrleute nicht durch die Stadt Felsberg und
doch über die Felsbergische Brücke fahren, so sollen
sie nichtsdestoweniger den Zoll geben". — Es
scheint, als ob diese Brücke während des 30jährigen
Krieges zerstört worden sei, wenigstens läßt mich
daraus ein Eintrag in der Stadtrechnung vom
Jahre 1651 schließen, wonach die Stadt dem
Schiffsmann (es war damals Kurt Wiegand aus
Geusuugen) als Fährlohn jährlich 2'/2 Viertel
Korn gibt, wofür dieser einen, jeden Bürger oder
die Seinigen, die jenseits des Wassers zu thun
haben, ohne weiteres Entgelt hinüber zu fahren hat.
Und die Felsberger Bürger und noch mehr
ihre Frauen hatten recht viel „jenseits des Wassers"
zu thun. Denn jenseits der Edder, auf dem Ge-
lände des jetzigen Bahnhofs Geusungen, lag der
der Stadt gehörende Würzgarten, worin jeder
Bürger, der das Tisch- und Wiesengcld bezahlte,
Anrecht ans einen Pflanzenort hatte. Doch
sollten bestimmungsgemäß nach Herausnahme der
Pflanzen im Sommer die Pflanzenörter unbesamt
liegen bleiben, „damit sich das Vieh, wie Schweine
und Schafe, desto besser darauf erhalten möge".
Als dann später den Felsberger Damen die Be-
stellung jener allzu abgelegenen Pflanzenörter zu
unbequem wurde, erhielten die Schweine alleiniges
Eigentumsrecht an dem nunmehrigen „Saufrasen",
bis dieser in der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts für 1800 Thaler an die Gemeinde
Geusuugen verkauft wurde.
Das Amt Felsberg umfaßte im 16. Jahr-
hundert folgende 15 Dörfer (s. „Hessenland" 1891,
S. 168): Böddiger (wo am 17. Oktober 1575 ein
großer Brand 19 Häuser und 15 Scheunen,
sowie die herrschaftliche Mühle einäscherte), Neuen-
brunslar, Niedervorschütz, Lohre, Niedermöllrich,
Altenbnrg, Harle, Rhünda, Gensungen, Hesserode,
Helmshausen, Hilgershausen, Unshausen, Heßlar
und Melgershausen. — Im Amte waren vier
Schösfenstühle, jeder Stuhl hatte 12 Schöffen.
In Felsberg fanden jährlich zwei „nugeboteue"
Gerichte, zu Ostern und Michaelis, unter freiem
Himmel ans dem Kirchhofe statt.
Wie es wohl allgemein üblich war, gab es in
Felsberg neben dem regierenden Bürgermeister,
der sich auch Konsul nannte, einen „Bürgermeister
der Gemeine", der die Bürgerschaft dem Rate gegen-
über zu vertreten hatte (also der römische tribunus
plebis). So hören wir, daß im Jahre 1621
der Gemeine Bürgermeister Klage erhob, als
der Rat, altem Herkommen entgegen, den Stadt-
schreiber in den Rat aufnahm. Bis dahin
hatte ein städtischer Beamter nicht Sitz und
Stimme im Rate haben dürfen. In diesem Falle
war der Einspruch der Gemeinde um so mehr
berechtigt, als der besagte Stadtschreiber Andreas
Pforrius „wegen unmäßigen Trinkens seine Ämter
vernachlässigte".
Es ist bekannt, wie man in jenen Zeiten streng
au den althergebrachten Rechten und Gebräuchen
hing und alle Amtshandlungen mit besonders
feierlichen Formen umgab. Es darf uns daher
nicht wundern, daß sich auch die Aufnahme eines
neuen Bürgers möglichst feierlich gestaltete. Der
Bürgereid, wie ihn uns das in Felsberg auf-
bewahrte Saalbnch überliefert, lautet wörtlich:
„Ihr sollt j gehoben und schwören, daß Ihr
Unserm Gnädigen Fürsten und Herrn zu Hessen
wollet allezeit treu, hold, gehorsam und gewärtig
sein, Ihrer Fürst!. Gnaden sowohl als gemeiner
Stadt Schaden warnen (= abwehren), selbst keinen
zufügen, sondern alles Bestes werben und prüfen,
und die Gerichte fleißig besuchen, und so oft Ihr
von wegen Seiner Fürst!. Gnaden und dero
Beamten, sowohl als auch Bürgemeisters und Rats
dieses Orts erfordert werdet, euch jederzeit gehvr-
samlich einstellen, und zu jeder Zeit also erzeigen
und verhalten, auch alles dasjenige zu Tag und
Nacht thuen und lassen, das frommen, getreuen
und gehorsamen Unterthanen wohl anstehet, und
gegen Ihren Landesfürsten und dessen Diener
sowohl auch Bürgemeister und Rat und seine
Mit-Nachbaren eigenen und gebühren will, ge-
treulich sonder Gefährde."
Diesen Eid soll der neu aufzunehmende Bürger
mit aufgerichteten Fingern mit folgenden Worten
beschwören: „Als (= wie) mir vorgelesen und
ich wohl verstanden habe, dem soll und will ich
also staet, fest, unverbrüchlich und getreulich ge-
loben und nachkommen, als mir Gott helfe der
Allmächtige. Amen."
In einem späteren Artikel gedenke ich von der
Not und dem Leide zu berichten, das der 30 jährige
Krieg in reichem Maße über die Stadt Felsberg
gebracht hat.
173
Der Reformator Johann Sutel.
Bon L. Armbrust.
(Fortsetzung.)
^as erste Emporkommen aber, das Heraus-
U treten ans den engen Verhältnissen Melsungens
hatte Sutel dem Allendorfer Pfarrer Jost
Winther und dessen bedeutenderem Amtsbruder
Anton Coro in zu danken. Der letztere war
vom Landgrafen Philipp nach der freien Reichs-
stadt Goslar gesandt, um dort dem Luthertnme
festen Boden und Bestand zu sichern. Zn dem-
selben Zwecke wirkte Jost Winther mit landgräs-
licher Bewilligung für einige Zeit in Güttingen?)
Hierhin kam auch Sutel als Prediger. Anton
Corvin und Jost Winther waren für seine Be-
rufung eingetreten, und der Landgraf gab ihm
einstweilen Urlaub. Am 30. August 1530 trat
Johann seine neue Stelle an. Die Priesterweihe
ward ihm nicht zu teil. Martin Luther selbst
zerstreute seine Bedenken: wenn man in Göttingen
kein Gewicht darauf lege, so solle er auch fürderhin
den Tisch des Herrn ungeschoren und ungesalbt ver-
walten. Johann begnügte sich mit einem Anfangs-
gehalte von 40 Gulden. In der großen Johannis-
kirche hielt er seine Antrittspredigt, dauernde
Wirksamkeit durste er jedoch zuerst nur zu Sankt
Nikolai, der jetzigen Universitätskirche, entfalten.
Auch mußte er mit einer Wohnung in der so-
genannten Propstei vorlieb nehmen, denn fast
alle Pfarr- und Gotteshäuser waren noch in
katholischen Händen. Die altgläubigen Priester
und Mönche gaben nicht ohne Kampf ihre
Stellungen und Ansprüche auf, zumal da sie am
Landesherrn, dem Herzoge Erich I. von Kalenberg-
Göttingen, einen starken Rückhalt besaßen. Daher
bereiteten Sutel und Winther einen Hauptschlag
gegen die Barfüßer, den Hort des Göttinger-
Katholizismus, vor. Sie verfaßten 28 Artikel,
die die Grundlagen des evangelischen Glaubens
darstellten. Bemerkenswert ist, daß der weltlichen
Obrigkeit darin nicht nur ein Befehlsrecht über die
Priesterschaft zugestanden wurde, sondern auch die
Macht, kirchliche Anordnungen zu treffen, z. B.
die Bilder ans den Kirchen zu entfernen (88 11
und 27). Die Artikel wurden in Wittenberg
gedruckt und die Gegner zu einer öffentlichen
Disputation aufgefordert. Man lud die Mar-
bnrger Theologen Erhard Schnepf und Adam
Kraft von Fulda, den Kasseler Konrad Öttinger
und andere zur Teilnahme ein (Anfangs 1531).
Allein der Landesherr kam den bedrängten Mönchen
zu Hülfe: Herzog Erich I. verbot die Abhaltung
*) Vgl. „Hessenland" 1901, Nr. 5, S. 50.
der Disputation. Die Aufregung in der Stadt
war um diese Zeit so stark, daß Sutel und Winther
ihres Lebens nicht sicher waren. Geharnischte
hielten nachts Wache; beide Parteien waren zu
blutigem Kampfe geneigt. Dazu kam es glück-
licherweise nicht. Nur drangen einige Bürger in
das Barfüßerkloster (am jetzigen Wilhelmsplatze)
ein und ließen es sich dort ans Kosten der Mönche
einige Tage wohl sein. Allein damit war der
Widerstand der Klvstergeistlichen noch lange nicht
gebrochen. Winther, der im Mai 1531 nach
Hessen zurückkehrte, konnte allerdings mit der
Überzeugung scheiden, daß das Luthertum in
Göttingen unaufhaltsam vordringe. Luther warnte
Sutel nnb seine Amtsbrüder, deren Zahl in der
Stadt allmählich zunahm, nicht von der Göttinger
Kirchenvrdnnng alles Heil zu erwarten, sondern
weiter wachsam zu sein. Den Rat befolgte
Johann durch emsige Wirksamkeit int evangelischen
Sinne.
Aber erst nach jahrelangem Streite gaben die
Mönche ihre Sache verloren lind wanderten ans
oder wurden ansgewiesen durch ein Machtwort des
Stadtrates. Ihre Güter und Einnahmen ver-
fielen der neu gegründeten Kirchenkasse.
An dem Siege des neuen Glaubens in Güttingen
hatte Sutel den grüßten Anteil. Er stand in der
ersten Reihe der Kämpfenden. Und die alten wie
die neu gewonnenen Anhänger fesselte er durch seine
Predigten. Seine Kanzelreden fanden solchen Beifall,
daß er die über Jerusalems Zerstörung 1539
mit einer Vorrede Luthers herausgab — das erste
Werk, das er allein verfaßte.
Sutel wuchs unterdessen an Ansehen und Ehren
in der Stadt, seine Tüchtigkeit fand Anerkennung.
Nach der Göttinger Kirchenvrdnnng, die bereits
mehrere Monate vor Sütels Ankunft eingeführt
war, sollten die städtischen Kirchen und Schulen
der Aussicht eines Superintendenten unterworfen
werden. Der Rat der Stadt beschloß, den gelehrtesten
unter seinen Geistlichen in das Aufseheramt zu
berufen. Dr. Wydensehe, Pfarrer in Goslar, wurde
beauftragt, eine Prüfung anzustellen, und siehe:
Johann Sutel, fast der jüngste unter seinen Amts-
brüdern, bewies die besten Kenntnisse. Erst ein-
unddreißigjährig rückte er zum Superintendenten
auf (1535). Zwei Jahre später übernahm er
das Pfarramt an der Göttinger Hanptkirche, zu
St. Johannis. Einen Ruf nach Homberg an der
Efze lehnte er im Herbste 1540 ab, da die Göttinger
ihn durch Verleihung des Bürgerrechts, Befreiung
174
von allen bürgerlichen Lasten und andere Vorteile
von neuem fesselten und auszeichneten.
Unter den übrigen Predigern der Stadt fanden
sich aber solche, die nicht an Sütels Verdienste
dachten, sondern nur an ihre eigene Zurücksetzung.
Sntel war vielleicht kein bequemer Vorgesetzter.
Wie er an sich hohe Ansprüche stellte, den Brief-
wechsel sogar mit Melanchthon und anderen hoch-
geschätzten Freunden vernachlässigte und sich den
Amtspflichten desto eifriger widmete, so wird er
ähnliches von allen Pfarrern und Kaplänen
Göttingens verlangt haben. Sein scharfes Regiment
spricht sich besonders in einem Umstande aus. Er
hielt es nicht für genügend, die Geistlichen einfach
ans die Augsburgische Konfession hinzuweisen,
sondern nötigte sie, einen förmlichen Revers zu
unterschreiben. Darin hatten sie einen Eid auf
die Bekenntnisschrift zu leisten und sich für ab-
gesetzt zu erklären, falls sie gegen irgend einen
Artikel derselben lehrten. Die Furcht vor Wieder-
täufern, Bilderstürmern n. dgl. mochte dem jungen
Superintendenten solche Vorsicht geboten haben,
aber die Amtsgenossen empfanden sicherlich nur den
Zwang. Ein zufälliges Ereignis bewies, wie viel
Gegner Sntel jetzt in Göttingen besaß.
Der Pfarrer zu St. Jakobi, Justus Jsermann*),
verging sich an einem Mädchen. Die Herzogin
Elisabeth von Kalenberg-Göttingen, Erichs I.
Witwe, drang darauf, daß der Schuldige sein
Amt aufgab. Allein Jsermanns Anhänger ruhten
nicht, bis sie die Herzogin aus ihre Seite zogen.
Obwohl Sntel dagegen Einsprache erhob, kehrte
der Gemaßregelte nach Jahresfrist in das Pfarr-
amt zu St. Jakobi zurück. Diese Schmälerung
seines amtlichen Ansehens und gehässige persön-
liche Angriffe verdrossen den Superintendenten
dermaßen, daß er seinen Abzug aus Eöttingen
in ernstliche Erwägung zog. Dabei kam ihm
Johann Lenings Freundschaft zu statten. Die
Reichsstadt Schweinfurt am Main trug Ver-
langen nach dem Evangelium. Sie begab sich
daher unter den Schutz Philipps von Hessen und
bat um einen Prediger. Eine Zeit lang suchte
der Landgraf vergeblich nach einer geeigneten
Persönlichkeit, da brachte Lening ihn auf Sntel.
Der Melsunger Pfarrer mußte sofort (am 30. März
1542) an den Göttinger Superintendenten schreiben
und ihn nach Spangenberg bestellen, damit er
dort mit seinem Fürsten Rücksprache nehme.
Sntel reiste hin und erklärte sich bereit, dem
Rufe nach der fränkischen Reichsstadt zu folgen.
*) Justus Jsermann, ein Friese, war zuvor bei beueu
von Berte p s ch („Barlipsen“) und anderen der Lehre
halber unterhatten; seine Frau war eine Klosterperson.
Lubecus, Blatt 243a, zuin Jahre 1531.
Die Entscheidung wurde ihm nicht schwer gemacht,
denn die Schweinfurter stellten ehrenvolle Be-
dingnngen, u. a. versprachen sie ein Gehalt von
200 Gulden, eine sehr anständige Besoldung für
die damalige Zeit. Johann Sntel sollte die
neue Stelle sofort antreten. Aber man wartete
und wartete, der Landgraf mahnte zweimal, und
Sntel kam ilicht. Seine Gläubiger hielten ihn fest.
Seitdenl er Superintendent in Göttingen war,
schien er der wirtschaftlichen Sorgeil überhoben
zu sein; denn außer seinem Predigergehalte von
40 Gulden bezog er nun eine Zulage von 60 Gilldcn
nebst 6 Maltern Korn und einem kleinen Holz-
gelde. Er hatte sich indessen für seine Studien
Bücher angeschafft und dazu vom Stadtrate
50 Gulden geliehen, die noch nicht zurückgezahlt
waren. Etliche unfriedsame Leute bereiteten ihm
nun großen Unglimpf, so drückt sich Sntel selbst
aus. Endlich legte sich der Rat von Schweinfurt
ins Mittel und bürgte für die Bezahlung der
Schuld. Sv zog Johann frohen Mutes durch
das heimatliche Fuldagebiet nach Schweinfnrt.
Seine Frau, die ihm etwas später mit Kindern
und Hausrat nachfolgte, hatte leider ebenfalls bei
ihrem Abzüge ans Göttingen Unannehmlichkeiten
und Widerstand zu überwinden, weil damals die
Schuld noch nicht beglichen war.
Das Benehmen der Göttinger würde in einem
sehr häßlichen Lichte erscheinen, wenn wir es einzig
und allein nach den Briefen der hessischen und
Schweinfurter Freunde Sütels beurteilen wollten.
Ohne alles entschuldigen zu wollen, so möchten
wir doch wenigstens für eine mildere Auffassung
eintreten. Die Stadt befand sich schon seit Jahr-
zehnten in übelen Vermögensverhältnissen, so daß
sie häufig ihren Verpflichtungen nicht nachkommen
konnte, und wer selbst in Rot ist, der wird auch
ein harter Gläubiger. Ferner suchten die Göttinger
ihren verdienten Superintendenten um jeden Preis
zurückzuhalten; es ist nicht unmöglich, daß sie des-
halb auch die gewaltsamen Mittel nicht für verwerflich
hielten. Jedenfalls ließen sie seine Stelle längere Zeit
unbesetzt und wurden nicht müde, den Landgrafen,
Jost Winther (damals „Hofschulmeister" zu Kassel)
und den einflußreichen Melsunger Pfarrherrn
Lening mit Bitten zu bestürmen (letzteren auch
mit einem Geldgeschenke), damit ihnen der erprobte
Prediger zurückgegeben würde. Erst nach einem
halben Jahre stellten sie ihm ein Zeugnis aus,
worin sie seinen reinen Wandel und seine evan-
gelische Predigt rühmten und ihn zur Rückkehr
nach Göttingen einluden.
Allein Magister Johann hatte keine Veran-
lassung, sich von der Reichsstadt am Maine weg-
zusehnen. Wie im Triumphe hatten ihn Rat
175
und Bürgerschaft in die Stadt eingeholt. Er
war allseitiger Unterstützung sicher. So baute
er in Schweinfnrt die evangelische Kirche von
Grund ans und machte noch einmal die Kämpfe
gegen die Vertreter des katholischen Glaubens
durch, die er in Güttingen schon so gründlich
kennen gelernt hatte. Der altgläubige Pfarrer
Feigenbaum wollte nicht gutwillig von der
Hanptkirche, die wie in Göttingen St. Johannes
geweiht war, weichen. Er griff Sutel auch persön-
lich an und beklagte sich ernstlich beim Bischöfe
Konrad von Würzburg, man suche ihn zum
Übertritte zu nötigen. Der Kirchenfürst warnte
den Rat von Schweinfnrt vor einer Verletzung
der Religionsfreiheit, die doch durch den letzten
Reichstagsabschied gewährt sei. Erst dem Land-
grafen Philipp, dessen Vermittelung angerufen
wurde, gelang es, den Bischof zu beruhigen.
Der Strudel des Kampfes schlug also weite Kreise.
Sntels mildes und doch festes Auftreten verschaffte
ihm aber bei allen Anhängern der neuen Lehre
in Schweinfnrt und Umgegend Vertrauen und
Ansehen. Ein Keßlergeselle besang in seiner
Reimchronik den Herrn Hans (Johann Sutel),
-----------
Erinnerung
Von Louis
(Schl
ine besondere Liebhaberei hatte der König für-
prächtige Kostüme, von denen er sich eine ganze
Sammlung zugelegt hatte, und eines Morgens, als
ich ihn zur Sitzung erwartete, kam er zu meinem
Erstaunen als Beduine gekleidet aus seinem Zimmer;
mit dem Malen war es an jenem Tage nichts.
Ein anderes Mal, als ich eben meine Vorbereitungen
zur Arbeit traf, hörte ich ihn im Nebenzimmer ein
deutsches Lied singen, zu dem er sich am Klavier
begleitete. Der Refrain, den er mit besonderer
Kraft betonte, lautete: „Heilige Freiheit erscheine!"
Lachend trat er, als er geendet, zu mir herein und
meinte, die Herrscher würden sich doch wundern,
wenn sie wüßten, welche Art von Liedern der
Kollege am Tajo kultiviere.
Die nächste Umgebung von Lissabon ist reizlos
und öde bis 311 dem Punkte, wo eines der herr-
lichsten Landschastsbilder der Welt sich dem ent-
zückten Blicke darbietet. Von der üppigsten süd-
lichen Vegetation, von Palmen, Lorbeeren, Myrten
und Kamelien eingeschlossen, eine wundervolle Aus-
sicht aus das Meer gewährend, liegt das Städtchen
Cintra, im vvllsteil Sinne des Wortes eine Oase
in der Wüste von Estremadura.
Das dichterbesungene Cintra gilt mit Recht für
eins der schönsten Fleckchen ans Erden, und die
seine schöne Predigt und seine Verdienste ums
Evangelium. Andreas von der Kehre, Amtmann
in dem benachbarten Mainberg, sandte dem
Magister Sutel (am 1. August 1542) ein Füß-
lein Frankenweins und sprach sich zugleich an-
erkennend über seine Wirksamkeit aus; er bat ihn,
den Pfarrer von Mainberg mit Rat zu unter-
stützen. Nach Melanchthons Zeugnisse (vom
2. Oktober [1542]) gedachte auch der Schwein-
furter Bürgermeister Kaler Sntels in ehrenvoller
Weise. Noch wichtiger ist das Urteil des Land-
grafen Philipp von Hessen. Dieser schrieb (am
24. Oktober 1543) an den Rat der Stadt,Göt-
tingen: er könne den Pfarrer Sutel nicht bcn
Schweinfurter» nehmen und nach Göttingen senden,
da „er nicht allein die Bürger und den gemein
Mann in Schweinfnrt an sich hangen habe,
sondern auch außen um Schweinfnrt herum der
Adel und Bauersmann alle große Neigung zu
ihm haben, also daß er mit seinem Lehren und
Verkündigen des Evangelii viel Leute bewegen
und zu der Erkenntnis Gottes bringen und viel
Gutes ausrichten werde".
(Fortsetzung folgt.)
<4------------
an Portugal.
Katzensteiü.
ß.)
Mönche vom Orden San Jeronimo, welche hier-
vor Zeiten ihr Kloster erbaut hatten, bekundeten
auch hier in der Wahl des Platzes den ihnen
eigenen Sinn für landschaftliche Schönheit. Ans
den Ruinen hat der König-Regent Don Fernando
einen Prachtbau errichtet, ein wahres Märchenschloß,
welches mit feinen Türmen und Zinnen weit ins
Land hineinschaut. Recht im Charakter des Landes
und in glücklichster Weise an seine Vergangenheit
erinnernd, ist das Schloß im edelsten maurischen
Stil erbaut. Die Pläne dazu entwarf unser hes-
sischer Landsmann, Baron von E s ch w e g e, der
sich ein herrliches Denkmal damit gesetzt hat.
Die vielen den wohlhabenden Einwohnern von
Lissabon gehörigen Villen sind hier fast durchgängig
vom besten Geschmack und bieten den Bewohnern
einen wahrhaft beneidenswerten Aufenthalt.
Eine Sehenswürdigkeit in der Nähe von Cintra,
die ganz einzig in ihrer Art ist, das Korkklostcr
(convento du corka), versäumt kein Reisender 311
besuchen. Der Reichtum an Korkeichen hier zu
Lande, eine sehr ergiebige Einnahmequelle, mag
wohl den Gedanken nahegelegt haben, das ge-
schmeidige Material zur Errichtung eines der
Andacht gewidmeten Ortes zu verwenden. In die
Felsen hinein hat man die wunderliche Behausung
176
eingebaut, an der man außen weder Thür noch !
Fenster bemerkt. Eine Art Vorhof, oon Bäumen
eingefaßt, in den Felsen zu beiden Seiten waren !
Sitze eingehauen; ein Brunnen mit köstlich klarem
Wasser wurde jubelnd begrüßt. Tiefe Stille herrschte
umher, kein Blättchen der Bäume über uns be-
wegte sich. Wir näherten uns dem höhlenartigen
Eingang, in welchem wir einige sehr niedrige
Thüren von Korkholz entdeckten. In einer ver- ;
gitterten Nische lag ein ans Holz geschnitztes lebens-
großes Bildnis des heiligen Hieronymus, scheußlich
angemalt und drapiert. Ten Fußboden bildeten
ebenfalls Kvrkplatten. Nach langem Rufen öffnete
sich eine der Thüren und heraus schwankte oder
kroch vielmehr die Jammergestalt eines alten ver- ;
krüppelten Mannes, den man füglich ebenfalls für l
eine Korkschnitzerei halten konnte. Er war der
Cieeroue des Ortes und lud uns ein, ihm zu folgen.
Gebückt gingen wir durch dunkle kellerartige Gänge >
und ließen uns den Zweck der einzelnen durch
Alter und Vernachlässigung zerfallenen Räumlich- >
leiten erklären. Ta war eine Kapelle, dumpf und
düster wie ein Burgverließ, ein Refektorium wie
ein Hnndestall und Zellen, die einem einigermaßen
beleibten Mönch den Austritt aus dem Orden zur
gebieterischen Pflicht gemacht hätten. Gern ver-
ließen wir den unheimlichen Ort und atmeten ans !
im „rosigen Licht".
Nun ging es hinunter nach dem weinfrohen :
Städtchen Collares, wo uns in einer schattigen
Benda die hübsche Kellnerin den dnnkelroten Reben-
saft kredenzte. Wie gut haben es die ehrwürdigen
Herren immer verstanden, sich recht nahe an die
traubentragenden Berge anzubauen!
Herrliche Abende waren es, wenn der volle
Mond über die waldigen Berge ausging und die
Gegend rings umher mit einem Silberschleier be-
deckte. Waren die Klänge der Musik verhallt und
hatte die Menge sich allmählich verloren, so hörte
mau wohl eins der Fenster im Schlosse sich öffnen,
und die sonore Stimme eines königlichen Sängers fang
die Lieder der fernen Heimat in die Nacht hinaus. —
O p o r t o, die zweite Stadt des Königreichs, an
kommerzieller Bedeutung vielleicht die Hauptstadt
übertreffend, bietet dem von der Flnßseite An-
kommenden ein überaus malerisches Bild. An das steile
linke Donroufer hingebant, mit zahlreichen Kapellen
und Kirchen, freundlichen Landhäusern und Gärten,
zwischen denen sich die engen Straßen hinauswinden,
die nach keinem erkennbaren Plane angelegt sind, ist
Oporto von unseren nordischen Städten grundver-
schieden. Dazu kommt noch die unschöne Architektur
der Kirchen, der sogenannte Jesuitenstil. Die Wohn-
häuser der Wohlhabenden, deren Außenwände mit '
Porzellanplatten gedeckt sind, halten in konservativster I
Weise am Althergebrachten in der Bauerei fest.
In den belebten Straßen bieten die Landleute eine
überaus malerische Staffage; bei dem milden Klima
macht ihnen ihre Bekleidung wenig Sorge, und bei
dem dem südlichen Bvlke angeborenen Sinn für
das Malerische verstehen sie sich mit den bescheidensten
Mitteln auss wirksamste zu drapieren. In den
von der ärmeren Volksklasse bewohnten Quartieren
kann man die Kinder oft vollständig nackt umher-
laufen sehen.
Von wahrhaft antiker Einfachheit sind die Ochsen-
karren, welche den Bewohnern die für den Haushalt
notwendigen Berbranchsgegenstände, wie Kohlen,
Gemüse rc. zuführen. Der Boden, mit der Deichsel
ans einem Stücke bestehend, ruht ans zwei mächtigen
Scheiben ohne Speichen, welche sich mit der Achse
drehen. Die an den vier Ecken befestigten Stäbe
verbindet ein derbes Geflecht aus Weiden, oben
mit einer dichten Guirlande aus Eichenlaub bekränzt.
Tie prächtigen Tiere sind durch ein schön ge-
schnitztes Joch aneinander gefesselt und werden
gewöhnlich von einem Kinde mit einem laugen
Stabe regiert. Sicher haben diese Karren seit
vielen hundert Jahren ihr Aussehen nicht verändert.
Das eintönige Leben der Stadt unterbrechen in
den Sommermonaten die häufigen religiösen Feste.
Tie Namenstage der Kalenderheiligen und unter
ihnen ganz besonders des Schutzheiligen der Nation,
Antonio, werden mit großem Pomp gefeiert.
Prozessionen und Wallfahrten mit Musik, unter
fortwährendem Raketengeknatter — am hellen Tage,
wechseln mit geringer Unterbrechung ab. Welcher
besondern Ehrung der letztgenannte Heilige sich zu
erfreuen hatte, davon erzählt ein englischer Offizier,
welcher zur Zeit Pombals in der portugiesischen
Armee diente.
„Alle Regimenter", sagt er, „haben sich hier unter
den Schutz eines besondern Heiligen gestellt, und als
dasjenige, welches ich jetzt kommandiere, vor ungefähr
hundert Jahren zuerst gebildet wurde, erwählte
es den heiligen Antonio von Lissabon zum Schutz-
patron mit dem Rang eines Obersten, dem seine
Gage pünktlich ausgezahlt wurde. Ter Major
unseres Regiments, ein Adliger und ein Schafkopf,
nahm diese in Empfang und bestritt mit dem Gelde
die Kosten, welche die Feier des Antonio-Tages,
die Seelenmessen und die Ausschmückung der Kirche
verursachten. Nebenbei bestürmte er den Hos unab-
lässig mit Denkschriften und Dienstzeugnissen zu
Gunsten des Heiligen, damit man ihn, den Heiligen,
zum Rang eines aggregierten Hauptmanns befördere.
Der Marquis von Pombal, ein kluger, weitfchanender
und vorurteilsfreier Mann, war nicht gesonnen,
solchen Unsinn zu dulden uiib — strich das Ein-
kommen des Heiligen."
177
Die Verkehrsmittel in Portugal waren zur Zeit,
als diese Reiseeindrücke nieder geschrieben wurden,
noch recht mangelhast, an Eisenbahnen war nicht
zu denken, die Landstraßen erschienen für Wanderer
nicht einladend, und so mußte man wohl oder übel
sich einem Mietpferd mit dem dazu gehörigen, eben-
falls berittenen Führer anvertrauen.
Um Land und Leute besser kennen zu lernen,
vor allem um mich freier bewegen zu können,
wählte ich, als ich mich endlich von dem inter-
essanten Lande trennen mußte, diese Art zu reisen.
Das nächste Reiseziel war das Grenzstädtchen
Viano do Minho, am Flusse dieses Namens ge-
legen, und nach ermüdendem Ritte sah ich seine
von der Abendsonne bestrahlten Häuser vor mir.
Wie die meisten in südlichen Ländern gelegenen
Städte präsentierte sich Viano von außen mit
seinen durchweg weißen Häusern wie ein sauberer,
einladender Ort, in dem man gern Aufenthalt
nimmt.
Ich hatte meinem Führer anempfohlen, mich in
den besten Gasthof zu bringen. Eine nähere Be-
kanntschaft mit dem Innern des Stäbchens zer-
störte mir allzu rasch den günstigen Eindruck, den
ich von außen empfangen, und stimmte meine
Hoffnung auf ein behagliches Unterkommen und
Nachtlager bedeutend herab. Das Hotel de Paris,
in dem ich absteigen mußte, war eine unsaubere
Spelunke, wie mir schien, hauptsächlich von Fischern
lind Bauern besucht. An Umkehren war aber nicht
zu denken. Der Sprache nur wenig mächtig und
ermüdet wie ich war, mußte ich mich in meine
Lage finden und verlangte ein Schlafzimmer.
Der erste Stock des Hauses bestand, wie ge-
wöhnlich in portugiesischen Wirtshäusern, in einer
Art Saal, ans welchen die ringsum gelegenen
Schlafzimmer mündeten. Ihr einziges Licht, denn
Fenster gab es da nicht, erhielten diese Kammern
durch das Oberlicht an der Thür.
Alle Mahlzeiten wurden in dem Saal au einem
großen Tisch eingenommen, der hinreichend Spuren
davon aufwies.
Ich war kaum in die mir angewiesene Koje
eingetreten, als es bei mir feststand, daß ich unter
keiner Bedingung eine Nacht darin zubringen könnte
und lieber in der milden Sommerluft im Freiere
kampieren wollte. Um meinem Wirte meinen Ab-
schere vor dem Hotel de Paris reicht allzu sehr
merken zu lassen, bestellte ich ein paar Eier, dazu
ein Glas von dem sauren Landwein und begab
mich dann ans meine Wanderung.
Es war inzwischen vollständig Nacht geworden
und von Straßenbeleuchtung so gut wie keine Rede.
Tie Stadt liegt lang hingestreckt am Flusse, und
ich konnte bei dem matten Sternenlichte nur die
Bänke und langen rohen Tische erkennen, welche
die Fischer für ihre Arbeit benutzen. Immerhin
konnte ich meine müden Glieder ein wenig aus-
strecken, freilich nur auf wenige Minuten, denn des
harten Lagers ungewohnt, mußte ich mich bald
wieder auf die Beine machen. Die Aussicht stunden-
lang in den engen finstern Gassen herumzuwandeln,
war trostlos genug, dazu war ich wehrlos einem
etwaigen Anfall preisgegeben. Da hörte ich die
Töne einer Ziehharmonika, und diesen nachgehend
befand ich mich auf dem Marktplatz des Städtchens.
Hier hatte eine wandernde Gauklergesellschaft ihr
Lager aufgeschlagen. Einer jener Reisewagen, welche
den reisenden Künstlern zur Wohnung dienen, war
hier aufgefahren, daneben befand sich ein Zelt mit
einem Strohlager.
Die Vorstellung mußte noch nicht lange zn Ende
sein, denn ich hörte Schwatzen und Lachen in dem
Zelte und in dein Wagen, der, wie es schien, den
Schlassalon der weiblichen Artisten bildete.
Zu meiner Überaschung klang, als ich näher
kam, das schönste elsässer Deutsch an mein Ohr.
Ich grüßte die Landsleute — damals waren sie
es freilich noch nicht — und erklärte ihnen, warum
ich zu so später Stunde noch auf der Straße sei.
Sogleich boten sie mir in ihrem deutsch-französischen
Kauderwelsch in der freundlichsten Weise an, mit
einem Platze auf ihrem Strohlager im Zelt für
die wenigen Nachtstunden vorlieb zu nehmen. „Ein
Tröple Wein ist auch noch ä votre Service, une
croüte de pain, aber weiter Hammer nischt."
Ich nahm das Anerbieten gern au, froh, meine
müden Glieder ausstrecken zu können, und schlief
bald ein.
Nicht lange sollte die Ruhe dauern. Ich konnte
ungefähr eine Stunde auf meinem ungewohnten
Lager zugebracht haben, als ich, durch einen wüsten
Lärm erweckt, erschreckt in die Höhe fuhr. Ich
hörte Fluchen und Schimpfen in portugiesischer,
deutscher und französischer Sprache durcheinander,
und soviel ich in der Dunkelheit erkennen konnte,
sollten meine elsässer Freunde von der Wache ab-
geführt werden. Ich wollte mich entfernen, wurde
aber in unsanfter Weise daran gehindert. Soviel
ich in dem Tumult verstehen konnte, war die ganze
Gesellschaft für verhaftet erklärt und sollte ab-
geführt werden.
Vergebens erklärte ich in meinem mangelhaften
Portugiesisch, wie ich dahin gekommen und wie ich
den Leuten ganz fremd sei, vergebens berief ich
mich auf diese; hier hieß es in der That: mit-
gefangen, mitgehangen! Endlich erfuhr ich von
meinen Leidensgefährten, was die Veranlassung des
ganzen Skandals gewesen. Zwei der Mitglieder
der Gesellschaft hatten sich nach Schluß der Vor-
178
stellung entfernt und versucht, unter dem Schuhe
der Dunkelheit in einem Keller, der einem Viktualien-
händler gehörte, mittelst Einbruch sich zu ver-
proviantieren. Dabei waren sie abgefaßt worden.
Wir wurden in das Polizeigebüude gebracht, in
einen langen, schwach erleuchteten Raum geführt
und bedeutet, daß wir früh am anderen Morgen
verhört, eventuell verurteilt würden. So war ich
denn, im Berdacht, einer Diebesbande anzugehören,
in ein portugiesisches Gefängnis gekommen. Trotz
der wenig angenehmen Situation mußte ich über
das Abenteuer lachen und ergab mich in mein
Schicksal. Ringsum au den Wänden des Raumes
waren hölzerne Bänke, die den Jnkulpaten als
Schlasstätten dienen mußten.
Früh am Morgen rasselten die Schlüssel in der
Thür, und es wurde uns angekündigt, daß wir so-
gleich verhört werden sollten. Rasche Justiz durfte
man der Behörde von Viana nachrühmen, beim
bereits erwartete im Verhörzimmer der dienstthuende
Beamte die fremde Gesellschaft. Ich schritt sogleich,
-------------«
meine Karte in der Hand, auf den Herrn zu, stellte
mich vor und erklärte, französisch sprechend, meine
Anwesenheit in dieser Umgebung. Er schien schon
etwas davon zu wissen, antwortete geläufig in der-
selben Sprache und drückte mir sein Bedauern aus
über das mir widerfahrene Mißgeschick. „Selbst-
verständlich", fügte er hinzu, „sind Sie entlassen,
aber um Himmelswillen, wie konnten Sie auch in
einer solchen Spelunke absteigen? Wir haben hier-
in Biana einen recht guten und — saubern Gast-
hof. Ich lasse Sie dahin bringen und schicke
Ihnen Ihr Gepäck; Sie werden gut verpflegt sein
und ausruhen können, was Sie wirklich nötig
haben." Mit einem kräftigen Händedruck entließ
mich der artige Mann.
Am Abend desselben Tages befand ich mich schon
ans spanischem Boden und am anderen Morgen,
nach einer, freilich unter anderen Verhältnissen,
schlaflos durchwachten Eisenbahnnacht, in Madrid,
der Stadt der schönen Frauen und der Stier-
kümpfe.
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Unterm Hollunöerbaum.
Historische Erzählung aus Oberhessen von O. Gros.
(Fortsetzung.)
m schrecklichsten war es unsern Freunden, als
sie zum Schuldturm kamen und sich nach dem
Pfarrer Laukhardt erkundigten; denn ein Wort des
Trostes wollten sie ihm doch zurufen. Sie fanden
ihn, wie er im Borhvs des Gefängnisses sein kärgliches
Brot verzehrte; neben ihm stand ein zweirädriger
Druckkarren, auf welchem ein Besen und eine Schaufel
lagen. Laukhardts Kleidung war über und über
beschmutzt und im höchsten Grade zerlumpt und
zerrissen; er war ohne Kopfbedeckung, sodaß seine
grauen Haare im Winde flatterten, und so bot er
einen jammererregenden Anblick dar
Das Auge des Gefangenen erglänzte vor Freude,
als er seine Freunde erkannte; rasch sprang er
empor und eilte auf die Ankommenden zu. „Bringt
Ihr mir Freiheit? Was macht mein Weib? wie
geht es meinen Kindern?" Die hellen Thränen
rannen ihm bei diesem unerwarteten Wiedersehen
über die bleichen Wangen.
In möglichster Kürze erzählte Leideusrost alles,
was bis jetzt - geschehen war, und wie heute ihre
letzte, größte Hoffnung an dem Starrsinn des Grasen
gescheitert sei.
„Run. wenn es nur daheim gut geht, und meine
liebe Frau ihre schwere Stunde glücklich übersteht,
so will ich schon mit Gednld aushalten, liebe
Freunde," sagte Laukhardt; „bittet nochmals bei
unserm allergnädigsten Grafen für mich, er wird
schon einen Ausweg wissen. Ewig können sie mich
hier ja doch nicht gefangen halten, vbschon sie es
so eingerichtet haben, daß ich mein täglich Brot
hier noch verdienen muß, und ihnen durch meine
Gefangenschaft keine Unkosten erwachsen."
„Was müßt Ihr denn thun, lieber Vater?" fragte
der Pfarrer von Wenings.
Mit bitterem Lächeln deutete Pfarrer Laukhardt
ans den neben ihm stehenden Karren: „Das ist der
Dreckkarren, ich muß die Gassen fegen und den
Dreck aufladen und wegfahren; fürwahr eine geziem-
liche Beschäftigung für einen Diener Jesn Christi.—"
Laute Ausrufe der Entrüstung unterbrachen ihn.
„So sehr schändet sich der Graf, daß er solche
niedrige Rache nimmt?" rief Leidenfrvst empört.
„Es ist eine Schmach und Schande," schalten
die Hirzenhainer Bürger, „man sollte den Grafen
selbst in den Dreckkarren spannen, der unsern lieben
Pfarrer so roh behandelt."
„Laßt nur, liebe Freunde," sagte Laukhardt mit
mildem Lächeln, „das Dreckfahren ist nicht das
Schlimmste; Freund Leidenfrost hat recht, der Gras
schändet weniger mich, als vielmehr sich selbst, daß
er sich aus diese Weise rächt. Was ich vor 17 Jahren
in Ortenberg that, will ich überall verantworten;
das geschah für die reine lutherische Lehre; aber
was der Graf jetzt an mir thut, das kann er weder
vor Gott noch vor den Menschen verantworten!"
179
Es mußte geschieden sein, denn der Aufseher
mahnte Laukhardt an die Arbeit zu gehen.
Tie Freunde nahmen Abschied; jedoch nicht, ehe
sie dem Gefängnisaufseher, der ein treuherziger
Mann zu seiu schien, eine Summe Geldes gegeben
hatten, wofür dieser versprach, den Gefangenen
besser zu verpflegen. Außerdem gab sein Schwieger-
sohn ihm Mütze und Halstuch und kaufte sich vor-
der Rückreise diese Gegenstände in Hanau neu. —
Das war ein trauriger Heimweg, ein trauriger
Einzug in Hirzenhain! Wer beschreibt das Ent-
setzen der Pfarrsrau, als sie bei den Zurückkehrenden
ihren Mann nicht sah? „War er tot? Großer
Gott, alles, nur das nicht! Wenn er aber lebte,
warum war er nicht mitgekommen?"
Kaum hatte Leidensrost begonnen, mit schonenden
Worten den Mißerfolg zu berichten, da brach die
Pfarrsrau, wie vom Blitz getroffen, zusammen. Sie
mußte zu Bett gebracht werden und schwebte wochen-
lang zwischen Leben und Tod; die meiste Zeit
war sie bewußtlos in Fieberträumen, und nur selten
befand sie sich für kurze Zeit bei klarem Verstände.
Es war herzzerreißend, das Jammern und Klagen
der armen Frau mit anzuhören, der wohl ein
jeder Hülse bringen wollte, aber keiner Hülse bringen
konnte.
Der arnlen Kindlein nahmen nütleidige Seelen
aus der Nachbarschaft sich an; denn die Mutter
stieß im Fieberwahn jeden von sich, da sie in allen
Menschen, die ihr nahe kamen, die Feinde und Ver-
folger ihres Mannes zu erblicken glaubte.
Am 4. März endlich genas sie eines Töchterleins,
und von der Stunde der Geburt an ward es besser
mit ihr; die Tobsucht der Verzweiflung wich und
machte einer stillen, thränenreichen Schwermut Platz.
Ihre Freude über die Geburt des Kindleins war
groß, und doch war es bloß eine halbe Freude,
denn der Vater konnte es nicht taufen; er konnte
nicht wie früher mit ihr zusammen Gott danken, —
er war ja gefangen und mußte schändlichen Knechtes-
dienst verrichten.
Pfarrer Leidensrost kam am 18. März von Orten-
berg herüber und taufte das Kindlein, das die Namen
Katharine Wilhelmine erhielt.
Nach der heiligen Taushandlung saß die Pfarr-
srau am offenen Fenster, an dem die ersten
Frühlingslüste hereinströmteu und ließ die gefalteten
Hände im Schoß ruhen, während sie aufmerksam
den Worten Leidensrosts lauschte, der ihr Trost zu-
zureden versuchte.
„Seht dies Kindlein, das Euch Gott geschenkt
hat, an als ein teures Unterpfand der göttlichen
Gnade; Gott hat Euch doch nicht ganz verlassen,
deshalb verzweifelt nicht; schenkte er Euch ein Kindlein,
so schenkt er auch dem Kindlein seinen Vater wieder.
Wartet nur getrost ab, was unser allergnädigster
Graf thun wird!"
„Unser allergnädigster Gras?" fragte die Pfarr-
srau erstaunt, „wird er denn noch etwas thun?"
„Ei gewiß", antwortete Leidenfrost, „wißt Ihr
denn das noch nicht? wir haben stracks, als wir von
Hanau zurückkehrten, wieder einen Boten mit Briefen
nach Stolberg geschickt, haben alles berichtet, was
der Graf von Hanau gesagt und gethan hat, und
haben um weitere Hülfe gebeten; wegen Eurer
Krankheit haben wir es Euch noch gar nicht mit-
teilen können."
„Ist denn der Bote noch nicht zurück?" fragte
die Psarrsrau erregt; „es siud doch schon wieder
Wochen seitdem ins Land gegangen, Wochen der
Schande für meinen lieben Mann, Wochen des
Elends für mich und meine Kinder."
„Er ist noch nicht zurück," gab Leidenfrost zu,
„vielleicht ist der Gras noch in Wien oder sonstwo,
aber der Bote reist ihm wieder nach; die Gemeinde
hat abermals 150 Gulden beigesteuert zu den Reise-
kosten."
„Gott lohicks den guten Leuten, aber es ist doch
alles vergebens", seufzte die arme Frau imb ließ
das Haupt mutlos auf die Brust sinken. — —
Der Bote kam zurück, aber seine Botschaft war
keine erfreuliche. Der Graf war lebensgefährlich
krank und durste nach Aussage der Ärzte nicht
erregt werden. Wohl hatte der Bote sich vierzehn
Tage gesäumt, aber es war keine Besserung ein-
getreten; und nachdem er dem gräflichen Hofkammer-
rat alles aufs genaueste erzählt, auch das Schreiben
übergeben und dessen Versprechen möglichst baldiger
Hülfe erlangt hatte, war er wieder heimgereist.
Wie die kaum genesene Psarrsrau diese neue
Hiobsbotschaft aufnahm, ist leicht zu denken. Der
Schlag traf sie zu hart; jetzt war alle Aussicht
aus Rettung, alle Hoffnung vernichtet, sie verfiel
stundenlang in dumpfes Hinbrüten, aus dem sie
bloß durch ihre Mutterpflichten zu erwecken war.
Die kleine Katharine Wilhelmine hätte aber eigentlich
der Mutter doppelt so sehr bedurft, als die älteren
Kinder; sie war von Geburt an schwächlich, klein
und kränklich, hatte dabei aber so wunderbar große
und ernste Augen, als wenn der Verstand eines
Erwachsenen in diesem unscheinbaren Kindeskvrper
wohnte. —
Was die Psarrsrau nicht wußte und nicht ahnen
konnte, das trat wirklich ein; der Gras von Stol-
berg war schneller genesen, als zu hoffen gewesen
war; sein Hofkammerrat hatte auch Wort gehalten
und seinem Herrn alsbald die von Pfarrer Leiden-
srost übersandte Bittschrift überreicht.
Der Graf nahm sich vor, seinem treuen Pfarrer
Laukhardt zu Helsen; er sah es gewissermaßen als eine
180
Dankespflicht gegen Gott an, wenn er jetzt etwas
Gutes that. „Gott hat mich ans tätlicher Krankheit
wunderbar errettet," sagte er zu seinem Hofkammer-
rat; „er hätte mich auch können abrufen aus dieser
Welt; deshalb will ich zum Dank die erste Bitte,
die an mich herantritt, erfüllen; und ich thue cs
um so lieber, als es meinen treuen Laukhardt be-
trifft, der es jetzt so schwer büßen muß, daß er
einst so mannhaft für die Sache seines irdischen
und himmlischen Herrn gestritten hat.
Laßt gleich das Dekretum an den Grafen von
Hanau aussetzen," fuhr er nach einer kurzen Pause
fort, „daß wir die Bürgschaftsschuld unsres Pfarrers
Laukhardt für unsre eigne ansehen, und sie am —
nun sagen wir am 15. August begleichen werden;
der Pfarrer soll alsbald in Freiheit gesetzt werden!
Legt mir das Dekretum morgen zur Unterschrift
vor!"
„Ganz wohl, gnädiger Herr," erwiderte der Hof-
kammerrat, „aber ist diese Summe nicht etwas zu
groß, um sie zu verschenken?"
Der Gras lächelte; behaglich legte er sich im
weichen Lehnstuhl zurück und zog die warme Decke
höher über die Kniee herauf: „Lieber Herr Kammer-
rat. ich bin froh, daß ich es noch verschenken kann;
wenn ich nun gestorben wäre?"
„Ganz wohl, gnädiger Herr," sagte der Hos-
kammerrat zum zweiten Male.
Die Verhandlungen zwischen Stvlberg und Hanau
nahmen natürlich bei den damaligen schlechten Ber-
kehrsverhältnissen längere Zeit in Anspruch. Es
ward Sommer darüber. Im Juli hörte auch der
Amtmann Radefeld zu Selters von Hanau her die
Kunde, daß der gefangene Pfarrer Laukhardt durch
die Vermittlung des Stolberger Grasen in der
ersten Zeit wieder frei werden würde.
Rudefeld hätte eigentlich an seinem ersten Buben-
streich genug haben können, dreiviertel Jahre hatte
sein treulos verratener Freund im Gefängnis zu-
bringen müssen; dreiviertel Jahre lang hatte er
Kummer und Herzeleid ans die arme Psarrfrau
und die unschuldigen Kinder gehäuft. Aber das
genügte ihm noch nicht.
Daß Laukhardt, der bedeutend ältere Mann, die
Frau heimgeführt, die auch auf sein Herz Eindruck
gemacht hatte, das wurmte ihn noch heute, und
daß seine Patenschaft abgelehnt worden war, das
ärgerte ihn fast ebenso sehr. Und nun? Wenn
Laukhardt jetzt heimkam, dann war ja alles Leid
und aller Kummer zu Ende, dann würde eitel
Freude und Frohlocken im Pfarrhaus einkehren —
da wollte er der einsamen Psarrfrau vorher noch
einen tüchtigen Schrecken ins Herz jagen. — —
Aus dem Vogelsberg und ans der Wetterau gingen
allwöchentlich Leute zum Frankfurter Markt mit
Eiern, Butter und Käse. Von Hirzenhain kamen
auch zwei, die „Sanne" (Susanne) und die „Rine"
(Katharine). Es waren dies zwei Weiber, die an
Bosheit, Verlogenheit und Betrügerei ihres, gleichen
suchten, und von denen jede im Rufe stand, daß
sie für ein Sechskreuzerstück einen Meineid schwor.
Da sie immer durch Selters durchkamen, ließ
Nadcseld sie zu sich kommen, und hatte eine längere
geheime Unterredung mit ihnen. Beim Abschied
erhielt jede von ihnen einen österreichischen Gulden,
und beide versicherten wiederholt, da es sich ja
bloß um einen unschuldigen Spaß handle, wollten
sie dem gnädigen Herrn seinen Willen gern er-
füllen. Am nächsten Tage, es war am 25. Juli 1729,
kamen in der Abenddämmerung diese beiden heim-
tückischen Personen mit scheinheiligen Gesichtern ins
Pfarrhaus. Tie Psarrfrau war so gewohnt an
Besuche aus der Gemeinde, daß es ihr gar nicht
aliffiel, diese beiden übelbeleumdeten Personen auch
einmal zu sehen.
Tie „Rine" begann, und die „Sanne" stimmte
bei. Sie redeten ein langes und ein breites über
die Güte des Pfarrers und die Schlechtigkeit seiner
Feinde, über das Elend, das die arme Frau Pfarrer
lind die unschuldigen Kinder tragen müßten, und
über die Aussichtslosigkeit aller Befreiungsversnche.
Jedes ihrer Worte traf das Herz der armen Pfarr-
fran wie Radelstiche.
Dann setzte die Sanne allem Gerede den Trumps
auf und sagte: „Und ja, Frau Psarrerin, wes-
wegen wir eigentlich kommen: gestern haben wir
nllf dem Wege gehört, daß, wenn die vieleil tausend
Gulden nicht bis zum letzten Juli bezahlt sind,
daß dann die Hanauer kommen wollen, und wollen
die Frau Psarrerin mit den Kindern holen und
nach Hanau bringen. Tie Kinder werden dort ins
Armenhaus gesteckt, und die Frau Pfarrerin wird
mit ihrem Manne in den Dreckkarren gespannt und
mllß helfen, den Gassendreck aus der Stadt zu
fahren."
Die Psarrfrau wurde bleich bis in die Lippen;
das Herz krumpfte sich ihr zusammen. „Auch das
noch", sagte sic und verließ schwankenden Schrittes
das Zimmer, um zu ihren Kindern in die Kammer
zu gehen.
Tie beiden Besucherinnen schlichen still davon,
es war ihnen nicht ganz wohl ums Herz. „Es thut
mir doch um die arme Frau leid," unterbrach die
Rine das Schweigen, „hast Du gesehen, wie sie
erschrocken ist? das wliß ich sagen, der Radefeld ist
ein großer Schuft, so groß, wie es einen in der
Welt gibt."
„Ach was," lachte die Sanne, „der Schrecken
ist bald überwunden, und die Hauptsache ist, wir
haben unsern Gulden!"
181
„Ich wollte, wir hätten keinen", sagte die Rine
beim Abschied, denn ihr schlag das Gewissen.
Von dieser Stunde an war Frau Pfarrer Lank-
Hardt eine verlorene Frau; lange hatte sie regungslos
in der Kammer gestanden und vor sich hin gestarrt,
unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, es war,
als sei ihr Geist gelähmt. „Alles verloren, alles!
keine Aussicht auf Rettung! Und die Kinder, die
armen Kinder!" Ihr Verstand schien zerrüttet zu
sein durch die Schreckenskunde, daß auch ihre Kinder
ihr geraubt werden sollten.
Es kam ihr gar nicht in den Sinn, es sei
unwahrscheinlich, ja unmöglich, daß die Hanauer
in das stolbergische Gebiet einfallen und sie samt
den Kindern fortführen würden, — der Schrecken
hatte ihr alle klare Besinnung geraubt. Kaum daß
sie noch für ihre Kindlein sorgte; in dumpfes Brüten
versunken saß sie tagsüber da, und nur mit Mühe
ließ sie sich von der treuen Magd bewegen, abends
ihr Lager aufzusuchen. Dieser Zustand dauerte
mehrere Tage, während welcher auch, wie durch ein
Verhängnis, keiner der drei Freunde das Psarrhans
aussuchte.
Am Freitag vor Jakobi — am 29. Juli 1729 —
früh morgens stand die Psarrfrau ans, nahm ihr
kleines Schmerzenskindlein noch einmal an die Brust,
küßte die drei älteren, die friedlich schlummerten, zum
letztenmale, und kleidete sich, nachdem sie etwa eine
halbe Stunde lang im Gebet auf den Knieen mit
die Kammer, die nach dem Weiher zu liegt, und
erhängte sich mit ihrem Halstuch.
Als die Magd herzukam, war sie bereits kalt
und starr.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde vom
Selbstmord der Psarrfrau unb war schon zwei
Stunden später in Ortenberg bekannt.
Die Hanauer hatten ihren Anteil an der Orten-
berger Gerichtsbarkeit an die Roßlaer Herrschaft
abgetreten, und ebenso wie früher zwischen Hanau
und Stolberg, so fanden jetzt zwischen Stolberg und
Roßla Reibereien und Streitigkeiten statt.
Der Selbstmord der Hirzenhainer Psarrfrau bot
den Roßlaern die schönste Gelegenheit, den Stol-
bergern einen rechten Tort anzuthun. Der roß-
laische Rat Philipp Rudrauf machte sich alsbald
mit zwei Soldaten ans und zog nach Hirzenhain.
Tie beiden Soldaten bewachten die Thüre des Pfarr-
hauses ; in Eile ward aus rohen Brettern ein Kasten
zusammengeschlagen, die Leiche mit all ihren Kleidern,
wie sie gehangen hatte, hineingelegt und am selben
Abend ohne Sang und Klang im Grasgarten
hinter der Kirche unter dem großen Hollunderbaum
in die Erde begraben. —
Das jüngste Kindlein, das Trübsal und Herze-
leid mit der Muttermilch eingesogen hatte, starb
wenig Tage darnach; am 3. August ward es in
der Stille bestattet. Jetzt waren die drei älteren
Kinder allein mit der Magd in dem großen Hanse,
und es war still geworden darin, sehr still. —
Gott gerungen hatte, sauber an; dann ging sie in
(Schluß folgt.)
Oer Schorsche ) utz Beödenhusen^ in Kassel vorin Schaufenster.
(Kasseler Mundart.)
Wie äß 's") doch scheene iugerichdst:
Schaufenster midd'n Späjelst!
Me") will doch au uidd, wie me sprichd.
Sv ußsehn wie en Flejel.
De fcheenen Burschen wachsen doch
Nidd uff den Quädscheubeimen"'?
Un Mäderchen'st giwwed's viele noch
In Kassel un derheimeu'st!
Wie hodd d'r Stormwind mich zerrobbdst!
De Höre") im Gesichde!
Nu wird d'r Staub erschd abgeklvbbd,
Daun machd sich de Geschichde.
Der Schnurrwixst orrendlich'st gedrehd.
D's Duch erschd frisch gekuibbed").
Wie's vor en Bursche sich verstehd.
Dem's Herz im Leiwe hibbed.
Was hadd's doch vor en forschen") Schah.
Min scheenes Auuelißcheu'st!
Daß emme'st keines gennd den Bläh.
Ate glaubd's, du liewes bischen.
Kassel.
Nä. Lißchen, nä, ich dhu Dich frein,
Wenn au de annera flennen;
Diß Späjelbildnis äß nuhrd Dein,
Uns soll kein Mensch nidd trennen.
Was fünften usserm'st Spüjel noch
Im Fenster hie äß lose?
Mä'st äß 's glichest, stolz wanu'r ich doch
Heun dorch de Kenigstroße!
') George; st Bettenhausen (bei Kassel); st ist's; st ein-
gerichtet; st nut einem Spiegel; st man; st zerrupft;
st Haare; st Schnurrbart; 'st ordentlich; ") geknüpft;
I 'st stramm; 'st Anna Liese;'st ihm; 'st Zwetscheubüumen;
I 'st Mädchen; 'st daheim; 'st außer dem; 'st mir.
Agathe Koppen.
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182
Aus alter und neuer Zeit
Jubiläum der e r st e u h e s s i s ch e u Tha l er.
Vierhundert Jahre sind verflossen, da der Staat
Hessen unter der Regierung des Landgrafen Wil-
helm II. im Jahre 1502 die ersten reichsmäßigen
Thaler, damals Guldengroschen genannt, schlagen
ließ. Diese Thatsache ist wohl der Erwähnung
wert. Bor dieser Zeit gab es in Hessen keine
größeren Silbermünzen, da bisher nur Groschen
(Grösst), Albus und Silberheller geprägt worden
waren. Wenn auch in alten Münzwerken große
Silberstücke erwähnt werden, wie in denen von
Madai, von Schwarzenau und Hoffmeister,
so sind diese doch meist zweifelhaft oder mehr als
Schaustücke zu betrachten. Durch die Entdeckung
Amerikas strömten große Massen peruanischen
Silbers in alle Länder Europas, wodurch im
Münzweseu ein großer Umschwung, auch in Hessen,
verursacht wurde, und man ist wohl zu der An-
nahme berechtigt, daß diese ersten Thaler aus
peruanischem Silber geprägt sind.
Die Stücke zeigen aus der Vorderseite den ge-
krönten hessischen Löwen in einem Wappenschild,
von einer zierlichen perlartigen Einfassung umgeben,
und die Umschrift: „WILUELNV8 : I) : 6 : LANT-
GRAVIVS: HASSIE auf der Rückseite befindet
sich in ganzer stehender Figur die heilige Elisabeth
mit Glorienschein, das Modell der Marburger
Kirche in den Händen haltend, und die Umschrift:
„GLORIA : REI PVBLICE : 1502
Die Thaler wiegen das Stück 2 Lot oder
20,2 Gramm, enthalten 14^/glötiges Silber, und
es gehen 9 Stück aus die seine Mark kölnisch.
Die Herstellung derselben erweist sich bei Vergleichung
mehrerer Stücke als eine noch sehr mangelhafte. Bald
ist die Silberplatte dünn und mißt 30 Millimeter
im Durchmesser, bald ist sie stärker und enthält
nur 37 */2 Millimeter. Auch die Bearbeitung des
Randes ist noch eine sehr ungleiche.
Beachtenswert sind die Fehler in den lateinischen
Inschriften, wie HASSIE statt HA8SIAE und
REI PVBLICE für REI PVBLICAE, auch kommen
Stücke vor, wie ich selbst solche besitze, wo für
WILHELMVS — WILHEMVS steht. Jakob
Hoffmeister erklärt in seinem vorzüglichen Werke
vaterländischer Münzen diese Fehler dadurch, daß
in damaliger Zeit die Stempelschneider wissenschaft-
lich ungebildete Leute handwerksmäßiger Art gewesen
seien, welche meist so schnitten, wie sie sprachen,
wie man auch heute noch im gewöhnlichen Leben
Wilhem und Willem sprechen hört. Diese Ansicht
steht jedoch mit nachfolgender Urkunde in Wider-
spruch. welche Hoffmeister unbekannt war und in
welcher die Inschriften ebenso angegeben sind. Diese
Urkunde, welche für den hessischen Münzsammler
hoch interessant ist, veröffentlichte zuerst Herr
Dr. Buchenau in seiner vortrefflichen „Zeitschrift
für Münzkunde" Heft 8/9, 1901. Bisher hatte
sich nirgends eine archivalische Nachricht über die
Münzprägungen des Jahres 1502 ermitteln lassen,
bis vor einiger Zeit eine solche im Marburger
Archiv befindliche durch Herrn Archivar Dr. Küch
zugänglich gemacht wurde. Dieselbe befindet sich
aus einem losen Folioblatt ohne Datum und ent-
hält die Anweisung, welche Silbermünzen im Jahre
1502 geschlagen werden sollen:
„Item stucke uff einen gülden sal gezeichent sein
uff einer sehten mit Sanct Elizabethenbilde, uff
der andern syten der hessisch lewe.
Ta Sant Elisabeth stehet sal die Umbschrifst
sin: Gloria rei publieo.
Uff der andern da der lewe stehet, sal die Umb-
schrisft sin, Wilhelm Lantgravi Hassie.
Item auch vier uff einen guld, mit der umb-
schrift und verzeichenunge.
Item auch wispennige XXVII uff eineu gülden
mit der umbschrift und zeichn'.
Item Heller XII uff einen wispennig, daruff sal
sin Sant Elsebethen Heubt flach also das die Heller
nit hoel werden."
Auch Rommel muß, wie aus seiner „Geschichte
von Hessen", Band 3, Anmerkung 86, ersichtlich,
vorstehende Urkunde unbekannt gewesen sein.
Die Thaler des Jahres 1502 gehören heute mit
zu den guten und seltenen hessischen Stücken und haben
einen Liebhaberwert bis zu 150 Mark das Stück.
Die nächstfolgenden Prägungen hessischer Kurant-
thaler beginnen erst wieder im Jahre 1537 unter
Philipp dem Großmütigen und endigen für die
Kasselsche Linie mit dem Jahre 1865.
Theodor Meyer.
----------------------------
Aus Heimat und Fremde
Universitätsnachricht. Generalsuperintendent,
Oberhofprediger Lohr und Pfarrer Lio. theol.
Sardemann in Kassel sind von der theologischen
Fakultät der Universität Marburg zu Ehrendoktoren
ernannt worden, letzterer anläßlich der Feier seiner
25 jährigen Thätigkeit als Hausgeistlicher des Hessi-
schen Diakonisseuhauses.
183
H esst s cher Ges chichtsverei n. Der hessische
Geschichtsverein zu Kassel unternahm am 19.Juni
bei herrlichem Wetter unter zahlreicher Beteiligung
von Damen und Herren einen Ausflug, der juerft
nach Ehringen im Erpethale führte, wo der Vor-
sitzende des Vereins, Herr General Eisen traut,
einen eingehenden Vortrag über die früher dort
befindliche Burg hielt, bezüglich deren Zerstörung
die geschichtlichen Nachrichten erheblich auseinander-
gehen. Ferner wurden Ausgrabungen an der Stelle
vorgenommen, wo die vom Erdboden verschwundene
Stadt Landsberg gestanden hatte. Nachdem einer
freundlichen Einladung des Herrn Baron von der
M alsb urg nach Elmarshausen Folge geleistet worden
war, fand der wohlgelungene, sehr interessante
Ausflug seinen Abschluß in Wolfhagen, von wo
nach einem durch zahlreiche Trinksprüche belebten
Abendessen die Rückreise erfolgte.
Jubiläum. Am 23. Juni beging Bürger-
meister von Lorentz in Witzenhausen unter großen
Ehrungen seitens der Behörden und der Einwohner-
schaft sein 2'»jähriges Amtsjubiläum.
Todesfälle. Am 13. Juni starb zu Wien der
Hofopernsänger Ferd. Jäger. Er war in Kassel am
25. Dezember 1838 geboren, hatte sich zuerst dem
Kausmaunsstande gewidmet und sich dann, da er mit
einer schönen Tenorstimme begabt war, für die Bühne
ausgebildet. Von hoher, mächtiger Figur war er
für Heldenpartien wie geschaffen und zog bald die
Aufmerksamkeit des damaligen General-Intendanten
von Hülsen in Berlin ans sich. Dieser engagierte
ihn 1867 für die Berliner Hofoper, ließ ihn aber
zunächst ein Jahr am Königlichen Theater in Kassel
wirken, damit er größere Bühnenroutine erlangte.
Später war Jäger in Köln, Hamburg und Stutt-
gart engagiert. Als eine echte Reckengestalt ver-
anlaßte ihn Richard Wagner nach Bayreuth zu
kommen, um dort den „Siegfried" zu singen. So-
dann erhielt er einen Ruf an die Wiener Hofoper.
In ihm ist ein bedeutender Wagner-Sänger dahin-
geschieden. Vermählt war er mit der Koloratur-
sängerin Aurelic Wlczek, die er in seinem
Kasseler Engagement kennen gelernt hatte. Frau
Jäger-Wlczeck lebt als Gesangslehrerin in Wien.
Am 23. Juni starb in Kassel hochbetagt Fräulein
Sidonie Turba, als Sängerin und Schauspielerin
bis vor zwei Jahren ein gefeiertes Mitglied der
dortigen Königlichen Bühne, welcher sie seit 1867
angehört hatte.
Hessisches aus dem N. G. Elwertschen
Verlag in Marburg. Wie bereits im letzten
Heft des vorigen Jahrgangs angekündigt, sind im
Verlag der N. G. Elwertscheu Verlagsbuchhandlung
in Marburg Wilhelm Dilichs „Ansichten
hessischer Städte vom Jahre 1591 nach den
Federzeichnungen seiner Handschrift: Synopsis de-
scriptionis totius Hassiae im Königl. Staatsarchiv
zu Marburg" erschienen. Da die Veröffentlichung
einer ausführlichen Besprechung bisher noch nicht
möglich war (eine solche soll baldigst erfolgen),
möchten wir alle Geschichts- und Altertumsfreunde
aus dieses interessante Werk, das ihnen sicher eine
willkommene Gabe sein wird, hierdurch nochmals
hinweisen. Die 47 aus 27 Tafeln befindlichen
Abbildungen stellen u. a. folgende Städte dar:
Mendorf a. d. L., Allendors a. d. W., Alsfeld,
Biedenkopf, Darmstadt, Eschwege, Felsberg, Franken-
berg, Gemünden, Gießen, St. Goar, Grebenstein.
Grünberg, Gudensberg, Helmarshausen, Hersfeld.
Hofgeismar, Homberg a. d. Ohm, Homburg, Jmmen-
hausen, Kassel, Kirchhain, Marburg. Melsungen,
Neukirchen, Nidda, Niedenstein, Rotenburg a. d. F.,
Schmalkalden, Schotten, Sontra, Spangenberg,
Trendelburg, Treysa, Ulrichstein, Waldkappel, Wetter,
Witzenhausen, Wolshagen, Ziegenhain, Zierenberg. —
In Mappe betrügt der Preis des vollständigen
Werkes 20 'Mark, jedoch ist die Verlagshandlung
bereit, die Blätter auch einzeln abzugeben, wobei
der Preis für das Blatt sich etwas höher stellen
würde, als bei dem Gesamtbezug.
Der überaus thätige Elwertsche Verlag wird
demnächst auch einen echten Heimatsroman aus
Oberhessen darbieten, dessen Verfasser unser Mit-
arbeiter Valentin Traudt ist. Der Titel lautet:
„Leute vom Burgwald", Erzählung aus dem
oberhessischen Volksleben. Ansprechenden Buchschmuck
hat der ans diesem Gebiet schon rühmlich bekannte
Maler U b b e l o h d e dazu entworfen. Ferner werden
noch vor dem Traudt'schen Werke „Leutnants-
Erinnerungen eines alten Kurhessen",
halbvergessene Geschichten aus den 30 er und 40 er
Jahren des 19. Jahrhunderts, herausgegeben von
B. S. Coester, daselbst in Buchform erscheinen.
-------■=»••«>-----
Hessische Bücherschau.
I ni m o r t e l l e n. Dresden und Leipzig (E. Piersons
Verlag) 1902.
Es ist nicht recht einzusehen, warum das Buch anonym
erschien. Dem bnchhändlerischen Absatz ist das nie förderlich.
denn das liebe Publikum geht in den meisten Fällen an
litterarischen Erscheinungen, deren Verfasser es nicht kennt,
ziemlich teilnahmslos vorüber, besonders wenn sich's, wie
hier, um Gedichte handelt. Die dem Band beigegebene
„Empfehlung" des Verlages redet von einer Verfasserin.
184
und die Widmung — „Meinem Sohne zur Erinnerung
an seine Mutter" — ließe das immerhin möglich er-
scheinen, nicht aber der Inhalt. Es sind die Lieder eines
Witwers, der um seine früh gestorbene Gattin trauert.
Ein Menschenleben, reich an äußeren und inneren Erleb-
nissen. zieht an uns vorüber, Heimatklänge („Marburg")
und Lieder aus den sonnenverbrannten Küstensäumen Süd-
amerikas. Sie füllen einen Band von 152 Seiten. Als
Gabe der Pietät hat jedes Blatt darin seinen Wert; hier
aber, wo ein größerer Leserkreis zum Mitgenuß eingeladen
wird, wäre die „Kunst, zu streichen" mehr am Platze
gewesen. Metrisch dürfen wir eine größere Strenge er-
warten; besonders wirkt es immer schwerfällig, wenn, statt
zu accentuieren, immer nur die Silben gezählt werden.
Die Gedichte der Frühzeit vermögen an sich unbedeutenden
Ereignissen keinen höheren Gehalt zu geben, und dieser
Mangel wird durch die meist gewählte Form der Sonette
erst recht fühlbar. Oft sind solche harmlosen Apostro-
phierungen nur in Reime gesetzt, die nicht immer einwand-
frei sind (froh war — Gomorrha u. ä.). Ter Zyklus
„Verlobt" ist gefällig, aber etwas gar zu hausbacken.
Wenn der Dichter in den Klageliedern um den Verlust
seines Weibes eigentlich immer nur auf einer Saite
spielt, so kommen doch Töne voll tragischer Leidenschaft
heraus. Auch weiß er bei der Schilderung der Tropen
sehr gut die objektive Natur mit subjektiven Empfindungen
zu durchtränken. Zu den besten zählen wir die Lieder,
in denen der Verfasser mit dem Auge des wirklichen
Poeten auf die Tage der Kindheit zurückblickt, in denen
er in romantischer Empfindsamkeit der Mutter Gottes
seinen schwärmerischen Minnedienst widmet; hier heben
wir besonders das Gedicht „Im Kreuzgang" (S. 125)
heraus. — Wenn wir also im einzelnen manche Schön-
heit nicht verkennen, so meinen wir doch im ganzen auch
bei diesem Buch: weniger wäre mehr gewesen.
_____________ ¿jfibesüad).
Bock, Alfred. Kinder des Volkes. Roman.
145 S. Berlin (Verlag von F. Fontane & Co.)
1902. Preis Mk. 2.-, geb. Mk. 3.—.
Da noch im Laufe dieses Jahers eine ausführliche
Würdigung Alfred Bocks aus meiner Feder an dieser Stelle
erscheinen wird, beschränke ich mich heute darauf, das oben-
genannte Buch kurz anzuzeigen. Es ist wieder ein Roman
ans Hessen. inhaltreich und psychologisch aufs beste ent-
wickelt. Bock hat auch mit diesem Werke wieder bewiesen,
daß er zum Schilderer seiner Landsleute wie kaum ein
anderer berufen, und so kann ich denn die Lektüre des
Buches mit gutem Gewissen warm empfehlen.
Äkerander Bürger.
Ferner zur Besprechung eingegangene Bücher:
Urkundenbnch des Klosters Kaufungen in
H esse n. Im Aufträge des historischen Vereins der
Diözese Fulda bearbeitet und herausgegeben von
Hermann von Roques, Major a. D. 11. Band.
Kassel (Kommissionsverlag von M. Siering) 1902.
Chronik von S ta d t und Fest uu g Spangenberg.
Bearbeitet von Wilhelm S i e b a l d. Neu bearbeitet
und herausgegeben von Wilhelm Voigt. Marburg
(Oskar Ehrhardts Universitäts-Buchhandlung).
F a m i l i e n - S t a m m b u ch. Gießen (Emil Roth).
R o t h s Spezial karte von O b e r h e s s e n, Lahn-
thal re. 3. Ausl. Gießen (Emil Roth).
—^¿Im-
personalien.
Ernanntr Oberregierungsrat Carthans zu Kassel
zum Geheimen Finanzrat und Provinzialstenerdirektor für
die Provinz Posen; die Rechtskandidaten Bock. Ti mm er-
mann und Lorsch zu Referendaren.
Übertragen: dem Oberförster Oesterle die Ober-
försterstelle Sterbfritz.
Versetzt: Oberregierungsrat Bartikowski zu Magde-
burg in gleicher Eigenschaft an die Provinzialsteuerdirektion
zu Kassel; Lehrer Valentin Traudt von Rauschenberg
nach Rothenditmold.
Geboren: ein Sohn: Bauunternehmer Ludwig Lauck-
hardt und Frau. geb. Has (Kassel, 18. Juni); Land-
messer Werner und Frau Margarethe, geb. Vock-
rvdt (Kassel, 24. Juni); Fabrikbesitzer August
S ch u ch a r d t und Frau Else, geb. C r e d e (Kassel,
26. Juni); eine Tochter: Pastor Fr. Heber und Frau
Marie, geb. Achelis (Bautzen. 18. Juni); Professor
W a ch e n f e l d und Frau Mathilde, geb Renner
(Rostock i. M.. 24. Juni); Amtsgerichtssekretär H e l tz nnd
Frau Frieda, geb. Frank (Burghaun, 27. Juni);
Kaufmann Julius Zinn und Frau Margarethe,
geb. Herzog (Kassel. 28. Juni).
Gestorben: Konsul Schott, 26 Jahre alt (Mozam-
bique): Pfarrer Paul, 86 Jahre alt (Mardorf. 15. Juni);
ehemaliger Musikmeister im kurhessischen Jägerbataillon
Wilhelm Ulrich. 79 Jahre alt (Kassel, 17. Juni);
Frau Stadtkümmerer Karoline Siemon, 58 Jahre
alt (Melsungen, 17. Juni); Frau Pauline Taube-
Loose, 69 Jahre alt (Marburg. 18. Juni); Klempner-
meister Eduard Lorenz, 64 Jahre alt (Kassel.
18. Juni); Pfarrer em. Otto Garde, 67 Jahre alt
(Kassel, 21. Juni); Kaufmann Friedrich Neutze,
58 Jahre alt (Kassel, 21. Juni); Freiin Marie Wolfs
v o n G u d e n b e r g , 46 Jahre alt (Meimbressen, 23. Juni);
König!. Oberbergrat a. D. Julius des Coudres,
79 Jahre alt (Kassel. 26. Juni); verwitwete Frau
Fr. W i lhe l m i n e Pfei ffer, geb. Wagner, 79 Jahre
alt (Kassel. 26. Juni); Frau Gräfin Johanna von
Berlepsch, geb. K v ch, 73 Jahre alt (Hübenthal
bei Gertenbach. 27. Juni); Frau Betty Rudolph,
geb. K r ü g e r , Witwe des kurfürstlich hessischen
Lberfinauzkammer-Sekretärs, 81 Jahre alt (Kassel,
29. Juni).
Briefkasten.
Die Fortsetzungen der Aufsätze: „Hessen-Darmstadts
Abfall von Napoleon 1." und „Das deutsche Haus
in Marburg" mußten für die nächste Nummer ver-
schoben werden.
B. in Fulda. Mit Dank angenommen.
(4.- A. M. in München, d. F. in Zürich. Besten Dank
und landsmännischen Gruß.
.Hierzu eine Beilage der Berlagsbuchtzandlnng von Emil Rottz in Gießen.
Für die Redaktion verantwortlich: W. Ben necke in Kassel. Druck und Verlag von Fried r. Scheel. Kassel.
XVI. Jahrgang
Kassel. 16. Juli 1902.
M 14.
JSessenlUui/1
„Balt!" borniert bes Führers Koinmanbomovt;
lvie Mauern steht bie Kolonne. —
„Seht Ihr bas Flimmern am Malbsaum bort?
Mit Schwertern spielet bie Sonne!
französische Reiter, sie ziehen baher,
Schon seh' ich sie thalwärts jagen!
Karree gebilbet! Mir stehen zur Mehr! —
mit Gott — so wollen wir's wagen!" —
Hub schweigenb gehorcht bas Bataillon
Unb schließt bie eisernen Glieber. —
Horch, Rossegeftainpf unb Trompetenton
Hallt schon aus beut Malbe wieber. —
„Nun, Kiuber, zeigt, baß Ihr Hessen seib,
Noch gellen wir nichts verloren!
Legt an unb macht Euch zunt Schusse bereit -
Unb offen bas Auge, bie Vhren!" —
Da steht nun bas Häuflein mitten int felb,
Umstarrt von ben Tobesrohren,
Den finget' am Hahne ein jeber hält,
Als wär' schon bet feinb erkoren;
Lin Ungeheuer, voll Kampfesmut,
So harren bie Tapfren, bie Treuen —
3it lllinbem Gehorsam mit kaltem Blut
Mie tobesinutige Leuen.
A n s s r l.
Da naht es heran, bas wüste Gebraus,
Staubwolken wirbeln zunt Hintinel,
Sie kommen, sie jagen zum blutigen Strauß
Die feiitbe in buntem Gewintmel. —
Doch ruhig harren in stiller Wut
Die Greuabiere, bie treuen,
In blinbeut Gehorsam, mit kaltent Blut,
wie tobesinutige Leuen.
Jetzt halten sie an im rasenben Ritt;
Da packt sie Grausen, Entsetzen,
Die ersten reißen bie folgeuben mit, —
Nun bricht sich bas Jagen unb Hetzen;
Kehrt machen sie alle unb eilen bavon,
Umflattert von reichen Schabracken,
Unb bucken unb brücken sich, jeber schon
wähnt sicher ben Tob sich int Nacken.
In wilber flucht bie fränkische Brut! —
fern hüllt sie ein gelber Schleier. —
Noch harren bie Tapfren mit stolzent Mut
In lautloser Siegesfeier.
Daun tönt bas Koutmanbo: Gewehr in Ruh'!
Sie reihen zum Marsche sich wieber,
Unb weiter ziehen bem Malbe zu
In gleichem Schritte bie Glieber.
i». Mertekmann.
Oer Reformator Johann Sutel.
Bon L. Armbrust.
(Fortsetzung.)
Sütels Verdienst war um so größer, da seine
Stellung gleich im ersten Herbste durch den
Ausbruch einer Pest erschwert wurde. Er verstand
es aber, seine Gemeinde zu trösten und aufzu-
richten. So entstanden seine zwölf Predigten
vom armen Lazarus, die er Philipp Melanch-
thon zur Beurteilung vorlegte. Melanchthon lobte
die einfache und natürliche Darstellung, die
alle Künstelei verschmähte, und sorgte dafür,
daß die Predigten 1543 in Wittenberg gedruckt
wurden. Joachim ©reff, der Erzieher der Dessauer
Prinzen, verfaßte bald darauf eine dramatische
Darstellung der Lazarussage und benutzte dabei
auch Sntels zwölf Predigten.
In demselben Jahre 1543 erschien Sntels
Schweinfurter Kirchenordnung, ans Kosten
der Stadt in Nürnberg gedruckt. Sie steht ans
dem Boden des Augsburger Bekenntnisses. In
der Vorrede findet sich Sutel einerseits mit dem
Werkdienste der Katholiken ab, anderseits mit
den radikalen Schwarmgeistern, die alle Kultus-
ordnung und alle Zeremonien mit Füßen treten
wollten. Er suchte also eine Mittellinie auf;
seinem Wesen nach mußte dieselbe aber nach
der konservativen Seite neigen. Darum war
Johannes Lening mit der Kirchenordnung nicht
recht zufrieden. Er tadelte den Gebrauch der
Lichter und Meßgewänder sowie die Elevation
des Sakraments als bleibende Einrichtung; meinte
aber, die übrigen Bestimmungen entsprächen den
zeitlichen und örtlichen Verhältnissen.
Ein Jahrzehnt lang blieb Sntels Ordnung
die Richtschnur für die Schweinfurter Geistlichkeit.
Der Rat der Reichsstadt zeigte sich Sutel
gegenüber fortgesetzt von der freigebigsten Seite.
Er bezahlte die Göttinger Schulden und verzichtete
ans die Rückgabe der 50 Gulden. Im Sommer
1545 schloß Sutel einen endgültigen Bestallnngs-
vertrag mit dem Schweinfurter Rate. Viele
seiner Amtsgenossen konnten den Magister Johann
beneiden. Denn allein an barem Gelde wurden
ihm jährlich 200 Gulden zugesagt, obendrein
18 Eimer Wein, 10 Malter Korn, dieselbe Be-
hausung wie bisher und freies Holz vors Hans.
Bemerkenswert ist es, daß im Falle seines Todes
seiner Witwe freie Wohnung und eine jährliche
Pension versprochen ward.
Nur ein kurzes Jahr hindurch konnte sich der
wackere Prediger noch dieser reichen Besserung
seiner Lebensverhältnisse und dieses glänzenden
Ansehens erfreuen, da brach der Schmalkaldische
Krieg zwischen dem Kaiser und den protestantischen
Reichsständen aus. Daß Schweinfurt in Mit-
leidenschaft gezogen und Johann Sutel als Kirchen-
reformator schwerer Verfolgung ausgesetzt würde,
ließ sich voraussehen. Sutel bat daher seinen
Freund Lening, er möchte bei Philipp dem Groß-
mütigen seine Abberufung betreiben. Der Land-
graf. den der Melsunger Pfarrer in der Karthause
unter dem Heiligenberge aufsuchte, erlaubte dem
Magister Johann die Rückkehr nach Hessen und
ließ ihm die Pfarrei im niederhessischen Homberg
oder zu Allendorf an der Werra anbieten, von
denen jede 100 Gulden einbrächte (am 18. Juni
1546). Schon machte aber auch, nach Lenings
Angabe, die Stadt Northeim Anstrengungen, den
Schweinfurter Reformator, wenn auch nur zeit-
weise, in ihre Mauern zu ziehen. Die Wahl
war schwer, so schwer, daß der Vielnmworbene es
vorzog, einstweilen noch seinen Platz am Main-
user zu behalten.
Inzwischen nahm der Krieg seinen Verlauf
und wandte sich allmählich zu llugunsten der
Protestanten. Die Reichsstadt Schweinfnrt wurde
durch kaiserlichen Befehl genötigt, dem Landgrafen
Philipp am 4. Januar 1547 Amtmannschaft und
Schnhherrlichkeit zu kündigen. Schon vorher hatte
der hessische Amtmann Lorenz von Romrod die
Stadt verlassen, nun glaubte auch der hessische
Prediger den Wanderstab ergreifen zu müssen.
An demselben Tage, als die Absage der Reichs-
stadt au den Landgrafen abging, stellte der Gras
Poppo von Henueberg, als Gemahl der verwitweten
Herzogin Elisabeth von Kalenberg-Göttingen, dem
Magister Sutel einen Reisepaß nach Göttin gen
aus. Hier traf der Flüchtling am 8. Januar
ein und stellte sich dem Rate zur Verfügung,
in der Hoffnung, daß er auf Grund der früheren
Versprechungen baldigst angestellt würde. Weib
und Kinder hatte er einstweilen in Schweinfnrt
zurückgelassen. Valentin Wener, ein angesehener
Bürger, nahm sich der Familie an und versprach
sie nachzuschicken, sobald die Gefahren des Wassers
und Eises vorüber wären. Der Rat zu Schwein-
187
fürt sandte dann seinem verdienten Pfarrer das
Zeugnis nach (am 21. Januar 1547). Er rühmte
darin Sütels lautere Predigt und seinen und seiner
ehelichen Hausfrau ehrlichen, züchtigen lind guten
Wandel; willig glaubt man seiner Beteuerung, er
hätte ihn von Herzen gern zeitlebens bei sich behalten.
Der Rat der Stadt Göttingen verschrieb Sutel,
dessen Gattin und Töchtern ein freies Haus in
der Nähe des Panlinerklosters, der heutigen
Universitäts-Bibliothek. Aber Magister Johanns
Hoffnung ans Anstellung ging nicht in Erfüllung;
es war im Augenblicke keine Predigerstelle frei.
Er brauchte jedoch nicht lange müßig zu liegen.
Drei Städte, Eimbeck, Northeim und Allendvrs,
wetteiferten mit einander, ihn als Pfarrer zu
gewinnen. Sein alter Freund und „geliebter j
Landsmann" Jost Winther, nunmehr Super-
intendent in Rotenburg an der Fulda, hatte den
Allendorfern in landgräslichem Aufträge Sütels
Einführung versprochen. So hielt Johann es
für das beste, den Ruf nach der Werrastadt an-
zunehmen. Den Göttingern aber verhieß er feine
Rückkehr, sobald sie ihn nötig hätten. Trotzdem
wollten sie ihn nicht sofort losgeben. Aus Ver-
anlassung der Stadt Allendorf mußte Landgraf
Philipp erst den Göttinger Rat ersuchen, feinen
überzähligen Prediger ziehen zu lassen. Das war
am 5. April 1547.
Am Tage zuvor hatte Sutel ein harter Schicksals-
schlag getroffen. Im fernen Franken gab seine
Gattin ihrem 17. Kinde das Leben, starb aber
bei dieser Geburt.*) Ende Sutel wurde in der
Johanniskirche zu Schweinfurt begraben, „vor
dem Thürlein, wenn man in den Chor gehet,
zur linken Hand". Magister Cremer, einer der
beiden bisherigen Kapläne ihres Gatten, verfaßte
dw Inschrift auf dein Leichensteine. Zwei Jahr-
zehnte hatte sie ihrem Gatten zur Seite gestanden
als treue Genossin. Aber ob sie jemals tieferes
Verständnis für fein Wirken gehabt hat? Wenn
sie Erwähnung findet, so geschieht es stets bei
wirtschaftlichen Fragen. In Göttingen und Mel-
sungen war sie einmal (1543) in Vermögcns-
geschästen oder ähnlichen Familienangelegenheiten
selbständig thätig. Noch kurz vor ihrem Tode
ließ sie ihren Gatten durch Valentin Wener er-
mahnen, er möchte mit dem Hauskleinode sorgsam
umgehn; denn es wäre ihr nicht leicht geworden,
dasselbe zu erwerben. Von ihren vielen Kindern
waren nur mehrere Mädchen am Leben geblieben.
*) Beck, S. 137 und 13!J und Stein, S. 479 geben,
nach der Inschrift in der Johanniskirche zu Schweinfurt,
den 4. April 1547 als Gudeus Todestag an, T sch ackert,
S. 49, den 7. April. Ich nehme an, daß letzteres bloß
ein Druckfehler ist.
Sutel, dem in der Zwischenzeit anscheinend
seine alte Mutter den Haushalt führte, wurde
durch den Verlust der Gattin in große Be-
kümmernis versetzt. Er schrieb dies (vor dem
18. April) an Valentin Wener von Allendorf
aus, wo er jetzt fein Pfarramt angetreten hatte.
Um Pfingsten reisten seine Kinder von Schwein-
furt ab und gelangten glücklich bei ihrem Vater
an. Dadurch erwuchsen deni Pfarrer aber neue
Sorgen. Wie sollte er den Pflichten des Amtes
gerecht werden und zugleich die Kinder — noch
dazu Mädchen — gut erziehen? Der einzige
Ausweg schien ihm in einer baldigen Wiederver-
heiratnng zu liegen. Er richtete seine Blicke auf
Eva, die Tochter der Eheleute Johann und
Margaretha B a r t h o l v m e s.
Johann Bartholomes — so schreibt er sich
selbst, andere nennen ihn Bartvlomeus oder ähn-
lich — war landgräflicher Rentmeister in Sooden
bei Allendorf, wo Philipp der Großmütige wenige
Jahre vorher die Verwaltung der Salzwerke in
die Hand genommen hatte. Aller Wahrscheinlich-
keit nach traf Sutel in Bartholomes einen alten
Bekannten wieder. Denn bald nach der Einführung
der Reformation war dieser Vogt oder Verwalter
des aufgehobenen Klosters Breitenau im Unter-
amte 'Melsungen. Am 21. Dezember 1527 und
am 26. März und 12. Mai des nächsten Jahres
stellte er in solcher Eigenschaft Urkunden aus.
Dann kam er als Rentschreiber in die benachbarte
Stadt Melsungen. Am 25. März 1535 fertigte
und siegelte er dort, neben Bürgermeister und
Rat, einen Kaufbrief Johann Lenings, und im
vorhergehenden und folgenden Jahre sah er zu-
sammen mit demselben Lening die Melsnnger
Hospitalsrechnnngen nach. Nicht lange danach
wurde er als Rentmeister nach Allendorf versetzt,
wo er bereits im März 1539 urkundlich nach-
zuweisen ist. Er blieb aber zunächst noch Bürger
der Stadt Melsungen und kaufte als solcher einen
Garten vor deni Kasseler Thore daselbst und zwei
Jahre später (am 27. April 1541) ein anderes
Grundstück dicht daneben. Landgraf Philipp
übernahm später die beiden Gürten und baute
dort das neue Melsunger Schloß, das jetzt so
grau, steif und finster auf die heitere Umgebung
herabblickt. —
Mit der Tochter des Rentmeisters Bartholomes
also vermählte sich Sutel am 30. August 1547.
Der Rat von Schweinfurt verehrte ihm in dank-
barem Andenken an seine Verdienste einen silbernen
Becher zur Hochzeit.
Auch diese Gattin wurde beut Magister Johann
nach wenigen Jahren durch den Tod entrissen.
Ludolf, Justus und Philipp Sutel scheinen ihre
188
Söhne gewesen zu sein; von den letzteren beiden
steht das mit Sicherheit fest. Justus war 1584
Stadtsekretarius zu Northeim.*) Er brachte es
zu hohem Alter und bis zur Bürgermeisterwürde
iu seiner Vaterstadt. —
Allendorf blieb für den Magister Johann Sntel
nur eine Ubergangsstation. Sv sehr er sich bei
seinem Schweinfurter Freunde Wener. beklagt hatte,
daß die Göttinger ihn erst in ihre Stadt ge-
zogen und dann doch nicht angestellt hätten, so
schnell suchten ihn die „treulosen Sachsen" durch
die That zu widerlegen. Gegen den Pfarrer an der
Albanikirche zu Göttingen, Veit Pslngmacher,
wurde nämlich die schwere Anklage erhoben, er
hätte sich ein silbernes Kirchengerät**) angeeignet,
um seiner Frau daraus ein Paternoster machen
zu lassen. Ohne den Verlaus der Untersuchung
abzuwarten, faßte der Rat der Stadt den Ent-
schluß. Sutel das Pfarramt an der Albanikirche
zu verschaffen. Der Verklagte beteuerte seine
Unschuld, die Herzogin Elisabeth, damals Kirchen-
patronin an der Stelle ihres Sohnes erster Ehe,
war der Berufung Sütels nicht geneigt, der
Göttinger Superintendent Joachim Morl in
wirkte eifrig dagegen und warnte unsern Alleudorser
Geistlichen in mehreren Briefen (vom September
1548), einen Amtsbruder ungerechter Weise zu
verdrängen — alles half nichts, der Göttinger
Rat setzte seinen Willen durch. Schon im Hoch-
sommer verließ Sutel Allendorf, gerade einen
Tag vorher, ehe die hessische Regierung der dortigen
Gemeinde befahl, ihren Prediger nur mit des
Landgrafen und ihrer Bewilligung außer Landes
ziehen zu lassen (am 29. August 1548).*) Veit
Pflugmacher legte, seiner Ehre unbeschadet, sein
Amt nieder, und die Herzogin Elisabeth übertrug
es am 1. November 1548 Sutel.**) Sv war er
abermals in der Leinestadt, freilich nur als Pfarrer
und Untergebener des Superintendenten Mvrlin.
Es darf hier nicht verschwiegen werden, daß er
sich vorher in einem vertraulichen Briefe an den
Rat der Stadt sehr gehässig über Morlins Gegner-
schaft geäußert hatte (im Februar 1548). Es
scheint uns besser, diese unerquicklichen Schniäh-
worte hier nicht zu wiederholen. Wer weiß aber,
ob nicht einiges durchsickerte und so Sütels
Stellung in Göttingen von Anfang an verdarb? —
Man mag sonst über den streitbaren Morlin
urteilen, wie man will, aber in diesem Falle
war er mehr im Rechte als sein Allendorfer
Gegner. Daß jener, nachdem Sutel zwei seiner
Briefe unbeantwortet gelassen hatte, im dritten
eine deutlichere Sprache redete, ist menschlich zu
entschuldigen. Anderseits hat Magister Johann
mehrfach beteuert, daß er nach seiner Anstellung
in Güttingen dem Superintendenten alle Liebe
und Freundschaft erweisen würde; sollte dieser
aber aus seiner Feindschaft beharren, dann wäre
es besser, man brächte sie beide überhaupt nicht
zusammen.
*) F. H e r r m a n n, Das Interim, L>. 28, Anm. 3.
**) Aach Lubecus, 3314265u zum Jalire 1548 wurde
Sutel bei der Berufung darauf hingewiesen, daß er die
Einkünfte aus bcm Pfarrgute nur zu feinem und seiner
Haushaltung Nutzen und nicht anders verwenden dürfe,
folgt.)
*) Lubecus, Bl. 336 b.
**) Ein silbernes Büchslein nach Lubecus. Bl. 263b
zum Jahre 1547.
(Schluß
-----------------
Hefsen-Darinftaöts Abfall von Napoleon I
Von Dr. pliil. Berger in Gießen.
(Schluß.)
Teilnahme hessischer Truppen um llampfe gegen
Napoleon im Jahre 1814.
Wie man in allen deutschen Staaten eifrig
rüstete, um an dein Kampfe für die heilige Sache
teilzunehmen, so ging auch in Hessen-Darmstadt
die Ausrüstung schnell von statten.
Rach der Übereinkunft mit den Verbündeten
sollte Hessen 8000 Mann stellen. Im Januar-
en betrug die Stärke der großherzvglicheu
Truppen: 8266 Alaun.') Diese Stärke war
erzielt worden durch die Verwandlung der pro-
visorischen Bataillone in sechs stehende und durch
die Erhöhung der Stärke der Landwehrinfanterie.
Im Februar 1814 war der Bestand der hessischen
Truppen ans 10 061 Mann 2) gewachsen. Dies
war durch Errichtung zweier neuer Batailloile
und die Vermehrung des Freiwilligenkorps um
100 Manu erreicht worden. Zur Blockade von
Mainz wurden verwendet: 2633 Mann.
Die Erfolge Blüchers gegen Napoleon gaben dem
Großherzogtüm Hessen noch mehr Anlaß, die bereits
eingeleitete Mobilisierung und die bevorstehende
Absendung seines Truppenkorps zu beschleunigen.
') Darmstädter Archiv : Ober-Kriegs-Kollegial-Akten w. 1*-
ä) Ebenda.
189
Dem Jnspektionskommando der Leibgarde ging
am 1. Februar 1814 von der Generaladjutantur
im Aufträge des Großherzogs ein Schreiben ^) zu,
„wonach die zwei Garderegimenter, das Leibregiment
und die ins Feld bestimmte Batterie nächsten Sanis-
tag, also am 5., vollkommen marschbereit sein sollen,
so daß sie nach diesem Zeitpunkte jede Stunde von
hier ansbrechen können. . . . Damit die Bataillone
womöglich in einer Stärke von 644 Gemeinen
marschieren können, sind alle Rekruten, so nur
einigermaßen ausgebildet sind, mitzunehmen. . .
Die beiden Herrn Inspekteurs Follenius und
von Gall gehen mit den ausmarschierenden
sechs Bataillons". Die Bestimmung des Korps
war, in die Linie der österreichischen Armee ein-
zurücken und an den Operationen derselben teil-
zunehmen. Die am 11. Februar ausmarschie-
renden Truppen standen unter dem Befehle des
Prinzen Emil, der wieder dem Kommando des
Prinzen Philipp von Hessen-Homburg
untergeordnet war, während als kommandierender
General des ganzen Armeekorps der K r o n p r i nz
von Württemberg fungierte.
Das großherzoglich hessische Kontingent, das
durch srankfurtische und isenburgische Truppen noch
verstärkt wurde, bestand aus der 1. Gardeinspektion
(Gardöregiment und Gardefüsilierregiment), aus
der 2. Inspektion (Leibregiment) sowie aus der
Artillerie mit 8 Geschützen. Die hessische Abteilung,
insgesamt 5380Mann stark, bildete mit den Truppen
des österreichischen Feldmarschall-Leutnants Prinzen
Philipp von Hessen-Homburg die gegen den fran-
zösischen Feldmarschall Augereau operierende Süd-
armee. Am 28. Februar marschierte das Korps
über die Brücke von Basel, hatte zuerst den Auf-
trag, die Festung Besan^on zu berennen, wurde
aber bald in der Richtung Lyon dirigiert. Am
15. März stand die Avantgarde, die sich aus
hessen-homburgischen Husaren, dem Leibregiment
und einem österreichischen Infanterieregimente zu-
sammensetzte, unter dem Kommando des hessischen
Generalmajors von Gall zu Creche, während
die übrige Armee bei Ma^on lag.
Die Reservedivision unter dem Kommando des
Prinzen Emil bestand aus der hessischen Brigade
von 4 Bataillonen, aus einer österreichischen
Brigade von 5 Bataillonen Grenadiere sowie aus
einer hessischen und einer österreichischen Batterie.
Diese kombinierte Division kam am 17. März nach
Belleville und bezog am 19. Mürz bei Billefranche
Bivouac. Am 18. Mürz kam die Avantgarde
unter von Gall bei St. George ins Gefecht, bei
dem das großherzogliche Leibregiment 186 Mann
verlor. Am 20. Mürz wurde dasselbe Regiment
aus den Höhen von Lyon wieder mit dem Feinde
engagiert und verlor diesmal 2 Tote und 29
Verwundete. Am 21. März zog das ganze Korps
in Lyon ein, wo es bis zum 9. April verblieb,
um dann seinen Marsch weiter fortzusetzen.
Als die Nachricht von der Abdankung Napoleons
und dem geschlossenen Waffenstillstände eintraf,
zogen die Truppen am 13. April wieder nach
Lyon zurück, woselbst sie am 19. April eintrafen.
Während der Monate April und Mai kantonnierten
sie in der Umgebung von Lyon.
Am 29. März 1814 rückte eine zweite Ab-
teilung hessischer Truppen ins Feld. Am 24. März
war an den Oberstleutnant Kra sst, Kommandeur
des Regiments Prinz Emil, der Allerhöchste Be-
fehl^) ergangen, „daß die 2. Abteilung des zur
Armee der verbündeten Mächte bestimmten Trnppen-
korps den Marsch dahin antrete und sich mit
der unter dem Befehl Sr. Hoheit des Prinzen
Emil stehenden 1. Abteilung vereinige".
Die Kolonne sollte bestehen 1. aus dem Frei-
willigen Jägerkorps, 2. aus dem Regiment Prinz
Emil, 3. aus einer Abteilung Munitionswagen,
4. aus dem Personale des Feldhospitals und
einigen dazu gehörigen Wagen, 5. aus einem
Wagen mit 8oups portative (tragbarer Fleisch-
brühe mit Brotschnitten), einem Geschenk der
Großherzogin an das Truppenkorps. Diese zweite
Abteilung hessischer Truppen hatte eine Stärke von
2260 Mann, von denen 1660 Mann auf das
Regiment Prinz Emil und 600 Mann aus das
freiwillige Jägerkorps entfielen, so daß im ganzen
mit der ersten Abteilung vom Februar 7540 Mann
hessen-darmstädtischer Truppen ins Feld kamen.
Im Lande verblieben außer den 2633 Mann,
die zur Blockade von Mainz verwendet wurden,
noch 4—500 Mann Linientruppen.
Die zweite ins Feld rückende Kolonne sollte
möglichst ungeteilt bleiben und von Darmstadt
nach Basel marschieren. Nach einigen Rasttagen
daselbst sollte sich die Kolonne, falls nicht andere
Disposition da sein sollte, zu dem Armeekorps
des Prinzen Philipp von Hessen-Homburg begeben,
um sich dann mit den übrigen großherzoglichen
Truppen der ersten Abteilung unter dem Kommando
des Prinzen Emil zu vereinigen.
Anfangs Mai kam die zweite Abteilung in
Frankreich an und am 8. Mai waren sämtliche
hessische Regimenter, über die der kommandierende
General Prinz von Hessen-Homburg eine Inspektion
abhielt, bei Lyon versammelt.
s) Darmstädler Archiv: Ober-Kriegskollegial-Akten ic. la.
9 Darmstädter Archiv: Ober-Kriegs-Kollegial-Akten rc. la-
190
Nach geschlossenem Frieden am 30. Mai 1814
zog das hessische Korps am 2. Juni ins Vater-
land zurück und bezog am 4. Juli von Bensheim
bis Langen Kantonnierungsquartiere.
Me hektische» truppen im Fel-ruge von 1815.
Bis Dezember 1814 hatte der Wiener Kongreß
sehr wenig den Erwartungen entsprochen, die man
in ihn gesetzt hatte. Hessen hatte sehr unter den
Verhältnissen gelitten. Unter der Steuerlast, die
immer drückender wurde, brachen die Unterthanen :
fast zusammen. „Aus allen Ämtern kamen j
Schreckensbotschaften über den Notstand. Während 1
des letzten Feldzugs hatte Hessen allein für 14
Millionen Gulden Leistungen liquidiert, statt der
3 Millionen 800 000 Gulden, zu deren Zahlung
an die Zentralkasse man sich nur verpflichtet hatte."'')
Die Ruhe Europas wurde plötzlich gestört, als
Napoleon, Elba verlassend, am 1. März 1815
an der französischen Küste landete und nach
Paris zog; Volk und Militär traten überall zu
ihm über. Auch in Mainz trat ein Umschwung
der Gesinnungen, namentlich in den besseren
Ständen, hervor, der sich in sympathischen Kund-
gebungen für Napoleon äußerte, so daß die hessische >
Regierung eine Anzahl Verhaftungen und Aus-
weisungen vornehmen, die Stadt selbst aber in
Verteidigungszustand setzen mußte.
Der Großherzog berief am 27. Mürz alle
Beurlaubten bis zum 13. April zu ihren Truppen.
Im Mai konnten zwei Brigaden Darmstüdter
Truppen ins Feld rücken. Das hessische Kontingent
zählte 8250 Mann und 495 Pferde. Tie erste
Brigade umschloß die zwei Garderegimenter und das
Regiment Erbgroßherzog und wurde vonFollenius
geführt: die zweite umschloß das Regiment Prinz
Emil und das Leibregiment und unterstand dem
Kommandeur von Gall. Die Artillerie wurde
geleitet von dem Oberstleutnant der Artillerie
Kullmann. Den Befehl über alle hessischen
Truppen führte Prinz Emil von Hessen, der
wieder dem Oberbefehl des Prinzen Philipp von
Hessen-Homburg unterstand Letzterer befehligte
außer den Hessen noch eine österreichische Infanterie-
division und ein österreichisches Husarenregiment
und gehörte mit diesen und den Württembergischen
Truppen zum Armeekorps des Kronprinzen von
Württemberg?) Die hessischen Truppen verließen
am 14. Mai Darmstadt und marschierten nach
Schwetzingen und Wiesloch, wo sie Kantonnements
bezogen.
Nachdem sie bei Germersheim über den Rhein
gegangen, drängten sie die feindlichen Vorposten
bis Hagenau zurück. Die Dörfer Lampertsheim
und Mundelsheim bei Straßburg und ihre Höhen
waren am 28. Juni von den Franzosen stark
besetzt. Tie französische Schlachtlinie dehnte sich
hinter der Soffel gegen den Rhein hin aus; die
Stärke der feindlichen Position war Sosselweihers-
heim. Der Kronprinz von Württemberg beabsichtigte,
durch einen raschen Angriff den Feind nach Straß-
burg zurückzuwerfen. Tie großherzvgliche Division
unter dem Prinzen Emil bildete an diesem Tage
die Avantgarde. Ihr wurde die Ausgabe, über
Freudenheim und Lampertsheim zu marschieren,
letzteren Ort sowie Mundelsheim und die Wingerts-
höhen, wo der Feind stark postiert war, zu be-
setzen und wegzunehmen.
Um 3 Uhr mittags begann seitens der hessischen
Division die Attacke auf Lampertsheim, welches
alsbald weggenommen wurde. Der Feind zeigte
sich nun verstärkt zu Mundelsheim, das
ihm auf eine Zeit entrissen wurde, doch auf
die Dauer nicht behauptet werden konnte. Die
hessische Truppenabteilung wurde zum Weichen
gebracht, da der linke Flügel durch die etwas
zurückgebliebenen Truppen nicht vollständig gedeckt
war. Prinz Emil erneuerte mit verstärkter
Trnppenzahl seine früher begonnenen Angriffe auf
Mundelsheim. Unter Anführung des Oberst-
leutnants Prinzen von W i t t g e n ft e i n erstürmte
das 1. Bataillon Leibgarde die Weinbergshöhe.
Ihm folgte das 1. Bataillon Prinz Emil und
das 1. Bataillon Leibregiment zur Unterstützung,
während Mundelsheim von den hessischen Truppen
mit einem Hagel von Kartätschen genommen
wurde. Auf dem linken Flügel bemächtigte sich
die Württembergische Division der Dörfer Reichs-
statt und Sosselweihersheim, woraus sich der Feind
nach Straßburg zurückzog. Bei den Hessen bestand
der Verlust an Toten aus 2 Offizieren 31 Mann,
an Verwundeten aus 14 Offizieren und 207 Mann,
an Vermißten aus 13 Mann. Hierauf rückte
die Division ins Innere von Frankreich und be-
zog an der Rhone und Loire Kantonniernngen.
Das zweite Bataillon des Regiments Erbgroß-
herzog blieb vor Kehl stehen.
Nach der entscheidenden Niederlage von Waterloo,
der Abdankung Napoleons und der Kapitulation
von Paris zogen sich die Friedensverhandlungen
mit Frankreich noch bis zum November 1815 hin,
bis zu welcher Zeit ein Teil der verbündeten
Heere als Okkupationstruppen im Lande verblieb.
Von den hessischen Truppen kehrte am ersten das
2. Bataillon Erbgroßherzog zurück. Ende No-
vember folgten die übrigen hessischen Truppen-
teile. die in drei Kolonnen der Bergstraße entlang
ihren Marsch in die Heimat nahmen. Damit
*) Kleinschmidt, S. 306. — 8) Ebenda 8. 308.
191
endigten die Wassenthaten des hessischen Kon-
tingents, dessen Mannschaften sich während einer
Kriegsperiode von 23 Jahren in zehn Feldzügen
ruhmvoll bewährt hatten.
Ludwig I. arbeitete nach dem Frieden un-
ablässig an der Heilung der Schäden, die der
23 jährige Krieg seinem Lande geschlagen, belebte
durch seine Einrichtungen und Gesetze im Volke
die Hoffnung auf die Wiederkehr besserer Tage
und stärkte den Glauben und die Zuversicht seiner
Unterthanen auf Besserung ihrer wirtschaftlichen
Lage, die sich infolge der schwankenden politischen
Verhältnisse und des jahrelangen Kriegszustandes
nur zu sehr verschlechtert hatte. Wenn je ein
Fürst verdient, Vater des Vaterlandes genannt
zu werden, so ist es Ludwig I. von Hessen.
Das deutsche Haus zu Marburg
Von Ludwig Müller, Marburg.
(Schluß.)
Das Langhaus mit seinen zwei vorspringenden
Flügelgebäuden war das Wohnhaus der
Ritterbrüder. Ter östliche Flügel desselben, mit
einem später hinzugefügten Erker, der das Teutsch-
ordenswappen und das Wappen des Landkomturs
Wolfgang Schutzbar genannt Milchling (1530
bis 1545) enthält, ist wahrscheinlich der älteste Teil
sämtlicher Gebäude. In dem Saal dieses Flügels
wurden die Ordenskapitel abgehalten.
Tas über mächtigen Kellern erbaute Langhaus
stammt aus späterer Zeit und gehört nach seiner Ent-
stehung verschiedenen Zeiträumen an. So ist der zwei
Stockwerk hohe Arkadenbau erst am Ende des
15. Jahrhunderts dem dahinter liegenden Bau vor-
gesetzt worden. An demselben wurden 1787 ein
modernes Deutschordenswappen sowie die früher er-
wähnte Rokokothüre angebracht. Tie Dachkonstruktion
an diesem Bau stammt aus dem 18. Jahrhundert.
Tas Erdgeschoß des westlichen Flügels mit zwei
hohen Staffelgiebeln diente als Refektorium (Speise-
saal) der Brüder. Darüber lag wahrscheinlich das
Dormitorium (Schlassaal). Tas Gebäude war
durch einen überdeckten schmalen Gang mit der
Kirche.verbunden.
Ter an der Ostseite dieses Flügels aus Rundbogen-
arkaden errichtete einstöckige Renaissancebau zeigt
in der Mitte das Deutschordenswappen, sowie die
Wappen des Landkomturs Alhard von Hörde
und des Trappierers Johann Kuhmann mit
der Jahreszahl 1572.
Dieser westliche Flügel wurde vor etwa 20 Jahren
bis auf die drei Umfassungsmauern abgerissen und
die südliche Giebelmauer um einige Meter zurück-
gesetzt und hierdurch der schmale Eingang zwischen
der Kirche und diesem Gebäude bedeutend erweitert.
Das Gebäude, früher als chemisches Laboratorium
benutzt, enthält jetzt die mineralogischen Sammlungen.
Auf dem mit Rasen- und Zieranlagen versehenen
Platze nördlich der St. Elisabethkirche stand ehedem
das von St. Elisabeth gestiftete St. Franziskus-
Hospital. Dieses Hospital war in romanischem
Stil in Gestalt eines etwa 38 Meter langen und
8 Meter breiten Rechteckes erbaut, welches ans der
Ostseite mit einer nur wenig engeren halbrunden
Apsis schloß. Wie die bei Restauration der
St. Elisabethkirche im Jahre 1854 im Inneren
derselben sowie bei den Ausgrabungen ans dem
Kirchplatz im Herbst 1883 vorgefundenen Fundamente
beweisen, enthielt der westliche Teil dieses Gebäudes,
das eigentliche Hospital, eine einheitliche Kranken-
halle, während der östliche Teil als Kapelle biente.
Als der Kirchen bau bis zum nördlichen Kreuz-
arm vorgeschritten war. wurde das St. Franziskus-
Hospital 1249 abgebrochen, um Raum für den
weiteren Bail zu gewinnen, besonders aber um das
Grab der heiligen Elisabeth in diesen Kreuzarm auf-
nehmen zu können. Später wurden auch die übrigen
Gebäude abgebrochen. An Stelle derselben erbauten
1289 die Tentschordensbrüder entlang dem Lahn-
arme eine Jnsirmaria, ein Gebäude, welches für
die Aufnahme ihrer kranken Brüder bestimmt war.
An seiner Kurzseite befand sich nach Osten hin eine
kleine Kapelle in srühgotischem Stil.
In dem Maße wie später der deutsche Orden
reicher und weltlicher wurde, geriet die ursprüngliche
edle Bestimmung dieser Räume in Vergessenheit,
und in der Jnsirmaria richtete man „des
Ordens Wein zapf" ein. Zu diesem Zweck
baute man das Gebäude um, so daß dicht neben
die Kapelle die Gaststube mit anstoßendem Zapfhaus
zu liegen kam. Ferner wurde an der Westseite
ein sehr umfangreicher Speicher mit zwei hohen
Staffelgiebeln und ausgedehnten Weinkellern erbaut.
Dieses Weinhaus wurde wegen seines guten und
billigen Tropfens auch von den Marburgern fleißig
besucht, obwohl auch ein städtischer Weinschank
bestand; so daß öfters größere Differenzen zwischen
den deutschen Herren — den Namen „Brüder"
hatten sie 1382 abgelegt — und dem Marburger
Magistrat entstanden. Des Ordens Weinzapf be-
ruhte auf einem alten kaiserlichen Privileg, das
Kaiser Karl V. erneuerte. Im Jahr 1417 lagerten
192
in den Ordenskellern nicht weniger als 41*2 Fuder
Wein.
Auch die Jnfirmaria mit ihren Anbauten war
sowohl nach der Straßenseite wie nach dem
deutschen Hause zu mit einer Mauer umgeben.
Ihren Untergang in den Flammen fanden die
Jnfirmaria mit Kapelle und der große Speicher
in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1761, als
hessische Regimenter, um Marburg zu entsetzen, das
unmittelbar am Firmaneiplatz stehende Elisabethen-
thor stürmten und die Franzosen diese Stätte vom
Schlosse aus beschossen. Ter Speicher wurde 1777
restauriert, die Trümmer der übrigen Gebäude
beseitigte man 1786. Im Jahre 1839 schlug auch
dem Speicher das letzte Ständlein, seine. Steine
fanden beim Bau der Sternwarte Verwendung.*)
Das in den Jahren 1888 und 1891 abgebrochene
St. Elisabethenhospital wurde 1254 von den
Ordensbrüdern erbaut. In genanntem Jahre konnte
die Hospitalkapelle, deren Reste man noch als Ruine
sieht, eingeweiht werden. In derselben fand täglich
Gottesdienst, später bis zum Jahre 1828 eine An-
dacht für die Pfründner statt. Das St. Elisabethen-
hospital, auf der Südseite der Elisabethenkirche
gelegen, war ein rechteckiges, einstöckiges Gebäude.
Aus der Mitte der östlichen Langseite sprang die
im Achteck abgeschlossene Kapelle vor. Das massive
Gebäude deckte ein steiles Dach zwischen hohen Giebeln,
auf dem sich ein Turm mit zwei Glocken befand,
welche der Landkomtur I v h a n n v o n R e h n dem
Landgrafen Ludwig III. von Oberhessen zur Ver-
fügung stellte, als dieser aus dem Schloß zum
Besten der Stadt ein neues Uhrwerk anlegen wollte.
Hinter dem Hospital befand sich in dem Hause
mit der Jahreszahl 1517, an dessen Stelle jetzt
das Physiologische Institut steht, die Wohnung des
Spitalmeisters, deren schon früher Erwähnung gethan
wurde, ferner die Kammern für die Gäste; die
Hospitalküche samt den Wirtschastsräumen. dem
Gemüse- und Bierkeller, dem Fruchtboden, den
Kuh- und Schweineställen waren in den anderen
Gebäuden vorhanden. Tas Hospital mit seinen
Berwaltnngsgebünden und daran stoßendem Garten
war mit einer hohen Mauer umgeben.
Sv war das Hospital am Ausgang des 'Mittel-
alters beschaffen. In der ersten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts wurde der einstöckige Holzbau am Hospital
durch Einlegen eines Bodens in einen zweistöckigen
umgewandelt und mit neuen Fenstern und einem
neuen Portal an der Westseite versehen. Tas
hohe Tach wurde beseitigt und die Seiten- sowie
Längswände mit neuen Simssteinen belegt. Über
dem Portal wurde ein Wappen mit der Jahres-
*) Handschriftliche Aufzeichnungen.
zahl 1744 angebracht. Dasselbe befindet sich jetzt
im Inneren der Ruine der Hospitalkapelle. —
Um das Jahr 1780 entstand in Marburg eine
katholische Gemeinde, welche nach handschriftlichen
Auszeichnungen ihren ersten Gottesdienst im Rat-
haussaale abgehalten haben soll. Später hatte sie
ihren Gottesdienst in der Hospitalkapelle, welche
der Gemeinde von dem katholischen Landkomtur
Reu thu er von Weyl zum Mitgebrauch über-
wieseu worden war. Bon dort siedelte sie am 2. Juni
1811 infolge eines Dekrets Jerüme Napoleons in
den Ehor der St. Elisabethkirche über. 1823 wurde
auch der katholische Gottesdienst aus der Elisabeth-
kirche in die Kugelherrenkirche verlegt.
Am 24. April 1809 hatte Kaiser Napoleon den
deutschen Orden in den Rheinbundstaaten für auf-
gehoben erklärt. Alle Güter desselben wurden als
Staatseigentum eingezogen und verkauft, mit Aus-
nahme der Kirchen und Schulhäuser.
Tas Elisabethenhospital überwies die westfälische
Regierung im Jahre 1811 der Universität als
Klinikum, 1823 wurde es zu einem Landkranken-
haus für die Provinz Oberhessen erweitert und
durch Ausbau eines Stockwerks vergrößert. Um
die gleiche Zeit wurde der deutschen Herren
Lustgarten der Universität zu einem botanischen
Garten überwiesen. Ebenso erhielt die Universität
das vorher beschriebene Langhaus und die beiden
Flügelgebäude in Gebrauch. In ersterem wurde
die Entbindungsanstalt, im westlichen Flügel das
Laboratorium, im östlichen Flügel das zoologische
Institut untergebracht. Vor 50 Jahren befand
sich das Amtsgericht in den unteren Räumen des
östlichen Flügels, dem sog. Kapitelhaus, und in
denen des Landkomturs.
Tie nicht der Universität überwiesenen Marburger
Besitzungen des ehemaligen deutschen Ordens wurden
im Jahre 1810 zum Verkauf ausgeschrieben, ebenso
die zur Marburger Krondomäne gehörige Deutsch-
ordensmühle. Ta - sich aber keine Käufer fanden,
wurden die Grundstücke einstweilen verpachtet, und
zwar der zur Krondomäne gehörende Wirtschaftshos
mit Landbesitz an den Ökonomen Oswald.
Um das bei Kassel gelegene Wilhelmsthal,
das König Jördme nach seiner Gemahlin Katharinen-
thal genannt hatte, zu vergrößern, tauschte der König
mit einem anliegenden Nachbarn dessen Besitz gegen
den deutschen Ordenshof in Marburg mit seinen
Grundstücken, zu welchen der G ö r z h ü u s e r Hof
gehörte, ein. So wurde im Jahre 1812 der
Ökonom Wilhelm Hosfmann jun. Besitzer des
ehemaligen Ordensgutes. Da Kurfürst Wilhelm I.
nach seiner Rückkehr die Handlungen der west-
fälischen Regierung nicht anerkennen wollte und
sämtliche verkauften Güter zurückverlangte, ent-
193
standen langwierige Prozesse, und da schließlich der
Bundesrat seine Einmischung verweigerte, blieben
die meisten Klagen erfolglos. Bei Hoffmann lag
aber ein Tausch vor, und so gestand ihm die
Regierung das Gut aus Erbleihe zu. Die somit
daraus ruhenden Lasten löste später der Vater des
derzeitigen Besitzers ab, so daß das Gut freies
Eigentum der Familie wurde.
Zum Schluß möge noch der Ausgrabungen
Erwähnung gethan werden, welche im Jahre 1889
aus der Nordseite der St. Elisabethkirche an dem
ehemaligen Standort der alten Deutschordens-
Firmaneikapelle stattfanden. Man förderte eine
größere Zahl geköpfter und zerbrochener Heiligen-
statuen zu Tage. Dieser Fund widerlegte die
bisherige Annahme, daß die Berwüstung und
Bilderstürmerei des Landgrafen Moritz sich nur
auf die Pfarrkirche St. Mariae erstreckt habe;
während die St. Elisabethkirche als Deutschordens-
kirche mit Rücksicht ans den damaligen Hochmeister
aus dem Kaiser- und Erzhause Habsburg verschont
geblieben sei. Auch Nachrichten im Staatsarchiv
zu Marburg haben diese Behauptungen als un-
richtig erwiesen.
Landgraf Moritz empfand nämlich nachträglich
große Unruhe in seinem Gewissen darüber, daß er
„die Götzen" in der Elisabethkirche verschont hatte.
Er ließ noch 13 Jahre nach dem Bildersturm in
der Pfarrkirche durch das von ihm zur Durch--
sührung seines „christlichen Verbesierungswerles"
eingesetzte Konsistorium am 15. Februar 1619
auch die Beseitigung der Bilder aus der Dentsch-
ordenskirche anordnen und dieselben in der nörd-
lichen Firmaneikapelle einschließen, bei deren Abbruch
im Jahre 1786 sie unter dem Schutt begraben
wurden. Eine Randbemerkung zu einem im Auf-
trag des Hochmeisters 1723 vorgenommenen Visi-
tationsprotokoll gab zu erwähnten Ausgrabungen
Anlaß. Das auf der Südseite der Kirche noch
befindliche Kruzifix verdankt bcm Umstande seine
Erhaltung, daß dieser Raum für die Stationen 51t
Landgraf Moritz' Zeit mit einer hohen, der Kirche
angebauten Mauer umgeben und nur den Deutsch-
ordensherren zugänglich war. —
Die Gründung des deutschen Hauses in Marburg
ist, wie wir gesehen haben, nicht nur in äußerer
Hinsicht für die Stadt von Vorteil geworden,
indem sie derselben außer einer größeren Zahl
stattlicher Gebäude vor allem eines der schönsten
Denkmäler gotischer Baukunst, die St. Elisabeth-
kirche, schenkte, sondern sie hat auch durch ihre weit
über die Grenzen Deutschlands hinausgehende Be-
deutung für die weitere Entwicklung Marburgs segens-
reich gewirkt, lind sollte dereinst nach Jahren auch
keine Spur mehr an die einst so erhabenen Bauten
des deutschen Hauses gemahnen, das herrliche Münster
wird aus Jahrhunderte unverändert fortbestehen,
ein beredter Zeuge aus großer Zeit.
Unterm Hollunöerbaum.
Historische Erzählung aus Oberhessen von O. Gros.
(Schluß.)
Die Verhandlungen zwischen Hanau und Stolberg
waren endlich soweit gediehen, daß durch den
gräflich stolbergischeu Rentmeister die Bürgschafts-
summe am 15. August in der Frühe an die Hanauer
Herrschaft bezahlt werden konnte. Eine Stunde
später war Pfarrer Laukhardt frei.
Der stolbergische Rentmeister aber hatte au alles
gedacht; ein vollständiger neuer Anzug lag für
Laukhardt bereit, damit er nicht in seiner zerrissenen
Kleidung den Heimweg anzutreten brauchte.
Wer kann die Stimmung beschreiben, in der
Laukhardt aus den Thoren Hanaus eilte! Hoffnung,
Freude, Jubel, Wiedersehen mit Frau und Kindern,
Wiedersehen mit den treuen Freunden und der lieben
Gemeinde Hirzenhain, — es sang und klang in
seinem Herzen. Die Sommerhitze kümmerte ihn
nicht; die Liebe zu den Seinen und das Bewußsein
der langersehnten Freiheit beflügelten seine Schritte,
und es dämmerte kaum der Abend, da trat er in
die Thür seines Pfarrhauses ein.
Die alte Magd konnte es gar nicht fassen, daß
ihr lieber, lieber Herr endlich wieder da war;
seinen überstürzten Fragen: „Wo ist mein Weib?
Wie geht's meinen Kindern?" setzte sie die aus-
weichende Antwort entgegen: „Die drei großen
schlafen in der Kammer."
„Und mein Weib? und das Jüngste, das Jüngste?"
fragte er ungeduldig weiter, denn in der Gefangen-
schaft hatte ihn die Kunde von der Geburt seines
Kindleins gar nicht erreicht.
„Auch sie schlafen", sagte die Magd bedeutungsvoll.
„Sie sind tot?" schrie der gequälte Mann auf,
„tot?"
Die Magd nickte unter Thränen.
„Großer Gott, das ist mehr als genug, das ist
zu viel! Fast ein Jahr lang unschuldig im Gefängnis
in Schmach und Schande, und nun auch Frau und
Kind noch tot!"
Er sank auf einen Stuhl und barg das Gesicht
ill den Händen. Die Magd schwieg. — Endlich
194
hob der Pfarrer seine Augen wieder aus und gebot:
„Erzähle mir alles!"
Und die alte treue Magd erzählte alles, was
sich seit der Geburt des Kindleins ereignet hatte;
sic erzählte, tvie die beiden Marktweiber der armen
Frau die Angst ins Herz gejagt hätten, sie selbst
werde gefangen gesetzt und die Kinder ihr entrissen
werden, und daß von dieser Stunde an ihre Herrin
in Trübsinn und Schwermut verfallen sei.
Das eine der beiden Marktweiber, die „Rine".
hatte nach der Pfarrsrau Tod, von ihrem Gewissen
gepeinigt, es laut und offen ausgesprochen, daß sie
vom Amtmann Radeseld in Selters für Geld
vermocht worden seien, der armen Iran diesen
Schrecken einzujagen, und sie hatte, als sie den
üblen Ansgang des „Spaffes". wie Sanne das
Ganze genannt hatte, erfahren, den Amtmann laut
verwünscht und verflucht.
Ter arme Pfarrer unterbrach die Erzählung
mit dem schmerzlichen Ausruf: „O Radeseld, den
ich geliebt habe wie einen Freund und Bruder,
wieviel Böses hast Tu mir gethan; Gott verzeih'
Dir, ich kann es nicht."
Tie Magd berichtete weiter.
Tas traurige Ende und das ehrlose Begräbnis
seiner Frau erschütterten das Gemüt des Pfarrers
auf das tiefste; ebenso der Tod seines Kindleins,
das geboren und gestorben war, ohne daß sein Vater
es auch nur gesehen hatte. — — —
Es gehörte ein im Glauben an Gott und Gottes
Vorsehung gekrästigtes Herz, wie Laukhardt eins
hatte, dazu, um nicht zu verzweifeln in all dem
Elende; aber die Freude seiner treuen Gemeinde,
die Liebe und der Trost seiner drei Freunde trugen
auch noch dazu bei, daß sein Herz Frieden fand. —
War die arme Psarrsran auch durch die Tücke
Radeselds in den Tod getrieben und durch die
Hinterlist der Roßlaer ehrlos zu Grabe gebracht
ein Gedächtnis sollte ihr doch gestiftet werden.
Deshalb kam am ersten Sonntag nach Laukhardts
Rückkehr aus der Gefangenschaft Pfarrer Leiden-
srost nach Hirzenhain, um sür dieTvte eine Gedächtnis-
predigt zu halten. Er hatte den Text gewählt:
Psalm 69 Vers 21. „Tie Schmach bricht mir das
Herz und bedrücket mich; ich warte, ob cs jemand
jammerte, aber da ist niemand, und ich warte auf
einen Tröster, aber ich finde keinen." Das war
ein Text, der lies in aller Seelen hineinschnitt
und den ganzen Schmerz des vereinsamten Pfarrers
anssprach. aber Leidensrost hielt auch eine gewaltige
Predigt über diesen Text, die sich tief einprägte in
Herz und Gemüt aller Zuhörer. —
Was soll ich von Pfarrer Laukhardt noch weiter
berichte»? Er war ein stiller Mann geworden, und
die Arbeit in seiner Gemeinde, sowie die Erziehung
seiner drei Kinder nahm ihn ganz in Anspruch.
Lachen hat ihn niemand mehr gesehen, wohl aber
sah man ihn fast täglich morgens und abends
knieend und weinend ans der Stätte bete», wo unter
dem Hollnnderbaum sein Liebstes schlummerte.
Fünf Jahre noch hat Pfarrer Laukhardt gelebt,
aber gebrochenen Herzens; auf Michaelis 1734 fand
ihn der Glöckner, als er zum Abendläuten ging,
sanft entschlummert unter dem großen Hollunder-
baum hinter der Kirche; sein Leib wurde in der
Gruft neben seiner ersten Frau beigesetzt. Leiden-
srost. der treue Freund, der inzwischen zum geist-
lichen Inspektor ernannt worden war, hielt ihm
die Grabrede über das Textwort: „Selig ist der
Mann. der die Anfechtung erduldet, deun nachdem
er bewähret ist. wird er die Krone des Lebens
empfangen, welche der Herr verheißen hat denen,
die ihn lieb haben."
-je -je
★
Die Stürme der Zeit sind noch vielfach über
Hirzenhain dahingebraust. Der Wanderer, der den
Vogelsberg besucht und durch Hirzenhain kommt,
findet das Pfarrhaus noch vor; aber dies Haus, das
früher Förster-, dann Pfarrhaus war, wurde 1848
Armenhaus und ist seit 1866 umgebaut als Gasthaus.
Ein ähnliches wechselvolles Schicksal wie dieses
Hans hat die Kirche erlebt; als Klosterkirche
erbaut, war sic nacheinander Lateinschule und Eisen-
magazin und ist jetzt wieder eine evangelische Kirche.
Der Hollnnderbaum hinter der Kirche steht noch,
wenn er auch leider im Stamm abstirbt, und wird
in pietätvoller Weise zu erhalten gesucht.
Auch der Grabstein von Laukhardts erster Frau
ist noch zur oberen Hälfte vorhanden; die Engcls-
köpse, das Auge Gottes, das Lamm mit der Fahne
sind noch deutlich zu erkennen, während die Inschrift
völlig zerstört ist.
Und Haus und Kirche, Baum und Stein sind
Denkmale längst vergangener Zeit, wo gute 'Menschen
mit warmen Herzen hier lebten, liebten und litten.
---------<&-<*>--------
Dom Kasseler Hoftheater.
v.
Sind) dem Einzüge der Theaterfcrien, die den Künstlern
ihre wohlverdiente Ruhe bringen, sei cs mir vergönnt,
auf die letzten Atonale der Spielzeit einen Rückblick zu
werfen. Atit der kommenden Saison tritt ein ungewöhn-
lich großer Wechsel in unserm Ensemble ein, und infolge-
dessen waren die letzten Monate der abgelaufenen zum
großen Teile Gastspielen gewidmet. Ich habe ansgerechnet,
daß in ungefähr 25 Prozent aller Aufführungen Gäste,
zuweilen sogar 2—3, aufgetreten sind. Daß hierdurch
natürlich die Aufführung, was Zusammenspiel und künst-
lerische Abrundung anlangt, nicht gewinnt, ist ja ganz
klar. doch sind die Gastspiele nicht zu vermeiden. Immer-
hin könnte durch vorsichtigere Auswahl bei dem einem
Gastspiele ja vorausgehenden Probesprechen dem Publikum
manches Unerfreuliche erspart werden. So haben wir
z. B. einen Ferdinand in „Kabale und Liebe" sehen
müssen, der für ein besseres Theater geradezu unwürdig
war. und auch eine Vertreterin der Heldenmütter, die als
Künstlerin kaum sehr ernst genommen werden kann, brachte
es zu dreimaligem Auftreten.
In der Oper scheint diese vorherige Sichtung der an-
gebotenen Kräfte ernsthafter betrieben zu werden.
Von Neuheiten brachte uns der Schluß der Spielzeit
vor allem die überall so erfolgreiche Oper „Der polnische
Jude" von Carl Weis. Der düstere Text ist nach
einer Erckmann-Chntrianschen Novelle verfaßt, die Musik
trägt slawischen Charakter, zeichnet sich durch Weichheit
des Ausdruckes und selbständige Prägung aus. Die Auf-
führung war mustergültig, namentlich spielte und sang
Herr Wuzol seine schwierige und nicht immer dankbare
Rolle mit Meisterschaft. Weiterhin machten sich Frau
Porst und Herr Baß verdient. Neu einstudiert wurde
Bellinis „Norma" und bewährte ihren alten Zauber.
Frau Mo ruh, welche die Titelrolle, wie man hörte,
zum ersten Male sang, fügte damit ihrem Repertoir eine
vortreffliche Leistung hinzu. Herrn Weltlingers Mittel
sind fast zu gewaltig für die Bellinische Musik. Die letzte
Woche vor ben Ferien brachte noch die Neueinstudierung
von Halevys „Blitz", der Oper, die trotz der denkbar
einfachsten Mittel immerhin ziemlich erfolgreich früher
gewesen ist. Trotzdem die sämtlichen vier Mitwirkenden,
die Damen von Knorr und Porst sowie die Herren
Kietzmann und Batz ihr bestes gaben, war die Aufnahme
ziemlich kühl. Auch Wagners gewaltige „Götterdämmerung"
brachte in den letzten Wochen noch mehr Abwechslung in
den Spielplan.
Auf dem Gebiete des Schauspiels war das am
meisten Aufmerksamkeit erregende Ereignis die Erstauf-
führung des fünfaktigen Schauspiels unserer heimischen
Dichterin-Josephine Gräfin zu Leiningen-Wester-
burg: „Die Kaiserin". Der Lokalpatriotismus be-
reitete dem besser gewollten als gekonnten Stücke bei den
ersten Aufführungen einen beachtenswerten Erfolg, der
jedoch mit dem Reiz der Neuheit schnell nachließ, und so
werden wohl die vier Aufführungen, die es hier in Kassel
erlebt hat. die einzigen bleiben. Die Hauptrolle des
Stückes, die Zirknstänzerin und spätere Kaiserin Theodora,
stattete Frau Kothe-Haacke mit allem Raffinement
ihrer Schauspielkunst ans und hatte damit entschieden den
größten und berechtigtsten Erfolg des Abends zu verzeichnen,
-----------—
Aus Heiurat
Herzogin von An halt-Bern bürg si. Am
10. Juli starb 91 Jahre alt in Alexisbad die
Herzogin-Witwe Friederike von An Halt-
Bern bürg. Tochter des Herzogs Wilhelm von
Schleswig-Holsteiu-Glücksburg und der Prinzessin
Louise Karoline von Hessen, deren Vater,
Landgraf Karl, ein Bruder des Kurfürsten Wil-
helm I. war. Die Vermählung der Verewigten
mit dem Herzog Alexander Karl von Anhalt-
die sämtlichen andern Rollen sind nur episodenhaft. Außer
diesem Drama gingen noch drei Einakter ohne große
litterarische oder dramatische Bedeutung zum ersten Male
in Szene: eine höchst qualvolle und unbefriedigende Episode
aus dem Leben eines verschuldeten Gutsbesitzers. „Ums
täglicheBrot" von E l l i n o r B r o s s a, ein harmloses
Jntrigenstücklein aus dem alten Sparta: „Lhfänders
Mädchen" von Widmann, und ein noch harmloseres
Künstlerspiel in der Manier Hans Sachs': „Die Meister-
schüssel" von W. Henzen, das allerdings in tadellosen
kurzen Reimpaaren oder Knittelversen geschrieben ist. Zur
besonderen schauspielerischen Charakterisierung gab nur das
erste Stück Gelegenheit und zwar den Herren Le Seur
und Hellbach und den Damen Kothe-Haacke und
Grawz.
Neu einstudiert wurde noch der Mosersche „Veilchen-
sresser". der trotz seines im Laufe der Jahre nicht genieß-
barer gewordenen letzten Aktes immer wieder einen Erfolg
hat. Das Ehepaar Kot he spielte die Hauptrollen mit
gleicher Sicherheit und Eleganz wie vor Jahren. Das
zweite Liebespaar wurde von Gästen gespielt, die Valeska
lag in den Händen von Frl. Hannewald, einer frischen
jugendlichen Naiven, die aus der Schule des hier noch in
gutem Andenken stehenden Herrn Oppmar, jetzigen Direktors
in Hanau, hervorgegangen ist und für unser Theater
verpflichtet wurde.
Der zweite Ostertag brachte wie gewöhnlich den „Faust",
diesmal in einer vortrefflichen Aufführung, die nur durch
allzu weitgehende Streichungen beeinträchtigt wurde. Herr
Le Senr als Faust zeigte uns, daß wir in ihm einen
tüchtigen Künstler verlieren.
Im übrigen brachte es der zweite Teil von „Über
unsere Kraft" noch zu einer ganzen Reihe non Auf-
führungen und eine Anzahl von klassischen Dramen kam
infolge von Gastspielen mehrfach zu Ehren, so „Don
Carlos", „Romeo und Julia", „Die Braut von Messina" re.
Besonders festlich gestaltete sich das erste Auftreten des
Herrn B a r t r a m nach seiner überstandenen Krankheit.
Im „Waffenschmied" zeigte er. daß seine Stimme die alte
Frische wieder gewonnen hat, und das Publikum empfing
den beliebten Künstler mit Wärme und Herzlichkeit.
Die letzte Woche war von den Abschiedsvorstellungen
eingenommen. Frau von Knorr imd Frl. Dennery
verabschiedeten sich in „Mignon" und die Ausführung
von Benedix' „Zärtlichen Verwandten" wurde zum Massen-
abschied, indem darin sieben Mitglieder des Schauspiels
zum letzten Male auftraten.
Eine angenehme Abwechslung brachten in der letzten
Zeit einige Tauzarrangements von Frl. Lindau, die von
dem Balletkorps in graziöser Weise ausgeführt wurden und
die namentlich dazu dienten, bei nicht ganz abendfüllenden
Stücken die Vorstellung etwas zu verlängern. B. F. C.
■«"---------------
und Frenrde.
Bernburg hatte am 80. Oktober 1834 zu Gottorp
stattgefunden. Die Mutter des Herzogs, Marie
Friederike, war ebeufalls eine hessische Prinzessin,
und zwar die Tochter des Kurfürsten Wilhelm t.
1855 war die Herzogin wegen unheilbarer Krankheit
ihres Gatten zur Mitregentin ernannt worden.
Mit dem im Jahre 1863 erfolgten Tode des
Herzogs Alexander Karl erlosch die Bernburger
Linie und das Land fiel an Anhalt-Dessau zurück.
Tie Dahingeschiedene war die älteste der deutschen
Fürstinnen. ___________________
Univers itätsnachrichte n. Dem großherzog-
lich hessischen Staatsminister Rothe in Darmstadt
ist von der juristischen Fakultät der Universität
Gießen das Ehrendoktordiplom verliehen worden. —
Ter ordentliche Professor in der philosophischen
Fakultät der Universität Marburg Di-. Edward
Schröder siedelt am 1. Oktober d. I. an die Uni-
versität Göttingen über. — Der Archjvar Di-. Emil
Thenn er in Marburg ist an das Staatsarchiv
in Münster versetzt worden.
Todesfall. Am 8. Juli starb nach kurzem
Leiden der außerordentliche Professor der Theologie
Die. Dr. Richard Kraetzschmar in Marburg.
Professor Kraetzschmar stammte aus Leipzig, war
geboren 1867, promovierte 1890, habilitierte sich
an der Marburger Universität 1894 für alttestament-
liche Wissenschaft und war 1901 zum außer-
ordentlichen Professor in der theologischen Falkultät
ernannt worden. Von seinen wissenschaftlichen Arbeiten
sind zu nennen ein Studie über Ezechiel, eine nn-
punktierte Ausgabe des masorethischen Jesajatexles,
ein größeres Werk über die Bnndesvorstellnng im
Personalien.
Verliehen: dem Regierungs- und Forstrat Mühl-
Hausen in Kassel der Rote Adlerorden 8. Klasse mit der
Schleife; dem Forstmeister Hassel in Mvltgers aus An-
las; seiner Pensionierung der Königliche Kronenorden
2. Klasse; dem Bürgermeister Fenge in Felsberg der
Rote Adlerorden 4. Klasse; dem Bibliothekar an der Königl.
Universitätsbibliothek zu Göttingen Dr. W. Falcken -
Heiner (früher in Marburg) der Titel Oberbibliothekar.
Ernannt: Amtsrichter Klingender in Nürnberg
zum Landgerichtsrat in Ansbach; Forstassessor Glück
zn Dillenbnrg zum Oberförster unter Übertragung der
Oberförsterstelle zu Fritzlar vom 1. August d. I. ab;
die Rechtskandidaten Fenn er. Bachmann und Bür-
m a n n zu Referendaren; Pfarramtskandidat Wilhelm
Sostmann zu Hilden zum einstweiligen Rektor an der
Stadtschule zu Felsberg; Mittelschullehrer Niese zu
Wernigerode zum Rektor an der Stadtschule zu Alleu-
dvrf a. W.; Rektor und Hilfsprediger Staberock zu
Fürstenfelde zum einstweiligen Rektor an der Stadtschule
zu Hess. Oldendorf.
Übertragen: dem Pvstsekretär Bohne in Kassel eine
Oberpvstsekretärsteile.
Versetzt: die Postinspektoren Bnscherbrnck von
Kassel nach Elberfeld und Haußke von Königsberg nach
Kassel; Oberförster Hoogklimmer von Langeloh nach
Altenlotheim; Oberlandmesser Baldus II von Wolfhagen
nach Melsungen.
Bestätigt: Lehramtskandidat Just zn Jena als
Wissenschaft!. Hilfslehrer an der höheren Bürgerschule zu
Rotenburg.
Alten Testament und die dem Nowackschen Hand-
kommentar angehörige Übersetzung und Erklärung
des Buches Ezechiel sowie ein für den Gebrauch
der Studenten bestimmtes hebräisches Vokabular.
H e s s e n b l u t. Das in der vorliegenden Nummer
auf Seite 185 befindliche Gedicht schildert einen
Vorgang, der sich am 26. März 1761 am Walde
bei Zennern abspielte. Das hessische Grenadier-
bataillon von Schlotheim, 600 Mann stark,
empfing einen Teil der aus 60 Eskadrons be-
stehenden französischen Kavallerie, indem es ein
Viereck bildete, regungslos mit angeschlagenem
Gewehre und ohne einen Schuß zn thun. v. Schlot-
heim benutzte das infolge dieser Haltung ent-
standene Zandern des Feindes und zog in voller
Ordnung in den Wald. Marschall Broglio,
von dem Vorfall unterrichtet, überzeugte sich von
der Haltung der mutigen Schar und befahl die
Einstellung weiterer Angriffe mit den Worten:
„Ehren und schonen wir die Braven". Auch
schickte er einen Trompeter an den Herzog Ferdinand
von Braunschweig, um diesem zu solchen tapferen
Männern Glück zu wünschen. (Vergl. „Hessische
Ehrentafel" von Josef Schwank, „Hessenland" 1888,
S. 72.)
Bestellt: Pfarrer extr. Freund in Wanfried znm
Hilfspfarrer in Lischeid.
Geboren: ein Sohn: Fabrikant Otto Fromm und
Frau Klara, geb. Hartmann (Schwartau, 6. Juli);
prakt. Arzt Dr. Kleyensteuber und Frau Emmy, geb.
Haverbeck (Kassel. 13. Juli); eine Tochter: Architekt
Karst und Frau (Kassel. 13. Juli).
Gestorben: König!. Oberförster a. D. Konrad
Cornelius. 88 Jahre alt (Sooden a. d. Werra,
28. Juni); Lehrer a. D. Hempfing, 76 Jahre alt
(Eschwege, Juni); Bildhauer Jean Echtermeyer,
51 Jahre alt (Kassel. 30. Juni); Frau Mathilde
Wiegand, geb. Fischer. Witwe des Königl. Ver-
messungsrevisors. 64 Jahre alt (Kassel. 1. Juli); Ch arlo tte
Freifrau von Feilitzsch. geb. von Eschwege.
80 Jahre alt (Kassel, 2. Juli); Weinhändler und Guts-
besitzer Heinrich Hup seid (Weidenhause», 2. Juli);
Fräulein Minna Barn er. 66 Jahre alt (Wilhelms-
höhe. 3. Juli); Frau Emilie S o e st. geb. Wicke,
88 Jahre alt (Kassel. 4. Juli); Königl. Regierungskanzlei-
sekretär a. D. Konrad Hellwig, 76 Jahre alt
(Kassel, 7. Juli); außerordentlicher Professor der Theologie
Die. Dr. Richard Kraetzschmar, 34 Jahre alt (Mar-
burg, 8. Juli).
Briefkasten.
P. W. in Leipzig. Mit Dank angenommen. Besten
Gruß.
C. H. in Halle. Leider war bei Schluß der Redaktion,
trotz Verschiebung desselben. Ihre Antwort noch nicht
eingetroffen.
Für die Redaktion verantwortlich: W. Ben necke in Kassel. Druck und Verlag von Fried r. Scheel, Kassel.
Seierabend im Walde.
Es rillet der Wald, von Sonnengluten trunken . . .
Andächtig ist das schweigen hingesunken,
Ein stumm' Gebet zn thun ....
Der Blumen predigt tönt nicht mehr am Hange:
Oe» Abendsegen flüstern, Mang' an Wange,
Die müden Priesterinncn nun ....
Wildtauben träumen hinter grünen Gittern.
Ein letzter Bauch heißt leis' die Wipfel zittern —
Dann schläft er ein. —
Der Glocken fromme Feicrklänge Hallen — — —
Die Rehe trinken.........Brünnleins Wasser lallen:
„Komm', sanfte Rächt, . . . komm', alles wartet dein!" -
Ravolzhausen. Sasdrn €lia.
Kodizill.
Mir liegt ein Grab im Böhmerland,
Ich seh's wohl nimmer wieder;
Drin ruht, die mit mir war verbannt,
Die Seele meiner Lieder.
Des Grabes Rand schmückt Immergrün,
Beschattet von Eypressen,
Und weiße Rosen drauf erblüh'n:
Ich kann es nie vergessen.
wenn nun auch mich der Tod einst faßt,
Hab' ich nur ein verlangen:
Au Bänpten meines Grabes laßt
Auch mir Lypreffen prangen,
Laßt weiße Rosen drauf erblüh'n,
So weiß wie Engelsflügel,
Und pflanzt blaublüh'ndes Immergrün
Als Ranken um den Bügel.
wie gleiches Glück uns einst umspann
Und gleiches Leid geworden,
So sind wir gleich gebettet dann,
Sie südfern, ich — im Rorden;
Und glänzt der Mond in milder Rächt
Auf unsre Gräber nieder,
Dann geht durch die Lypreffen sacht
Ein Bauch noch meiner Lieder.
terSback. Carl preser.
Srage.
Sommertag und Rebelschleier —
Sprich, wie deut' ich dies?
Ist's der glühend heiße Freier,
Den die Braut verstieß?
Ist's der übermüt'ge Knabe,
Dem der Mutter Tod
Bringt des Schmerzes bitt're Gabe,
Bleicht der Wange Rot?
Ist's das Leid, das ewiggroße,
Das die Welt umfängt,
Das sich aus dem Erdenschoße
Zn der Sonne drängt?
W. B.
Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Dessen
Ein Gedenkblatt zu seinem hundertjährigen Geburtstag.
Von W. Bennecke.
3n den Jahren der Bedrängnis unseres deutschen
Vaterlandes durch den Eroberer Napoleon, der
auch das Kurfürstentum Hessen von der Landkarte
strich, verweilte Kurfürst Wilhelm I. bekannt-
lich in Prag, der Kurprinz mit seiner Familie
aber an dem ihm nahe verwandten preußischen
Königshof in Berlin. Dort geschah es nun, daß
die Kurprinzessin Auguste, die Schwester des
Königs Friedrich Wilhelm III., ihren kleinen
Sohn mit dem Säbel Schills in den Händen
malen ließ, wie dies die Gräfin Sophie Schwerin
in ihren wenig bekannten Aufzeichnungen aus der
Franzosenzeit in Berlin berichtet. Da Schill
durch die Verteidigung Kolbergs zum Helden für
die preußische Monarchie geworden war. so lag
in diesem Bilde nicht allein eine Huldigung für
den gefeierten Offizier seitens der Knrprinzessin,
sondern auch ein Hinweis, in welchem Geiste
sie ihren Sohn zu erziehen gedachte?) In obiger
Mitteilung tritt uns der am 20. August 1802
im Schloß Philippsruhe bei Hanau geborene
hessische Prinz, dem es vorbehalten war, eine
stolze Ahnenreihe zu schließen, zum ersten Male in
geschichtlicher Beziehung entgegen. Der Ansang und
das Ende seines Lebens wurde vom Erik beschattet.
Als infolge der kriegerischen Ereignisse.des
Jahres 1813 ein Umschwung der politischen
Verhältnisse eintrat, kehrte die hessische Fürsten-
samilie in ihre Residenz zurück, welche sieben
Jahre lang in den Händen der französischen
Machthaber gewesen war. Das alte Schloß seiner
Väter sah der Prinz nicht wieder, es war ein
Raub der Flammen geworden. Der Kurfürst
bezog das Bellevueschloß, die Kurprinzessin mit
ihren Kindern nahm vorläufig in dem Gebäude
an der Ecke des Königsplatzes Wohnung, in
welchem später das Staatsministerium seinen
Sitz hatte, jetzt das Standesamt sich befindet,
der Kurprinz aber bezog das frühere Stündehans,
spätere kleine Palais am Friedrichsplatz.
*) Ein weiteres Bild des Prinzen im Knabenalter
malte die Kurprinzessin selbst. Es stellt ihn umgeben von
Vertretern des Bürger- und Bauernstandes dar. Dies
Gemälde schenkte die Fürstin der Stadt Kassel. Es wird
dort noch jetzt im Rathanse aufbewahrt.
Bereits im Jahre 1815, also kaum dreizehnjährig,
wurde Prinz Friedrich, so war sein Rufname,
nach Leipzig geschickt, um dort seinen Studien obzu-
liegen. Als Begleiter waren ihm der Lycenms-
lehrer-nnd Inspektor der Kasseler Bürgerschule
Professor Dr. Suabedissen und der preußische
Oberstleutnant Ludwig von Below* **)) beigegeben.
Gouverneur von Below sowohl wie der wissen-
schaftliche Lehrer Suabedissen haben stets ihrem
Zögling über sein Verhalten das beste Zeugnis
gegeben, von Below rühmte ganz besonders die
Gutherzigkeit des jungen Prinzen, hatte daileben
allerdings auch immer zu erwähnen, wie schwer
es ihm werde, seiner leicht reizbaren Heftigkeit Herr
zu werden. Über einen kleinen Konflikt des Prinzen
mit seinem Klavierlehrer Anacker in Leipzig ist
früher im „Hessenland" (1900, S. 263) Mitteilung
gemacht worden. Bei dieser Gelegenheit wurde
ein Brief des fürstlichen Studenten veröffentlicht,
in welchem sich ein offenes Gemüt vorteilhaft ans-
spricht. Nach fünfjährigem Aufenthalte in Leipzig
kehrte der Prinz 1820 nach Kassel zurück.
Um den Militärdienst praktisch zu erlernen,
wurde er als Premier-Kapitän in das Regiment
Kurprinz eingestellt, dessen Musketier-Bataillone
in Hanau, die beiden Grenadier-Kompagnien aber
in M^i'burg in Garnison lagen. Hierbei lernte
der Prinz den kleinen Dienst kennen, auf den er
später ein so großes Gewicht legte?*)
*) von Below war schon in Berlin im Jahre 1810,
als er noch Hauptmann war, auf Empfehlung des Stants-
rats von Aucillon, damaligen Erziehers des preußischen
Kronprinzen, zum Gouverueur des Prinzen Friedrich be-
stellt worden. Er hatte sich die Zuneigung seines prinz-
lichen Zöglings in so hohem Grade zu erwerben gewußt,
daß derselbe, obwohl selbst noch ohne eigenes Einkommen,
ihm und seinen etwaigen Hinterbliebenen eine jährliche
Pension von 600 Thalern zusicherte, die Herrn von Below,
der nachmals als Reorganisator der preußischen Kadetten-
anstalten bekannt geworden ist, auch bis zu seinem 1863
erfolgten Tode und darauf seiner Witwe ausgezahlt wurde.
**) 1823 wurde der Prinz Major im Regiment Leib-
: garde. 1825 Oberst und Chef des 1. Linicn-Jnfanterie-
Regiments Kurprinz. Als er 1831 zum Mitregenten
I ernannt wurde, war er Generalmajor. Den Armeen der
größten beiden Bundesstaaten gehörte er als Oberst-In-
haber des k. k. österreich. Hnsaren-Regts. Nr. 8 und Chef
des königl. prenß. 2. schles. Gren.-Regts. Nr. 11 an.
199
Am 27. Februar des Jahres 1821 starb
der Kurfürst Wilhelm I., und Wilhelm II. trat
die Regierung au, sofort bemüht, durch eine neue
Organisation des Staatsweseus den Zeiterforder-
uisfen möglichst zu entsprechen. In der Blüte
seiner Jahre stehend, vermählt mit der Schwester
eines der mächtigsten Monarchen Deutschlands,
versehen mit wohlgefüllten Schatzkammern, fehlte
ihm nichts, um eine hervorragende Stelle unter
den Bundesfürsten einzunehmen, sein Land zu
einem der glücklichsten Staaten zu machen. Dies
Glück aber sollte ihm nicht beschieden sein.
Zwischen den Fürsten und seine Familie war
schon längst die in Hessen bis auf den heutigen
Tag noch allbekannte Gräfin Reichenbach getreten,
die nun gar bald, einem bösen Dämon gleich,
auch den Fürsten mit seinem Volke entzweien
sollte. Die ehelichen Zerwürfnisse waren damals
aber noch nicht so weit gediehen, daß nicht kurz
nach dem Regierungsantritt Wilhelms II. sein
königlicher Schwager. Friedrich Wilhelm III. von
Preußen, ihn in Wilhelmsbad, wo er sich mit
seiner Familie befand, im Frühling 1821 besucht
hätte. Die ganze Umgegend, besonders die feinere
Hanauer Gesellschaft, füllte die Anlagen und
erfreute sich an dem Anblick der hohen Herr-
schaften, die damit nicht geizten. Eine Augen-
zeugin hat dem Schreiber dieses noch erzählt, wie
die kurfürstliche Familie mit dem König vor
dem Schloß den Thee eingenommen habe und
der damals 19jührige Kurprinz in schwarzem
Frack und Escarpins aus dem Schloß kommend,
sich über seinen Anzug sehr amüsiert und sich
lachend betrachtet habe, ebenso belustigt Hütten
ihn auch seine Eltern empfangen. Wahrscheinlich
würde die Veranlassung zur Heiterkeit seine damals
noch sehr jugendlich-schmächtige Erscheinung in
dem neuen Ballanzug gegeben haben, da der Prinz
schon damals wohl am liebsten Uniform trug.
Diese Tage in Wilhelmsbad mögen die letzten
gewesen sein, an denen man die fürstliche Familie
in herzlicher Weise vereinigt sah, denn von Tag
zu Tag wuchs der Einfluß der Gräfin Reichenbach
auf ihren fürstlichen Freund sowohl, wie auf die
Regierungsangelegenheiten. Die Ereignisse der
damaligen Zeit sind einem spannenden Drama zu
vergleichen, das sich in den höheren Kreisen vor-
dem Augen des gesamten Volkes entwickelte, bis dies
zuletzt selbst an der Handlung teilnahm und mit
elementarer Gewalt den Schlußakt herbeiführte.
Eine packende Szene dieses Dramas läßt das
Volk in der Nacht des 31. Januar 1822 im
Neuen Stadtbausaale zu Kassel auf einem der
vom Hostheaterinspektor, Ballet- und Fechtmeister
Brämer veranstalteten Maskenbälle spielen.
Die geheimnisvolle Geschichte von dem Giftmord
des Hoflakaien Bechstüdt ist übrigens in der
letzten Zeit so ausführlich in auswärtigen Blättern
und teilweise auch im „Hessenland" behandelt
worden, daß der Hinweis darauf genügen möge,
zumal der Sachverhalt bis heute unaufgeklärt
geblieben ist. Seit jenem mysteriösen Vorfall
scheint aber das Mißtrauen in dem Gemüt des
Prinzen Wurzel gefaßt zu haben. Nach Beendi-
gung der Untersuchung, die wegen des Bechstüdt-
schen Falles -geführt worden war, reiste der
Prinz im Juni 1822 in Begleitung des Obersten
von Langenschwarz und des Kapitäns von
Steuber nach der Schweiz, wo in Lausanne
längerer Aufenthalt vorgesehen war, den der Kur-
prinz jedoch früher, als der Kurfürst es bestimmt
hatte, abbrach, um nach Kassel zurückzukehren.
Sodann folgte ein Besuch mit seiner Mutter und
seinen Schwestern in Berlin und Potsdam bei
der königlichen Familie, an den sich für den
Prinzen die angenehmsten Erinnerungen knüpften.
In Kassel hatte sich dagegen ein drohendes Wetter
Zusammengezogen, das bald darauf zum Ausbruch
gelangte.
Einer der Lehrer und Vertrauten des Kur-
prinzen war der später berühmt gewordene Joseph
Maria von Radowitz, damals noch kurhessischer
Artilleriehauptmann, der den jungen Prinzen für-
feine staatlichen Ideale zu erziehen suchte. Es
konnte nicht ausbleiben, daß der Kurfürst hiervon
Kunde erhielt, sowie auch den Verdacht nährte,
die jüngeren Offiziere in der Umgebung seines
Sohnes trieben eine ihm feindliche Politik und
unterstützten die sich im Lande bemerklich machende
Agitation für Einberufung der Landstünde, welche
er nicht für notwendig erachtete. Die Folge war,
daß der kurprinzliche Kreis jäh auseinandergerissen
wurde, eine Maßnahme, die einen tiefen Eindruck
hervorrief. Der Kurprinz wurde nach seiner
Rückkehr von Berlin im Sommer 1823 in
die Universitätsstadt Marburg geschickt, um da-
selbst seine Studien fortzusetzen, Radowitz nach
Ziegenhain verwiesen, von wo er sich jedoch ohne
Abschied in das Ausland begab, um später in
die Dienste des Prinzen August von Preußen
zu treten?) In Marburg wohnte der Kurprinz
*) H. von Treitschke in seiner „Deutschen Geschichte
im 19. Jahrhundert" 5. Teil, S. 20 schreibt: „Dann
wurde er (Radowitz) aus Hessen vertrieben, weil er
für die mißhandelte Kurfürstin ritterlich eintrat". Rado-
witz gehörte allerdings zu der Partei des Kurprinzen, die
gegen die Reichcnbach Front machte, aber von einem
persönlichen Eintreten für die Kurfürstin weiß weder der
zeitgenössische Wipper m a n n (Knrhessen seit dem Be-
freiungskriege) noch Friedrich Müller (Kassel seit
70 Jahren) etwas zu berichten.
200
in dem sogenannten Fürstenhause in der Bar-
füßerstraße.
Kurz nachdem Wilhelm II. seinem Unwillen
über die Verbindungen des Sohnes in dieser
Weise Ausdruck verliehen hatte, folgte die groß-
artig angelegte Intrigue der „Drohbriefe", die,
wie so Manches in der hessischen Geschichte,
immerdar verschleiert bleiben wird. Unter den
vielen Personen, die mit diesen Briefen in Zu-
sammenhang gebracht wurden, befand sich auch
Radowitz; da er jedoch Hessen bereits verlassen
hatte, konnte gegen ihn nichts ausgerichtet werden.
Wie sehr der Kurprinz aber mit Radowitz noch
liiert war, zeigte sich einige Jahre später, als er,
mit seinem Vater wegen der Gräfin Reichenbach
in heftigen Zwist geraten, Kassel plötzlich verließ
(24. September 1826) und zu seinem Freunde
nach Berlin eilte. Trotzdem Radowitz die Flucht
des Prinzen tadelte, kehrte dieser doch nicht an
den Hof seines Vaters zurück, sondern ging nach
Bonn, wo seine Mutter sich damals aufhielt, um
dort seine Studien zu vollenden.
In dieser rheinischen Stadt lernte er auf einem
Ball des Generals Croussel die durch Schönheit und
liebenswürdiges Wesen ausgezeichnete Frau eines
preußischen Rittmeisters kennen, aus die ihn seine
fürstliche Mutter selbst mit den Worten auf-
merksam gemacht haben soll: „Sieh nur, Fritz,
am schönsten ist doch die Lehmann". Frau
Lehmann, die reizende Dame mit den mandel-
förmigen Augen und dem reichen, dunkelblonden
Haar war die Tochter des Bonner Weinhündlers
Falken stein. Wegen ihrer außergewöhnlichen
Schönheit von den Eltern verwöhnt, soll sie schon
als junges Mädchen halb im Scherz geäußert
haben, daß sie nur einem Freier, der mit vier
Pferden um sie anhalte, ihre Hand geben werde.
Ob der Bonner Ulanen-Rittmeister, von der Schön-
heit der jungen Dame geblendet, diesem Bedingnisse
Folge gegeben, muß dahingestellt bleiben, einige
Jahre später aber sollten die kühnen Hoffnungen,
die Gertrude Falkensiein einst gehegt, sich verwirk-
lichen. Der Kurprinz fühlte sich von ihr so stark
gefesselt, daß er, da seine Neigung erwidert wurde,
den Entschluß faßte, sich mit ihr zu vermählen
und damit einen Schritt zu thun, der für sein
ganzes Leben entscheidend sein sollte. Vergeblich
bat seine Mutter, drohte sein Oheim, König
Friedrich Wilhelm III., vergeblich beschwor ihn
Radowitz, er ließ sich von der einmal gefaßten
Neigung nicht abbringen. Dem Freunde schrieb
er, diese Heirat sei sein unabänderlicher Wille,
da er unter den an seinem väterlichen Hofe ob-
waltenden Verhältnissen sich doch um keine Prin-
zessin bewerben könne — ein Scheingrund, dessen
Hinfälligkeit sich wohl bei der ersten Probe gezeigt
haben würde.
Die mannigfachen der Vermählung sich ent-
gegenstellenden Schwierigkeiten überwand der Kur-
prinz schließlich und wurde von dem evangelischen
Pfarrer zu Rönshausen in Westfalen mit der
erwählten Dame niorganatisch getraut*) Das
junge Paar behielt seinen Wohnsitz an den Ufern
des Rheins, und im goldenen Mainz war es,
wo den Prinzen die Nachricht von der Pariser
Julircvolution traf, kurz darauf aber auch die
Kunde von einer tödlichen Erkrankung seines
Paters in Karlsbad. Dieser befand sich dort
mit der Gräfin Reichenbach und ihrem Bruder,
Heyer von Rofenfeld. Der Leibarzt Heräns war
nach Hause geschickt worden. Die merkwürdigsten
Gerüchte durchschwirrten die Luft. Man fürchtete,
daß die dunkle Mörderhand, die einst den Sohn
j bedroht, sich nun gegen den Vater gerichtet habe.
- Ter Prinz eilte von Mainz nach Karlsbad, drang
bis zu dem Krankenlager des Kurfürsten, und es
erfolgte eine Versöhnung zwischen Vater und
Sohn, die wohl zur baldigen Genesung des
Leidenden das Ihrige beitrug.
Nach Kassel zurückgekehrt, versprach der Kur-
fürst. um der Not des Landes abzuhelfen, von
der er versicherte bislang keine Kunde gehabt zu
haben, die Einberufung der Landstände, der Kur-
prinz aber eilte nach Hanau, wo Tumulte wegen
der Mautverhältnisse ausgebrvchen waren und
! ein neuer Bauernkrieg in Aussicht staud. „Ich
bin Bürger und Bürgersreund", sagte er zu der
I erregten Menge, und versicherte, bei seinem Vater
' sich dafür verwendet zu haben, daß die Erhebung
der Mautabgabe nicht weiter stattfinden solle,
bis im Landtage darüber beraten worden sei.**)
Der Prinz hielt sich nunmehr auch viel in der
alten Bischofsstadt Fulda auf, wo seine Gemahlin
als Freifrau von Schaum bürg lebte, ohne
daß bisher etwas Bestimmtes über die Heirat
verlautet wäre. Die erste offizielle Mitteilung von
derselben machte der Kurprinz den Offizieren des
in Fulda in Garnison liegenden Füsilierbataillons
des 3. Infanterie-Regiments an seinem Geburtstage
*) Den Zeitpunkt der Vermählung bezeichnet Jakob
Hoffmeister in seinem historisch-genealogischen Handbuch
über das hessische Regentenhaus iS. 93) als ein „politisches
Geheimnis".
**) „Der Chnrprinz selbst, ein rüstiger, junger Mann.
welcher in Bonn seine Studien vollendet und mit der
schönen und liebenswürdigen Madame Lehmann ein dauer-
haftes Verhältnis eingegangen, und in Hessen durch leut-
selig offenes Wesen große Popularität sich erworben hatte,
reiste nach Hanau und beschwichtigte die Bürgerschaft",
schreibt Münch in seiner „Allgemeinen Geschichte der
neuesten Zeit", die von 1832—37, sieben Bände stark, in
Stuttgart erschien.
201
im Jahre 1831. Mittlerweile hatte Wilhelm II.
die berühmte, von Sylvester Jordan entworfene
Berfassung erteilt, und das Volk, das ihm heute
darüber zugejubelt, hatte morgen die Gräfin
Reicheubach mit Schimpf und Schande davon-
gejagt. Der Kurfürst aber konnte es nicht lange
ohne feine zweite Lebensgefährtin aushalten und
folgte ihr bald nach in feine Schlösser am Main.
Nachträglich erteilte er die Genehmigung zu der
Heirat seines Sohnes. Ferner ernannte er den-
selben durch Gesetz vom 30. September 1831 zum
Mitregeuten. Dem Landtagsboten, Obergerichts-
direktor Wiederhold, der die erste Nachricht
von dem zwischen den Ständen und dein Kur-
fürsten getroffenen Abkommen dein Prinzen über-
brachte, fiel dieser in der Freude seines Herzens
um den Hals, denn nun hatte er ja die Macht
in Händen, nach der er sich schon längst gesehnt.
Am 7. Oktober hielt er in Kassel unter großem
Gepränge seinen Einzug, und zwei Tage später
traf auch feine Gemahlin dort ein, die er zur
Gräfin von Schaumburg erhoben hatte. Es war
dies seine erste Regierungshandlung gewesen.
(Fortsetzung folgt.)
Der Reformator Johann Sutel
Bon L. Armbrust.
(Schluß.)
mit der Übersiedelung nach Güttingen hatte sich
Sutel in keiner Beziehung weich und warm
gebettet. Daß er mit Morlin sehr bald in Un-
frieden geraten würde, ließ sich voraussehen *).
Höchst schwierige Zeitumstände kamen hinzu. Es
war das Jahr, in welchem die Stadt vom Kaiser
und von ihrem jungen Herzoge Erich II. gutes
Wetter um Tausende ersaufen mußte. Es war
die Zeit des Augsburger Interims, das den
Protestanten nur den Kelch beim Abendmahle
und die Priesterehe zugestand, im übrigen aber
die katholische Lehre und Kirchenorduung wieder
einzuführen suchte.
Unter solchen Umständen legte der Rat der
Stadt Göttingen großes Gewicht darauf, daß die
Prediger des Kaisers Person nicht von der Kanzel
herab schmähten. Morlin, obwohl leidenschaft-
licher Gegner des Interims, verhieß mit seinen
Amtsgenossen sich im Dienste so zu verhalten,
daß der Stadt kein Schaden daraus entstände.
Privatim zog der Superintendent dann aber um
so ärger gegen Karl V. und gegen Erich II., der-
ber Lutherschen Lehre wieder abtrünnig geworden
war, los. Seine Feinde beuteten die Unvorsichtig-
keit aus und gaben ihn beim Herzoge an. Erich
erzwang nun Morlins sofortige Absetzung (am
18. Januar 1550). Aber damit war die An-
gelegenheit nicht erledigt. Andere mannhafte
Geistliche, Morlins Diakon Franz Marzhausen
und der Pastor von der Marienkirche Simon
Kleinschmidt sowie der Rektor und der Konrektor
*) Lubecus, Bl. 272b: „Anno 1549 finge die beiden
Pfarhern und Prediger. LI. Joan Sutel und 0. Morlin,
ahn unwillig zu werden. Der Striet war über dem
Strafampt. das er 1>. Morlinum woll carpieren (= durch-
hecheln). das er alzil Harde straffte."
der Schule*), sprachen offen ihre Übereinstimmung
mit dem vertriebenen Superintendenten aus und
wiegelten das Volk zum Widerstande auf. Sie
verloren ebenfalls ihre Stellen. Das ging nicht
ohne starken Unfrieden ab. Neben dem Interim
wurde immer wieder die Berufung und Absetzung
von Geistlichen durch die weltliche Obrigkeit ge-
tadelt. Der Kampf richtete sich nicht am wenigsten
gegen den Rat der Stadt, den man Verräter
schalt, und gegen Sutel, dessen Name in Sudler-
verkehrt wurde.
Der letztere hatte ja auch das Augsburger-
Interim ohne viele Bedenken angenommen; unter-
schied es sich doch in manchen Punkten nicht er-
heblich von den Gedanken, die er in der Schwein-
furter Kirchenordnung verfochten hatte. Er suchte
vor allen Dingen das Wesen der Kircheuresormation
zu retten und gab darum in Äußerlichkeiten nach.
Acht Tage nach Morlins unfreiwilligem Abzüge
stellten Rat und Gildenmeister- eine neue Kirchen-
ordnung auf, durch welche die Messe dem Namen
nach wieder eingeführt wurde. Insofern konnte
man von dem Göttinger kleinen Interim reden.
Sutel bekämpfte freilich diesen letzteren Ausdruck
mit Entschiedenheit. Er suchte der Sache die beste
Seite abzugewinnen und lobte in dem Gutachten,
das der Rat von ihm verlangt hatte, die in der
neuen Kirchenordnung bezeigte Fürsorge für die
religiöse Erziehung der Jugend. Zugleich betonte
er aber, daß der Kirchenvorstand („wir") die
Predigtzeiten und auch die Zeremonien jeder Zeit
ändern und bessern dürfe. Er sah den augen-
blicklichen Zustand also nur für vorübergehend
an. Ohne Zweifel hat er durch seine kluge Politik
*) Simon Stier und LI. Bartoldus Spreckhonig. Lu-
becus. Bl. 274a,.
202
die Göttinger Kirche vor ernsten Gefahren und
Erschütterungen bewahrt.
Schwieriger war es, den inneren Frieden wieder
herzustellen. Zu tief wurzelten Zwist und Hatz
unter den Predigern und Gemeindemitgliedern
der Stadt. Sutel stellte eine Anzahl Artikel auf,
um die Spaltung zu beseitigen. Er erklärte es
darin für nötig, wieder einen Superintendenten
einzusetzen, und wies die Berufung der Prediger
der Obrigkeit zu, die sich aber mit der Gemeinde
und den übrigen Geistlichen ins Einvernehmen
setzen müsse. Diese Artikel fanden lebhaften Wider-
spruch. Der Rat griff in den Zwist ein. Melanchthon
und die Universitäten Wittenberg und Leipzig
wurden angerufen und gaben im großen und
ganzen Sntel und seinen Freunden im Rate Recht.
Trotzdem kamen immer neue Streitigkeiten vor.
Ein Angriff, den der Magister Sutel erfuhr, ist
geradezu ehrenvoll für ihn; denn dadurch wird
erwiesen, wie Johann nicht in der Enge seiner
Zeit befangen war. Ein Mann aus der Albani-
gemeinde beging im Wahnsinne Selbstinord. Gleich- !
wohl ließ Sutel ihm ein christliches Begräbnis '
zu teil werden. *) Ein anderer Prediger griff j
deshalb Sutel von der Kanzel herab an. Der !
letztere beklagte sich in einem Briefe an den Bürger- j
meister darüber mit heftigen Worten und stellte i
eine öffentliche Entgeguung in Aussicht.
Dieser Streitfall verleidete dem Magister Johann
nach so vielen bösen Erfahrungen den Aufenthalt !
in Göttingen endgültig. Sein Ansehen war ohne
dies dahin, er predigte nur noch vor leeren !
Bänken. In entscheidender Weise drängten zudem ;
seine mißlichen Vermögensverhältmsse aus eine !
Veränderung. Wenn er auch gegen Ende des
Jahres 1550 wieder zum Superintendenten aus-
gerückt war, so kam er doch nicht mehr aus dem ;
Minus heraus. Eine Abfindung von 30 Gulden
hatte er Beit Pflugmacher ohne Gegenleistung geben
müssen; die Pächter des Pfarrlandes schädigten i
ihn durch ihre Trägheit und Fahrlässigkeit; Ge- 1
bände und Gartenzäune sah er sich genötigt aus
eigene Kosten imstande zu halten. So mußte er 1
das Vermögen seiner Töchter erster Ehe angreifen,
um nur einigermaßen über Wasser zu bleiben.
Schließlich machte ihm Herzog Erich II. den
ärgsten Querstrich. Dieser erklärte, Sutel besitze
die Albanipfarre nicht von Rechts wegen und ver-
lieh sie dem jüngeren Urbanus Rhegius. Ter
letztere wollte den Magister Johann nicht völlig
verdrängen, allein er bedang sich für seinen Ver-
*) In den folgenden Jahrzehnten kamen lnach Lubecus)
in Göttingen mehrfach Selbstmorde von Wahnsinnigen
vor. aber nicht ein einziger dieser Unglücklichen erhielt ein
feierliches Christenbegräbnis.
zicht 20 Gulden jährlich ans. So erforderten
schon die verminderten Einkünfte gebieterisch Sütels
Abzug.
Er nahm 1555 einen Ruf nach Nort-
heim an. Am 9. Oktober trat er dort das
Pfarramt bei der Kirche des heil. Sixtus an.
Sein Gehalt betrug 125 Mark (= 130 Gulden,
jeden zu 20 Mariengroschen gerechnet). Wie sein
Amtsnachfolger, der Chronist Lubecus, bezeugt,
hat Johann Sutel in Northeim sich allgemeine
Achtung und die Liebe seiner Gemeinde erworben.
Bon einem Zwiste mit Amtsgenossen in der Stadt
ist nichts überliefert, wohl aber beabsichtigte er
einmal, in die größeren Kümpfe der Theologen
einzugreifen, und verfaßte zu diesem Zwecke eine
Schrift. Wie in früheren Füllen sandte er sie
an Melanchthon zur Beurteilung und Drucklegung.
Diesmal ohne Erfolg. Denn Melanchthon hinderte,
wie er ihm (am 8. Februar 1560) schrieb, die
Herausgabe aller Werke, welche in den eigenen
Reihen Zwiespalt anrichten und Haß entfachen
könnten. So ist Sütels letzte Arbeit ungedruckt
und ihrer Überschrift und ihrem Inhalte nach
unbekannt geblieben.
Magister Johann war mittlerweile zum zweiten
Male verwitwet. Es entzieht sich der Kenntnis,
wann Eva Bartholomes gestorben ist. Seit der
Hochzeit findet sie niemals wieder Erwähnung.
Sutel gedachte nun anfangs Gertrud Schleisser,
eine ältliche Witwe aus Göttingen, als Haus-
hälterin anzunehmen. Diese fürchtete aber böse
Nachrede und zog ihre Zusage zurück. Da ent-
schloß er sich, sie zu heiraten (im Februar 1561).
Es lag ihm völlig fern, durch die Verbindung
seinen bedrängten Vermögensumstünden aufzu-
helfen. Er sorgte wohl dafür, daß seine dritte
Frau keine Einbuße an Hab und Gut erlitt,
machte aber keinen Versuch, auch nur den Nieß-
brauch davon zu gewinnen. Er beteuerte, daß
er „Gertruden das Brot um Gotteswillen gebe".
So blieb er denn arm wie ein Kirchenmüuslein,
und auch seine Kinder mußten sich kümmerlich
durchs Leben schlagen. Sein Sohn Ludolf erhielt
zum Studium ein fortlaufendes Stipendium und
eine einmalige kleine Verehrung von der Stadt
Northeim, und Justus empfing ein Geschenk des
Göttinger Rates. Sie bezogen die Universität
Erfurt. Justus hatte dort aber kaum so viel, daß
er sich täglich satt essen konnte (6 oder 7 Pfg.!).
Den dritten Sohn Philipp suchte Sutel beim
Abte von Walkenried am Südharze unterzubringen,
damit er einer besseren Bildung teilhaftig würde.*)
*> In der Melsunger Gegend müssen die Sütels sehr
bald ausgestorben sein. Nur 1537 begegnet uns noch ein
203
Zwanzig Jahre lang hat Johann Sutel in
Northeim gewirkt. Er starb Ende August 1575*)
Alexander Sutel lins aus Melsungen, der in Witten-
berg studiert. — In der Randschrist auf einer Eppenberger
Urkunde vom 13. März 1436 ist bemerkt, wieviel Lohe
Sntell zum Zehnten in Enfferteshusen (Empfershausen
n. Mls.) beitrug. Dieser Lotze kann ein naher Verwandter
(vielleicht der Vater) des Priesters Konrad Sutel gewesen
sein und um 1460 gelebt haben, da Empfershausen 1436
und 1441 noch Engebrachtishusen hieß, 1460 aber Enffertis-
husen.
*) Nach Lubecus, Bl. 3186, am 26. August „und
folgents ehrlich begraben". Das Begräbnis Pflegte damals
meist am folgenden Tage zu sein.
und wurde in der Kirche des heil. Sirius vor-
dem Altare begraben.
Die Kirchen von Göttingen und Schweinfurt
sind ihm zum größten Danke verpflichtet; Tüchtig-
keit und Geschick bewies er ohne Zweifel überall.
Er war mehr ein Mann ruhiger Vermittlung
als heißen Kampfes. Nicht umsonst führte er
auf seinem- Siegel (unter dem Spruchbande mit
seinem Namenszuge J. S.) die Friedenstaube, die
mit ausgebreiteten Flügeln nach rechts schreitet.
Aber Melanchthons Sanftmut und Milde fehlte
ihm: Angreifer und hartnäckige Gegner fanden
an ihm einen leidenschaftlichen Widersacher.
-------------------
Das Spital der hl. Elisabeth
und die Anfänge des Deutschen Ritterordens in Marburg.
Von Di-. K. Heldmann.
aber die Ansiedelung der Teutschen Herren beim
Hospital der hl. Elisabeth in Marburg herrschen,
wie der Aufsatz von L. Müller in Nr. 12 des
„Hessenland" S. 158f. beweist, noch immer aus ver-
alteten Tarstellungeu*) beruhende falsche Ansichten.
Taher bin ich als Verfasser einer 1894 erschienenen
„Geschichte der Deutschordensballei Hessen" **) wohl
der Nächste dazu, um den Lesern des „Hessenland"
eine Darstellung der wirklichen historischen Vorgänge
zu geben, wie sie allein sich aus den Urkunden
erweisen lassen.
Leider muß ich sogleich mit einem Geständnis
meiner Unwissenheit beginnen. „Wie so Manches",so
erzählt uns Herr L. Müller nämlich, verdankt auch das
Teutsche Haus in Marburg der heiligen Elisabeth
seinen Ursprung. Ist schon letzteres, wie im Folgenden
zu zeigen sein wird, nur mittelbar richtig, so gestehe
ich, nicht zu wissen, was, wenigstens in unserem Hessen-
lande, außer dieser Ansiedelung und dem, was dazu
gehört, noch alles aus die Landgräfin zurückzuführen
sein soll. Anekdotenhafte Züge aus ihrem Leben und
Sterben hat die Legende ja reichlich genug bewahrt
und herausgebildet; aber mögen dieselben auch zum
Teil irgendwie historisch fundiert sein — historische
Bedeutung für die Zukunft hat nur eine That
der fürstlichen Asketin gehabt: die Gründung des
Franziskus-Hospitals am Fuße der Marburg, in der
Nähe einer von Franziskanern bedienten Kapelle.***)
*) Retters „Hessische Nachrichten". II, die er zitiert,
erschienen 1739, Justis Elisabett) die Heilige 1797, in
neuer Auflage 1835!
**) In der Zeitschrift des Vereins für Hess. Geschichte und
Landeskunde. N. F. Bd. 20, S. 1—191.
***) Schon auf oder bei der Wartburg soll sie ein Hospital
gegründet haben. Davon hören wir aber weiter nichts
mehr. Daß sie die Franziskaner nach Eisenach gezogen hat,
Das war im Sommer 1228, unmittelbar nach ihrem
freiwilligen Abzug aus Thüringen*); im Herbst des-
selben Jahres nahm sie das graue Kleid der Tertia-
rierinnen des Franziskanerordens. Nicht überhaupt
„vor Ablauf des Jahres 1229", sondern schon im
April 1229 war das aus Holz und Lehm erbaute
Spital vollendet; wir wissen das aus einem Ablaß-
brief Papst Gregors IX. vom 19. April 1229 für-
eben dasselbe.**)
Hatte die Landgräfin anfänglich eine elende
Hütte, nach der Überlieferung in Wehrda, vielleicht
aber auch***) in Wetter bewohnt, wo sich ein
Augustinerinnenkvnvent befand, so bezog sie nun ihr
Spital zu Marburg. Daß sie sich „daneben für
sich" eine besondere Wohnnng habe erbauen lassen,
wissen wir nicht und ist auch ganz unwahrscheinlich
bei einer Büßerin, deren ferneres Leben der Kranken-
und Armenpflege gewidmet sein sollte. Dort in
ihrem Spital ist sie auch gestorben. Als ihren Todes-
tag feiert die Kirche bekanntlich den 19. November.
Diese allgemeine Annahme beruht aus der Kanoni-
sationsbulle Gregors IX. Indes ist der Papst darin
zweifellos einem Irrtum zum Opfer gefallen. Ter
authentische Bericht des Beichtvaters der Laudgräfin,
des Magisters Konrad von Marburg, über den Tod
ist möglich, aber nicht ganz sicher; s. H. Mielke. Zur
Biographie der hl. Elisabeth. Landgrüfin von Thüringen.
Dissert. Rostock 1888. S. 57 ff.
*) Daß Elisabeth durch ihren Schwager Landgraf
Heinrich Raspe von der Wartburg vertrieben worden sei,
gehört bekanntlich der Sage an.
**) Vgl. C. W e n ck, Die hl. Elisabeth, in S y b e l s Histor.
Zeitschr. N. F. 33 (1892), S. 238, N. 1.
***) Nach einer Vermutung des Herrn Di-. W. Bücking
in Marburg (Geschichtl. Bilder ans Marburgs Vergangen-
heit 1901, S. 13).
204
Elisabeths setzt diesen einige Tage früher an. ist
aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht an den Papst
gelangt. In meiner Dentschordensgeschichte S. 14
N. 1 habe ich den Todestag auf den 17. November
berechnet, und zwar dachte ich an die frühesten :
Morgenstunden. Ich nehme aber jetzt mit C. Wenck, !
dessen Darlegung darüber noch anssteht, an, daß
Elisabeth bereits am 16. November (Sonntag) kurz i
vor Mitternacht entschlafen ist. Am 19. November
wurde sie beigesetzt, ulso am 3., nicht „am 7. Tage
nach ihrem Tode".
Elisabeth hatte ihr Hospital auf dem ihr bei :
Marburg zugewiesenen sehr bedeutenden Wittum
begründet, an dem ihr jedoch nicht nur „keine Hoheits-
rechte". sondern nicht einmal auch nur Eigentums-
rechte zustanden, sondern lediglich Nutzungsrechte.
Ter Grund und Boden selbst war Allodialgut des
landgräflichen Hauses, und so „betrachteten sich"
Elisabeths Schwager, die Landgrafenbrüder Heinrich
Raspe und Konrad, nicht bloß als Erb- und Grund-
herren, sondern sie waren es wirklich. Zwar hatten
sie schon 1231 das Patronatsrecht über die Mar-
burger Kirchen dem Franziskushospital geschenkt; !
aber sich nun ihrer Besitzrechte über dieses und j
vollends über die gesamten Wittumsgüter ihrer
Schwägerin zu begeben. waren sie durchaus nicht
gemeint. Es ist gar kein Zweifel, daß sie dieselben
nach Elisabeths Tod wieder an sich gezogen haben. !
obwohl es sicher nicht in ihrer Absicht lag, das
Spital selbst in Frage zu stellen ls. meine Geschichte
S. 19, N. 1). So vermochte denn, wahrscheinlich
schon im Anfang des Jahres 1232, M. Kvnrad
dem Spital eine neue Bestätigungsnrkunde auszu- >
wirken, kraft deren die Landgrafen dasselbe von I
neuem reichlich dotierten und für die Zukunft von
allen ihnen daran zustehenden Eigentumsrechten be-
freiten ; leider ist die Urkunde verloren, wir wissen
aber, daß sie vorhanden war (s. meine Geschichte
S. 15, N. 2).
Ganz etwas anderes war es, wer die „Aufsicht"
über das Spital führen sollte. Daß die Landgrafen
selbst sie „für sich in Anspruch" genommen hätten,
dafür haben wir keinen Anhaltspunkt. Aber freilich
konnte es ihnen nicht gleichgültig sein, wer diese
ausüben würde. Bereits Elisabeth selbst soll nun
ihre Stiftung dadurch vor dem (offenbar doch
durch die Landgrafen) drohenden Untergang zu
retten gesucht haben, daß „sie dieselbe dem Schutze
des deutschen Ordens unterstellt und ihm als
Eigentum überlassen" habe. Wiederholen wir, daß
von einer Gefährdung des Spitals durch die Land-
grafen schlechterdings nichts zu erweisen ist und
daß Elisabeth von ihren Wittumsgütern über-
haupt nichts „als Eigentum" zu „überlassen" hatte,
so sind zwar Beziehungen der Landgräfin zum
Teutschen Orden gewiß nicht ohne weiteres in Abrede
zu stellen (vgl. meine Geschichte S. 16 mit N. 3): das
Entscheidende aber ist, daß der Teutsche Orden über-
haupt gar keine Ansprüche auf das Spital und
Elisabeths Erbe erhoben hat. Wer mit solchen
Ansprüchen alsbald nach Elisabeths Tod hervortrat,
das war nicht „gleichfalls", sondern nur der Johan-
niterorden, der sich seit etlichen Jahren in dem
wenige Stunden nördlich von Marburg gelegenen
Wiesenseld im Bnrgwald unter dem Schutz der
Grasen von Battenberg angesiedelt hatte. Und seine
Prozeßgegner waren denn auch nicht die Deutschen
Herren, sondern die Spitalmeister (magistri hospitalis)
Hermann und Albert. Ter Prozeß ist auch nicht
vor einer „Untersuchungskommission" geführt worden,
sondern vor M. Konrad; die aus Bitten der
Johanniter ernannten päpstlichen Delegaten haben,
so viel wir wissen, weiter nichts gethan als Konrads
Schiedsspruch vom 2. August 1232 bestätigt.
Tie Abweisung der Hospitaliter war, wie ich
S. 15 ff. dargelegt habe, ebensowohl durch sachliche
Gründe wie durch Tendenzen der landgräflichen
und kaiserlichen Politik bedingt, führte aber nun
noch keineswegs zur Berufung oder Zulassung des
Teutschen Ordens an die Spitze des Hospitals. Biel-
mehr behielt M. Konrad selbst die Oberaufsicht darüber
in der Hand. Er hat über dem Grabe seines
Beichtkindes jenes erste Elisabethkirchlein gebaut,
dessen Fundamente man in neuerer Zeit im nörd-
lichen Kreuzarm der Elisabethkirche aufgedeckt zu
haben glaubt. Als er am 30. Juli 1233 bei
Beltershausen erschlagen worden war, übernahm
Bischof Konrad von Hildesheim den Schutz des
Spitales, dessen unmittelbarer Rektor der Stadt-
pfarrer Hermann war, während die weltlichen
Geschäfte der Stiftung durch einen „procurator“
geführt wurden, der ebenfalls Hermann hieß, aber
dem Laienstande angehörte. Diese Männer sind
es, die noch im Herbst 1233 die erste große Be-
sitzung für ihr Spital erwarben: die Höfe des
Klosters Fulda in Roßdorf und Mardorf mit Hvch-
und Niedergericht, Zehnten und Gülten, Feld und
Mark. Aus ihren Händen erst übernahm der Deutsche
Ritterorden die Stiftung Elisabeths.
Wenn wir Herrn L. Müller glauben sollten, so
wären die Landgrasenbrüder, zum mindesten Konrad,
dem Deutschen Orden ursprünglich, also etwa zwischen
November 1231 und August 1232, feindlich und
erst „später" wieder „friedlicher" gesinnt geworden.
So liegt die Sache aber ganz und gar nicht.
Bereits im Jahre 1225, als Landgraf Ludwig IV.
der Heilige von Thüringen dem Deutschen Orden
durch ein überaus wichtiges und weitgehendes Privileg
(vergl. darüber meine Gesch., S. 11 ff.) gastliche
Ausnahme in seinen Landen zusagte, sehen wir die
205
beiden Prinzen ihre Zustimmung dazu erteilen.
Ihnen allein verdankt es der Orden, daß er auch
im hessischen Teil der landgräslichen Besitzungen
festen Fuß fassen konnte: am 1. November 1231
schenkten sie ihm ihr Allod in Möllrich. Das war
kaum drei Wochen vor dem Tod ihrer Schwägerin.
Aber auch für die nächsten Monate haben wir nicht
den geringsten Anhaltspunkt dafür, daß nun mit
einem Male eine Entfremdung zwischen Landgrafen
und Deutschorden eingetreten wäre. Im Gegenteil:
gerade die Abweisung der Johanniter ist aller Wahr-
scheinlichkeit nach mit bestimmt gewesen durch deu
Wunsch der Landgrafen, Elisabeths Stiftung wenn
irgend einem Ritterorden, so den ihrem Hause be-
freundeten und dem Kaiser ergebenen Deutschen Herren
offen zu halten. Jedenfalls haben die Landgrafen
im Jahre 1234 vor dem Papst die Erklärung ab-
gegeben, ihr Wunsch sei es schon längst gewesen,
das Franziskusspital dem Deutschen Orden unter-
stellt zu sehen, und wir haben um so weniger
Anlaß, dieser Versicherung zu mißtrauen, als
chronistische Auszeichnungen aus dem Deutschen
Hause zu Marburg (ca. 1290) bereits im Jahre
1233 Teutschordensbrüder in Marburg wohnen
lassen. So wendet sich denn auch Gregor IX. in
seiner Überweisuugsbulle vom 1. Juli 1234 an
„den Meister und die Brüder des Hospitals
St. Francisci in Marburg und die anderen
i in D i e n st e des Herrn dorthin Abge-
ordnete n". Ich nehme keinen Anstand, unter
letzteren nach Marburg abkommandierte Deutsche
Herren zu sehen: aber mit der hl. Elisabeth steht
das in keinem unmittelbaren Zusammenhang.
Also erst seit dem 1. Juli 1234 war der Deutsche
Orden durch die Gunst der Landgrafen Heinrich und
Konrad und kraft päpstlicher und kaiserlicher Urkunden
Herr des Franzisknshospitals und seiner Kapellen
und Güter, und damit zugleich Patron der
Kirchen in Marburg, aber bezeichnenderweise zu-
nächst immer »och unter dem Schutze Konrads
von Hildesheim. An die Stelle einzelner Personen
war damit eines der damals mächtigsten geist-
lichen Institute getreten. In Marburg konnten die
Teutschen Herren in doppelter Weise ihren Ordens-
gelübden nachkommen: der Pflicht zur Krankenpflege
durch persönlichen Dienst im Franziskusspital, der
Pflicht zum Kamps gegen die Ungläubigen ver-
mittelst des Ertrages der Ordensgüter und der
reichen Spenden, die am Grabe der hl. Elisabeth
niedergelegt wurden.
Das Hauptverdienst an dein schnellen Aufschwung,
den die neue Ordensniederlassung im Lahnthal nahm,
kommt unstreitig dem Landgrafen Konrad zu, der
am 13. Oktober und 6. November 1234 dem Orden
ebensoviel allodialen Grundbesitz in Thüringen
(Griefstedt u. s. w. an der Unstrut) und Hessen
(Marburg, Mardorf, Werflo-Kirchhain) zuwandte,
wie die Dotation des Hospitals vom Jahre 1232
betragen hatte, und dann am 18. November selbst
den weißen Mantel mit schwarzem Kreuz nahm.
Mit ihm sollen nach älterer Meinung zwei Freunde und
24 Ritter (Mütter redet gar von „Edelleuten") dem
Orden beigetreten sein. In Wahrheit sind es nur
zwei Kleriker und neun Ritter gewesen; unter den zu
letzteren gehörigen, namentlich genannten Hartmann
von Heldrungen und Dietrich von Grüningen haben
mir offenbar die beiden „Freunde" Konrads zu
erkennen. Richtig aber ist es, daß dem Beispiel
des Landgrafen nun auch zahlreiche andere edle
Herren (Dynasten) im Reiche gefolgt sind.
Damit begann nun sogleich eine großartige Er-
werbspolitik des Ordens, die ihm bis zur Mitte
des 14. Jahrhunderts, abgesehen von den Zehnten und
Gülten, einen Grundbesitz von etwa 20 000 Morgen
zuführte, davon etwa 12 000 allein in hessischen
Gebieten. Die Hauptmasse entfiel natürlich auf
die nähere und weitere Umgebung Marburgs, in
die Kreise Marburg und Kirchhain, sodann aus
Fritzlar und Reichenbach mit ihren Umgebungen.
Der ganze Besitz gruppierte sich um 12 Haupt-
punkte, teils Kommenden, teils Kastnereien, Pfarreien
und Bogteien, bildete also kein geschlossenes Terri-
torium; dieser Umstand hat die Ausbildung einer
Landesherrschast des Deutschen Ordens in Hessen
vornehmlich verhindert.
Erst nach dem Eintritt des Landgrafen Konrad
mit seinem reichen Besitz, nicht dagegen schon 1233,
ist die neue Ordensniederlassung zur Kommende
(Komthurei) erhoben worden, wenn auch ein Komthur
(Winrich) erst im Februar 1236 genannt wird.*)
Ihre Erhebung zur Landkommende der Ballei
Hessen vollends werden wir nicht vor 1250 ansetzen
dürfen: damals wurden die Ordensgüter in der
fernen Pfalz mit einer eigenen Kommende Ober-
Flörsheim der Kommende Marburg uuterstellt.
Die Zahl der Laienbrüder betrug in dieser ersten
Zeit 12 — 15. Die Zahl der Kleriker wurde gegen
1240 aus 13 festgesetzt: 7 Priester, je 2 Diakonen,
Subdiakonen und Akolythen; an ihrer Spitze stand
der Prior (als erster wird Ulrich am 1. Mai
1236 genannt), der seit 1246 das Borrecht hatte,
an hohen Festtagen bei der Messe am Elisabeth-
altar die bischöfliche Mitra tragen zu dürfen.
Es unterliegt feinem Zweifel, daß neben Komthnr
und Prior der Landgraf Konrad, ohne ein eigent-
liches Ordensamt zu bekleiden, die einflußreichste
nicht nur, sondern auch die bedeutendste Person
*) Ein Verzeichnis der Komthure, Vögte, Pfleger und
Prioren der Ballei bis 1360 gebe ich in meiner Geschichte
S. 105—113.
206
des Konventes gewesen ist. Er war es, der per-
sönlich bei der Kurie die Heiligsprechung Elisabeths
schon im Jahre 1234 energisch betrieben hatte und
nun als Ordensherr am Pfingstfest (27. Mai)
1235 erreichte; am 1. Juni wurde sie der Christen-
heit durch die Bulle „Gloriosus in maiestate“
verkündigt. Er war es, der alsbald nach seiner
zweiten Rückkehr aus Italien am 14. August 1235
in Gegenwart des Hochmeisters Hermann von Salza
den Grundstein zur Kirche St. Elisabeth legte.
Auf seine Rechnung kommt das großartigste Fest,
das je auf oberhessischem Boden gefeiert worden
ist: die Erhebung der Gebeine der hl. Elisabeth
am 1. Mai 1236. Roch heute ruft in der Mittags-
stunde eines jeden 30. April die größte Glocke
der Elisabethlirche die Erinnerung wach an die
Einkehr Kaiser Friedrichs II. und der glänzenden
Bersammlung der Erzbischöfe und Bischöfe, Fürsten
und Herren seines Reiches bei der Grabstätte der
ungarischen Schwärmerin. Endlich sind auch zweifel-
los unter der thatkräftigsten Mitwirkung Landgraf
Konrads die ersten Wohn- und Wirtschaftsgebäude
der Kommende erstanden, eine Thalburg hinter
Ringmauern, an denen die landgräsliche Herrschaft
ihre Grenze fand. Tie Ordensherren jener Tage
würden es sich gründlichst verbeten haben, wenn
ihnen jemand vom „Deutschen Hause zu" oder „in
Marburg" hätte reden wollen: für sie gab es mit
Recht nur ein Deutsches Haus „bei Marburg".
Sie würden auch schwerlich damit einverstanden
gewesen sein, die Summe ihrer örtlichen Borrechte
lediglich als „Asylrecht" bezeichnet zu sehen: denn
ihr Haus und Herrschaftsgebiet erfreute sich damals
und noch auf lange Zeit hinaus der staatsrecht-
lichen Unabhängigkeit von der landgräflichen Herr-
schaft in Hessen.
An der Spitze des ganzen Ordens stand in
jenen Tagen noch der große Hochmeister Hermann
von Salza. Dieser „soll" nun in Marburg zuerst
den Plan zur Eroberung Preußens gefaßt haben.
Ich weiß nicht, worauf sich diese angebliche Über-
lieferung gründet. Jedenfalls ist sie falsch. Denn
ans jedem Geschichtswerk kann man sich belehren
lassen, daß der Hochmeister schon 1226 durch
Friedrich II. mit allen Eroberungen, die der
Orden in Preußen machen würde, von Reichs
wegen belehnt worden ist, und daß er schon 1230
den Hermann von Balk als ersten Landmeister
nach Preußen entsandt hat. Aber ein anderes für
den Teutschen Orden und die Germanisierung der
Ostseeländer wichtiges Ereignis hat sich allerdings
im Marburger Ordenshaus abgespielt: die Ein-
verleibung des livländischen SchwertbrüderordenS
in den Deutschen Orden. Doch ist auch diese
Idee nicht vom Hochmeister des letzteren, sondern
von den Schwertbrüdern selbst allsgegangen, und
die ersten nachweisbaren Spuren voll Verhandlungen
darüber führen nicht in das Deutsche Haus bei
Marburg, sondern auf den großen Mainzer Reichs-
tag vom August 1235. In Marburg fanden aber
die entscheidenden Kapitel statt. Das erste hielt
nach seiner Rückkehr aus Livland der Marburger
Ordenspriester Ludwig von Otlingen Ende 1236
ab; es stellte die definitive Entscheidung dem Hoch-
meister zu. Erst auf dem zweiten, einem General-
kapitel (Anfang Juni 1237), führte dieser selbst
den Vorsitz und vollzog aus Grund vorhergegangener
Verhandlungen mit Papst und Kaiser die Ver-
schmelzung beider Orden. Damals beriet er nun
auch mit seinen Gebietigern die in Livland zu
befolgende Ordenspolitik, zu deren Durchführung
er wieder den Hermann Balk als Heermeister
dorthin sandte.*) Vielleicht haben diese letztgenannten
Thatsachen jener angeblichen Tradition vorgeschwebt.
„Sitz des Hochmeisters" des Deutschen Ordens
war aber das Teutsche Haus bei Marburg darum
so wenig wie irgend ein anderes Ordenshaus in
Europa. Diese Ehre kam bis 1291 allein Akkon
im hl. Lande zu. Gewiß haben die Hochmeister,
wenn sie sich in Europa aufhielten, je nach llm-
ständen auch in Marburg Wohnung genommen, wie
uns das wiederholt von Hermann von Salza be-
richtet wird und wie das für Landgraf Konrad, den
Rachfolger Hermanns, wahrscheinlich ist, der während
seiner kurzen Regierungszeit (1239—40) Palästina
meines Wissens nicht betreten hat. Auch die Er-
oberung Akkons hat darin keine Änderung geschaffen:
nicht bei Marburg, sondern in Venedig war von
1291 — 1309 das Haupthaus des Deutschen Ordens
und die ordnungsmäßige Residenz des Hochmeisters.
Aber 1293 treffen wir auch wieder einmal einen
Hochmeister — es ist Konrad von Fenchtwangen —
auf einer seiner Inspektionsreisen am Grabe Elisabeths.
Run giebt es allerdings jüngere Nachrichten aus
dem Mittelalter, die Marburg als hochmeisterlichc
Residenz zwischen Venedig und Marienburg ein-
schieben. Indes ist diesen Quellen, wie ich in
meiner Deutschordensgeschichte S. 58 s. gezeigt
habe, nicht allzuviel Glauben beiznmessen. Denn
der Auszug des Ordens war veranlaßt durch das
Interdikt, mit dem die Königin der Adria am
27. März 1309 belegt wurde; am 3. April hielt
sich der Hochmeister Siegfried uou Feuchtwangen
in Wien auf; zwischen dem 13. und 21. September
bereits zog er in die Marienburg ein. Rechnen
wir nun die zu den Reisen Wien-Marburg und
Marburg-Marienburg notwendigen Zeiträume ab.
*) Näheres, namentlich über die Zeitbestimmungen, in
meiner Geschichte S. 26 ff.
207
so könnten, vorausgesetzt, daß nicht noch andere
am Wege oder gar abseits liegende Ordenshänser
besucht wurden, für den Aufenthalt des Hochmeisters
mit seinem Stab von Großbeamten des Haupt-
hauses in Marburg höchstens die drei Sommer-
monate des Jahres 1309 übrig bleiben. Aber
auch für diese Zeit fehlt es an jeder urkundlichen Be-
glaubigung, so daß man die Frage offen lassen muß.
Aus Heiurat und Frenrde.
Regentschaftsgesetz. Das Hessen-Darm-
städtische Regierungsblatt vom 21. Juli veröffentlicht
eine sich auf die Thronfolge beziehende Verordnung
des Großherzogs Ernst Ludwig. Danach soll, da
der dem Throne zunächst stehende Agnat des Ge-
samthanses Hessen dauernd verhindert sei, die
Regierung persönlich zu führen, für den Fall, daß
dieselbe aus ihn übergeht, eine Regentschaft statt-
finden. Der erwähnte Agnat ist bekanntlich Land-
graf Alexander Friedrich von Hessen, geb.
25. Januar 1863, Sohn des früheren präsumtiven
kurhessischen Thronfolgers. Seine dauernde Be-
hinderung ist in einer an Erblindung reichenden
Augenschwäche zu suchen.
Geschichtsverein. Die diesjährige Haupt-
versammlung des Vereins für hessische Geschichte
und Landeskunde findet vom 21. bis 23. August
in Gelnhausen statt. Herr L. W. Schösser wird
einen Vortrag über die Stadt Gelnhausen halten.
Kurhessische Feldzeichen. Die in dem
Unterstock der Königl. Gemäldegalerie in Kassel auf-
bewahrten kurhessischen Fahnen und Standarten,
die im vorigen Jahre ans Befehl Sr. Majestät
des Kaisers zur Reparierung nach Berlin gesandt
worden sind, befinden sich nunmehr wieder an
ihrem früheren Aufbewahrungsort, nachdem Hof-
sticker Thiele die schwierige Arbeit mit großer
Sorgfalt ausgeführt hat.
Vermächtnis. Der dahingeschiedene Fürst
Wilhelm von Hanau und zu Horschowitz
hat in hochherziger Weise der Armenverwaltnng
der Stadt Kassel ein Legat von 3000 Mark
testamentarisch vermacht.
UniversitätsNachrichten. Zum Rektor der
Universität Marburg für das Amtsjahr 1902/1903
wurde vom akademischen Senate der Professor der klassi-
schen Philologie und der Beredsamkeit Di-. Theodor
Birt gewählt. — Der außerordentliche Professor-
Dia. 1li6ol. Dr. Friedrich Wiegand zu Erlangen
ist zum außerordentlichen Professor in der theologi-
schen Fakultät der Universität zu Marburg ernannt
worden. -- Der ordentliche Professor Dr. Lev
von S a v i g n y zu Marburg ist in gleicher Eigen-
schaft an die Universität Münster versetzt worden. —
Der Oberarzt der medizinischen Klinik Dr. weck.
Otto Heß und der Assistent am physiologischen
Institut Dr. Jahn Seemann haben sich als
Privatdozenten der medizinischen Fakultät an der
Universität Marburg habilitiert.
Dr. Hermann Habicht. Einem hessischen
Landsmann, der sich in den verschiedenen bisher
von ihm bekleideten Stellungen bereits den Ruf
eines hervorragend befähigten Juristen erworben
hatte, ist eine besondere Auszeichnung zu teil ge-
worden. Der Oberlandesgerichtsrat Dr. Habicht
in Frankfurt a. M. wurde zum Geheimen Justiz-
rat und vortragenden Rat im Justiz-Ministerium
ernannt. Dr. .jur. Hermann Habicht ist am 24. De-
zember 1857 in Schmalkalden als Sohn des kur-
hessischen Prokurators Habicht geboren. Er besuchte
das Friedrichs-Gymnasium in Kassel, wohin nach
des Vaters frühem Tode die Witwe behufs Aus-
bildung ihrer drei Kinder gezogen war, und bestand
das Abiturienten-Examen im Jahre 1876. So-
dann bezog er die Universitäten Jena, München
und wieder Jena, woselbst er auch als Dr. .jur.
promovierte. 1879 bestand er das Referendar-
Examen und am 10. November 1884 die große
Staatsprüfung. Nachdem er als Assessor an mehreren
Amtsgerichten, besonders längere Zeit in Felsberg,
beschäftigt gewesen war, wurde er 1889 Amts-
richter in Sontra, als solcher 1894 nach Rüdes-
heim und 1897 als Landrichter nach Kassel ver-
setzt. In 1899 zum Landgerichtsrat ernannt,
wurde er I960 an das Oberlandesgericht in Frank-
furt a. M. versetzt. Außer vielen Aufsätzen in
wissenschaftlichen Zeitschriften schrieb er namentlich
ein bereits in zweiter Auflage erschienenes verdienst-
volles Werk: „Die Einwirkung des Bürgert. Gesetz-
buchs ans zuvor entstandene Rechtsverhältnisse"
(Jena 1899 bei Gust. Fischer).
Gedenktafel. In Marburg ist an dem
Hanse Steteseld, Hofstadt 11, das Jung-Stilling
während seiner von 1787 bis 1803 reichenden
Lehrthütigkeit an der dortigen Universität längere
Zeit bewohnte, von seinen Verehrern eine Gedenk-
tafel angebracht worden.
Denkmal. In Philadelphia beabsichtigen die
dortigen Deutschen dem am 15. Mai 1898 ver-
storbenen Dr. Gottlieb Kellner ein Denkmal
208
zu errichten. Vorsitzender des Denkmal-Komitees
ist Herr Mar Brückmann aus Kassel. Di-. Kellner,
von 1848 — 1850 der Führer der demokratisch-
sozialen Partei in Kurhessen und mit Heinrich
Heise Herausgeber der vielgenannten und gefürchteten
„Hornisse", hat sich um das Deutschtum in den
Bereinigten Staaten große Verdienste erworben.
Edlitam +. In Wiesbaden starb am 19. Juli
Frau Mathilde von Bodenstedt, die Witwe
des Dichters Friedrich von Bodenstedt, im 79.
Lebensjahre. Sie war eine Tochter des kurhessi-
schen Obersten Osterwald, und Bodenstedt hatte
sie auf dem von Malsburgscken Gute Escheberg
kennen gelernt (vergl. ..Hessenland", Jahrg. 1901.
S. 266). Unter dem Namen Edlitam, Ana-
gramm von Mathilde, ist die nunmehr Dahin-
geschiedene in den Liedern Mirza Schaffys von
ihrem Gatten gefeiert worden. Auch sie selbst ist
in ihren jüngeren Jahren schriftstellerisch thätig
gewesen. Unter anderem schrieb sie ein Kinderbuch
im Stile des Christoph Schmidt, das stark gelesen
wurde und auch mehrere Auslagen erlebte.
Todesfälle. In Karlsruhe starb am 18. Juli der
großherzoglich badische Fabrikinspektor Oi-.Wöris-
hosser, ein geborener Kurhesse. W. wurde im
Jahre 1839 in Langenselbold, wo sein Vater Amt-
mann war, geboren, besuchte die Ingenieurschule
des Karlsruher Polytechnikums, war dann praktisch
im Eisenbahnbaufach und als Bahninspektor thätig,
beschäftigte sich aber auch eingehend mit der
sozialen Frage. Im Jahre 1879 wurde er badischer
Fabrikinspektor und hat als solcher auf dem Gebiete
der Gewerbeaufsicht bahnbrechend und vorbildlich
gewirkt. Seine Thätigkeit wurde durch das Ver-
trauen. das ihm von allen Seiten entgegengebracht
wurde, namentlich auch von den Arbeitern, belohnt.
Tie philosophische Fakultät der Universität Frei-
burg i. Br. ernannte ihn im Jahre 1892 zum
Dr. phil. hon. c. Wenige Tage vor seinem Hin-
scheiden war Wörishoffer in den Ruhestand getreten,
dessen er sich nicht mehr erfreuen sollte. — Am
28. Juli schied in Kesselstadt bei Hanau der hessische
Dichter Kurt Ruhn aus dem Leben. Er war
1848 in Riebelsdorf bei Ziegenhain als Sohn eines
Kleinbauers geboren, wurde zum Lehrer ausgebildet
und wirkte als solcher seit langen Jahren in Kessel-
stadt. Dem „Hessenland" gehörte er seit dessen
Gründung als eifriger Mitarbeiter an, dessen Ge-
dichte in Schwälmer Mundart seinen Heimatssinn
in charakteristischer Weise offenbarten. In Buch-
form erschienen von ihm „Neue Märchen für Jung
und Alt" (1895). Über den Lebenslaus des Ver-
blichenen hoffen wir in der nächsten Nummer ge-
nauere Mitteilungen bringen zu können und behalten
uns auch bis dahin eine eingehendere Würdigung
seiner dichterischen Leistungen vor.
Personalien.
Verliehen: dem Eisenbahndirektor a. D. Eduard
Urban zu Kassel der Königl. Kronenorden 8. Klasse; den
Lberleyrern Paulus am Friedrichsgymnasium, Heyden-
reich am Realgymnasium und Zimmermann an der
Oberrealschule, sämtlich zu Kassel, sowie dem Oberlehrer
Dr. Flemmin g an der Realschule zu Eschwege der Charakter
als Professor.
Ernannt: Oberlandesgerichtsrat Dr. Habicht in
Frankfurt a. 301. zum Geheimen Justizrat und vortragenden
Rat im Justizministerium; Kreisschulinspektor Schulrat
Bottermaun in Fulda zum Regierungs- und Schul-
rat in Trier; Wasserbauinspektor Baurat Greve in Kassel
zum Regieruugs- und Baurat beim Polizeipräsidium in
Berlin.
Bestellt: Pfarrer 301 a l km US zu Reuhof zum Pfarrer
in 301ardorf.
Bestätigt: die Wahl des Bürgermeisters C. Fenge
in Felsberg.
Geboren: ein Sohn: Königl. Hoftheatermaler Sierra
und Frau (Kassel, 15. Juli); Zahnarzt Karl Klein
und Frau. geb. Udet (Lübben, 17. Juli); Kaufmann
Georg Berg und Frau Martha, geb. Meyer
(Kassel 21. Juli).
Gestorben: Rentner Ernst Ferdinand Koch,
77 Jahre alt (Eschwege, 14. Juli); Frau Charlotte
Spindler, geb. Müller (Wiesbaden, 14. Juli); ver-
witwete Frau Professor Dr. Joseph ine Linden kohl,
geb. 301 erg eil. 73 Jahre alt (Kassel, 15. Juli); Königl.
Kreisbaliinspektor a. D. Baurat Julius Scheurmann,
57 Jahre alt (Kassel. 16. Juli); Färbereibesitzer Ludwig
Rudolph, 51 Jahre alt (Kassel, 17. Juli); Königl.
Katasterinspektor Steuerrat Henning. 52 Jahre alt
(Kassel, 19. Juli); Oberstleutnant a. D. Wilhelm Ritter
von B r e i t h a u p t, 49 Jahre alt (Kiel, 20. Juli);
Pfarrer a. D. Klingelhöfer aus Dillenbürg (Juli);
Gutsbesitzer JohannesWagner, ehemaliger Kommuual-
landtagsabgevrdneter, 86 Jahre alt (Zwergen, 24. Juli);
Oberstleutnant z. D. Rlidolph Kolbe (Kassel. 25. Juli);
Major a. D. Alexander von Dörr (Halle a. S..
27. Juli); Frau Superintendent Friederike Merle,
geb. Koch, 78 Jahre alt (Marburg. 27. Juli); Lehrer
K u r t 31 u h u, 54 Jahre alt (Kesselstadt. 28. Juli); Sanitäts-
rat Dr. Eduard 31 eussell, 85 Jahre alt (Rodeuberg,
28. Juli); Rentner Franz W e n d e l st a d t, 38 Jahre
alt (Kassel-Wehlheiden. 28. Juli).
Briefkasten,
M. H. in Regensburg, 8.11. in Ravolzhausen. 0. ?. in
Wächtersbach. Besten Dank für freundliche schnelle Er-
füllung des ausgesprochenen Wunsches.
D. 8. in Stuttgart. Verbindlichen Dank.
D. in Fritzlar. Soll gelegentlich gebracht werden.
11. 8., 0. 0. in Kassel. Mit Dank benutzt.
Für die Redaktion verantwortlich: W. Ben necke in Kassel. Druck und Verlag von Fried r. Scheel, Kassel.
Zum 20. August 1902
Gin alter iriedbof — der Gräber Reib’n
im hohen Grase sich breiten:
Die unten rnben im letzten Schrein
Gehören vergangenen Zeiten.
Die Pforte verrostet — das Gotenfeld
6$ schien für ewige Zeiten bestellt
Gs schlossen die Leichen steine
Sieb über der stillen Gemeine.
Doch Gin er kam noch ans fernem Reich,
Der einst im Lande geboren,
Der einst hier herrschte, den Ahnherrn gleich,
Dod) Szepter und Krone verloren.
Gr kam — daß im Code die Sehnsucht gestillt -
Gr kam zurück nach dem heim'schen Gesild,
Daß nod) eine Handvoll Grde
Von den Schaßen der Heimat ihm werde.
Wir kennen das Grab — es flutet dort
setzt stündlich vorüber das Leben,
Dort ruht er, dessen mächtiges Wort
Ginft konnte stürzen und heben —
Dort rubt er, über ihm Himmelsluft.
Kein dumpfes Gewölb ob der düstern Gruft:
So hat er, nachdem er gestorben,
Das Bürgerrecht neu sich erworben.
Und an dem Grabe sei heute gedacht
Des Cags, an dem er geboren
ünd wie ihm die Srende nur selten gelacht,
Und wie ihn das Unglück erkoren.
War's recht, war's unrecht, was er gebot -
Gs hat ihn versöhnt mit uns der Cod.
Und fast schon gleich einer Sage
Grscheinen des Kampfes Cage.
K * <
B.
o]
Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Hessen.
Ein Gedenkblatt zu seinem hundertjährigen Geburtstag.
Bon W. Bennecke.
Fortsetzung.)
RHachdem die so überaus verhaßte Gräfin Neichen-
bach endgültig entfernt war, hätte in der
hessischen Fürstenfamilie wenigstens nach außen
hin der Friede gewahrt bleiben können; aber
nun war es die Kurfürstin, die Veranlassung zu
Mißhelligkeiten gab. Ihr Fürstenstolz ließ es
nicht zu. mit der aus bürgerlichem Kreise hervvr-
gegangenen Schwiegertochter zu verkehren. Tie
Bürgerschaft, welche fürchtete, die Kurfürstiu werde,
wie schon früher geschehen, die Residenz verlassen,
nahm für sie Partei, vor dein Theatergebünde
entstand eines Abends ein Tumult und die Garde
du Corps schritt mit blanker Waffe ein. Es
entstanden fortdauernde Reibereien zwischen der
Bürgerschaft und dem Militär, die erst ihre End-
schast erreichten, als, um das Bürgerbewassnnugs-
gesetz zustande zu bringen, 1832 ans allen hessischen
Städten Deputationen in Kassel erschienen. Ein
Mitglied derselben sagte dem Kurprinzen u. A.:
„Die Zeit ist endlich gekommen, wo die Scheide-
wand zwischen Fürst, Volk und Militär fallen
muß." Ter Prinz, der ein männliches Auftreten
zu schätzen wußte, nahm diese Worte ohne Miß-
gunst ans, und die Generale von Müldner
und von Hayn au trugen das Ihrige dazu bei,
Frieden zu stiften.
Zu jener Zeit war es nun, daß der Kurprinz
einen Mann als seinen ersten Ratgeber berief,
der vom Schicksal dazu bestimmt war, seiner
Regierung den unauslöschlichen Stempel der Re-
aktion auszudrücken: Ludwig Hassen pflüg?)
Die aus der Jugend dieses nunmehr 38 Jahre
alten Mannes bekannten Thatsachen ließen aber
keineswegs aus die Rolle schließen, die er als
Minister zu spielen gedachte. Als zwanzigjähriger
Jüngling hatte er den Befreiungskrieg mitgemacht,
dann war er in altdeutscher Tracht, das Schwert an
der Seite, als Senior von Studentenverbindungen
*) Hassei, pflug. geb. 16. Februar 1794 in Hanau,
wurde 181'» zum Assessor iu dem Justizseuat des Regiernngs-
kollegiums. 1821 zum Justizrat und 1831 zum Ober-
aypellatiousgerichtsrat ernannt. In erster Ehe war er
mit Charlotte Grimm vermählt, die er 1833 durch
den Tod verlor. Seine zweite Frau, Agnes von Münch-
hausen, ist 1899 hochbetagt zu Hvheuwalde iu der Neu-
mark gestorben.
bemerkt worden, wobei ihn sein Freiheitsdrang so
weit führte, daß er die gegen die deutschen Uni-
versitäten gerichteten Schmalzschen Denunziationen,
die öffentlich verbrannt werden sollten, dem Feuer
entriß und eigenhändig in Göttingen an den Schand-
pfahl schlug. Auch als junger Assessor hatte er eine
sehr mannhafte Gesinnung zur Schau getragen
und solche selbst seinem Vater, dem Präsidenten
des Regiernngskollegiums, gegenüber vertreten.
Hassenpflng, der ans einem jugendlichen Freiheits-
schwärmer sich jedoch im Laufe der Zeit zu einem
Förderer mystischer Ansichten umgewandelt hatte,
wurde 1832 kurz nach dem Ableben des Minister-
präsidenten Wieder hold, desselben, der als
Landtagsdeputierter bei der Mitregentschaftsfrage
sich so thätig erwiesen hatte, Minister des Innern
und der Justiz. Es muß aber ausdrücklich bemerkt
werden, daß der Kurprinz selbst niemals Geschmack
an dem Mystizismus gefunden hat und daß auch
Radowitz' Anschauungen in dieser Hinsicht keinen
Einfluß auf ihn ausgeübt haben. Über Hassen-
pflngs nutzbringende Thätigkeit während der
dreißiger Jahre, die sich in einer Reihe trefflicher,
ja sogar mustergültiger Gesetze äußerte, hat Otto
Bähr s. Z. in den „Grenzboten" das Wort er-
griffen*), und es steht fest, daß der nachmalige Kur-
fürst feine Unterschrift niemals wieder unter so all-
gemein förderliche und wohlthätige Bestimmungen
gesetzt hat, als zu jener Zeit. Die Ursache, aus
welcher Hassenpflug 1837 Hessen verließ, sott in
der ihm seitens des Kurprinzen zu teil gewordenen
Behandlung zu finden sein, der die sarkastischen
Anwandlungen, die zeitweise bei ihm zu Tage traten,
auch an seinem Premierminister anszulasfen sich
nicht versagte.
Während des vorerwähnten bedeutsamen Ab-
schnitts in der hessischen Geschichte fand 1833 die
Zollvereinigung mit Preußen statt. Im Jahre
1834 aber fiel die „Notenburger Quart" durch das
Ableben des kinderlosen Landgrafen von Hessen-
Rotenburg an den Kurstaat zurück. Die Revenuen
derselben wurden jedoch von der Hofverwaltnng
mit Beschlag belegt, was zu langwierigen Streitig-
*) Vergl. „Hessenland", Jahrgang 1893, 2. 264.
211
feiten mit den Landständen führte, welche die
Rotenburger Hinterlassenschaft als Staatseigen-
tum betrachteten?)
Einige Zeit nach dem Abgang Hassenpflngs
richteten die Augen des gesamten Deutschlands ;
sich in einer sehr unangenehmen Angelegenheit
auf die knrhessische Regierung und insbesondere t
aus den Kurprinzen. Es handelte sich um den
Prozess gegen Sylvester Jordan, den nn- ^
vergeßlichen Schöpfer der kurhessischen Verfassung.
Der Apotheker Döring, wegen Todschlags und
Hochverrats in Preußen zu langjähriger Freiheits-
strafe verurteilt, wollte sein Schicksal dadurch
lindern, daß er Jordan der Mitwissenschaft an
dein Frankfurter Attentat von 1833 beschuldigte.
Infolgedessen nahm
die kurhessische Re-
gierungJordan unter
dem Verdacht hochver-
räterischer Umtriebe
im Sommer 1839
in Untersuchungshaft.
Fast sechs Jahre lang
zog diese sich hin,
und schon 1840 hatte
Franz Dingelstedt
in seinem berühmten
„Osterwort aus Kur-
hessen" dem Kur-
prinzen zugerufen:
„Neig' Dein Szepter,
Friedrich Wilhelm, zu
erlösendem Bescheid!"
Der Kurprinz aber
ließ dem Prozeß, der
schließlich mit der
Freisprechung Jor-
dans 1845 endete,
seinen Lauf.*) **)
1841 verlor der Kurprinz seine Mutter, die
allverehrte Kurfürstiu Auguste, und hatte von
der hessischen Fürstenfamilie nunmehr nur seine
Schwester, die unvermählte Prinzessin Karoline,
in seiner Nähe. Seine jüngere Schwester Marie
war bereits seit 1825 mit dem Herzog Bernhard
von Sachsen-Meiningen verheiratet. Seine eigene
Familie war auf drei Töchter und vier Söhne
angewachsen, denen noch zwei Söhne folgten.
Die aus der ersten Ehe seiner Gemahlin hervor-
gegangeuen beiden Söhne, welche den Namen
*) Über die eigenartigen Verhältnisse, unter denen die
Rotenburger Quart zurückfiel, vergl.: „Eine mm ventris",
„Hessenland", Jahrgang 1891, S. 812.
**) Vergl. „Sylvester Jordan" von Friedrich Münscher.
„Hessenland", Jahrgang 1889, S. 282 f. und S. 296 f.
von Scholley erhalten hatten, waren ebenfalls
an seinem Hof erzogen worden und in öster-
reichische und preußische Dienste getreten.
Fünf Monate nach dem Tode der Kurfürstin
Auguste ging Wilhelm II. mit der Gräf in Reichen-
bach eine rechtsgültige Ehe ein. Die Gräfin konnte
sich aber ihrer rechtmäßigen Hausfrauenwürde
nicht lange erfreuen, denn schon am 12. Februar
1843 starb sie. Ein halbes Jahr später ver-
mählte Wilhelm II. sich abermals. Baronin und
bald daraus Gräfin von Bergen wurde seine
dritte Gemahlin genannt, die dem altadeligen
Geschlechte der Berlepsch entstammte. Der Kur-
fürst lebte vorzugsweise mit seiner jungen Ge-
mahlin in seiner Villa am unteren Mainthor zu
Frankfurt, und an
eine Wiederkehr in
seine Residenzstadt,
um die Zügel der
Regierungvon neuem
zu ergreifen, war nun-
mehr nicht zu denken.
Wenn auch der
Kurprinz -Mitregeut
im Schloß Bellevue
zu Kassel, wo er am
18. Dezember 18-12
den Landtag persön-
lich eröffnete, in der
Thronrede sagte, daß
der Zustand des Lan-
des fortwährend be-
friedigende Entwick-
lung bekunde, Wissen-
schaft und Künste mit
Sorgfalt und Liebe
gepflegt würden, die
Verbesserung des ös-
sentlicheu Unterrichts
gute Früchte nicht verkennen lasse, Gewerbe und
Landwirtschaft zu einer größeren Vervollkommnung
vorschreite und die Lage des Finanzhaushaltes
zufriedenstellend sei, so standen doch die that-
sächlichen Verhältnisse hiermit nicht überall im
Einklang. Dieselben krankten jedoch in nicht
höherem Maße an den allgemeinen politischen
Mißständen der vormärzlichen Periode, wie in
anderen Bundesstaaten, ja verdienten vor diesen
in sehr vieler Beziehung den Vorzug. (Vergl.
Bähr, „Das frühere Kurhessen".) Der Prinz
schien aber gleich seinem Vater vor Erteilung der
Verfassung, von dem wahren Zustand des Landes
nicht unterrichtet zu sein, oder bei der Annahme,
es sei alles aus das beste bestellt, sich einem Irr-
tum hinzugeben. Er ließ es deswegen an der
Sricdrict) Wilhelm I., Kurfürst von liesse».
212
nötigen Aufhülfe durch Förderung der Gewerbe
und der Landwirtschaft in mancher Hinsicht fehlen.
Dagegen darf dem Kurprinzen aus der langen
Verzögerung der Genehmigung zum Ban der
ersten Eisenbahn in Hessen ein besonderer Vor-
wurf nicht gemacht werden. Eine Abneigung
gegen die Eisenbahn hatte sich nicht allein bei dem
Kurprinzen, sondern auch bei den maßgebenden
Stellen anderer Staaten bemerklich gemacht. Endlich
nach langwierigen Verhandlungen mit den Land-
ständen erteilte der Prinz die Genehmigung zur
Erbauung der „Friedrich-Wilhelms-Nordbahn",die,
an die Thüringische Eisenbahn sich unmittelbar
anschließend, zur preußischen Grenze bei Haueda
geführt werden sollte. Datiert ist die Genehmigung
vom 2. Oktober 1844.
Als sie bekannt wurde, befand der Prinz sich
gerade im Theater. Sofort wurden von der dank-
baren Einwohnerschaft der Residenz Vorbereitungen
zu einem großartigen Fackelzng getroffen. Nach
beendigter Vorstellung wurde der Prinz auf dein
Opernplatz mit tausendstimmigen Jubelrufen em-
pfangen. Die ganze Stadt war festlich erleuchtet
und der Fackelzug schritt dem Wagen des Prinzen
bis in die Wilhelmshöher Allee voran. Bei der
am andern Tag durch den Oberbürgermeister und
den Stadtrat von Kassel im Schloß Wilhelmshöhe
erfolgten Überreichung einer Dankadresse soll der
Prinz sich sehr huldvoll gezeigt und u. a. geäußert
haben, es sei ihm bei den gepflogenen Unterhand-
lungen hauptsächlich darum zu thun gewesen, daß
Gnntershausen nicht Kassel, und Kassel nicht
Gnntershausen werde. *)
Der Bahnbau konnte aber erst im folgenden Jahre
seinen Ansang nehmen. Zugleich mit der Friedrich-
Wilhelms-Nordbahn wurde auch mit der von
Guntershansen abzweigenden Main-Weser-Bahn
begonnen. Nach Vollendung der Nvrdbahn fand
dieselbe in Westfalen aber innerhalb sechs Jahren
keinen Anschluß, und der Kurfürst äußerte einmal
zum Geheimen Legationsrat von Goeddaens:
„Es hätte zuerst die der alten Handelsstraße
zwischen Frankfurt und Leipzig entsprechende Bahn
gebaut werden müssen."
Der Minister des Innern, der seinen Namen
unter die Genehmigung des Statuts für den Eisen-
- *) „Deswegen hatte er auch durchaus keine wirkliche
Station mit Aufenthalt an dieser Stelle zugeben wollen.
Alles sollte, Personell und Güter, nur über Kassel nach
dem Süden gelangen können. Das war freilich gegen das
Interesse beö großen allgemeinen Verkehrs, es zeigt aber,
daß auch dieser hessische Regent keineswegs ein abgesagter
Feind des Fremdenverkehrs in seiner Residenz, oder über-
haupt gleichgültig gegen deren materielle Wohlfahrt gewesen,
wie ihm vielfach nachgesagt worden ist." „Kassel seit
siebzig Jahren" von Fr. Müller. Band 1l, S. 196.
bahnbau gesetzt hatte, war Volmar, der ein
Jahr später eine andere landesherrliche Ent-
schließung kontrasignierte, die mit sehr geteilten
Empfindungen aufgenommen wurde. Es war
dies eine Verordnung, welche den Deutsch-Katholiken
in Hessen völlig den Boden nehmen sollte, nach-
j dem ihnen früher, wie man sagt, ans Anraten
des Ministers des Auswärtigen von Steüber,
ehemaligen Adjutanten des Kurprinzen, von der
Regierung ziemlich freie Hand gelassen worden
war. Der Umschwung trat nach dem Tode des
Herrn von Stenber und einem Besuch ein, den
der Prinzregent, einer Einladung Metternichs
folgend, diesem Staatsmann auf dem Johannis-
berg gemacht hatte. Ähnlich wie gegen die Dentsch-
j Katholiken ging das Ministerium des Innern
unter Schessers Leitung gegen die protestantischen
j „Lichtfreunde" vor. Da der Prinz in religiöser
Beziehung kein Schwärmer war*), andererseits
| aber auch der Freigcisterei nicht zugethan erschien,
so konnte es seinen Ratgebern nicht schwer fällen,
ihn zum Einschreiten sowohl gegen die katholischen,
wie die protestantischen Dissidenten zu bewegen.
In der Ständekammer kam es zu erregter Ans-
sprache, die Unzufriedenheit im Lande wuchs und
dazu kam noch, daß nach einer Mißernte zu Be-
ginn des Jahres 1847 eine Hungersnot drohte.
Um einer solchen möglichst vorzubeugen, kaufte
die Regierung für mehrere Millionen Thaler
überseeische Frucht, die sie mit einem Verlust von
einer halben Million an das Land verteilte, eine
Wohlthat, welche der hessischen Bevölkerung zeigte,
daß die Regierung, trotz der politischen Reibereien
mit den Landständen, den Notstand des Landes
so viel als augenblicklich in ihren Kräften stand,
j zu lindern suchte. 'Nachdem die Aussicht auf eine
gute Ernte alle weiteren Befürchtungen für das
materielle Wohl zerstreut hatte, begab der Prinz
sich in die Grafschaft Schanmbnrg zum Jubelfeste
der 200 jährigen Vereinigung dieses Gebietes mit
Hessen. „Da war kein Städtchen und kein
Dörfchen", schreibt Wippermann, „das sich nicht
an jener Feier beteiligt hätte; den herzlichsten
Enipsang fand überall der Prinzregent, wohin er
kam. Er verweilte lange dort, war unter dem
heiteren Volke selber froh und gab dafür dem-
selben seinen Dank zu erkennen."
Noch vor Ablauf des Jahres 1847 sollte ein
neuer Wendepunkt in dem Leben des Kurprinzen
eintreten, denn am 20. November starb zn Frank-
furt sein Vater, und er trat als Friedrich
_ *) „Als Absolutist ohne Phrase liebte er weder die
Salbung der theologischen, nach die Romantik der feudalen
Reaktivnslehren." H. v. Treitschke „Deutsche Geschichte im
19. Jahrhundert".
Wilhelm I. „Kraft der Erbfolge-Ordnung die
ihm angefallene Nachfolge in der Negierung des
Kurfürstentums an". In der nicht kontrasignierten
Verfügung, welcher diese Worte entnommen sind, be-
hielt er sich wegen der anzuberaumenden Huldigung
weitere Entschließung vor, und man befürchtete, daß
der neue Herrscher die von seinem Vater erteilte
Verfassung nicht zu Recht bestehen lassen werde, eine
Annahme, die nicht grundlos erschien, da in der
Eidesformel, durch welche das Militär dem nun-
mehrigen obersten Kriegsherrn Treue geloben sollte,
die wegen der Ansrechthaltung der Verfassung
vorgeschriebene Klausel nicht enthalten war.
Nach mehreren Paragraphen der Verfassung
gehörten nämlich auch die Offiziere zu den Staats-
dienern, welche aus die Verfassung vereidigt waren
und durch die Landstände in Anklagezustand ver-
setzt werden konnten, wenn sie einer nicht in der
verfassungsmäßigen Form ergangenen Verfügung
Folge leisteten. Sie selbst hatten also die Gesetz-
mäßigkeit der an sie ergehenden Ordres zu
prüfen, falls sie sich nicht in Konflikt mit den
Landständen sehen wollten. Nach diesen Ver-
sassnngsparagraphen hatte man in Knrhessen
gewissermaßen ein Parlamentsheer, das keinem
und besonders nicht einem Herrscher von der Ver-
anlagung Friedrich Wilhelms behagen konnte, der
in dieser Hinsicht nicht schlechter gestellt sein wollte,
wie die andern deutschen Bnndesfürsten. Plante
er einen Umsturz der Verfassung, so war jeden-
falls die Militärfrage die hauptsächlichste Ver-
anlassung dazu.
Durch die Bestimmung, daß bei der Eides-
leistung des Militärs nur der einfache Fahneneid
geleistet werden sollte, geriet das ganze Offizier-
corps in große Unruhe, da in dieser Formel von
der Aufrechterhaltung der Verfassung nichts ent-
halten war. Besonders bedrückt fühlten sich auch
die jüngeren Offiziere, und mehrere von ihnen
suchten noch am Vorabende und am Morgen vor-
der Eidesleistung Rat bei ihren Regiments-
kommandeuren, Offiziere von der Artillerie bei
General Gerland*), Offiziere vom Leibgarde-
regiment bei Oberst von Urff. Dies hatte zur
Folge, daß Oberst von Urff sich zum Kurfürsten
begab und ans die unter den Offizieren herrschende
*) Als der Kurfürst von dem General Gerland die
Namen der Offiziere wissen wollte, erklärte dieser, „die
Namen nicht nennen zu können, da er den jungen Männern
ans deren Geheimhaltung sein Ehrenwort gegeben habe,
und der Kurfürst erklärte es für selbstverständlich, dann
nicht weiter in ihn dringen zu dürfen, ein Beweis, wie
Friedrich Wilhelm an und für sich dachte". (Das Ab-
schiedsgesuch der kurhessischen Offiziere im Oktober 1850
von Senator Di-. Gerland. Kassel 1883. Verlag von
Friedr. Scheel.)
Erregung hinweisend, bat, eine Erklärung abgeben
zu dürfen, daß der neuerdings geforderte Fahnen-
eid den Eid aus die Verfassung in nichts beein-
trächtige. Nachdem der Kurfürst dies zugestanden,
ging die Eidesleistung ohne Zwischenfall vor sich.
Einige der Offiziere aber wurden wegen Zuwider-
handlung gegen das Verbot gemeinschaftlicher
Verabredung mit Festungshaft bestraft.
An dem aus die Eidesleistung folgenden Tag
empfing der Kurfürst eine Deputation der Land-
stände und beutete auf beabsichtigte Modifikationen
der Verfassung hin, durch welche dieselbe in alle
Zukunft sicher gestellt werden würde. Es erfolgte
auch bald darauf die Einsetzung einer Kominission,
um die Verfassung einer Revision zu unterziehen,
aber die Ereignisse des Jahres 1848 sollten alle
diese Pläne jählings über den Hausen werfen.
Kurz nach der französischen Februarrevolution
gaben in Kurhessen in erster Linie die Hanauer
das Zeichen zur Erhebung gegen das bestehende
Regierungssystem. Marburg, Hersseld und auch
die Residenzstadt Kassel traten in die Bewegung
ein, und aus mehrfache Petitionen, die von drohenden
Ansammlungen vor dem Palais unterstützt wurden,
denen die Bürgergarde aber schlagfertig gegen-
übertrat, ließ der Kurfürst nach längerem Zaudern
sich dazu bewegen, die gewünschten Zugeständnisse
zu machen. Diese bestanden in der Berufung
von Ministern, welche das Vertrauen des Volkes
genossen, in Aufhebung der Zensur, Freiheit der
Presse, Religivns- uud Gewissensfreiheit, öffent=
lichem und mündlichem Gerichtsverfahren und
andern wünschenswerten Einrichtungen. Daß es
ill diesen bewegten Tagen zu keinem Einschreiten
des Militärs und keinem Blutvergießen kam, dazu
soll wesentlich die Gräfin Schaumburg bei-
getragen haben, welche in vermittelnder Weise
ihren Einfluß ans den Kurfürst geltend zu machen
verstand.
Am 13. März traten die Landstände zusammen,
und am 17. bildete der Kurfürst das sog. März-
ministerium mit dem Hanauer Bürgermeister
Eberhard als Minister des Innern an der
Spitze. Am 20. Mürz traf als Landtagsabge-
ordneter auch Sylvester Jordan wieder in Kassel
ein und sprach, von dem Volk freudig begrüßt,
die denkwürdigen Worte, daß die Bürger eines
konstitutionellen Staates zur republikanischen Ver-
fassung nur durch Verbrechen gelangen könnten.
Einige Tage darauf sandte der Kurfürst ihn als
Vertrauensmann an den Bundestag in Frankfurt
und ernannte ihn bald nachher mit dem Titel
eines Geheimen Legatiousrates zum kurhessischen
Bundestagsgesandten. Welch ein Wechsel der Ver-
hältnisse!
214
Wie leicht es für den Kurfürsten war, die
größte Popularität zu erlangen, zeigte ihm der
21. März, an welchem er auf dem Friedrichsplatz
eine Revue über die Bürgergarde abhielt. Er
war mit seinem Stab in glänzender Uniform er-
schienen, am linken Arm aber trug er die meiste
Bürgerbinde, und diese kleine Konzession an das
Volksbewußtsein brachte ihm unermeßlichen Jubel
ein. In einem am selben Tag an den Kommandeur
der Bürgergarde gerichteten Schreiben, in welchem
die mustergültige Haltung des Corps gelobt wurde,
erklärte der Kurfürst denn auch, daß insbesondere
die Bezeugungen ausrichtiger Treue und Ergeben-
heit, die ihm bei der Revue gewidmet gewesen
seien, seinem Herzen wohlgethan hätten. Auch
als der Kurfürst und die Gräfin Schaumburg
die schwarz-rot-goldene Fahne, die am 31. Mürz,
bei dem zur Feier der Eröffnung des Vorparlaments
in Frankfurt stattfindenden Zug, vom Küfermeister
Herbold am Palais vorübergetragen wurde, mit
weißen Tüchern begrüßte, wurde dies mit
Enthusiasmus aufgenommen.
Einige Tage später aber stand der Thron in
größter Gefahr, denn durch den Exzeß einer An-
zahl Gardes du Corps entstand in der Nacht vom
9. auf den 10. April ein Aufruhr, der sich über die
ganze Stadt verbreitete. Es ist diese Begebenheit
unter der Bezeichnung „die Garde du Corps-Nacht"
bekannt und im „Hessenland" 1898, Seite 92ss.ge-
schildert, auch durch einen Vortrag von Dr. Schwarz-
kops erst unlängst so lebhaft in das Gedächtnis
zurückgerufen worden, daß nähere Angaben hierüber
(Schluß
überflüssig erscheinen. Bemerkt sei nur, daß der
Kurfürst die sofortige Auflösung seiner Lieblings-
trnppe anordnete und hierin noch weiter ging,
als es selbst der liberale Minister Eberhard für
nötig hielt, der vor der Auflösung eine Unter-
suchung des Sachverhalts für angemessen erachtete.
Auch der mit Blutvergießen verbundene Zwischen-
fall vom 9. April sollte keine weittragenden Folgen
haben, wie dies der 6. August 1848 bewies, an dem
der Kurfürst den Gipfel der Popularität erstieg, als
er am Vormittag aus dem Forst bei Kassel seine
Truppen dem Erzherzog Johann von Österreich als
Reichsverweser huldigen ließ, alsdann aus dem
Bowlingreen vor dem Orangerieschloß der Fahnen-
weihe der Schutzwache beiwohnte und Nachmittags
auf dein großen Volksfeste in der Aue im Frack*),
am Hut die schwarz-rot-goldene Kokarde, erschien.
Der Küfermeister Herbold und der Hofschlosser-
meister Dallwig kredenzten ihm aus einem silbernen
Becher den Ehrentrunk. Der Kurfürst trank ans
das Wohl des engeren, hessischen Vaterlandes, und
Herbold fühlte sich so begeistert, daß er sich bcin
Kurfürsten gegenüber zu der Äußerung verstieg,
„es sei ja vielleicht nicht ausgeschlossen, daß ein
Sohn des Kurfürsten sein Nachfolger auf dem
hessischen Thron werden könne" **).
*) Früher hatte der „Verfassungsfreund" im Hinblick
auf die Vorliebe des Kurprinzen für die Uniform gc-
fchrieben: Ein Fürst, der immer im Soldatcnkleid erscheint,
beweist damit, daß er das Oberhaupt nicht des Staates,
sondern des Militärs sein will. (!!)
**) Bergt. Karl Herbald. „der Bürgerkönig von Kassel",
von Otto Gerland. „Hessenland" 1898, Seite ‘¿04.
folgt.)
----------------
Namen von Münzmeistern und Stempelschneiöern
auf hessischen Geldstücken.
Von Paul Weinmeister, Leipzig.
er hessische Münzen sammelt, thut dies nicht
bloß aus geschichtlichem Interesse, sondern
will sich zugleich an der Schönheit ihrer Gepräge
erfreuen und somit ein künstlerisches Bedürfnis
befriedigen. In der That sind unsere hessischen
Geldstücke dazu in hervorragendem Maße geeignet,
wenn auch nicht aus allen Zeiten gleichmäßig,
nitd was uns Sammlern besonders an ihnen
gefüllt, ist die Sorgfalt, die man auch den kleineren
Nominalen stets gewidmet hat. Ich erinnere in
dieser Beziehung nur an die Gepräge von Karl
und Friedrich I., besonders aber auch an die
hanauischen Geldstücke aus der Erbprinzenzeit
Wilhelms IX. In allen diesen verrät sich ein
Geschmack und eine Darstellungskunst, von der
spätere Zeiten bis zu unseren Tagen nur lernen
können. Die Gesichtszüge der Kopfbilder sind
lebendig, nicht Jahrzehnte lang von demselben
Aussehen (wie z. B. auf den Geprägen der Königin
Viktoria von England)*), sondern der Zeit der
Prägung entsprechend, man bildete also nicht jeden
neuen Stempel sklavisch dem vorhergehenden nach;
die Wappen sind gefällig und geschmackvoll, so
z. B. das sonst ganz einfache Sparrenschild auf
dem hanauischen Kupferkreuzer von 1773, einem
bei aller Schlichtheit überaus schöueu Stück, uitb
dazu kommen zuweilen kleine Verzierungen, die
*) Auf unseren Reichsmünzen zeigen nur die Kopfbilder
der Herrscher von Anhalt, Reuß ü. L. und Sachsen-
Meiningen ein mit der Zeit geändertes Aussehen.
durchaus nicht aufdringlich hervortreten und doch
schon wirken. Kurz, man sieht, daß mau nicht
bloß nüchterne Wertmesser liefern wollte, sondern
zugleich kleine Kunstwerke. Tics ist nächst dem
Kunstsinne der jeweiligen Landessürstcn, den sie
auf ihren Geprägen frei entsalten konnten, den
meist trefflichen Beamten zu danken, denen die
Herstellung der Münzen und ihrer Stempel ob-
lag, den Münzmeistern und insbesondere den
Stempelschneidern. Diese Beamten verdienen es,
auch einem größeren Leserkreise gegenüber, als es
die eigentlichen Sammler sind, genannt zu werden,
und ich will es unternehmen, diejenigen Namen
von ihnen, welche sich ans hessischen Geldstücken
(also mit Ausschluß der Medaillen) meist abgekürzt
vorfinden, hier zusammenzustellen.
I. Hessen vor der Teilung.
Unter Philipp dem Großmütigen findet sich
ans Geldstücken vom Jahre 1564 ein Monogramm
ans II I' vor, es bedeutet den Münzmeister Hans
Perndorsfer, der sein Amt zu Kassel von
1564 bis 1575 bekleidet zu haben scheint.
II. Hessen Hassel.
1. Münzmeister.
H a n S P e r n d o r f fers Monogramm, wie auch
die unverbundenen Buchstaben 14 P finden sich
1574 und 75. Nicht zu verwechseln hiermit ist
das Monogramm aus 41 B, das Hans Bauer, i
Münzmeister von 1572 bis 1610, angehört und !
1584 vorkommt.*) Während es bis dahin dem- ;
nach nicht allgemein Sitte war, daß sich der
Münzmeister ans allen unter seiner Verantwortlich- i
feit geprägten Stücken nannte, finden wir von
1622 an bis in den Anfang des neunzehnten
Jahrhunderts fast Jahr für Jahr das Monogramm
seiner Anfangsbuchstaben oder diese nebeneinander. !
Ich gebe hiermit eine Zusammenstellung der Zeichen,
der Jahre ihres Vorkommens und der Namen, die
sie bedeuten.
Monogramm aus 18 und auch 18 unverbunden, !
1622—34: Terentius Schmidt, Münzmeister
etwa 1627—34, vorher Münzverordneter.
LH, auch als Monogramm, 1635—39: Lubert
H a u ß m a n n, Nachfolger von Schmidt.
G I< 1637, 39, 40: Georg Krnckenberg, i
ziemlich gleichzeitig mit Haußmann.
Monogramm ans AG 1637,1645—47,49— 51,
53—57: Arnold Gall, Schwiegersohn von
Schmidt, Münzmeister wohl seit 1637, gestorben
zu Kassel am 5. Juni 1657.
*) Vergl. darüber meinen Aufsatz im „Numismatischen
Anzeiger" von 1899, Nr. 5.
Monogramm aus IGB, anfangs auch GB
1657—63, 65, 67, 68, 70, 71, 73—80: Jo ha n n
Georg Bittner, Münzwardein uiib Münzmeister.
Monogramm aus 114 1676, 77, 80, 81:
Johann Hofsmann. In den ersteren beiden
Jahren steht das Monogramm ans hessisch-schnnm-
burgischen Münzen, in den letzteren beiden ans
gewöhnlichen hessischen.
I v 1, auch als Monogramm, 1681 — 97:
Johann van Fornenbergk. Münzincister
vom 1. April 1682 bis 1697, vorher bereits aus-
hilfsweise thätig.*)
AG 1701 — 03: A. Ditmar, van Fornen-
bergks Nachfolger, zunächst aushilfsweise, Münz-
meister 1702—04.
LR 1724-27, 29-34, 36-41, 43, 44:
Louis Rollin, Münzmeister seit 8. September
1723, wohl 1744 gestorben.
1 C B, auch als Monogramm, 1746—55,
57 — 59, 61, 62: Johann Conrad Bandell,
Rollins Nachfolger.
V 1762, 41 1763, F. U. 1763- 73, F. V. 1767,
68, 71, 72: Friedrich Ulrich, Bandells
Nachfolger, anfangs Wardein, seit 1764 Münz-
meister, gestorben am 1. November 1773.
B. R. 1774—83: Balthasar Reinhard,
Ulrichs Nachfolger, anfangs Wardein, 1775—83
Münzmeister.
D. F. 1782 - 89, F. 1789 — 1807, 14:
Dietrich Fulda. Reinhards Nachfolger, anfangs
Wardein, 1783 bis 1831 Münzmeister. Auch ans
den königlich westfälischen Münzen findet sich
1808 und 1809 sein F.
Der Ansall der Grafschaft Hanau-Münzen-
berg an Hessen-Kassel im Jahre 1736 brachte
unserem Land eine neue Münzstätte, und da der
damalige Landesherr die Regierung der Grafschaft
schon im voraus am 13. April 1735 seinem Bruder
abgetreten hatte, so übte dieser zu Hanau außer
anderen Hoheitsrechten auch das Münzregal aus.
Geprägt wurde daselbst bis 1802. Über die
dortigen Münzmeister ist folgendes zu berichten:
IX 1738, EK 1739, 40: Engelhard Jo-
hann Kroll, seit 9. Oktober 1737 Münzmeister.
I. 1. E. 1741, 43, 63—70, I. E. 1765: Jo-
ts ann Jakob Encke, Krolls Nachfolger.
6. L. R. 1771, 73—75, 77, 78, 84: Christian
Ludwig Röder, Enckcs Nachfolger, gestorben
am 15. Oktober 1784.
I. F. 11. 1785, 86, F. H. 1787, 89, 91, 93.
94, 96, 98, 1800, 02: Jakob Friedlich
H e e r w n g e n, Röders Nachfolger.
*) Vergl. über ihn meine Aufsätze im „Numismatischen
Anzeiger" von 1897, Nr. 1 und im „Hessenland" von
1897, Nr. 3.
2. Stempelschncider.
Die Namen der Stempelschneider finden sich
auf älteren Geldstücken nicht vor, hüustger auf
Medaillen. Manche Prägungen sind übrigens
als medaillenartige Geldstücke zu bezeichnen, so
z. B. die Begrabnisthaler und kleineren Stücke,
die 1711 Landgraf Karl auf den Tod seiner
Gemahlin Marie Amalie prägen ließ. Sie nennen
als Persertiger teils E. P v m p o n iu s Köhler,
teils Isaak Le Clcrc. Wir kennen aus Karls
Zeit übrigens drei treffliche Stempelschneider des
Namens Le Clere: David um 1699, Gabriel,
graveur de la cour um 1700, und Isaak, bis
1746 Hofmedaillenr. David und Gabriel waren
wohl Brüder, Isaak ein Sohn des ersteren. Über
die Nachfolger ist folgendes zu berichten:
8 1751, 54, 66: Georg Ludwig Sch epp,
später in hessisch-hananischen Diensten (s. u.).
KOR. 1765, K. 1766: Johann Konrad
Korner, Münzgraveur 1765—72 und 1775
(76?)—83. Sein erstes Werk ist der Thaler
mit dem abwärts gerichteten einen Wappenhaltcr
(Löwen), was eine Anspielung auf die damaligen
gespannten Verhältnisse zwischen den Höfen zu
Kassel und Hanau sein sollte. Auch hat er die
bekannten Miniatnrmünzen verfertigt. Sehr ge-
schmackvoll kann man übrigens seine Arbeiten
nicht nennen.
K. 1789—91, 96,97: Johann Friedrich
Körner, Sohn und Nachfolger des Vorigen.
Münzgraveur 1784— 1803.
K. 1813, 14: Wilhelm Kö r n e r, Sohn und
Nachfolger des Vorigen, Münzgravenr 1804 — 33.
Sein Gehilfe war sein gleichnamiger Sohn, der
auch 1834 sein Nachfolger wurde und zu Kassel
am 11. Juli 1864 starb.
C. I\ 1851 — 56,58—62,64,65,0. PFEUFFEK
1851, 54, 55: Carl Psenfs e r, königlich preußi-
scher Hofmedaillenr zu Berlin, gestorben daselbst
23.24. Dezember 1861. Von ihm stammen die
vortrefflichen Kvpfbilder des letzten Kurfürsten
ans seinen Geprägen zu 2 Thalern, 1 Thaler.
5 Sgr. und 21/2 Sgr.
Graveurnamen ans Münzen von Hanau:
v.1763,64:CharlotteNebekkaD a m i s e t geb.
Schild, Stempelschneiderin der Landgräfin Maria.
8 1765— 71: Georg LndwigSchepp, der
bisherige Stempelschneider zu Kassel (s. o.).
II 1774, 75. 77. 78, 84—87. .89. 91. 93.
94. 96, 98. 1800, 02: K a r l Lud w i g H v l tz -
cm er, Münzgravenr 1774 —1820, ein bedeutender
Künstler, dessen Arbeiten sich durch Geschmack,
Reinheit und Zierlichkeit auszeichnen. Seine und
seines Vorgängers Schepp Stempel gehören zu
den schönsten Werken der Stempclschneidekunst.
(Schluß folgt.)
-----------
Kurt Nutzn t-
raue Wolkenschleier schleifen über das Schwalm- !
thal, staubfeiner Regen rieselt hernieder, schwere 1
Tropfen hängen wie Thränen an den zur Erde
gebeugten Waldschmielen...........ich befand mich
aus dem Wege nach Riebelsdorf, um über Knrt
Ruhn, den langjährigen Mitarbeiter des „Hessen-
land", der so Plötzlich aus dem Leben geschieden,
einiges in Erfahrung zu bringen. Nun stand ich
endlich vor dem mittelgroßen, schmucken Bauern-
hause, in dem des Schwalmthals erster Sänger,
Johann Kurt Ruhn, am 28. September 1848 ge-
boren wurde. In der Wohnstube am Ehrenplatz
hängt seine Photographie. Ein schöner Mann!
Lange sinnend in tiefer Wehmut haftet mein Auge
auf den angenehmen, offenen Gesichtszügen, die
ganze äußere Erscheinung des Verstorbenen tritt
mir lebhaft vor die Seele, diese Spielart des
Schwälmer Stammes mit gedrungenem Körper,
bräunlicher Hautfarbe, tiefschwarzem Haare und
blitzenden Augen, während mir seine Schwester,
bitter weinend, von „ihm" erzählt. Kurt Ruhn,
der Sohn braver Schwälmer Bauersleute, besuchte
nacheinander die Dorfschule in Riebelsdorf, die
Präparande und das Seminar in Schlüchtern. In
! Willershausen (Kreis Eschwege) war er von 1868
ab sechs, in Wommen fünf und in Kesselstadt bei
Hanau vom 1. Oktober 1879 an nahezu 23 Jahre
als Lehrer thätig. In allen diesen Orten hat er
sich die Liebe und Verehrung seiner Mitmenschen
in hohem Maße zu erwerben verstanden, wie dies
auch in dem schier unendlichen Leichenznge bei seiner
Beerdigung zum Ausdruck kam. Ein anregender
Erzähler und heiterer Gesellschafter, ließ er sich doch
bei aller seiner Liebenswürdigkeit nicht gerade „unter
die Bank stecken", sondern verstand seine Über-
zeugung auch gegen Höherstehende als echter „eck-
köpfiger" Sohn der Schwalm frei heraus zu ver-
fechten. Dabei war er der beste Gatte und liebevollste
Vater.
Seine Mußestunden füllten schriftstellerische und
dichterische Arbeiten ans. Er nimmt durch dieselben
einen, wenn auch bescheidenen, so doch ehrenvollen
Platz in den Litteraturbestrebnngen unseres Hessen-
landes ein. Kurt Ruhn hat sich in hochdeutscher
Sprache, in der Schwälmer Mundart und als
Mürchendichter versucht. Die Kinder seiner Muse
217
sind aus bcii lyrischen Grundton gestimmt, dabei
verleugnen sie sämtlich, besonders auch seine Märchen,
niemals die schwälmcr Abkunft ihres Erzeugers.
Echte Heimatluft umweht sic alle. Ten hochdeutschen
Gedichten, obwohl auch sic nicht ohne besondere Schön-
heiten sind, fehlt jedoch oftmals, so weit sie mir bekannt
sind, der poetische Schwung und der eigengeprägtc,
packende Ausdruck. — Ein schönes Verdienst hat
sich Kurt Nuhn durch seine Gedichte in Schwälmer
Mundart erworben. Mit Ausnahme der Erzeugnisse
„rcimelnder" Spinnstubenburschen war dort nach
einem kurzen Anlaufe (v. Luder, Kirmeslied) die
Poesie in der Öffentlichkeit verstummt. Es ist Kurt
Nuhn zu verdanken, daß auch diese Mundart ihr
Stimmlein im Konzerte ihrer'Schwestern wieder er-
hebt. Gern hat ihm die Redaktion des „Hessenland"
für diese Bestrebungen die Spalten geöffnet. Bei der
Beurteilung ist es von Wichtigkeit, ganz besonders in
Rechnung zu ziehen, daß Kurt Nuhn die Mundart erst
„litteratnrsühig" *) machen mußte. Gewisse Kon-
zessionen dem Leser gegenüber waren dabei ziemlich
unausbleiblich, mancher wenig salonfähige, aber be-
zeichnende Ausdruck, manche etwas possenmäßige, aber
plastische Redewendung mußten auf Kosten des Lokal-
kolorits unterdrückt werden. Wenn dadurch die
Dichtungen Kurt Nuhns in Schwälmer Mundart
etwas zu hochdeutsch gedacht erscheinen, auch die Sprache
im strengen Sinne des Dialekts nicht immer ganz ein-
wandfrei ist. einen gewissen intimen Reiz werden sie
für den nie verlieren, der den „lyrischen", volkslied-
artigen Humor derselben zu genießen versteht. — Tie
*) Siche l>r. W. Schoofs „Studien zu einer hessischen
Litteraturgeschichte".
„Neuen Märchen" von Kurt Nuhn (1. Ausl. 1895
bei Kittsteiner. Hanan-Kesselstadt) sind bis jetzt
mit Unrecht noch ziemlich unbeachtet geblieben, ob-
wohl sie sich, kleinere Mängel abgerechnet, die eine
2. Auflage (in Vorbereitung) beseitigt hätte, den
besten Erzeugnissen dieser Gattung würdig an die
Seite reihen. Märchenfiguren wie „Goldelse".
„Hans", „Heida", „Wiedn" bleiben es wert, in
der Phantasie unserer Jugend, zumal unserer
hessischen eine Rolle zu spielen. Märchen wie
„Kornmutter" sagen auch Erwachsenen etwas. Für
mich war es, besonders im gegenwärtigen Augen-
blicke, rührend zu lesen, wie Kurt Nuhn in liebender
Anhänglichkeit die Verhältnisse seines Heimats-
dörfchens verwertet hat. Ten .,Falterswald", die
„Sandlöcher", (auch „Born-Hilde", „Egwald",
„Schreck") braucht man nicht weit von demselben
zu suchen. Bolksausdrücke, humoristische Wendungen
sind meistens Blumen des Schwalmthals. Kurt
Nuhns „Neue Märchen" sind ein Volksbuch im
besten Sinne des Wortes.
Nun hat sich der Dichter ins „stille Land"
zurückgezogen, in einem Anfalle seelischer Depression,
gesteigert zum Irrsinn, infolge entsetzlicher Krank-
heit (Magenkrebs), hat er sich den Eingang in
dasselbe — erzwungen. Diese Thatsache der Un-
verantwortlichkeit für die Handlung schließt alle
müßigen Fragen und Erörterungen über das tief-
beklagenswerte Ereignis aus............. Wir aber
legen schweren Herzens dieses Eichenblatt bescheidenen
Ruhmes als Dankeszoll aus die eben geschlossene
Gruft unseres treuen Mitarbeiters: Schlummere saust.
Du des Schwalmthals erster Sänger! Schwalm.
Marieche im
(Schwälmer
Ins i) ahler Parr, in liewer Mann
Ö gürer Nochber noch dozü,
Gc>w 2) dämm Marieche dann ö wann,
Bvs Ken so rächt gärn namme düh3):
Bos Güres ^) güw hä stets züm Ässe.
Dos höt Marieche net Vergüsse.
Es schloß eil5) i dos Häzche i.
Hü war seng alles. „Onkel Parr."
So hüß's'') dä Nowed 7), hüß es srieh.
Hü fiiff8) ein Bobbe ö ee Knarr.
Bos Wonger, däß die Zwee vertranwlich!
Dä Ältern wör dos liew, erbauwlich. —
Marieche gong nü i die Schül.
Dos äscht' Exame kom herrbei.
Dr Lehrer saß off'm Orgelstühl,
Dr Parrer i dr Sakristei.
Äs die Gemee hott off ze senge,
Zür Prieseng9) gongs verm Altör enge.
-------------^
äschte Lxarne.
Mundart.)
Tr Parrer hüll lü) dos.Biwelbüch
I senger Hahnd rächt hoch ö säht:
„Em heei detz Büch bekemmert üch
Ö hahlt, bos dren stet! Da verkläht
Üch nimmer dos Gewesse. Vergüsse
Wedd Gött üch nett ö net Verlässe.
Bie heeßt dos Büch? — Marieche, Dü,
Dü weeßt dos doch?" — Marieche svh
Vo enge ross dämm Parrer zü,
Ö bei dr Frohj u) do gücksen 12) o
Ö höt sich domet ränsgeresse:
„Härr Parr, dos müßt ehr besser messe!" ,;!)
Kurt Muhn i*.
') Unser; 2) gab; 3) Was Kinder so recht gern nehmen
thun; 4) Gutes; B) ihn; 6) hieß es; h Abend; 8) kaufte;
“) Prüfung; l0) hielt; ") Frage; ") guckte es ihn an;
13) Und hat sich damit herausgerissen: Herr Pfarrer, das
müsset Ihr besser wissen!
---------------
218
An -er
Novellettc von M.
„Nun sage, alter Kamerad, warum hast Du !
eigentlich nicht geheiratet?" fragte Professor Tetert
den Schloßbibliothekar Wilhelm Herbrich, nachdem
sie sich eine kleine Weile schweigend gegenüber
gesessen hatten, einzig den, wichtigen Geschäft hin-
gegeben, den Ranchringeln ihrer Zigarren nach-
zublicken.
Sie saßen auf der breiten Veranda von Schloß
Jessilkowa in der Ukraine, einem alten Herrschasts-
sitz, wo der Bibliothekar die Rolle des Herrn und
Gebieters spielte.
Eintönig tropfte der Regen ans die breiten,
weißen Treppenstufen, die vom Garten empor
führten; zuweilen, wenn der Frühherbstwind durch
die Baumkronen fuhr, troff es dichter ans den
Blättern und Zweigen ans den seinen Kies der
Wege, daß es wie Platzregen rauschte. Sonst war
es feierlich still ringsum; Reseden und Heliotrop
dufteten von den Beeten heraus und die dunkel-
sternigen Clematis rankten vom Glasdach der Veranda
bis auf das Tischchen nieder, das zwischen den
beiden Männern stand.
Ter Bibliothekar hatte anscheinend seinen Gegner
im Schachspiel „matt" gemacht; darauf deuteten die
Figuren hin; der Kamps auf dem Brett mochte
kein leichter gewesen sein, denn über beiden lag
ein Zug von Abgespanntheit.
„Geheiratet? — Wo, in Gottes Namen, hätte
ich die Zeit dazu hernehmen sollen?"
„Hm, Zeit? . . . Hast Tn Dir keine Ferienzeit
ausbedungen?"
„Aber natürlich! Jedes Jahr zwei volle Monate."
„Und bist schon zwölf Jahre hier in Deiner
beneidenswert unabhängigen Stellung, — macht
genau zwei Jahre Ferien!"
„Ja, ja!"
„Was hast Du denn damit angefangen?"
„Ich erzählte Dir doch schon: 1888 Studium
halber in Griechenland, 89 in Norwegen, 90 in
Spanien, 91 .... "
„Aha! Tie ganze Welt bereist, um die Kennt-
nisse zu vermehren, aber in all der Zeit keine Frau
gefunden!"
„Keine gesucht, wäre richtiger! Ich kam
wirklich nicht dazu. Übrigens, — bist Du sehr
glücklich, sehr befriedigt als Ehemann?"
„Ja! — Jedes Wort mehr erschiene mir banal."
„Hm!"
Nun war es wieder still; man hörte nichts als
die leise fallenden Tropfen. Nach einer Weile
sagte der Professor lachend:
Werra.
von Ekensteen.
--- (Nachdruck verboten.)
„Tu bist in den langen Jahren, seit wir uns
nicht sahen, doch ganz der Alte geblieben! Ver-
träumt, verloren in Büchern, vergraben in Studium!
Herrgott, Mensch, wer wird denn das Leben über
der Wissenschaft vergessen? Und sage nur, hat es
Tich nie mit Sehnsucht gepackt nach der Heimat,
nach unserem Ringgau und den kleinen Dorschen,
i wo unsere Wiegen standen?"
Wie ein Vorwurf klang es durch die Fragen;
Wilhelm Herbrich lächelte sanft wie ein Kind und
fuhr sich mit der schmalen, weißen Hand durch
das wirre, buschige Haar:
„Tas habe ich mir verspart, gleichsam als Dessert!
Wenn Tn mich auch nicht aufgesucht, und wie ein
Mahner von Heimat und Vergangenheit gesprochen
hättest, meine nächste Reise hätte dem geliebten
Hessenlande gegolten! Denke nur nicht, ich hätte
es je vergessen gehabt. Als ich zum ersten Male
trunkenen Auges die Akropolis sah, da kam es
ganz unvermittelt über mich, daß ich schon einmal
im Leben so ergriffen gewesen war; weißt Du es
noch, es war damals nach der fröhlichen Marburger
Zeit, als wir hoch oben vom Ludwigstein über
das Werrathal hinsahen? — Kein Atom von
Analogie, nur das tiefgehende Empfinden der
Schönheit dort wie hier! Und wieder, als ich
staunend und ergriffen in der Alhambra stand und
die Düfte der Rosen mich schwül umwogten, da
schwebten mir plötzlich die malerischen Thalränder
der Heimat, mit ihrem Ruinenschmnck vor, ich sah
im Geiste die Kurve von Lindewerra mit der Tensels-
kanzel, und der kleine Heimatort stand vor mir,
mit jedem Hause, jeder Gasse! Aber siehst Du,
ich frage mich oft bange, wird es die liebe, alte
Heimat noch sein, wird die prosaische Neuzeit nicht
allen Zauber, von ihr abgestreift haben?"
Fast traurig war seine Rede ausgeklungen;
Professor Tetert stand auf. legte die Hände ans
des Freundes Schultern und sagte:
„Grübler! — Noch fließt die Werra wie ein
lustiges Kind zwischen den burggeschmückten Hohen
dahin, noch grünt und blüht es ans dem Meißner,
und in stets erneuter Herrlichkeit grüßt uns der
hessische Wald."
„Tu mißverstehst mich wohl mit Absicht, Freund?"
unterbrach ihn Herbrich; aber unbeirrt mit großen
Schritten die Veranda durchmessend, fuhr lachend
Tetert fort:
„Noch immer, Monsieur, schreiten im Schwalm-
grund die kräftigen Dirnen in Mieder und kurzem
219
{yattenvocf durch das Wiesenland und die Augen
blitzen unter dem kleidsamen Käppchen . . .
„Auch das meinte ich nicht!"
„Nun denn, was sollte anders geworden sein.
Herr Bibliothekar?"
„Das Milieu, die intime Stimmung, Freund! !
Weißt Tu es noch, wie unsere Mütter spannen
und uns dabei Märchen erzählten, nüe die Büter
im Flaus zur Schenke gingen, den selbstgebauten
Tabak aus kurzen Pfeifen rauchend?------------Heute
stehen wohl die Spinnräder mit bunten Bändern
geschmückt als Zierde in den Boudoirs und die
gemütliche Pfeife ist für die Öffentlichkeit in Acht
und Bann erklärt! Meine Heimat wird mich aus
fremden Augen anschauen, und ich werde sie nicht
wieder erkennen."
„Lieber Herbrich, Tein einsames Leben hier in
der Weltabgeschieden heit hat wohl Deinen Geist
und Tein Wissen zu stolzer Höhe getragen, aber
dadurch blieb ein anderes in Dir zurück! Kann
Dich der Fortschritt verdrießen, der doch das Schönste
im Kulturleben ist? Na, warte nur! Wenn Tu
auf Teiner Heimatwanderung nach Kassel kommst
und uns in unserem Heim aufsuchst, dann soll
meine Tora Tich ein wenig modernisieren! Ich
denke. Du wirst Tich mit ihrem Luxusspinnrade
aussöhnen, und in meiner Studierstube sollst Du
hessisches Kraut rauchen aus langen Pfeifen, die
noch aus der feuchtfröhlichen Zeit alter Burscheu-
herrlichkeit stammen!"
„Rückständig erscheine ich Tir, weil ich mich
nach der Poesie entschwundener Tage sehne, weil
ich mir noch Sinn für die blaue Blume der
Romantik bewahrte?!"
„Laß gut sein, ich wollte Tich ja nicht kränken;
aber es ist gut. daß Du deine Studienreisen be-
endet hast und Dich nun wieder etwas dem Alltag
zuwenden willst! Alter Knabe, heiraten mußt
Du; — — ich spreche nicht etwa pro domo, habe
weder Schwester noch Schwägerin.---------aber —
soll bei Deinen Anlagen Tein Alter nicht trostlos
werden, mußt Du Dir eine liebende Seele küren!"
„Eine liebende Seele mit modernen Allüren, die
die meine nicht versteht und begreift! Lasse Deine
Überredungskünste, alter ego!--------Spielen wir
noch eine Partie?"
„Aha! Du lenkst ab, — — und großmütig
willst Du mir Gelegenheit geben zur Revanche? —
Es sei! Paß ans. ich setze Dich matt!"
Langsam tropfte der Regen; leise schlich die
Dämmerung heran; zweimal schon hatte Detcrt
,.gardez“ und einmal „Schach" gesagt; jetzt setzte
er den Springer vor und ries lachend: „Matt!"
Herbrich stützte den Kops in die Hand und sagte:
„Du hast mich wirr gemacht mit Deinen Heimat-
klängen!"
Tann nach einer kleinen Pause: „Es dämmert;
wollen wir ins Rauchzimmer, gemütlich ein Pfeifchen
rauchen und von der Marburger Zeit reden? Sie
ist nun einmal heraufbeschworen!"
„Topp, cs sei!"
Arm in Arm gingen sie durch die hohe, eisen-
beschlagene Thüre in das Innere des Schlosses.
Detert behäbig und breitschultrig. Herbrich über-
schlauk, die hohe Stirn vorzeitig gefurcht.
(Schluß folgt.»
----—<&-«>-------
Aus alter urtò neuer Zeit.
A ns den E r i n u e r u n g e n eines k u r -
hessischen Garde du Corps. Es war im
Mai des Jahres 1860, als wie gewöhnlich die
kurhessischen Truppen zum Frühjahrsexerzieren aus
dem großen Forste ausrückten. Dorthin kam, nament-
lich bei gutem Wetter, auch häufig der Kurfürst
und verfolgte mit vielem Interesse die Bewegungen
der Truppen, besonders aber hielt er sich sehr
gern in der Nähe der Garde du Corps auf. Eines
Morgens stürzte bei Ausführung einer Attacke der
Rekrut Ackermann, ein herkulisch gebauter Mann,
mit seinem Pferde, und kam so unglücklich zu
liegen, daß das Pferd beim Ausschlagen mit den
Hinterbeinen ihm den Helm total zerschlug und
befürchtet werden mußte, eS werde auch den Kopf
des Gestürzten treffen. Glücklicherweise war dieses
nicht der Fall, denn als A. unter dem Pferd !
hervorgezogen war und auch dieses wieder auf den
Beinen stand, schwang er sich behend in den Sattel,
zog seinen Pallasch aus der Scheide und führte die
Attacke hinter seinen Kameraden her allein aus. Ter
Kurfürst war voll Anfang bis zu Ende Zeuge dieses
Unfalles gewesen. Am anderen Morgen blies der
Trompeter zu einer ungewöhnlichen Zeit zum Appell,
und als wir antraten gewahrten wir die sämtlichen
Offiziere der Eskadron und auch den Divisions-
Kommandeur. Nachdem die Mannschaften verlesen,
mußte A. vortreten, und der Kommandeur sprach:
„Se. Königl. Hoheit der Kurfürst haben sich über
Ihre gestern au den Tag gelegte Herzhaftigkeit sehr
gefreut und spenden Ihnen hiermit ein Geschenk
von 50 Friedrichsdor."
Im Herbstmauöver des Jahres 1862, bei
j Frommershausen, wurde dem Kurfürsten gemeldet,
220
daß einem Soldaten des 1. Infanterie-Regiments der
Ärmel seines Wafsenrockes durch einen fortgeschossenen
Ladestock zerrissen sei, ohne wunderbarer Weise
den Mann irgendwie 31t verletzen. Ter Kurfürst
ritt an uns vorüber aus einen Trupp außer Dienst
gestellter Tambouren und Hornisten verschiedener
Regimenter zu und rief diesen das Kommando
„Achtung blasen" entgegen, was aber, weil der
Kurfürst meist undeutlich sprach, nicht verstanden
wurde. Ter Kurfürst befahl es zum zweitenmale,
und alsbald sprang ein Hornist des 2. Infanterie-
Regiments vor und blies das befohlene Signal
so rein und tadellos, daß der Kurfürst in seiner
Freude hierüber einem seiner Flügeladjutanten be-
fahl, dem Hornisten einen Louisdor zu behändigen.
Den durch den Ladestockschuß getroffenen Soldaten
ließ er ebenfalls in reichlichem Maße für seinen
Schrecken entschädigen.
Bei seinen Ausritten zu den Truppenübungen
trug der Kurfürst mit Borliebe die Uniform der
Garde du Corps. Der gelbe Messinghelm wurde
gewöhnlich von einem aus Palaiswache befindlichen
Garde du Corps geputzt, wofür dieser 20 Sgr.
erhielt. Im Exerziermonat wurde jedoch leine
Garde du Corps-Wache gestellt und mußte der
Helm von einem der Lakaien, welche meist von
der Infanterie (Garde) genommen wurden und mit
dem Messinghelm nicht umzugehen verstanden,
geputzt werden. Das mangelhafte Reinigen des
Helmes trat bei nebeliger Witterung so recht hervor,
und an einem solchen Tage kam der Kurfürst vor
unsere Front geritten — wir waren gerade ab-
gesessen und ruhten —, saß auch ab und ging aus
Oberstleutnant v. Cornberg zu. Nach der üb-
lichen Begrüßung sagte der Kurfürst zu C.: „Corn-
berg haben aber Helm schlecht geputzt", und schlag-
fertig erwiderte v. C.: „Aber Königl. Hoheit haben
noch schlechter geputzt." Der Kurfürst, welcher
diese Bemerkung gut gelaunt aufnahm, griff nach
seinem Helm, nahm ihn vom Kops, besah ihn und
sagte: „Wahrhaftig, Cornberg hat Recht."
Bon der freigebigen Gutherzigkeit des Kurfürsten,
welcher oben Erwähnung geschah, ist vielleicht dem
einen oder dem andern meiner ehemaligen Kameraden
noch mancher ähnliche Zug im Gedächtnis geblieben.
------------- L. 6.
Kurfürst Friedrich Wilhelm von Hessen
als Ehe stifte r. Der letzte Kurfürst von Hessen
besaß, wie wohl allgemein bekannt, einen großen
Schönheitssinn, infolgedessen er daraus hielt, daß
sich auch in seiner Dienerschaft ausnehmend hübsche
und wohlgestaltete Personen befanden.
Lottchen, so wollen wir eine von den im
Schloß beschäftigten Schönen nennen, war ein junges,
liebes, pflichtgetreues Mädchen, das besonders gern
von einem der kurfürstlichen Dienstangestellten ge-
sehen wurde, und cs währte nicht lange, so fand
eine feierliche Verlobung der Beiden statt. Doch
eine Schönheit ist nie so, daß sie von keiner anderen
übertroffen werden könnte, und so kam es auch
hier, daß der junge Bräutigam in seiner Treue
irre wurde und seine Blicke anderweit umherschweifen
ließ. Anfangs wurde das von Lottchen für eine
Laune des Verliebten gehalten und im Scherz auf-
genommen, doch als sich die Blicke seiner blauen
Angen immer seltener in ihre braunen senkten und
die Liebesschwüre immer lauer wurden, da war es
Zeit, den Worten ihrer Freunde, die die harmlose
Seele für pure Verlünmdnng gehalten, zu glauben,
und nun trat an Stelle des Glückes bitterer Kummer,
der bald die rosigen Bäckchen erblassen ließ und
die Augen mit Thränen füllte.
Daß die Ursache ihrer Thränen dem anderen
Personal nicht verschwiegen blieb, dafür sorgte
schon das Interesse an einer ernsten Liebesgeschichte.
So kam auch dieselbe an einen der Kammer-
diener des Kurfürsten, dem das betrogene Mädchen,
das er lange kannte, sehr leid that, und der nun
ernstlich darüber nachsann, auf welche Weise da
Abhülfe geschaffen werden könnte. Daß das bald
geschehen mußte, sah er ein. und nun beschloß er,
vorerst den wankelmütigen Verehrer Lottchens ins
Gebet zu nehmen. Ganz hold war er ihm schon
lange nicht, und da war es wohl natürlich, daß
der Kammerdiener, statt Frieden zu stiften, nur
Ärger und Unliebsamkeitcn erntete, und statt Lottchen
zu nützen und ihr den halb Verlorenen 311 retten,
ihn nur mehr verbitterte.
Es war eine wahre Gewitter-Atmosphäre. Lottchen
schluchzte herzbrechend, wo sie nur irgend sich allein
glaubte; der Abtrünnige grollte und der Kammer-
diener sann und grübelte, was da zu machen sei,
ballte die Hände vor Ärger in der Tasche und zog
die Augenbrauen zusammen, sodaß er selbst wie eine
richtige Gewitterwolke aussah. Und so war es kein
Wunder, daß dieses Wesen selbst dem Kurfürsten
ausfiel und er den Grund zu des Kammerdieners
veränderter Miene zu wissen verlangte.
Von selbst würde dieser nun nicht 311 reden
gewagt haben, doch geantwortet mußte werden
und zwar wahrheitsgemäß! Und was war das
Resultat? — Der Kammerdiener war sehr befriedigt.
Seine Königliche Hoheit hatten geantwortet: „Ver-
stehe, verstehe, braves Mädchen, soll ihn haben, den
Bräutigam! Wohl nur aus Konsens gewartet?"
Und der Konsens! Richtig, einige Tage danach
wurde der Ungetreue zum Kurfürsten besohlen, der
ihm das wichtige verhängnisvolle Schreiben feierlich
überreichen ließ. Wenn auch erst der so Überraschte
zu dem ernsten Spiel gnte Miene machen mußte,
221
so fönt doch nach dem Entladen des Gewitters
wieder Frieden und Ruhe in die Situation.
Die Zeit aber hat gezeigt, daß diese Ehestiftung
dem hohen Herrn zur Ehre gereicht hatte, denn
Lottchen ist durch die Heirat nicht allein glücklich
geworden, sondern hat es auch verstanden, ihren
Mann glücklich zu machen. Ob sie je gehört, wem
sie das zu verdanken hatte? Agathe -Koppen.
-----------8-"«-----------
Aus Heiinat und Fremde.
Hessischer Geschichtsverein. Am 5. August
fand in der ständischen Landesbibliothek zu Kassel
eine außerordentliche Generalversammlung des Hes-
sischen Geschichtsvereins statt, in welcher der seit-
herige Vorstand durch Akklamation, vorbehaltlich
der Genehmigung der Jahresversammlung, wieder-
gewählt wurde.
Am 30. Juli hielt der Hessische Geschichtsverein
in Marburg seine Sommersitzung ab. Nachdem
die Rechnungen geprüft und richtig befunden
waren, wurden als Vorstandsmitglieder gewählt
Geh. Archivrat Di-. Kvnnecke als Vorsitzender, Land-
gerichtsrat a. D. Gleim als dessen Stellvertreter,
Bezirkskonservator Professor Dr. von Drach als
Konservator der Vereinssammlung, die Professoren
Dr. Schröder und Dr. Wenck als Mitglieder
des Redaktionsausschnsses. Der Vorsitzende sprach
sein lebhaftes Bedauern über den Weggang des
Herrn Professor Schröder aus. Auch der Verein
erleide dadurch einen schweren Verlust, doch sei es
gelungen, die wissenschaftliche Kraft des Scheidenden
wenigstens für die Redaktion der Vereinszeitschrift
zu erhalten. Sodann hielt Herr Professor Dr. von
Drach einen Vortrag über gotische hessische Holz-
bauten , bei welchem hauptsächlich das unlängst
in Marburg abgebrochene Schippelsche Haus in
Betracht gezogen und dabei auch die Frage berührt
wurde, ob dasselbe der Familie „zum Schwan"
gehört habe. Außer an diesem Gebäude wurden
unter Vorlegung von zahlreichen Rissen und
Photographien der hessische Holzbau noch an
anderen Häusern aus Marburg, Hersseld, Franken-
berg, Gelnhausen und Fritzlar erläutert, wobei die
von Herrn Architekten August Dauber in Marburg
hergestellten trefflichen Zeichnungen die Zuhörer-
völlig mit den alten Einrichtungen vertraut machten.
Dem Vortragenden sowohl wie Herrn Dauber
wurde der Dank des Vereins ausgesprochen.
Geologische Gesellschaft. In Kassel hielt
vom IO. bis zum 13. August die Deutsche Geo-
logische Gesellschaft ihre 47. Versammlung ab, an
welcher eine große Anzahl der bedeutendsten Ge-
lehrten teilnahm. Schon vor der Kasseler Tagung
hatten die Vereinsmitglieder von Eichenberg aus
eine dreitägige Exkursion über den Meißner nach
der unteren Werra vorgenommen und die dortige
Gebirgssormativn rc. besichtigt. Bon Kassel aus
wurden wissenschaftliche Touren durch den Habichts-
wald und den Kellerwald unternommen. Neben der
ernsten wissenschaftlichen Arbeit kam aber auch der
Humor , zu seinem Recht. Dieser trat besonders in
einer Anzahl Lieder zu Tage, die zum Festmahl
am 13. August von dem Verein für Naturkunde
und dem Verein für naturwissenschaftliche Unter-
haltung gewidmet worden sind. Eines derselben
können wir uns nicht versagen, unseren Lesern mit-
zuteilen. Es lautet:
Wo wir tagen.
Exkursierend im Hessenland
Mühsam geht's durch Kalk und Sand;
Mächtig pustet die Lunge,
Und vom fleißigen, eil'gen Lauf,
Querfeldein, bergab, bergauf.
Durstig lechzet die Zunge.
Glauben wir uns auf Muschelkalk,
Gleich der geolog'sche Schalk
Auf den Sand uns setzet.
Miocänkalk gleich darauf
Durch der Petrefakten Häuf'
Unsere Herzen ergetzet.
Wellenkalk zur Linken streicht.
Rechts hat gleiches Niveau erreicht
Bunten Sandsteins Schichtung,
Und im Nu von ungefähr
Steh'n wir wied'rum auf Tertiär,
Streichend in gleicher Richtung.
Wo die Schichten fall'n gen Süd'.
Klettern den Berg hinauf wir müd';
Plötzlich nach Norden sie fallen.
Und so gehet denn hin und Her-
Streichen und Fallen, die Kreuz, die Quer,
Wo wir wandern und wallen.
Sehet, im schönen Habichtswald
Auf Basalt wir wandern bald.
Bald auf Sandsteinplatten.
Bald vulkanischer Tuff steht an,
Aluschelkalk, Qligocünsand dann.
Unsern Geist zu ermatten.
Doch, nun halten wir klüglich Rast
Nach der Wander- und Sitzungslast,
Unsere Leiber pflegend.
Und bei dem Mahle meinen wir:
's ist doch, wo wir tagen hier,
Eine verworfene Gegend.
_______________F. F. H.
Karl Justi. Am 2. August feierte in Bonn
der bedeutende Kunstgelehrte Professor Karl Justi
seinen 70. Geburtstag. In Marburg geboren,
studierte er daselbst Philosophie nnd Theologie,
ward 1660 Privatdozent nnd 1867 Professor
an der Universität seiner Vaterstadt. Nachdem er
1871 nach Kiel übergesiedelt war, nahm er zwei
Jahre später einen Ruf nach Bonn an, wo er
Archäologie und Knnstgeschichte lehrt. Seine be-
deutendsten Werke auf dem Gebiete der Kunst-
geschichte sind „Winckelmann" (1866—72), „Velas-
quez" (1888) und „Michel Angelo" (1900). ausser-
dem gab er heraus: „Tante nnd die göttliche
Komödie" (1862) und „Tie Verklärung Christi,
Gemälde Raphaels", (1870). Möge der Litteratur
noch manches Werk aus der Feder unseres berühmten
hessischen Landsmannes geschenkt werden.
Louis Katzen st ein. Am 27. August begeht
der Kunstmaler Louis Katzen stein in Kassel
seinen 80. Geburtstag. Am genannten Tage des
Jahres 1822 (Jakob Hoffmeister in dem „Kasseler
Kinder" überschriebeuen Anhang zur „Geschichte der
Stadt Kassel" giebt irrtümlich 1824 als Geburts-
jahr an) in der Haupt- uiib Residenzstadt des
Kurfürstentums Hessen geboren, wurde er nach dem
Besuch von Privatschulen für den Kaufmannsstand
bestimmt, sein ganzes Wesen aber trieb ihn dazu,
sich der Kunst zu widmen, und er setzte es durch,
die Kasseler Malerakademie zu besuchen, wo er
unter Leitung des Professors Friedrich Müller
1845 seine Studien begann. Während dieser Zeit
wurden in Kassel mehrere, allenthalben das größte
Aufsehen erregende Bilder der belgischen Maler
Gallait und Biösve ausgestellt und diese wirkten
dergestalt aus den leicht empfänglichen Kunstjünger,
daß er, gleich vielen andern deiltschen Malern, nach
Paris ging, um in Leon Dvignets Atelier sich
weiter auszubilden. 1847 wandte er sich sodann
nach Rom, wo er. angeregt von dem dortigen
malerischen Volksleben, sich ganz der Genremalerei
widmen wollte. Nach Kassel zurückgekehrt, hielt es
aber den nunmehr in seiner vollen Schaffenskraft
stehenden Künstler nicht für immer in den engen
Grenzen seiner Heimat, denn Mitte der fünfziger
Jahre trat er eine Reise nach Portugal an, uin
dieses interessante Land von der künstlerischen Seite
eingehend kennen 511 lernen. Wie er in Lissabon
Eingang bei Hose fand und den Regenten Don
Ferdinand malte, hat Louis Katzenstein im „Hessen-
land", zu dessen langjährigen, geschätzten Mitarbeitern
er zählt, unlängst selbst geschildert. Dieser ersten
Reise nach Portugal folgten aber noch weitere
Besuche im alten Lusitanien. Von dem Prinz-
Regenten wurde der Künstler mit dem Santiago-
Orden dekoriert. In den sechziger Jahren gründete
Louis Katzenstein sich in Kassel einen Hausstand
und fuhr in rüstiger Thätigkeit fort Bilder ans
dem Leben Dürers, Rubens', van Dyks, Mozarts
zu schaffen. . Sodann wandte er sich mit besonderer
Liebe der Geschichte seines hessischen Vaterlandes
zu. die er in einer Reihe von Kompositionen
illustrierte, die zunächst für die Photographie be-
stimmt waren. Tie Originale der Bilder befinden
sich in der ständischen Landesbibliothek und in der
Murhardschen Bibliothek zu Kassel, denen sie der
Künstler überwiesen hat. Im Jahre 1878 machte
er sich im Verein mit den Kunstmalern Handwerk
und Professor Stiegel um die Entstehung öes
Kunsthauses hoch verdient, da er mit allen Kräften
dafür eintrat, der Kasseler Knust ein Heim zu
gründen. So hat Lonis Katzenstein seit beinahe
sechzig Jahren in Kassel unermüdlich als Maler
und Schriftsteller gewirkt, denn auch manchen fein-
sinnigen Aufsatz über Malerei nnd Litteratur — in
der letzteren bevorzugte er besonders Dickens —
verdanken ihm Kasseler wie auswärtige Blätter.
Noch immer ist der nunmehr Achtzigjährige sowohl
an der Staffelei wie am Schreibtisch thätig nnd
zeigt, wie stete Arbeitslust den Menschen jung zu
erhalten vermag. Möge ihm dies noch manches
Jahr zu bethätigen vergönnt sein!
Universitätsnachrichten. Ter ordentliche
Professor Di-. Friedrich Vogt zu Breslau ist
in gleicher Eigenschaft in die philosophische Fakultät
der Universität zu Marburg versetzt worden. —
Professor Oetker in Marburg nahm einen Ruf
nach Würzburg an. — Professor Dr. H eim-
6 erg ei in Straßburg, der vor kurzem zum ordent-
lichen Professor an der juristischen Fakultät iu
Münster i. W. ernannt worden ist, wurde als
Vertreter des Strafrechts an Professor Belings
Stelle an die Universität Gießen berufen.
Jubiläum. Am 9. und 10. August wurde
in Gelnhausen das 25jährige Amtsjubiläum des
Bürgermeisters Georg Schösser festlich begangen.
Derselbe hat während seiner Amtsführung sich um
die Hebung des dortigen Gemeinwesens vielfach
verdient gemacht uiib sich allgemeine Anerkennung
erworben. Er war Mitbegründer des hessischen
Stüdtetags und zählt zu dessen Vorstandsmitgliedern,
auch gehört er dem Kommnuallandtag, sowie dem
Provinzial- und dem Bezirksausschuß an.
Aus Anlaß der hundertsten Wiederkehr des Ge-
burtstags des letzten Kurfürsten ist soeben im Verlag
der Dietorschen Hofbnchhandlung in Kassel „ F r i e d r i ch
Wilhelm I., Kurfürst von Hessen. Ein Bei-
trag zur Geschichte seines Lebens und seiner Re-
gierungszeit von E. R. Grebe" (broch. 2 Mark,
in Leinen geb. 3 Mark) erschienen. Eine Besprechung
des Werkes wird in einer der nächsten Nummern
erfolgen.
Das in der vorliegenden Nummer des „Hessen-
land" enthaltene Bild des Kurfürsten Friedrich
Wilhelm I., das ihn in seinen letzten Lebens-
jahren darstellt, ist die verkleinerte Reproduktion
eines vorzüglichen Stahlstichs, der uns von dem
Berleger Herrn Wilhelm Hopf in Melsungen
zu diesem Zweck bereitwilligst zur Verfügung gestellt
worden ist. Exemplare des Stahlstichs sind von
Herrn Hopf zum Preise von je 1,50 Mark zu beziehen.
----------------
Hessische Bücherschau.
II rkundenb 11 ch des Klosters Kaufungen
in Hessen Im Aufträge des Historischen
Vereines der Diözese Fulda bearbeitet und
herausgegeben von H e r m a n n v v n R o q u e s,
Major a. T. II. Band. Kassel (M. Siering
in Kommission) 1902.
Mit dem vorliegenden Bmde ist nunmehr das Kaufunger
Urkllndenbnch. dos hochverdienstliche Werk unseres Lands-
mannes Hermann von Roques. vollendet. Mit seinen
XIII und 614 Seiten noch umfangreicher als der vor
zwei Jahren erschienene erste Band. der 423 Urkunden ans
der Zeit von 811—1442 enthielt, umfaßt dieser Band
die Zeit von 1472—1578 mit den Urkunden Nr. 424—826,
die über dos letzte Jahrhundert der Geschichte des ölten
.Klosters Licht verbreiten. Es ist die Zeit der Äbtissinnen
Elisabeth von Woldeck 1442 — 95, Agnes von Anholt
1495—1504, Elisabeth von Plesse 1504—09 (sie mußte
1509 bei der Reformation des Klosters abdanken, wurde
aber noch 10 Jahren auf ihre inständige Bitte und Be-
thcuerung „Eck kan meck nhcht toffrcdc geven, cck mot to
Kvffnngen" wieder ins Kloster oufgcnvmmeu). Anna von
der Bvrch 1509—12, Alfradis von der Borch 1512—34
und Helene Freseken 1534 — 65. Gerade dies letzte Sücnlum
der Geschichte des Klosters ist besonders interessant, und
die Urkunden enthalten reiches Material für dieselbe wie
für die hessische Reformationsgeschichte überhaupt, in der
ja die Aufhebung der Klöster unter Philipp dem Groß-
mütigen eine bedeutende Rolle spielte. Während andere
Klosterinsassen, wie die Kanonissinnen von Wetter und
Eschwege, sich mit den vom Landgrafen gebotenen Ab-
findnngsgcldern zufrieden gaben, erhob die mit mehreren
9!onnen ins Paderbornische geflüchtete Kaufunger Äbtissin
Alfradis von der Bvrch Protest, den ihre Nachfolgerin
erfolglos erneuerte, trotzdem der Kaiser und das Reichs-
kammergericht sich auf die Seite der Vertriebenen stellten.
Die landesherrliche Gewalt behielt die Oberhand und das
Kloster blieb in den Händen der hessischen Ritterschaft,
der es von Philipp dem Großmütigen übergeben war.
Über alle diese Dinge und Verhältnisse gibt das Urknnden-
bnch neue Aufschlüsse und bietet daneben wieder wie der
frühere Band eine Fülle von Interessantem zur Kultur-
geschichte des 15. und 16. Jahrhunderts, so daß man in
jeder Hinsicht diese Bereicherung der historischen Quellen-
litteratur für unsere Geschichtsforschung aufs dankbarste
begrüßen kann.
Über die Arbeit des Herausgebers, der ja bekanntlich
erst in späteren Jahren sich dem historischen Fachstudium
zugewandt hat und deshalb bei der Herausgabe der Ur-
kunden Hindernisse überwinden mußte, die dem schulmüßig
herangebildeten Historiker gewiß weniger Schwierigkeit
geboten haben würden, können wir nur auf das durchweg
anerkennende Urteil verweisen, das der verstorbene Redakteur
unserer Zeitschrift Dr. G rvtefend über den ersten Band
des Urkundenbuchs im Jahrgang 1900, S. 309—12 aus-
gesprochen hat und das wir in jeder Hinsicht bestätigen
können. Wir wünschen dem Herausgeber, daß er auch
insofern die Frucht seiner mühsamen jahrelangen Arbeit
selber pflücken möge, indem es ihm gelinge, nun auch
die beabsichtigte Darstellung der Geschichte von Kaufungen
zu vollenden. für die er mit seinem Urkundenbuch den
Grundstein gelegt hat.
Im Anhange sind außer Nachträgen zu den Urkunden
des ersten und Zweiten Bandes u. a. m. Notizen über die
Grabmäler der Äbtissinnen in der Kaufunger Kirche sowie
die aus dem 15. Jahrhundert stammenden Statuta
lvouffungensiuni mitgeteilt.
Schließlich sei noch das umfangreiche, mit großem Fleiße
ausgearbeitete Register erwähnt, bei dem wir nur zu be-
dauern haben, daß es für beide Bände getrennt und nicht
als ein einziges Gesamtregister angelegt ist. Die dem
Werke beigegebene Übersichtskarte der Besitzungen des
Klosters (gezeichnet von Herrn G. Siegel in Lichtenau)
umfaßt auch die westfälischen und rheinischen Güter sowie
alle im Urkundenbuche erwähnten Orte und dient somit
-als wesentliches Hülfsmittel zur geographischen Orientierung.
Ehronik von Stadl und Festung Spangen-
berg. Bearbeitet von Wilh. Siebald,
Bürgermeister. Unter Wegfall rein statistischer
Zusammenstellungen neu bearb. und Hrsg, von
Wilhelm B o i gl. Marburg (Ehrhardt) [i 902].
Die erste weit umfangreichere Ausgabe dieser Schrift
erschien im Jahre 1880 (Druck von Bernecker in Melsungen)
und verdiente als ein erster Versuch. die Geschichte der
alten hessischen Bergfeste kurz darzustellen. entschiedenes
Lob. Daß nunmehr nach 20 Jahren sich das Bedürfnis
nach einer Neuauflage des Siebaldschen Merkchens gezeigt
hat, ist gewiß ein gutes Zeichen. Aber mit der uns vor-
liegenden Neubearbeitung können wir uns keineswegs ein-
verstanden erklären. Herr Voigt hat die neun Kapitel
der ursprünglichen Schrift seines Großvaters zu vier
Kapiteln zusammengezogen, von denen eins, der vierte
Teil des Ganzen!, nur die Liebenbach-Sage umfaßt, die
am allerersten eine bedeutende Kürzung hätte vertragen
können. Dagegen hat er die von Siebald mit großer
Mühe gesammelten Angaben über die Einwohnerschaft.
Handel und Gewerbe, städtische Verwaltung. Schulwesen,
die vollständige Reihe der Pfarrer, Rektoren, Bürgermeister
n. a. m. gänzlich unterdrückt. Mochten das immerhin
Diitge sein, die einen weiteren Leserkreis nicht sonderlich
interessierten, so waren es doch gerade diese jetzt getilgten
Stellen, die dem anspruchslosen Schriftchen Siebalds einen
wirklichen Wert für die hessische Lokalgeschichtsforschung
verliehen, und ihre Streichung statt Vermehrung und
Ergänzung in der vorliegenden Neuauflage kann deshalb
nur bedauert werden. Vh. <£.
224
Sonnen w ende. Gedichte von PH. Tn a b.
Darmstadt (Iohs. Waitz, Hofbuchhdl.) 1902.
Warum gleich gegen anderthalbhundcrt Gedichte ? Die Be-
schränkung auf eine Auslese des Besten wäre einer nach-
haltigeren Wirkung zu gute gekommen; so sind die Gedichte
nicht alle gleichwertig. Aber es sind prächtige Sachen
darunter. Wir finden viele urdeutsche Züge bei diesem
an Jahren schon gereiften Dichter, deutsch ist seine ganze
Art zu schauen und zu dichten. Die deutsche Familie,
die Freude an Weib und Kind, deutsche Natur und Sprache,
deutsche Götter und Helden werden besungen. Eine Reihe
kerniger Haussprüche wecken vielleicht hier und da wieder
die bei uns in Hessen immer mehr absterbende Freude an
dieser schönen alten Sitte. Ein Spruch wie der folgende:
„Ter Mann bringt wohl das Haus zu stand.
Ein Heim wird's durch des Weibes Hand"
steht immerhin einem deutschen Haus besser an als ein
römisches „Salve“. Ter Dichter ist allen Neutönern abhold,
und wenn wir selbst auch wissen, daß wir ihnen unendlich
feine Stimmungen verdanken, die in und bei der Mache
sind, so widersprecheil wir unserem Dichter doch nicht, wenn
er die „Neuen" auffordert, dem Volke lebendiges Wasser
aus dem Stein zu schlagen, statt ihm aus Pfützen den Trank
zu schöpfen. Mit Vorliebe pflegt er das Gleichnis: aus
einer einfachen Naturbetrachtung erwächst ihm eine Reflexion
über sein und seines Nächsten Leben, und auf die Weise
gelingt ihm oft ein Schluß mit überraschendem Geschick.
Glicht selten freilich wird die Grundstimmung durch über-
flüssige Worte gestört, manches scheint dem Vers zuliebe
gezwungen. Der Gedanke ist zu Ende. nicht aber der Vers.
und die ganze Strophe wird durch ein paar nichtssagende
Füllsel verdorben. Nun. es gibt nur wenige Auserwählte.
die nie auf diese Klippe geworfen wurden. Wir sehen
auch hier, daß Kürze die Seele der Lyrik ist. die kleineren
Gedichte sind die gelungensten. Gesamteindruck: ein be-
merkenswertes Talent, das uns vor allem deutsche Lieder
bietet ohne das hohle patriotische Pathos, das so oft von
dieser Gattung nicht zu trennen ist. H'bach.
Ferner zur Besprechung eingegangene Bücher und Schriften:
Elegien und andere Gedichte von TheodorSouchay.
Cannstatt (H. Reitzels Hofbuchhandlung) 1902.
Trowitzsch's verbesserter und alter Kalender für 190.1.
Jubiläums-Jahrgang 200. Berlin (Trvwitzsch <fc Sohn).
Wasgau-Fahrten. Ein Zeitbuch von Fritz Lien ha rd.
I. Anflage. Leipzig und Berlin <G. H. Meyer) 1902.
T e u t sch e Ze i t sch r i f t. herausgegeben von Er» st Wachte r.
II. Band, Heft 1. Berlin <G H. Meyer) 1902.
Deutsche Heimat. Heft 41. Berlin (Meyer L Wunder)
1902.
Vademekum des Lehrers. 1. Band. Heft 1. Arns-
berg i. W. lF. W. Becker) 1902.
DerHansfreund. Jll. Volkskalender für 1901.20. Jahrg.
Herausgegeben von Pfarrer H e i n r i ch Ni ö l l e r in Kassel.
Kassel (Ernst Röttger).
Personalien.
Verliehen: dem Superintendenten und Pfarrer Ru hl
zu Fulda, dem bisherigen Syndikus der Handelskammer
zu Dortmund Ernst Bernhardt zu Marburg und dem
Eisenbahnstationsvorsteher 1. Klasse Wilhelm Meyer zu
Hanau der rote Adlerorden 4. Klasse; dem Rechtsanwalt
und Notar Schmu ch in Kassel der Titel Justizrat; dem
Hüttendirektor z. D. Wigand in Homberg beim Übertritt
in den Ruhestand der Charakter als Bergrat.
Ernannt: Landrat und Polizeidirektvr von Scheust
in Hanau zum Polizeipräsidenten von Wiesbaden; Landrat
1)r. v. Besterath in Dillenbnrg zum Landrat in Hanau;
Domkapitular Heinrich Fidelis Müller in Fulda
zum Dvmdechanteu daselbst; wissenschaftlicher Hilfslehrer
Gymnasiallehrer Tebes zum Oberlehrer am Friedrichs-
Gymnasium in Kassel; Gerichtsassessor Weiß zum Amts-
richter in Steinbach-Hallenberg: Forstassessor Glück zum
Königl. Oberförster in Fritzlar; die Referendare von
Kietzell, Berlizheimer, Eitert. Nickel und Bayer
zu Gerichtsassessoren; die Rechtskandidaten Fraeb, Tie-
mann, Schaub, Thon, Friedrich und Suntheim
zu Referendaren; Landesrentmeister Röhre zum Landes-
sekretär bei der Zentralverwaltung des Bezirksverbandes
des Regierungsbezirks Kassel; Landmesser Bermessungs-
revisor Feißel in Kassel zum Königl. Oberlandmesser.
In den Ruhestand getreten: der zweite Pfarrer
Bö dicker zu Grebenstein vom 1. August d. I. an.
Versetzt: Superintendent Schafft in Ziegenhain in
gleicher Eigenschaft nach Hersfeld vom 1. Oktober an;
Wasserbauinspektor Baurat Thiele von Minden nach
Kassel.
Geboren: ein Sohn: Professor Al i r b t und Frau Grete,
geb. Wagner (Marburg, 4. August); Regierungsassessor
l»r. Eise »mann und Frau Jda, geb. Schell mann
(Altona, 7. August); eine Tochter: Major Graf Franz
Pfeil und K l e i n - E l l g u t h und Frau A m e l i e,
geb. von Loßberg (Frankfurt a. O.. 1. August); Re-
gierungsassessor Viktor Krause uud Frau Cilli, geb.
v. Schneheu (Frankfurt a. O.. 4. August).
Gestorben: Pastor August S i p p e l. 59 Jahre
alt (Thawville. Illinois, Nordamerika. 1. Juli); Frau
Anna Schicbeler. geb. Eissen gart Heu. 61 Jahre alt
(Annweiler, 30. Juli); Frau Rechnungsrat Christiane
Koch, geb. Hahn, 73 Jahre alt (Wehlheiden, 4. August);
Fräulein Minna Zülch. Lehrerin a. D. (Dortmund,
5. August); Lehrer G e o r g H e s s e (Weidenhausen, August);
Steuerinspektor a. D. Karl Wistel, 79 Jahre alt (Kassel.
6. August); verwitwete Frau Postinspektor Bertha Wag-
ner, geb. Buchenau (Kassel, 7. August); Rentner Otto
Sänger. 54 Jahre alt (Kassel. 8. August); praktischer
Arzt Ernst Schlosser (Weinböhla, 8. August); Wasser-
werksinspektvr Eberhard He icke, 66 Jahre alt (Kassel,
10. August); Oberforstmeister a. D. Adolf Küster,
76 Jahre alt (Marburg, 11. August); Frau Rechnungs-
rat Hulda Textor, geb. Enste (Kassel, 14. August).
Briefkasten.
H. K. in Kassel. Der Wunsch zu erfahren, wer von
den ehemaligen kurhessischen Staatsmännern und Offizieren
noch lebt, und dabei Angabe über ihre Thätigkeit zu
hessischen Zeiten, sowie sonstige biographische Mitteilungen
zu erhalten, erscheint leicht begreiflich, ist aber nicht so
schnell zu erfüllen, als Sie annehmen.
0. M. in Langenselbold. Besten Dank, wird demnächst
Verwendung finden.
MM" Hierzu eine Beilage der R. G. Elwert scheu Berlagsbuchtzaudluug in Marburg.
Für die Redaktion verantwortlich: W. Bcnneste in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.
bciniunh.
£ani> der Jugend, das ich früh verlassen,
Stiller Frieden wohnt in deinen Straßen.
Deine Lfäuser sind wie Tcmpelhallen,
Feierlich darin die Tritte Hallen.
Deine Menschen tragen Festgewänder,
Meist im Staube bleiben ihre Ränder.
Uber deine blauen bsimmel gleiten
Molken meiner jungen Seligkeiten,
Und inmitten deiner Bluinenwiesen
Steht ein Heiligtum mit Marmorfließen.
6ohe Säulen tragen seine Gänge,
Es durchfluten süße Lobgesänge.
Fromme Beil'ge stehen an den wänden,
Ritten Gott mit anfgehob'nen fänden,
vor dein schlank gebauten Hochaltäre
Steht ein Sarg aus einer Purpnrbahre.
Und im weißen Brautkleid ihrer Tugend
Schläft darin die Liebe meiner Jugend.
Regrnrburg. Ist. sterbest.
? ¥ ¥
$rübberbstbild.
Trotz Mittag lauter Bebel,
So weit das Auge schaut.
Jm dichten Dunst ersticken
Die Stimmen aus Lach und Kraut.
Bur windgequälte Mipfel
Meinen durch den Tann,
Und in das Sterben stiehlt sich
Ein todesinüder Mann.
Vberkliiiqen. Karl kvNSt KllOdt.
? ? ?
Gelöbnis.
Ströme des Lichtes fliesten durch's Land.------
Am blühenden Elterngrabe
lfält ein winziges Händchen in sonnbrauner 6and
Ein mutiger Knabe.........
........Ich will Dich schützen, mein Schwesterlein,
Du scheue Rose,
Daß nimmer an einen harten Stein
Dein Fuß auf dem Mege stoße............
Ich will Dich lieben; — mit jedem Tag
Fester und treuer.........
Menn Thränen Dein Auge weinen mag:
Die sollen mich brennen wie Feuer........."
Er küßt den Liebling — — — ein Mehen bewegt
Die Zweige der Trauerweiden,
Und Seine heiligen Hände legt
Gott auf die Häupter der beiden........
Huuoiji,stufen. Sasdia €lta.
» » »
Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Dessen.
Ein Gedenkblatt zu seinem hundertjährigen Geburtstag.
Von W. Bennecke.
(Fortsetzunq.*)
an wird dem Kurfürsten nicht zu nahe
treten, wenn man behauptet, daß er die
erwähnten Zugeständnisse mit Widerstreben gemacht
habe. Solche Gefühle waren bei den Vertretern
eines möglichst absoluten Regiments überall nur
zu natürlich, und das ungestüme Andringen
der neuen freiheitlichen Anschauungen nur zu
geeignet, deren schärfsten Widerspruch hcraus-
zufordern. Immerhin hatte der Kurfürst sich
den liberalen Anforderungen gegenüber seit den
Märztagen so willfährig benommen, daß wohl ein
einigermaßen befriedigendes Verhältnis zwischen
dem Fürsten und seinen Unterthanen auch für die
Zukunft hätte fortbestehen können. Damit märe
aber den Führern der demokratischsozialen Partei
nicht gedient gewesen. An der Spitze der letzteren
standen Dr. Gottlieb Kellner und der Rechts-
kaudidat Heinrich Heise, der sich selbst Rechts-
gelehrter nannte, ebenso wie seinem Kollegen in
einem Wahlaufruf völlig ernsthaft die Bezeich-
nung „Lehrer der Politik in Kassel" beigelegt
wurde Diese beiden Männer waren um so ge-
fährlicher, weil sie nicht allein hervorragende
geistige Eigenschaften, sondern auch eine außer-
ordentliche Rednergabe besaßen, welche die Menge
willenlos mit sich fortriß.**) Die 1848 von Heise
und dem Buchhändler Raabe gegründete „Hornisse,
eine Zeitung für Biedermänner" war das ge-
fürchtete Organ Heises und Kellners, die in diesem
Blatte sowohl der Monarchie, wie der Konstitution
rücksichtslos zu Leibe gingen. Die Angriffe gegen
die Person des Kurfürsten und die bestehenden
staatlichen Einrichtungen erfolgten in der zügel-
losesten Weise, sodaß der erste Kriminalfall, der
*) Eine, ganze Anzahl Stimmen aus unserem Leserkreis
wie auch Äußerungen, die uns von fernerstehender Seite
zugegangen sind, haben uns gezeigt, daß für eine objektive
Darstellung des Lebensganges des verstorbenen Kurfürsten,
wie wir sie in kurzen Zügen zu geben beabsichtigten, viel-
seitiges Interesse vorhanden ist. Dieser Umstand veranlaßt
uns, gerade den wichtigsten Teil, der in dem vorliegenden
Heft eingeleitet wird, etwas weiter auszuführen. Wir
bringen deshalb statt des angekündigten Schlusses eine
weitere Fortsetzung.
**) Bgl. A. Trabert: „I)r. Gottlieb Kellner und Heinrich
Heise". „Hessenland" 1887, Seite 157 ff.
1849 vor dem wieder erstandenen Schwurgericht
iu Kassel verhandelt wurde, in einem Hochverrats-
prozeß wider Raabs ltitb Heise bestand. Nach
heutigen Rechtsbegriffen würden die Angeklagten
verurteilt worden sein, nach den damaligen An-
schauungen erfolgte jedoch Freisprechung. Die
mündliche und schriftliche Agitativil gegen Mo-
narchie itnd Verfassung konnte also mit erneutem
Schwung betrieben werden.
Nachdem die Bestrebungen der Frankfurter
Nationalversammlung mit der Ablehnung der
Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. als ge-
scheitert betrachtet werden konnte, war am 26.
Mai 1849 zwischen Preußen, Hannover und
Sachsen das Dreikönigsbündnis geschlossen worden,
wonach Preußen vorläufig die vollziehende Ge-
walt für den Bund übernahm. Die Mehrzahl
der kleineren deutschen Staaten trat dem Bündnis
bei, und nach längerem Zögern entschloß auch der
Kurfürst sich dazu. Der Grund, aus welchem
das von dem ständischen Ausschuß erbetene rasche
und entschiedene Eingehen aus die von den drei
Königen gemachten Vorschlüge seitens des Kur-
fürsten so lange auf sich warten ließ, mag in einer
Unterredung zu finden sein, von welcher der Lega-
tivusrat von Goeddaeus in seiner kleinen Schrift
über den Kurfürsten Kunde giebt. „Zur Zeit, als
es sich um den Beitritt Kurhessens zum Drei-
königsbündnis handelte," schreibt von Goeddaeus,
„besuchte der Kurfürst in Begleitung eines Flügel-
adjutanten den Geh. Legationsrat Jordan, der
zu jener Zeit noch in Frankfurt beglaubigt war.
Der Kurfürst ersuchte Jordan, ihm frei und offen
seine Meinung über die beabsichtigte Änderung
der deutschen Bundesverhältnisse zu sagen. Jordan
that dies, indem er die Notwendigkeit der Ver-
wandlung des deutschen Staatenbnndes in einen
Bundesstaat, die Einsetzung einer präponderierenden
Vormacht, der insbesondere die Leitung der aus-
wärtigen Angelegenheiten und der Oberbefehl über
die Streitkräfte zu übertragen seien, hervorhob.
Jordan schloß jedoch mit der Bemerkung: Ich
finde es überhaupt sehr begreiflich, wenn König-
liche Hoheit sich gegen diese Änderungen sträuben,
die allerdings zur Mediatisierung
227
führe n."*) Daß diese Äußerung des wahr-
heilliebenden Jordan auf den feine Hoheitsrechte
eifersüchtig überwachenden Fürsten einen liefen
und bleibenden Eindruck machen mußte, braucht
nicht näher begründet zu werden. Für das Drei-
königsbündnis war bei dem deutschen Volke im
allgemeinen jedoch nicht die geringste Sympathie
vorhanden, da mit ihm die ersehnte -Reichsver-
fassung zu Grabe getragen wurde. In der deutschen
Verfassungsfrage stehen, nach dem Ausspruche des
liberalen Otto von Corvin, „ganz vorwurfsfrei"
nur die Regierungen der 29 kleinen Staaten da,
„denn sie hatten sich der Reichsverfaffung bereit-
willig angeschlossen, und sie gingen, als dieselbe
unmöglich geworden war, mit derselben Leichtig-
keit und Bereitwilligkeit zur Dreikönigsversassung
über". Es wird dies hauptsächlich aus dem Grunde
hervorgehoben, um darzuthun, wie man in jener
so überaus unruhigen und schwankenden Zeit über
den Umsturz selbst der „ReichsVerfassung" und
eine neue Formulierung derselben dachte.
Rach dem Abschluß des Dreikönigsbündnisses
kam es zwischen Preußen und Österreich am 30.
September 1849 zu einem Vertrag über ein
„Interim", demzufolge die Leitung der deutschen
Zentralgewalt bis znm 1. März 1850 einer
Bundcs-Kommission, bestehend aus zwei öster-
reichischen und zwei preußischen Bevollmächtigten,
übertragen wurde. Diese Bnndes-Zentral-Kom-
mission war aber nichts anderes als ein Extrakt
des alten Bundestags, von dein man nicht los-
kommen konnte. — In diesem Drängen und
Schieben der verschiedenen Staaten untereinander,
in dieser ständigen politischen Unruhe und Zer-
fahrenheit, welche durch die demokratischen Be-
strebungen der einzelnen Volksstämme noch ver-
mehrt wurde, gab der Kurfürst immer mehr
dem Gedanken Raum, mit der Regierung da
fortzufahren, wo er 1847 aufgehört hatte. Die
deutsche Nationalversammlung war eingegangen,
von dem Neichsverweser nichts mehr zu hören,
die in Baden zum Schutz der Reichsverfaffung
gemachte Volkserhebung von den Monarchien
niedergeworfen. Fast alle deutschen Fürsten hatten
die ihnen aufgezwnngenen Märzministerien wieder
abzuschütteln gewußt. Nach der Revolution kam
die Kontre-Revolntion. Am kühnsten sollte diese
*) Zu erwähnen ist hierbei, daß ähnlich wie der kvn-
stitutionelle Jordan, auch der reaktionäre Graf Borries
in einer Hannoverschen Kammersitzung des Jahres 1860
erklärte: „Die Übertragung der Militärhoheit und der
diplomatischen Vertretung ans Preußen bedeute die Media-
tisierung". Jordan gab diese Erklärung vor einem Fürsten
innerhalb seiner vier Wände, Borries vor dem ganzen
Lande ab.
aber leider in Kurhessen auftreten und hierbei
den Grund zu andauernden Konflikten legen.
Der Kurfürst hatte nun beinahe zwei Jahre lang
nur diejenigen Ratgeber um sich, die das Vertrauen
des Volkes besaßen; jedoch darf dies nicht allzu
wörtlich genommen werden, denn die starke demo-
kratische Partei war mit dem Anschluß an das Drei-
königsbündnis, zu welchem das Ministerium ge-
drängt, durchaus nicht einverstanden und befand sich
hierbei auf dem gleichen Standpunkt wie der Kurfürst.
Da entschloß dieser sich, seinen früheren Minister
Hassen pflüg, der gegenwärtig in preußischen
Diensten stand und die Stellung des Appellations-
gerichtspräsidenten von Neu - Vorponunern in
Greifswalde bekleidete, zurückzurufen. Hasfenpflug.
welcher damals gerade in einen mißlichen Prozeß
verwickelt war, der übrigens günstig für ihn aus-
laufen sollte, folgte dem an ihn ergangenen Ruf
und traf am 21. Februar 1850 in Kassel ein.
Das Ministerium Eberhard fiel und Hasfenpflug
wurde zum Minister der Justiz und des Innern,
mit dem Vorsitz im Gesamt-Staatsministerium
ernannt.
Vom Standpunkte des Kurfürsten war Hafsen-
pflug allerdings die geeignetste Person, die Souve-
ränität von dem Druck, der auf ihr lastete, zu
befreien. In dem Programm, das Hasfenpflug
der Ständekammer am 26. Februar mitteilte,
treten hauptsächlich die nachfolgenden Stellen her-
vor: „Als Grundlage der ministeriellen Thätigkeit
kann sich eine andere nicht darbieten, als die
durch die Verfassnngsurknnde und die bestehenden
Gesetze gegebene. Ist für unsern Staat, dieses
Glied des deutschen Bundes, eine monarchische
Regierung mit einer landständifchen Verfassung
als Grundgesetz aufgestellt, so werden wir jeder
Bestrebung, welche an die Stelle dieser fundamen-
talen Regelung unsers öffentlichen Lebens Volks-
souveränität zu setzen beabsichtigen möchte, nach
allen Seiten hin mit allen Kräften entgegentreten.
Wir werden es nicht zugeben, daß unserer staat-
lichen Existenz das in der Revolution liegende
Prinzip der Verneinung alle Lebensfähigkeit zer-
störe, und daher niemals ermangeln, mit Offenheit
und Nachdruck die verfassungsmäßigen Rechte des
Landesherrn aufrecht zu erhalten, an deren Be-
stand und solcher Handhabung, die das Wohl
des Volkes zum Ziele nimmt, wir das Heil des
Vaterlandes geknüpft finden." Das war für die
Demokraten, welche die fürstliche Souveränität
durch die ihrige bedrohten, und für das unbe-
queme Verhältnis zu der „Union" fanden sich die
folgenden Worte: „In vollkommener Anerkennung
der Berechtigung des deutschen Volkes, -durch das
Band einer Deutschland umfassenden lebenskräf-
228
tigert Verfassung, die das Vaterland auch nach
außen als eine geschlossene Gesamtmacht erscheinen
läßt, ist der Kurstaat dem Dreikönigsbttndnis
beigetreten lind wird in der Hoffnung, daß
die in Erfurt sich bald eröffnenden, umfassenden
Beratungen seinem Ziele entgegenführen, an ihnen
sich ans das eifrigste beteiligen." Sodann aber
wird betont, daß nach dem Aufhören des deut-
schen Lundes die Notwendigkeit gegeben sei, sollte
Deutschland nicht nach außen hin in die höchste
Gefahr geraten, an der „einstweilen konstituierten
Einrichtung" auch jetzt festzuhalten, da bei dem
zur Zeit noch dem Dreikönigsbündnis fern ge-
bliebenen größeren Teile von Deutschland es sonst
an allem Bande fehlen würde, die Verpflichtungen
der einzelnen Glieder des deutschen Bundes gegen
diesen geltend zu machen. Damit wurde aus
das bereits erwähnte, zwischen Preußen und
Österreich zustande gekommene „Interim" hin-
gewiesen, das dem Kurfürsten sympathischer sein
mußte, als das Dreikönigsbündnis. Die Antwort
der Stünde ans das Hassenpflngsche Programm
bestand in einem von Professor Bayrhofser,
einem der Demokratenführer, beantragten Miß-
trauensvotum. Minister und Landtag standen
somit, wie es unter den obwaltenden Verhältnissen
nicht anders sein konnte, von vornherein aus dem
Kriegsfuß, und zuerst eine Vertagung, dann die
Auflösung der Kammer am 12. Juni war die
Folge davon.
Inzwischen waren Hannover und Sachsen von
dem ersten Dreikönigsbündnis zurückgetreten und
es war ein neues ähnliches Bündnis in München
zwischen Bayern, Württemberg und Sachsen ge-
schlossen worden, dem sich der Kurfürst zuzu-
wenden gedachte, infolgedessen die kurfürstliche
Regierung erklärte, an der Union vorerst sich
nicht beteiligen zu können. Kurhessen beantragte
dabei die Vertagung des am 20. März in Er-
furt eröffneten Ünionsparlaments, damit die Ver-
handlungen über die Münchener Übereinkunft
wirksam beginnen könnten. „Sollte das Ziel znm
wahren Wohle Deutschlands auf diesem Wege
nicht erreicht werden, so werde mit dem Bewußt-
sein erfüllter Pflicht zu den begonnenen Verhand-
lungen in Erfurt zurückgekehrt werden." So war
der Kurfürst von der Union, losgekommen; vier-
zehn Tage später aber gab Österreich den ganzen
verworrenen politischen Verhältnissen eine andere
Wendung, indem von ihm die deutschen Regie-
rungen zur Entsendung ihrer Bevollmächtigten
nach Frankfurt a. M. aufgefordert wurden zu
einer am 10. Mai daselbst zu eröffnenden außer-
ordentlichen Bundes-Plcnar-Versammlung. welche
die Einsetzung eines neuen provisorischen Zentral-
organs beschließen und die Revision der Bundes-
verfassung vornehmen solle.
Zu derselben Zeit hatte aber auch König Fried-
rich Wilhelm IV. von Preußen einen Fürsten-
kongreß zu Berlin veranstaltet. Nach Frankfurt
aus den Diplomatenkongreß wurde von Kur-
Hessen der Minister des Auswärtigen Alexander
von Baumbach gesandt, aus dem Berliner
Fürstenkongreß aber erschien der Kurfürst mit
Hassen pflüg und zeigte sich als entschiedener
Öpponent, indem er sich unter vollständiger Ne-
gierung alles inzwischen Vorgefallenen lediglich auf
den Standpunkt der alten Bundesverfassung stellte.
Schon in der vierten Sitzung des Kongresses gab
die kurfürstliche Regierung die Erklärung ab,
daß sie die vorgeschlagene Bildung der Union
mit den durch die deutsche Bundesverfassung be-
gründeten Rechten und Verbindlichkeiten für un-
vereinbar halte und ans dieser ihrer Rechtsansicht
folgere, daß Kurhessen seinerseits nichts dazu
thun dürfe, auch nur dem kleinsten Stücke der
Unionsverfassung zur Existenz zu verhelfen. Ans
dem Kongreß und den damit verbundenen politi-
schen Diners erregten der Kurfürst und sein
Minister durch ihre Haltung Aussehen,- sie spiel-
ten, wie Hassenpflug selbst meinte, die erste Vio-
line. Zwischen dem Herzog Ernst von Kvbnrg
und dem Kurfürsten kam es mehrfach zu heftigen
Auseinandersetzungen, die dem letzteren aber die
gute Laune, in der er sich unter seinen Standes-
genossen befand, nicht nahmen.
Am Himmelfahrtstag empfing er den Besuch
der anwesenden Fürsten in seiner im Königlichen
Schloß gelegenen Wohnung, wo über die Ant-
wort ans die von dem König von Preußen zu
erwartende Ansprache ziemlich heftig debattiert
wurde. Bei dieser Gelegenheit rief der Kurfürst
dem Großherzog von Oldenburg u. A. zu: „Sie
sind Schwarz-Rvt-Gold, und das bin ich nicht!"
Hassenpflug, der im „Hotel de Russie" logierte,
wurde herbeigeholt und entwarf im Schlafzimmer
des Kurfürsten die Antwort, die jedoch von keiner-
lei Bedeutung ist. Der Großherzog von Baden
brachte sie nach der noch am selben Tage erfol-
genden Anrede des Königs zum Vortrag, und
bei dem Diner, das darauf im weißen Saale
stattfand, war es der Kurfürst, welcher den Trink-
spruch des Königs erwiderte. Daß der hessische
Fürst von dem preußischen Monarchen aus alle
Weise ausgezeichnet wurde, gesteht auch der Her-
zog Ernst von Kvbnrg in seinen Erinnerungen
zu, und wenn L. von Gerlach erzählt, daß der
König ihn andern Tags zu Hassenpflng mit den
Worten gesandt habe: „Gehen Sie doch einmal
zu dem Aaron dieses Moses", so ist dies eine
229
scherzhafte Bezeichnung seines Detters, die sehr
nahe lag. Die Zunge des kurhcssischen Aaron
war aber so scharf, daß sie schon am Abend
dieses Tages Veranlassung zu einem Zwischenfall
gab. Hassenpflug protestierte nämlich gegen die
ungehörige Zusammensetzung einer Ministerkon-
serenz, an der im Programm nicht eingeladene
Mitglieder des Erfurter Verwaltungsrates teil-
nahmen, in so verletzender Weise, daß sein Freund
Gcrlach ihn im Aufträge des Königs bat. „durch
eine Erklärung die Sache wieder ins Gleiche zu
bringen", was denn auch geschah.
Die gute Laune, welche der Kurfürst von
dem Fürstenkongreß mitgebracht hatte, sollte zu
Hause nicht lange anhalten, denn die Stände-
kammer nahm der Regierung gegenüber eine
solche Haltung an, daß sie, wie bereits erwähnt,
am 12. Juni aufgelöst wurde. Da nun aber
vom 1. Juli an die Steuern neu bewilligt
werden mußten, so war eine Neuwahl dringend
geboten. Diese fand am 2. August statt und
ergab eine demokratische Mehrheit, aus deren
Mitte auch der neue Präsident Professor Bayr-
hoffer an Stelle des konstitutionellen Schwarzen-
berg, jedoch nur mit 1 Stimme Majorität, her-
vorging.
(Fortsetzung folgt.)
------------------------
Namen von Münzmeistern und Stempelschneidcrn
auf hessischen Geldstücken.
Don Paul Weinmeister, Leipzig.
(Schluß.)
III. Hessen-Marburg.
Aus der Zeit einer besonderen Linie Hessen-
Marburg (1567 — 1604) kennen wir daselbst nur
einen besonderen Münzmeister, nämlich Hilde- z
brand Ruck, am 1. Mürz 1588 dazu ernannt
und zu Marburg gestorben am 29. Juni 1593.
Sein Monogramm aus Uli findet sich 1591 —93
vor. merkwürdiger Weise aber auch noch 1595
und 1597. Vielleicht hat seine Witwe noch einige
Jahre lang die Stellung weiter geführt und der
bereits am 6. Mai 1594 zum Nachfolger ernannte
Peter Arnsburg zunächst nur in ihrem oder ihres
Mannes Namen das Amt verwaltet, sonst ist die
vorerwähnte Thatsache unerklärlich.
IV. Hessen-Darmstadl.
1. Münzmeister.
11. 8. 1623: Henning Schlüter, herzoglich
brauuschweigisch-lüneburgischerKommunion-Münz-
meister zu Zellerfeld 1623 — 72. hat vermutlich
für Ludwig V. Thaler geprägt.
1. W. 1625-27: Jakob Wiesen er, Münz-
meister zu Nidda 1622—44.
1 8 1654-59, 74, 75, 80-84, 87. 89:
Johann Sartorius, Münzmeister zu Darm-
stadt, zunächst unter Georg II., daun am 1. Mai
1674 aufs neue von Ludwig VI. angestellt.
I. D 1692: Johnnn Dittmar, daselbst.
I A R 1693—97, 99, 1700, 02—05: Jv-
haun Adam Rephun, am 5. Januar 1692
als Wardein, am 17. Mürz 1693 als Münz-
meister zu Darmstadt angestellt, auch au der Münze
zu Gießen thätig.
8. I. B 1707—10, 14, 15, 17, 18, 20-23,
26—30: Balthasar Johann Beth mann,
am 15. September 1707 als Münzmeister zu
Darmstadt angestellt, am 4. August 1733 mit
dem Prädikate Bergrat auf seinen Antrag ent-
lassen, später General - Münzwardciu des ober-
rheinischen Kreises.
6. K. 1733, 40: ©cor g K ü st e r, am 4. August
1733 als Münzmeister zu Darmstadt angestellt,
1740 ausgeschieden, später Münzmeister zu Eleve.
O. C. F. 1741-43, 52, 64—66, C. F. 1766:
Georg Conrad Fe h r, am 11. November 1744
als Münzmeister mit festem Gehalt angestellt,
indem gleichzeitig Landgraf Ludwig VIII. das
Münzwesen auf eigene Kosten in Betrieb nahm.
Bis dahin hatte also Fehr wie seine Vorgänger
die Münze in Pacht gehabt.
A. K. 1744-49, 51, 59, 60. 62-64, 70,
71: Andreas Koch, Münzmeister zu Darin-
stadt zunächst 1744—51 an Stelle des vorgenannten
Fehr, der demnach wohl eine Zeit lang sein Amt
verlassen hatte, dann wieder 1759—64, nachdem
er am 26. Februar 1759 zum Münzrat und am
13. März 1760 zum Müuzdirektvr ernannt worden
war, zuletzt 1770 — 71, anscheinend vertretungs-
weise, und zwar zu Gießen. Nebenamtlich ver-
waltete er von 1750 an die kurpfälzische Münz-
stätte zu Mannheim. Er' geriet schließlich in
finanzielle Schwierigkeiten und wurde wegen Unter-
schleifs verfolgt.
F. B. 1762, 65, 66: Philipp Bischofs.
Münzwardein. Sein Name kommt auf Münzen
nur in Gemeinschaft mit dem des oben genannten
230
Fehr vor, 1762 sogar mit denen von Fehr und
Koch.
R. F. 1772—74, 76, 77, 83-91, 93, 94, j
96—98, 1800—09: Remigius Fehr, wahr-
scheinlich ein Sohn von Georg Conrad Fehr,
Münzmeister, gestorben den 15. September 1810.
41 11 1819, 25-27. 33, 35—37, 40—42:
Hektor Rößler, 1817 Münzmeister, am
10. November 1863 zu Darmstadt als Münz-
rat gestorben.
Über die für Hanau - Lichtenberg geprägten
Münzen ist folgendes zu berichten:
6. 44 8. 1757: Conrad Heinrich Schwerdt-
ner, Münzmeister 1757—58, nachher zu Danzig,
Elbing und Mitau.
E. G. F. 1759: Eberhard Gregorins
Fleischheld, Münzmeister 1758 — 59, vorher
zu Zweibrücken.
A. 8. 1760: vermutlich Anto n St ehr,
später zu Prag.
2. Stempelschncider.
G. L. C. 1696: Gabriel Le Giere, der
bereits unter Hessen-Kassel genannte Künstler, der
and) für Darmstadt gearbeitet hat.
1.0.11.1696, R. 1697, 1700, 04: I. C.Roth,
Stempelschneider zu Darmstadt.
R. 1751, 58, 65: I. A. Roth, wahrscheinlich
ein Sohn des vorigen.
8 1753, 55, A:8 1756: Auton Schäfer,
Stempelschneider zu Mannheim.
0. 11. K. 1763, K. 1770 — 72: Conrad
Heinrich Küchler, Kabinetsmedailleur Lud-
wigs VIII.. bei der Münze zu Darmstadt, am
18. April 1768 zum Nachfolger des verstorbenen
Roth ernannt.
B 1770, 72, Bosler 1772: Bosler, Ber-,
fertiger des meist wenig schon gelungenen Kops-
bildes Ludwigs IX.
L 1807—09: Johann Lindenschmitt,
Stempelschneider zu Mainz, am 4. Oktober 1817
zum Hof- und Münzgraveur ernannt.
F 1808,. 09: Frisch, Stempelschneider zu
Darmstadt.
14 1819: Philipp Huhn, Stempelschneidcr
unter Münzmeister Rößler zu Darmstadt, am
15. März 1820 zum Münzgraveur ernannt.
0. VOIGT 1833, 36, 37, 45—49, 53—56,
0. V. 1835, 40—42, VOIGT 1838—47, 54-56:
Carl Voigt, königlich bayerischer Hosmedaillenr
zu München, der zahlreiche Kopfbilder (auch für
andere deutsche Staaten) von natürlicher Schönheit
und Einfachheit geschaffen hat.
8T 1839—42, 44, 45: Rudolf Stadel-
mann, Verfertiger trefflicher Stempel.
KORN 1854: F. Korn, Stempelschneider zu
Mainz, 1855 Münzmeister und Stempelschneider
zu Bern geworden, Verfertiger des Stempels zu
dem seltenen Doppelthaler Ludwigs III., der sich
durch ein besonders schönes Kopfbild auszeichnet.
Ein Zehnkreuzer-Stück von Hanau-Lichten-
berg aus dem Jahre 1760 zeigt außer der
Münzmeister-Bezeichnung A. 8. die Buchstaben N 0,
die vermutlich den Stempelschneider bedeuten.
Seinen Namen kennt man nicht.
V. Hessen-Homburg.
Auf hvmburgischen Münzen findet sich 1692
RA, dessen Bedeutung man nicht kennt. VOIGT
1838 und 0. VOIGT 1846 bedeutet den oben
erwähnten Carl Voigt, R8 1840, 41, 43 — 46
den gleichfalls schon erwähnten Rudolf Stadel -
mann, endlich 0. 8G44NIT/8FA4IN 1858-63
den darmstädtischen Hofmedailleur Professor
Christian Schnitzspahn, einen hervorragenden
Künstler, der am 15. Juli 1877 zu Darmstadt
î starb.
Anhangsweise mag auch noch der Prägungen
des Königreichs Westfalen gedacht werden. Als
Zeichen eines Münzmeisters oder einer Münzstätte
enthalten sie F. 1807—10, 0. 1808—13, B.
1809 —13, ferner einen Adlerkopf mit 0 1808 — 13
und einen Pferdekopf mit .4 1808, 09. Hiervon
bedeutet F. sicher den Münzmeister Dietrich
Fulda. Da das Königreich Westfalen drei
Münzstätten hatte, nämlich Kassel, Klansthal und
Braunschweig, so ist man versucht, unter 0. und B.
diese zu verstehen. Aber nach einer Schrift des
vormaligen westfälischen Finanzministers v. Marien-
rode vom Jahr 1814 ist westfälisches Geld nur
zu Kassel geprägt worden. Danach müßten 0.,
B. und J ebenfalls wie F. Namen von Münz-
beamten bedeuten; 4 soll die Abkürzung des Namens
Joineau sein.
In den Jahren 1808—12 findet sich ans vielen
Münzen der Name Tiolier. Dies bedeutet den
Pariser Stempelschneider Pierre Jose Tiolier,
gestorben 1819. (Aus seiuem Nachlasse kaufte der
Buchhändler Gustav Prior zu Hannover mehrere
sehr seltene Probestücke westfälischer Prägung. Die
Priorsche Sammlung gelangte, nachdem Prior
1881 gestorben war, in den Besitz des Apothekers
Dr. Glüßuer, der sie dann der Stadt Kassel
hinterließ.)
231
Wenn ich auch bestrebt gewesen bin, in vor-
stehender Zusammenstellung ans Grund meiner
Sammlung und einschlägiger Werke etwas möglichst
Lückenloses zu bieten, so mache ich doch nicht den
Anspruch, das; mir dies gelungen sein sollte, und
werde jede Ergänzung oder Verbesserung dankbar
entgegennehmen.
----------------------------
An öer Werra.
Novellette von M. von Ekensteen.
(Schluß.) (Nachdruck verboten.)
Ter Sommer strahlt in lachender Schöne über die
Höhen des Meißner und flirrt in heißen Strahlen um
den Roßkops und um die schroffen Höhen der Hörne.
Das ganze Werragebiet ist in Sonnengold getaucht.
Ein lauer Julimorgen ist's, die Luft ist klar und
rein, der Himmel wolkenlos. Ter frühe Wanderer,
der eben die Werrabrücke überschreitet, bleibt stehen
und nimmt mit einem Rundblick das liebliche
Landschaftsbild in sich auf. Ein frischer, zufriedener
Zug liegt auf dem ernsten Gesicht, ein Lächeln in
den dunklen Augen, die schauen und genießen zu-
gleich. Elastisch schreitet er aus. Jetzt führen ihn
freundliche Pfade durch schön gepflegte Löst- und
Gemüsegärten mit dichtbewachsenen Lauben und
Gartenhütten mit grünen Läden; von einer hohen,
alten Stadtmauer sieht er in ein liebliches Thal
und dicht zu seinen Füßen grüßen die braunen
Ziegeldächer eines Städtchens. Eine Gänseherde
wird zur Weide getrieben, aus den Schloten steigt
der Rauch allmählich aus. Weiher und Gärten
liegen zwischen den Häusern, aus deren dunklem
Gebälk die hellgetünchteu Füllungen hervorleuchten;
an den kleinen Fenstern blühen Fuchsien und Geranien.
Wilhelm Herbrich steht in Bewunderung ver-
sunken; sein Hoffen hat sich erfüllt! Wie ein
Stück mittelalterlicher Poesie lacht das Städtlein ihn
au, und wie in einem Märchenland verliert er sich
bald in den engen, winkligen Gassen; jetzt hemmt
ein Raunen und Rauschen seinen Schritt, der über
dicke Eichenbohlen hastet. Wollen die Wasser, die
seit Jahrhunderten schon vom Asbachthale herein-
rieseln, ihm Sagen zuraunen von Nixen und Elsen,
Märchen aus der guten, alten Zeit?
Jetzt wecken ihn aus seiner sinnenden Versunken-
heit laut rasselnde Fuhren mit Knüppelholz ans
dem nahen Stadtwalde, Thüren öffnen sich, Menschen
eilen hier- und dorthin, es wird rege und wach
im Städtchen. Aus seinem Wege liegt ein rein-
liches Gasthaus; ohne langes Besinnen tritt er
ein; hier im Städtchen will er rasten und ruhen,
ehe er zu dem Freunde nach Kassel fährt, um sich
von Frau Dora über den Segen der Moderne
belehren zu lassen.
Der Gastwirt begrüßt ihn leutselig und zieht
sein Käppchen; wie der Mann in das Straßenbild
paßt; er ist so ganz der Biedermann verflossener
Tage; mit Behagen lobt er sein Hand. das präch-
tige Obst, den Beerenwein und die Tabakpflanzungen,
und wie ihm Herbrich sagt:
„Wunderbar schön und idyllisch ist Ihr altes
Städtchen!" da wird sein Heimatstolz wach:
»Ja, ja, Herr! Darfls auch sein! Wär^s nicht
niedergebrannt worden von den Kaiserlichen ums
Jahr 1637 bis auf wenige Häuser und die Mauern
unserer Kirche, möcht' es noch schöner sein in
seinem Alter! Jetzt steht unsere Neustadt aus
den alten Brandmauern, gerade wie die heilige
Stadt Rom."
Herbrich muß lächeln über die „Neustadt", die
mit ihren wunderlichen Häuschen und winkligen
Gassen schon seit dem 17. Jahrhundert steht, aber
er will dem Biedermann die Freude und den Stolz
nicht beeinträchtigen und er erzählt ihm von seiner
genußreichen Morgenwanderung, von den Gärten
und Mauern und Türmen. Immer zutraulicher
wird der Wirt:
„Aus den alten, hohen Rundturm müssen Sie
steigen, da erst werden Sie sehen, wie schön die
Gegend ringsum ist! Und dann, im Garten der
Obersörsterei! Da ist noch der alte Umgang für
die Mauerwachen zu erkennen, und von dem Mauer-
türmchen in der Nordwestecke sehen Sie weit ins
Thal über die rauschende Werra!" — —
So heimatlich wird ihm zu Sinn; wie ein Kind
kommt er sich wieder vor. Das Bild der geliebten
Mutter steigt vor ihm auf, die Stimme des Vaters
glaubt er zu vernehmen, und mehr denn je hält
ihn ein poetischer Zauber umfangen.
Am Spätnachmittag wandert er dem Garten
der Oberförsterei zu. Es liegt ein Flimmern in
der Luft, die Schwalben ziehen zwitschernd weite
Kreise, und ein Duft zittert umher von Bauern-
rosen, Geisblatt und Nelken. Gerade so duftete
es im elterlichen Garten und beim Großvater in
Hersseld, dessen Laube von Geisblatt umsponnen
war. — —
Der Herr Oberförster ist nicht zu Hause, er
macht einen dienstlichen Rundgang, und die Haus-
frau ist bei der Frau Bürgermeisterin, wo ein
232
junger Weltbürger angekommen ist. Die weiß- >
haarige Köchin weist ihn lächelnd in den Garten: !
„Fräulein Fränzchen sitzt in der Laube!"
Ein wenig verlegen naht er; da hört er ein |
feines Surren und eine gedämpfte Altstimme fingt:
„Was hat die Welt zu geben,
Lieberes als ein Weib,
Das ein sehnend Herze
Recht erfreuen mög'."
Er schleicht so fachte, daß nicht einmal die
Lazerten fliehen, die sich im heißen Sande sonnen.
Träumt er denn nicht? Sitzt da nicht ein
Mägdelein aus versunkener Zeit linb singt Walthers
von der Bogelweide süßes Miunelied?-------Langes,
blondes Gezöps fällt aus das lichtblaue Gewand, und
sie zieht den seinen Faden wie einst Königin Bertha.
Hat er nun doch an den Jasminbusch gestreift?
Sie wendet das Köpfchen, und wie sie den fremden
Mann erblickt, wird sie ein wenig rot und der
Faden reißt p er grüßt, aber er ist nicht besangen;
in der Heimat weben geheime Fäden von Seele
zu Seele.
„Verzeihung, ich störte Ihnen Sang und Ar-
beit! — — Dr. Wilhelm Herbrich!" und er
verneigt sich artig; „ich kam heute hier an und
wollte Ihren Herrn Vater bitten, ob ich mir den
alten ..."
„Mauerturm nicht ansehen darf?" fiel sie launig
lachend ein. „Alle Fremden, die Vater aussuchen,
kommen des alten Turmes wegen!"
Sie lacht so frisch, daß ihm das Herz ausgeht,
und ein Leuchten liegt in ihrem Blauaug, das
ihm wie ein Heimatgruß zu Gemüt geht.
„Wenn ich geahnt hätte, daß hier ein Spinnrad
surrt und man des größten Minnesängers Lieder
singt, mich hätte ein anderes gelockt, als der alte
Turm!"
„Wie, Sie höhnen nicht über die altmodische
Liebhaberei zu spinnen in der Zeit der Maschinen?"
„Meine Mutter spann und sie sang dasselbe
von der Eltermutter überkommene Lied im Urtext:
„Waz hat die werlt ze gebenne
liebers banne ein wip,
daz ein sende herze
baz gefröuwen müge?"
Sie sieht den schlanken, bleichen Mann ver-
wundert an; er redet anders als die Tänzer, die
sie im verflossenen Winter kennen lernte, und anders
als des Vaters Freunde, wenn sie von Wald und
Jagd erzählen . . .
Und als die Mutter heimkehrt, da staunt sie
nur so. Fränzchen spinnt mit gesenkten Augen
und ihr gegenüber im Läubchen sitzt ein ernster
Mann, der erzählt, wie einsam es ist auf dem
schönen, alten Schloß in der Ukraine, wie er dort
weltverloren lebt, jahraus, jahrein. — —
Seit fünf Wochen ist Dr. Wilhelm Herbrich
täglicher Gast in der Obersörsterei. Am ersten
Tage der sechsten Woche schreibt er einen Brief
nach Kassel; ans der Adresse steht: „Professor
Tetert, Murhardstraße", und innen:
„Verzeih', lieber Freund, daß ich so lange zögerte;
ich komme Ende der Woche aus einen Tag zu Euch
und bringe Euch meine junge Frau mit. Morgen
haben wir Hochzeit; in der Heimat fand ich mein
Glück. — Auch Fränzchen hat ein Spinnrad, wie
Frau Tora; aber nicht als Zierstück; sie wird
in Jessilkowa unser Leinen spinnen, während ich
ihr aus alten Texten vorlese. Tie blaue Blume
der Romantik blüht immer noch, alter Freund, nur
muß man sie zu finden wissen. Mir sprießte sie
aus deu alten Turmmauern an der Werra aus,
und nun verpflanze ich sie in das einsame Schloß
in der Ukraine."
-------B--«------
Gut Tvetter.
Und bricht der frühe Lag herein
Mit seinem froh begrüßten Schimmer,
So frage ich mich halblaut immer:
„Wie inag wohl heut' das Wetter fein?
Mb Regen, — Regen wie zuvor,
vermischt mit Donner und init Blitzen!" —
Wer weiß? — Was kann das fragen nützen? —
Müd' leg' ich wieder mich aufs Mhr.
Jetzt ist schon draußen lichter Lag,
AIs ich zum zweitenmal erwache; —
Und's Wetter? — Das ist so 'ne Sache,
Es komint ja doch noch, wie es inag. —
Im Bettchen drüben an der Wand
Da scheint sich leise was zu regen —
Und übern Rand sah ich bewegen
Sich eine kleine Ainderhand.
Zwei Füßchen strampeln kreuzfidel,
Dann kommt ein Aöpschen in die Lsöhe,
Und süße Schelmenaugen sehe
Ich leuchten drin wie ein Juwel.
Ich springe aus dem Bett heraus
Und küsse meine kleine Sonne, —
Dann rufe ich in höchster Wonne:
„Ganz herrlich sieht das Wetter aus!"
6u5lsv Adolf Müller.
--------------•
111 ü n ch e n.
233
Aus alter urtò neuer Zeit.
Ter Landschaftsmaler Eduard Gleim.
Tas „Hessenland" brachte vor einiger Zeit eine
Reihe von Biographien Kasseler Maler im ver-
flossenen Jahrhundert, welche kürzere oder längere Zeit
in der ehemals kurfürstlichen Residenzstadt künstlerisch
thätig waren. Unter den klangvollen Namen, welche
zur Besprechung kamen, war der eines hervorragenden
Hessen, des Malers Eduard Gleim, geb. 1812
zu. Rotenburg a. d. Fulda, welcher als Land-
schaftsmaler. besonders in Künstlerkreisen, sich eines
großen Rufes erfreute, nicht enthalten, weil der-
selbe nur vorübergehend in Kassel lebte. Über ihn
sei jetzt noch das Folgende nachgetragen.
Gleim widmete sich anfänglich dem Studium der
Rechte, bezog im Jahr 1830 die Universität Mar-
burg und bald darauf Heidelberg. Mit seinem
ganzen Herzen scheint er jedoch der Jurisprudenz
nicht zugethan gewesen zu sein, denn in der lieb-
lichen Neckarstadt ging eine Wandlung in der Ge-
schmacksrichtung des jungen Mannes vor, die von
bestimmendem Einfluß aus sein Leben war. Wie
es in der Geschichte der Künstler häufig vorge-
kommen, daß ihnen der Anblick eines bedeutenden
Kunstwerkes erst die Angen öffnete über die eigene
Begabung, so war es hier der Fall. Ein Ge-
mälde des berühmten Heidelberger Landschafters
Fries übte einen solchen Zauber aus den jungen
Studiosen aus, daß er die Rechtswissenschaft an
den Nagel hing und nach Karlsruhe übersiedelte,
um sich unter dieses Meisters Leitung ganz der
Landschastsmalerei zu widmen.
Tie Reize der süddeutschen Natur, das malerische
oberbayerische Gebirge, seine lieblichen Thäler und
anmutigen Dörfer haben Gleim zu einer großen
Reihe von Bildern den Stoff geliefert. Immer
aber ist es die heitere Seite der Natur, welche ihn
anzieht, ein idyllischer Zug geht durch die meisten
seiner Malereien.
Im Jahre 1833 ging Gleim nach München,
und dort unter dem anregenden Verkehr mit Künst-
lern, wie dem genialen M. von Schwind, F e o d o r
D i e tz, FriedrichBoltz, entfaltete sich das Talent
Gleims zu schöner Blüte, und es kann gewiß
kein unbedeutender Maler gewesen sein, der sich
der Hochschätzung so großer Künstler erfreute.
Sein Aufenthalt in Kassel fällt zu Ansang der
40 er Jahre, dann vertauschte er die heimatliche
Gegend wieder mit süddeutschen Orten. — In
unserer Zeit hat das Gebiet der Landschafts-
malerei eine Erweiterung erfahren, die eine ganz
neue Epoche für diesen Zweig der Kunst herbei-
geführt hat. Zu ungeahnten Wirkungen hat es
eine hochentwickelte Technik gebracht. Die großen
Meister der Vergangenheit, die Claude Lorrain,
die Ruysdael, die Everdingen n. A. haben in der
Gegenwart würdige Nachfolger gefunden, aber
gleichzeitig werden die Ausstellungen mit einer
Flut von Machwerken überschwemmt, die sich für
Landschaften ausgeben und der Natur Farben an-
lügen, vor denen der Beschauer verständnislos
steht und, wenn er der älteren Generation ange-
hört, gern der Zeit gedenkt, wo Gleimsche Land-
schaften die Kunstausstellungen zierten.
Eine längere Panse in Gleims Kunstthätigkeit
trat ein, als er, um seine Verheiratung mit der
Tochter des Finanzrats Matthes in Karlsruhe zu
ermöglichen, eine Stelle als Rentenverwalter zu
Mannheim annahm. Erst seit dem Jahre 1865,
nach dem Tode seiner Gattin, lebte er wieder, ganz
der Malerei zurückgegeben, in München, wo er
1890 starb. Zn beklagen aber ist es, daß unsere
Gemäldegallerie kein Werk des verdienstvollen
hessischen Künstlers besitzt. K.
Kassel im Jahre 1 8 3 7. Ter 1896 zu
Leipzig verstorbene berühmte Professor der Mathe-
matik und Philosophie Moritz Wilhe lm D r obi s ch
war als Abgeordneter der Universität Leipzig zum
Jubiläum der Göttinger Universität 1837 gesandt
worden und besuchte auf der Rückreise am 23. Sep-
tember Kassel. Tie Eindrücke, die er von dieser
Stadt hatte, legte er in seinem Tagebuche nieder,
und sie mögen hier mitgeteilt werden.*)
„Lange hat mich nichts so überrascht wie Kassel.
Ich komme aus dem stillen Thal von Münden und
finde plötzlich eine höchst glänzende, elegante, ge-
schmackvolle Residenz! Fürstliches Leben zeigt sich
in Gebäuden, Gärten, Uniformen, Equipagen,
Livreen u. s. w. in allem Glanze, ganz anders
z. B. als in Dresden. Tas Militär. ganz ans
preußischem Fuß, hat eine treffliche, imponierende
Haltung. Die Damen sind elegant gekleidet, graziös
und liebenswürdig. Ter Römische Kaiser, ein Gast-
hof**) von einem Umfang und, fast möchte ich
sagen, von einer großartigen und fashionabelen
Einrichtung, wie mir noch keiner vorgekommen. Tie
Kirchenparade zeigte die militärische Haltung und
schöne Uniformierung der Truppen. Interessant
war mir dabei die Equipage der Gräfin Reichen-
*) Vergl. Moritz Wilhelm D r o b i s ch. Ein Ge-
lehrtenleben. Von Walther,Neubert-Drobisch.
Leipzig 1902. S. 58.
**) Der „Römische Kaiser" lag an der Ecke des Martins-
platzes und der Hedwigstraße, die Länge der letzteren da-
mals fast, später ganz vollständig einnehmend.
234
bad)*) mit sechs herrlichen Engländern und zwei
Jockeys, weit mehr aber noch die schöne Frau, die da-
rinnen saß, die schöne Helena, die den dritten (?) Mann
fesselt. — Mit raschen Equipagenpserden fuhr ich in
Gesellschaft von zwei anderen Fremden nach der herr-
lichen Wilhelmshöhe. Ta es Sonntag war, so war
ich so glücklich, die Wasser fallen zu sehen. Ter
schönste Fall ist der Aquädukt, überhaupt der ganze
Gedanke, die Ruinen einer römischen Wasserleitung
zum Wasserfall zu benutzen, wahrhaft poetisch/ Tic
Fontaine ist großartig, die Löwenburg im ganzen
eine schöne Nachahmung, im einzelnen viel moderne
Flicklappen und hier und da aus dem Stil
gefallen. Schloß und Garten trefflich erhalten
und überall fürstlichen Überfluß verratend. Abends
im Theater, das ich ebenfalls geschmackvoll fand,
und wo ich mich an den schönen Damen besser
amüsierte, als an dem Stück, das langweilig genug
und nur eine Sammlung von Theatereffekten ohne
Tiefe, Wahrheit und Feinheit war.**) — Göttingen
und Kassel, welche Kontraste! Dort Stille, Ärm-
lichkeit, Geschmacklosigkeit, hier Leben, Überfluß
(scheinbar wenigstens), Eleganz und Glanz. Aber
ich sehe auch deutlich ein, wie wenig eine Stadt
wie Kassel eine wahre Universitätsstadt sein könnte.
Solche Herrlichkeit muß den jungen Leuten den
Kops verdrehen, komme doch ich alter, prosaischer
Mensch nicht ohne einen Rausch, einen Schwindel-
anfall davon. Solche Empfindungen habe ich nicht
gehabt, als ich Berlin sah; nur den Eindruck von
Dresden im Jahre 1832 kann ich damit ver-
*) Dies ist ein Irrtum; es muß du Gräfin Schaum-
burg heißen; die Gräfin Reicheubach war damals nicht
mehr in Kassel.
**) Hieraus geht hervor, daß Professor Drobisch am
23. September in Kassel angekommen ist und auch den
24. daselbst verweilte, denn der 28. September war ein
Sonnabend, an welchem im Hoftheater Aubers „Ballnacht"
gegeben wurde, Sonntag den 24. aber kam Töpfers fünf-
aktiges Charaktergemülde: „Gebrüder Foster, oder: Das
Glück mit seinen Launen" zur Aufführung. Anm. d. Red.
Aus ^eiinat
Geburtstagsfeier des letzten Kur-
für st e n i n K a s s e l. Der hundertste Geburts-
tag des K u r f ü r st e n Friedrich Wilhelm I.
von Hessen versammelte schon in der Frühe
des 20. August eine große Menschenmenge aus
dem Lutherplatz, wo die Grabstätte des letzten
hessischen Regenten aus dem Hause Brabant sich
befindet. Während von der Privatkapelle des Herrn
Henkel einige Choräle gespielt wurden, erschienen
die Abordnungen von Vereinen, sowie viele dem
früheren Hofe nahegestandene Personen, um Lor-
gleichen. Tie Gegend ist aber auch hier unver-
gleichlich, und ich glaube fast, daß sie iloch reicher
ist als die Dresdener. Tie Aussichten von der
Wilhelmshöhe sowie in die Aue suchen ihres-
gleichen."
Wir Kasseler können mit dieser Beurteilung
unserer Vaterstadt zufrieden sein. Mio Gerkand.
Das letzte Hoch nnf den letzten Kur-
fürsten. Ein alter Gardist vom Kurhessischen
Leibgarde-Regiement, Herr C. N. in Hanau, schreibt
uns mit Bezugnahme auf die gegenwärtig durch
die Tageszeitungen verbreiteten Mitteilungen, daß das
letzte öffentliche Hoch aus den Kurfürsten Friedrich
Wilhelm I. im Hanauer Land in Windecken am
23. Juni oder ans dem Exerzierplatz im Lamboi-
walde bei Hanau am 29. Juni 1866 ausgebracht
worden sei, das Nachfolgende: Es war im Winter
des Jahres 1866. Ter Kurfürst wohnte schon
einige Zeit nach seiner Stettiner Gefangenschaft im
Hanauer Altstädter Schlosse. Am 1. Dezember
hatten die Reservisten die erste Kontrollversammlung
unter dem preußischen Major Horst aus dem Parade-
platz zu Hanau. Als die Versammlung nachmittags
gegen 4 Uhr beendigt war, erscholl eine Stimme
aus den Reihen der Reservisten: „Jetzt ziehen wir
zum Kurfürsten; . und alle, einige Hundert Mann
Hanauer, marschierten in Reihe und Glied zum
Schlosse. Tort angelangt nahmen wir im Schloß-
hos Ausstellung, und aus Hunderten von Kehlen
erscholl es: „Heil Dir im Siegerkranz!" Da er-
schien der Kurfürst, neben ihm die Fürstin auf dem
Balkon, und sprach unter Thränen uns seinen Dank
aus, darauf erscholl ein nicht endenwollendes „Hoch!"
aus denselben. Anhaltend dankend verließen sodann
der Kurfürst und seine Gemahlin tief gerührt den
Balkon. Das war wohl das letzte Hoch, welches
dem Kurfürsten persönlich im Hessenlande ausgebracht
wurde, einige Zeit daraus reiste derselbe nach
Prag ab.
-----------
und Frenrde.
beerkränze mit Bändern in den hessischen Farben
aus dem schön geschmückten Grabe niederzulegen.
Dasselbe war auch von der althessischen Ritterschaft
und den noch lebenden Offizieren und Mannschaften
der früheren kurhessischen Regimenter und Ba-
taillone geschehen. Besonders prachtvolle Kranz-
spenden hatten einige Familienglieder und Anver-
wandte des hohen Dahingeschiedenen gesandt. Per-
sönlich am Grabe erschienen Fürst Karl von Hanau
und zu Horschowitz, Prinz Heinrich von Hanau
und Graf Friedrich von Schanmburg, um das An-
235
denken des Vaters und Großvaters zu ehren. —
Im großen Saale des Palais-Restaurants fand
nachmittags eine gut besuchte Versammlung der
Hessischen Rechtspartei statt, in welcher Herr Rechts-
anwalt Julius Martin I, Herr Pfarrer
Wilhelm Hopf, Redakteur der Hessischen
Blätter, aus Melsungen und Herr Adam T rä-
dert, der es sich nicht hatte nehmen lassen, trotz
seines hohen Alters von Wien nach Kassel zu
kommen, um diesen Tag in der ehemaligen kur-
fürstlichen Residenz mitbegehen zu können. An-
sprachen hielten. — Abends hielt im Evangelischen
Vereinshause Herr Kabinetsrat Adolf Schimmel-
pfcng vor dicht gefülltem Saale einen Vortrag
über den letzten Kurfürsten, der zu dem Interessan-
testen zählte, was von diesem Herrscher bisher ge-
sagt worden ist, da der Redner von der Deposse-
dierung bis zum Ableben des Fürsten bei ihm
geweilt und ihn aus nächster Nähe kennen gelernt
hat. Das Bild, das er von dem Kurfürsten ent-
warf, war ein ebenso lebensvolles als abgeklärtes.
Er zeichnete ihn in seiner Eigenart zwar mit
großer Liebe, aber ohne die guten Eigenschaften zu
übertreiben und die entgegengesetzten zu verwischen.
Alan konnte danach die Überzeugung gewinnen,
daß der Kurfürst in mancher Hinsicht doch ein
anderer war, als er gemeiniglich geschildert worden
ist, eine Überzeugung, die sich nach und nach auch
weiterhin verbreiten wird, da in der letzteren Zeit
bereits angesehene politische und wissenschaftliche
Persönlichkeiten begonnen haben, auch den guten
Seiten in dem Wesen des Kurfürsten gerecht zu
werden. Herr Kabinetsrat Schimmclpseng kann
das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, seit
länger als einem Vierteljahrhundert zu dieser ver-
änderten Auffassung in wirksamster Weise beige-
tragen zu haben. — Am Sonntag, den 24. August,
wurde bei dem Gottesdienst in der Hof- und Garnison-
kirche durch Herrn Pfarrer Fuchs des Kurfürsten
in angemessener Weise gedacht.
Zum 100. Geburtstag Friedrich Wilhelms I.
hatten die meisten der Kasseler Buchhandlungen
in ihren Schaufenstern Bilder und Statuetten des-
selben ausgestellt, auch Herr Photograph Alach mar
hatte aus seiner reichhaltigen hessischen Sammlung
eine größere Anzahl von Bildern des Kurfürsten
ans seiner Jugend, sowie aus seiner späteren Zeit,
u. a. zu Pferd bei der Frühjahrsparade 1806,
ferner Wiedergaben hessischer Truppentypen in seinem
Atelier zu einer interessanten Gruppe vereinigt.
Aus Wunsch versendet Herr Machmar diese Photo-
graphien zur Auswahl auch nach auswärts. — In
Hanau war vom dortigen hessischen Geschichtsvereiu
in seinem Museum eine größere Anzahl von Bild-
nissen, Handschriften rc. hessischer Fürstlichkeiten zur
Besichtigung ausgelegt, und in Marburg hatte
die N. G. El wer tusche Universitäts-Buchhandlung
in einem ihrer Schaufenster eine Ausstellung von
Büchern, Bildern, Flugblättern u. s. w. aus der
Regierungszeit des letzten Kurfürsten veranstaltet.
Die 68. Jahresversammlung des Vereins
für hessische Geschichte und Landeskunde
wurde in der ehemals freien Reichsstadt Geln-
hausen gehalten, die ihren Festschmuck angelegt
hatte und die Teilnehmer freundlich aufnahm.
Zunächst fand am 21. August, um 5 Uhr nach-
mittags, im Hause der Kasino-Gesellschaft eine
vierstündige Sitzung des Gesamtvorstandes statt,
welche namentlich die zwecks Eintrags des Vereins
in das Vereinsregister vorzunehmenden Änderungen
der Statuten zu erörtern hatte. Nach Schluß dieser
Sitzung gesellte sich der Vorstand zu den inzwischen
eingetroffenen Mitgliedern zu geselliger Vereinigung.
Am folgenden Tage begann morgens 9 Uhr
die von vielen Damen und Herrn besuchte Haupt-
Versammlung im großen Kasinosaale. Der
Vorsitzende, Herr Generalmajor z. D. Eisentraut,
eröffnete dieselbe, indem er Herrn Bürgermeister
Schösser das Wort erteilte. Dieser begrüßte
daraus namens der Stadt die Anwesenden und hieß
sie herzlich willkommen. Der Vorsitzende dankte
und versicherte im Namen des Vorstandes, daß man
im vergangenen Jahre in Rotenburg sehr erfreut
gewesen sei, als die Einladung aus Gelnhausen
gekommen wäre. — Der Verein tage nun schon
zum vierten Male in Gelnhausen.
Nunmehr begannen die geschäftlichen Verhand-
lungen mit Verlesung des Geschäftsberichts durch
den Schriftführer, Kauzleirat Ne über. Derselbe
bemerkte, daß die Mitgliederzahl durch viele Todes-
fälle gelichtet sei, indessen doch nahe an 1600 be-
trage, und führte die Namen der unter den Ver-
storbenen dem Vereine besonders nahe gestandenen
Männer an, vor allen dreier: des Majors z. T.
W e s ch k e, langjährigen Vorsitzenden des Zweig-
vereins Schmalkalden, des Bezirks-Konservators
Di-. Bickell zu Marburg, welcher bei vielseitiger
Bildung und rühriger Thätigkeit Außerordentliches
geleistet habe, und des Custos am Naturalien-
Museum zu Kassel, Professor Lenz, langjährigen
Rechuungssührers des Vereins (1862 —1897) und
späteren Ehrenmitglieds. — Zu Ehren des Andenkens
der Dahingeschiedenen erhoben sich auf Ersuchen
des Vorsitzenden die Anwesenden von ihren Sitzen. -
Der Schriftführer teilte weiter mit, daß der Verein
mit über 100 verschiedenen Vereinen, Gesellschaften
u. s. w. im Schristenaustausch stehe und auf diese
Weise, außerdem aber auch durch Schenkung und
236
Kauf viele wertvolle Sachen erworben habe, und
gedachte der vorjährigen Jahresversammlung zu
Notenburg und in Kürze der Thätigkeit des Vereins
zu Kassel.
Ter Rechnungssührer, Herr Landesrat Wolfs
v. Gudenberg, erstattete den Kassenbericht.
Danach beträgt die Einnahme 7261,30 Mark, die
Ausgabe 6454,64 Mark und verbleibt demnach ein
Kassenbestand von 806,66 Mark. Der Vorsitzende
bemerkt, daß die Rechnung von zwei Sachverständigen
in Gelnhausen geprüft und richtig befunden worden
sei, woraus Entlastung des Nechnungssührers durch
die Versammlung erfolgte. Ter Vorsitzende machte
dann auch Mitteilung über den Stand der Vereius-
sammlungen zu Marburg und bemerkte, daß trotz
der dahin zu leistenden Geldzuschüsse und trotz der
durch die hohen Preise für Papier und Truck ver-
mehrten Ausgaben des Vereins in der gestrigen
Sitzung des Gesamtvorstandes beschlossen worden
sei, den bisherigen geringen Jahresbeitrag beizu-
behalten. Aus Anfrage des Herrn Superintendenten
Wissemann von Hofgeismar, ob nicht Katalogi-
sierung der Marburger Sammlungen möglich sei-
bemerkte Herr Geh. Archivrat Di-. Könnecke von
Marburg, daß die dortigen Arbeiten durch Bickells
Tod ins Stocken geraten seien und sein Nachfolger,
Herr Professor Dr. v. Track), mit Geschäften über-
häuft, daß aber die Bearbeitung eines „Führers"
durch die Sammlung in Aussicht genommen sei.
Aus Antrag des Herrn Superintendenten Wisse-
mann wurden die bisherigen sieben Mitglieder des
Kasseler Vorstandes durch Zuruf einstimmig wieder-
gewählt. Ter Vorsitzende teilte weiter mit, daß als
Ort der nächsten Jahresversammlung die Stadt
Wolshagen in Aussicht genommen und von dieser
bereits Einladung ergangen fei. Sodann gab derselbe
Kenntnis davon, daß es notwendig geworden sei,
die Vereinsstatuten von 1896 den Forderungen des
bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend umzuändern,
und der Gesamtvorstand am gestrigen Abend den
vorgelegten Entwurf neuer Satzungen durchberaten
und angenommen habe. Tie Versammlung stimmte
den Beschlüssen des Gesamtvorstandes bei. .
Nach Schluß der geschäftlichen Verhandlungen
nahm zunächst Herr Professor Dr. Schröder von
Marburg das Wort zu einer Gedenkrede: „Zur
hundertjährigen Geburtstagsfeier des Kurfürsten
Friedrich Wilhelm I. von Hessen" (20. August 1902).
Tie Schilderung des Herrn Professor Dr. Schröder
führte das Bild des letzten Kurfürsten in wvhl-
getroffenen Zügen den Versammelten vor Augen und
kann als einer der wertvollsten Beiträge zu seiner
Charakteristik betrachtet werden.*) Daraus folgte
*) Das Hauptsächliche aus dieser vortrefflichen Gedenk-
rede wird im „Hessenland" noch mitgeteilt werden.
der Vortrag des Herrn Privatiers L. W. Schösser
von Gelnhausen: „Zur Geschichte der Stadt Geln-
hausen". Mit großer Liebe führte der Vortragende
seine Zuhörer iu die alte freie Reichsstadt ein, die
von Friedrich Barbarossa aus einem Kirchdorf zu
diesem Rang erhoben worden tvar, und entrollte
ein glänzendes Bild seiner Vaterstadt aus dem
l2. und 13. Jahrhundert, das „die Seele mit Wonne
erfüllt, wenn wir uns vorstellen, wie glücklich und
froh die Deutschen gelebt haben mögen unter dem
glänzenden nationalen Aufschwung in der Hohen-
staufen-Zeit, wo die hochbegabten dentschen Sänger
von den Burgen des Adels heruntergestiegen waren
in die ausblühenden Städte zu den gewerbtreibenden
thatkräftigen Bürgern, unter das Volk". Dann
aber folgten mehrere große Sterben und endlich
der 30 jährige Krieg, welcher der früheren Blüte
von Gelnhausen das Ende bereitete, denn auch
in den nun folgenden Friedenszeiten herrschte
Zank und Streit mit den Psandherrschaften und
Uneinigkeit zwischen den Fürsten und dem Rat
der Stadt. Tie drückenden Truppendurchzüge während
der Napolevnischen Kriege und die Schrecknisse nach
der Schlacht bei Leipzig, wo die geschlagenen fran-
zösischen Kölonnen ihren Rückzug durch die Gegend
nahmen, bilden den Abschluß der traurigen alten
Zeit. Vorher aber war die freie Reichsstadt schon
1803 durch Reichsdeputations-Hauptbeschluß dem
damaligen Kurfürstentum Hessen einverleibt worden.
Ter Groll über diese Vergewaltigung ist jedoch
nach und nach verschwunden, und das uralte Geln-
hausen befindet sich jetzt in einem neuen mächtigen
Fortschritt. — Beide Redner ernteten den wohlver-
dienten Beifall der Anwesenden, und der Vorsitzende
sprach ihnen noch besonderen Dank aus. Herr
Landrat v. Baumbach feierte noch in beredten
Worten die Bedeutung des verstorbenen Konservators
Bickell, insbesondere auch seine Verdienste um den
Kreis Gelnhausen.
Die Festteilnehmer nahmen nunmehr in dem
Kasino ein Frühstück zu sich und traten sodann
eine Wanderung durch die Stadt an. um deren
Sehenswürdigkeiten in Augeuschein zu nehmen:
den einstigen Kaiserpalast von Friedrich I.
Barbarossa, den Hexen türm, das durch die Be-
mühungen des Konservators Bickell wiederhergestellte
sog. romanische Haus und die Stadt- oder
Marienkirche, wo Herr Metropolitan Schäfer
einen sehr lehrreichen Vortrag hielt. Das die
ganze Stadt weithin überragende, wahrscheinlich
schon im 12. Jahrhundert erbaute und in seiner-
weiteren Anlage verschiedenen Perioden angehörende
Gotteshaus ist ein wahres Kleinod zu nennen.
Kanzel, Lettner, Chor bieten genug des Schönen
dar. Den an die Stadtmauer grenzenden sog.
Stabt pars mit reizenden Kartenanlagen durch-
wandernd patte man noch genug Gelegenheit, auf
die Kirche mit ihren steilen Thürmen hinzublicken,
von denen der eine bis zum Ende der 70er Jahre
mit seiner schiefen und gewundenen Spitze ein
Wahrzeichen der Stadt bildete. Dann beschallte
man die Kelakapelle. das Hailser Thor. das Holz-
thor sowie die in Privatbesitz übergegangenen Ge-
bällde. das Iohanniterhans und die Peterskirche,
welche letztere von ihrem jetzigen Eigentümer, Herrn
Fabrikanten Mele, gern gezeigt wird.
Nach Betrachtung dieser vieleil Sehenswürdig-
keiten. ans welche die Stadt Gelnhausen mit Recht
stolz sein kann, schmeckte das wohl zubereitete Fest-
mahl im Gasthause zum Hessischen Hof. das durch
.Kaisertoast und daran sich reihende Trinksprüche
ans das gastliche Gelnhausen, den hessischen Gc-
schichtsverein. die hessische Heimat, die Frauen, die
Festredner gewürzt wurde. Tie Zahl der Teil-
nehmer betrug über 70. Das nachfolgende Konzert
im Garten „Zur Hoffnung" vereinigte noch eine
große Zahl bis zum späten Abend
Am letzten Tag, 23. August, versammelten sich
gegen 9'/2 Uhr vormittags die Teilnehmer ans
dein Platze vor dem Rathanse und zogen, mit der
Stadtinnsik voran, hinauf in den schattigen Stadt-
wald und weiter nach der Heinrichshöhe, welche
mehrere herrliche Aussichtspunkte darbietet und wo
man ein von dem Festansschliß dargebotenes Früh-
stück einnahm. Bei diesem machte Herr Landrat
v. Baumbach noch höchst anziehende Mitteilungen
über die früheren und jetzigen politischen Verhält-
nisse des ill herrlichste,ll Sonnenlicht sich zeigenden
Gelnhänser Thales. Erst nach mehreren Stunden
trennten sich die Teilnehmer von der Heinrichshöhe
und von ihren freundlichen Wirten mit dem Ge-
fühle, frohe und angenehme Stunden in der lieb-
lichen Stadt Gelnhausen verlebt zu haben, g. ff.
Universitätsnachrichten. Der ordentliche
Professor Dr. Friedrich Sch 011ky zu Marburg
ist in gleicher Eigenschaft in die philosophische
Fakultät der Friedrich - Wilhelms - Universität zu
Berlin versetzt worden. — Der Professor der
Jurisprudenz Schücking in Breslali hat einen
Ruf an die Universität Marburg erhalten und
angenommen. — Dr. I. Haller, seither Mitglied
des preußischen historischen Instituts in Rom.
ist zum außerordentlichen Professor für mittel-
alterliche Geschichte und Direktor des Seminars
für historische Hilfswissenschaften an der Universität
Marburg berufen worden und hat den Ruf an-
genommen. — Der bisherige Physikus Dr. Hein-
rich Hildebrand zu Hamburg ist zum außer-
ordentlichen Professor in der medizinischen Fakultät
der Universität zu Marburg ernannt. Demselben
wurden auch die Obliegenheiten eines Kreisarztes
für die Kreise Marburg und Kirchhaiu übertragen. —
Der bisherige Privatdozent an der Universität Mar-
burg Dr. phil. ©abaiacr ist zum ordentlichen
Professor in der philosophischen Fakultät der
Universität Breslau ernannt worden.
Todesfall. Am 4. Juli d. I. starb zu Er-
langen der außerordentliche Professor der Ohren-
! Heilkunde Professor Dr. Wilhelm Kießelbach.
im Alter von 62 Jahren. Geboren am 1. De-
zember 1839 zu Hanau a. M. als Sohn eines
hochangesehenen, vielbeschäftigten Arztes, dessen Groß-
vater aus Kirchhaiu in Oberhessen stammte, be-
suchte Kießelbach das Gymnasium seiner Vaterstadt
und studierte darauf auf den Universitäten zu
Göttingen und Marburg Medizin. Die Wahl
gerade dieses Studiums entsprach seiner eignen
Neigung und war zudem ein Lieblingswunsch der
Familie, da außer dem Vater schon der Großvater
und der Urgroßvater Ärzte gewesen waren. In
Göttingen gehörte Kießelbach dem Korps Hildeso-
Guestphalia an. in Marburg war er ein geschätztes
Mitglied der Hasso-Nassovia. Andauernde Krank-
heit. wie ein komplizierter Beinbruch und eine
langwierige Lähmung der linken Hand, nötigten ihn
leider, zeitweise seine medizinische Studien zu unter-
brechen. er benutzte aber die Gelegenheit, um sich
durch fleißiges Studium und Lektüre eine umfassende
allgemeine Bildung, namentlich auf naturwissen-
schaftlichem Gebiet, anzueignen. Während des
Kriegsjahrs 1870—1871 war Kießelbach als As-
sistent am Krankenhaus thätig und besaß infolgedessen
die Kriegsmünze für Nichtkombattanten. Im Jahre
1880 habilitierte er sich an der Universiät Erlangen
für Ohren, Nase und Kehlkopf, 1883 wurde er
Oberarzt an der ohrenärztlichen Poliklinik und 1888
außerordentlicher Professor. In dieser seiner Eigen-
schaft hat nun Kießelbach eine segensreiche Thätigkeit
entfaltet, als Forscher, als Dozent, als Arzt und
als Mensch war er gleich ausgezeichnet. Ter Wissen-
schaft hat er durch eine Reihe gediegener Unter-
suchungen, die er in den Fachzeitschriften veröffent-
lichte. große Dienste geleistet. Hervorzuheben sind
hier seine Beiträge zur Physiologie des Gehörorgans,
speziell der Gehörnerven, in welcher er auf Grund
langdauernder Versuche am eigenen Körper wesent-
lich Neues brachte und so eine bleibende Grundlage
auf diesem schwierigen Gebiete schuf. Nicht minder
glücklich war Kießelbach als Dozent. Seine Vor-
lesungen waren ein Muster von Gründlichkeit und
Einfachheit, da jeder äußerliche rhetorische Prunk
vermieden wurde; desgleichen brachten die Praktika
seinen zahlreichen Schülern reiche Belehrung. Denn
238
als Arzt war Kießelbach unbedingt zuverlässig durch
seine ruhige Beobachtung, die stets eine exakte
Diagnose ermöglichte, ferner durch seine sichere
Hand und sein gewinnendes Wesen gegenüber seinen
Patienten. Als Mensch endlich war er von seltener
Herzensgute, von großem Edelmut und trotz seines
reichen Wissens von selbstloser Bescheidenheit. Er
liebte Geselligkeit in hohem Maße und war ein
vorzüglicher Cellospicler. An seine hessische Heimat,
besonders an seine Vaterstadt Hanau, hat sich
Kießelbach stets, auch als er bayrischer Staatsdiener
geworden war, eine große Anhänglichkeit bewahrt
und im Kreise seiner Familie und seiner Freunde
gern von der Heimat und den vergangenen Zeiten,
von Personen und Verhältnissen daselbst mit großer
Wärme erzählt. Er nü)C in Frieden! <5. A.
Bor einigen Jahren veröffentlichte einer unserer
Mitarbeiter. I),-. A r m b r u st, in unserer Zeitschrift
einen Aussatz über die Burg Schwarzenberg
bei Melsungen. Im vergangenen Jahre hat er
die Arbeit dadurch bedeutend erweitert und ver-
bessert. daß er seine Forschungen auf die Familie
der Burginhaber, das thüringische Geschlecht von
B a l e n h u s e n. ausdehnte. Eine längere Abhand-
lung darüber übergab er im letzten Frühjahr dem
Herausgeber der „Zeitschrift für thüringische Ge-
schichte und Altertumskunde", Herrn Professor
ft,-. D 0 benecker in Jena. Die Arbeit, biirrf) zahl-
reiche Regesten und zwei Siegeltafeln erläutert, er-
scheint augenblicklich in der Zeitschrift für thüringische
Geschichte, Bd. XXf, S. 230 ff. Gelegentlich kommen
wir auf den Inhalt, soweit er Hessen betrifft, zurück.
------------
Hessische Zeitschriftenschau.
Ufr Burgwart, 1902, III. Jahrg., Nr. 8—11.
C. K r.: Wilhelm Dilichs Ansichten hessischer Städte.
Dr. I ustus Schneider (Fulda): Die allsgegrabene
Burg ain Liedenküppel an der Milseburg im Rhön-
gebirge.
Der deutsche Herold, 1902, Nr. 5.
G. Frhr. Schenk zn Schweinsberg: Stammte
Graf Peter von Holzapfel aus bäuerlichem oder aus
adeligem Geschlecht?
Deutsche Heimat, 1902, Heft 36.
Fritz Lienhard: Gin vergessenes Buch (Prinz
Rosa Stramin).
Fuldaer Geschichtsblätter, I. Jahrg. 1902. Heft 4—7.
Dr. An ton i: Fulda im Bauernkriege (Fortsetzung
und Schluß)
H. Eltester: Das letzte kurhessische Infanterie-
regiment der Garnison Fnlda in seinem letzten Jahre.
— Zur Geschichte der Lebensinittelpreise in Fnlda.
— Ordnung der Metzgerzunft in der Stadt Fulda,
de Anno 1707.
I. Kartels und C. Scherer: Verzeichnis der
Fuldaischen Gesamtlitteratur (ll. Fuldensien ans
„Hessenland". Zeitschrift f. Hess. Geschichte n. Litteratur).
Ferner: Misccllen rc.
Heflifche Blätter für Uolkskunde, Vaud I, Heft 2.
O. Schulte: Kirchweih im Vogelsberg.
Dr. Julius Reinhard Dieter ich: Eselritt und
Dachabdeckeu.
--------------
Dr. Karl Ebel: Gießener Flurnamen vom Ende
des 15. Jahrhunderts.
Dr. Richard Wünsch: Aus der Kinderstube.
F. Hu ns in ge r und Dr. A. Strack: Die letzten
Schlottenhäger in Hungen.
Dr. Walther Köhler: Zn den Himmels- und
Hölleubriesen
Ferner: Bücherschau. Chronik der Vereinigung rc.
Litterarisches Echo, 1902, IV. Jahrg., Nr. 21.
Karl Berger: Deutsche Dichtung in Hessen.
Guartalsblätter des Hillor. Vereins für das Groß-
herrogtum Hessen. Neue Folge. 1901, III. Band, Nr. 4.
Karl Bronner: Mittelalterliche Wandmalereien
in der Kirche zu Frau-Rombach.
Dr. August Rveschen: Der Ortsname Mulstein.
Helmke: Fundberichte bei Friedberg.
Dr. August Rveschen: Alte Straße in Wetter-
feld bei Laubach.
Ferner: Vereinsuachrichten. kleinere Mitteilungen,
Litterarisches, Hessische Chronik.
Danrillische Mitteilungen aus beiden Hessen, Nassau.
Frankfurt a. M., Waldeck rc. XI. Jahrg., Nr. 1.
G. Haupt: Ein Gang bitrrf) das Gebiet des Nieder-
hessischen Touristenvereins mit seinen Zweigvereinen.
K. Freese: Die Übergabe des Bürgermeister
Schräder - Gedenksteins an die Gemeinde Braun-
schweigisch-Neuhaus.
Ferner: Kleinere Mitteilungen rc.
Personalien.
Verliehenr dem Rechtsanwalt und Notar Grebe
in Schmalkalden der Titel Justizrat; dem prakt. Arzt
Dr. Nehm in Rauschenberg der Titel Sanitätsrat,- dem
Postsekretär A r i 11t ond zu Kassel aus Anlaß seines Scheidens
aus dem Dienste der Charakter als Ober-Postsekretär.
Übertragen: dem Oberförster Daniels die Ober-
förster stelle Niederka lbach.
Geboren: ein Sohn: Pfarrer Reinhardt und Frau
Emilie, geb. Ger land (Krippehna. 23. August); eine
Tochter: Oberförster Alüller und Frau Anna, geb.
Urban (Borken bei Siewen in Ostpreußen. 15. August);
Dr. G. Zuschlag und Frau Hedwig, geb. Granier
(Radebeul bei Dresden, 15. August); Postinspektor Kind
und Frau Clärcheu, geb. Unger (Torgau, August);
Dr. med. Fritz Mühlhausen und Frau Hedwig,
geb. Herbst (Braunschweig, 23. Allgust); Dekorations-
maler Heinrich Becker und Frau Marie, geb.
Kn letsch (Friedberg i. H., 24. August).
Gestorben: königl. Generalleutnantz. D. Ferdinand
Freiherr von Dörnberg zu Herzberg, 69 Jahre
alt (Kassel. 15. August); Frau Louise Wiegand, verw.
Hahn, geb. Wichard, 84 Jahre alt (Kassel. 16. Angust);
Postsekretär a. D. Eduard Rudolf Briede, 75 Jahre
alt (Kassel. 18. August); Bürgermeister a. D. Georg
Becker, 78 Jahre alt (Gudensberg, 24. August); Stein-
druckereibesitzer Christoph Eckhardt, 76 Jahre alt
(Kassel, 25. August); Lehrerin Fräulein Hedwig Heine-
m a n n, 60 Jahre alt (Kassel, 29. August).
Für die Redaktion verantwortlich: W. Ben necke in Kassel. Druck und Verlag von Fried r. Scheel, Kassel.
Einfahrt in <Un Golf von Mcopa. '
Es starrt weit ins Meer dort ein Eiland,
von ruhlosen Wellen umtost;
Der Strand — eine rissige Felswand,
Ihr Inn'res — nur spärlich bemoost.
Keinen Strauch, keinen Baum sieht man ragen
Und schmücken das karge Gefild;
Unnahbar, unwirtlich, zerschlagen —
So liegt es, ein trostloses Bild.
Und Schiffe, von fernher gezogen,
So oft sie erstreben die Bai,
Sie segeln vorsichtig im Bogen
weitab an der Insel vorbei.
Und doch — wenn die Wolken sich ballen,
wenn die Bläue des Meeres ergraut,
Wenn donnernd die Himmel erschallen
Und zu Bergen die woge sich staut, —
Dann sieht man die Möven beflissen
Wohl flieh'n nach dein Inselland dort,
Und im Fels, den die Brandung zerrissen,
Da finden sie schützenden Port.
Lines Herzens mußt' ich gedenken,
Das im Meere des Lebens so ruht,
Das des Schicksals ewiges Kränken
Zerschlug - wie die Insel die Flut;
Dessen Wunden und Bisse ohn' Schranken
Eine Zuflucht den Flüchtigen däucht,
wenn — wie Möven — schneeweiße Gedanken
Die Welt dort, die tobende, scheucht.
kicharü Zordan f.
Kühlung des Herzens.
Über den See und das flüsternde Ried,
Über die Kolben, die schlanken,
wandert zum Walde mein suchendes Lied,
webt seine sehnenden Ranken.
koch, wo so traumhaft im bläulichen Duft
herrschen die dunkelen Kronen,
Wo in der milden, der schweigenden Luft
Geister der Einsamkeit wohnen,
Schwebt meine Seele und holt sich die Kraft
Stiller und tiefer zu werden.
Daß sie entfliehe der fesselnden Haft
wechselnder Gier und Beschwerden.
Glühend am Rain steht ein rötliches Kraut;
pflück' ich zum leuchtenden Strauße.
Trage ein stilles Gedenken der Stund'.
Kühlung des Herzens nach Haufe.
Regensburg. Nk. liCsbCft.
*) An ver Westküste Losta-Ricas.^
Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Hessen
Ein Gedenkblatt zu seinem hundertjährigen Geburtstag.
Bon W. Ben necke.
(Fortsetzung.)
^ie Kammer wurde am 26. August eröffnet, und
D das erste war, daß sie ihr Mißtrauensvotum
gegen das bestehende Ministerium wiederholte.
Der Kurfürst dahingegen verzichtete auf den
Empfang der Deputation, die ihm eine darauf
Bezug nehmende Adresse überreichen sollte. Am
31. August aber kam es in der Kammer zu der
Steuerverweigerung, wobei bemerkt werden
muß, daß der Kurfürst seither schon aus eigenen
Mitteln der Staatskasse eine Million Thaler zur
Fortführung der Verwaltung vorgeschossen hatte.
Am 2. September wurde die Ständeversammlung
wiederum aufgelöst, und am 4. erschien eine kur-
fürstliche Verordnung, in der die Stände des Ver-
sassungsbruchs beschuldigt wurden, da sie nach 8 143
der Verfassung für Ausbringung des ordentlichen
lind außerordentlichen Staatsbedarfs zu sorgen
hätten. Unter Hinweis aus 8 95 der Verfassung
wurde sodann in der Verordnung die sofortige
Erhebung der Steuern verfügt, bis mit den sobald
als thunlich einzuberufenden Landständen anderweit
Vereinbarung getroffen werde. Der landstäudische
Ausschuß wies darauf den der Ständeversamm-
lnng gemachten Vorwurf des Verfasiuugsbruches
energisch zurück und klagte die Negierung selbst
der Verfassungsverlehung an. Auch die Kasseler
oberen Verwaltungsbehörden teilten diese An-
schauung, aber Hassenpflug benutzte den angeblichen
Verfassungsbrnch der Stände und die in solchen
Verhältnissen sich ergebende Unzulänglichkeit der
Gesetze dazu, über „die sämtlichen kurhessischen
Lande" am 7. September den Kriegszustand zu
verhängen, der anfangs aber nicht viel zu be-
deuten hatte, da er sich nicht bis auf die Gerichte
erstreckte und diese die Ordres militärischer Ober-
kommandos, soweit sie sich auf Maßregelungen
infolge des Kriegszustandes bezogen, größtenteils
lahm legten.
Da Hassenpflug momentan nicht weiter kommen
konnte, so führte er einen andern überraschenden
Coup aus, indem er den Kurfürsten bewog, in
der Nacht vom 12. auf den 13. September mit
dem ganzen Ministerium seine Hauptstadt zu ver-
lassen und sich nach Bockenheim zu begeben. Die
abenteuerliche Fahrt, die über Hannover, Minden,
Köln und Kastel nach Frankfurt ging, war sehr
aufregender Art, denn der Kurfürst, der als Graf
Steinau reiste, wurde unterwegs erkannt und hatte
mannigfache Unannehmlichkeiten zu überstehen,
die ihm aber seinen Humor nicht raubten. „Wenn
ich erst in Köln wäre." sagte er u. a., „so sollten
sie mich wohl nicht kriegen; in Köln weiß ich
jedes Gäßchen." Bei diesem fluchtartigen Auf-
bruch. dessen eigentliche Ursache noch immer nicht
völlig klar ist. muß auch die Sprache in Betracht
gezogen werden, welche die „Hornisse" seit der
letzten Auflösung der Ständekammer angenommen
hatte. In einem der „offenen Briefe an Seine
Königliche Hoheit" hieß es z. B.: „Ich habe Ihnen
gesagt, Königliche Hoheit, daß Sie auf einer ab-
schüssigen Bahn angelangt sind. — Schon morgen
oder übermorgen werden Sie erfahren können,
daß Sie zwar befehlen dürfen, Königliche Hoheit,
daß Sie aber den Gehorsam nicht anders finden
werden, als wenn Sie hinter Ihren Machtworten
berittene Gensdarmerie hersenden."
Nach einer dreitägigen Fahrt langte der Kurfürst
in Frankfurt au, wo in der letzteren Zeit auch
die Gräfin Schaumburg Aufenthalt genommen
hatte. Diese hatte man von dem Kurfürsten für-
einige Zeit zu trennen gewußt, da sie, wie von
Seiten der Opposition verlautete, schon längst auf
die Entfernung Hassenpflugs hingewirkt habe. Auch
im Schloß zu Wilhelmsbad, wo der Kurfürst
sich mit dem Negieruugsapparat niederließ, da in
Bockenheim keine passende Unterkunft vorhanden
war, hielt der Premierminister die Gräfin von
ihrem Gemahl möglichst fern.
Mit der Ankunft des Kurfürsten hatte das
idyllische Wilhelmsbad sich in ein Feldlager ver-
wandelt. Es starrte von Waffen, denn das
Leibgarde-Regiment und zwei Schwadronen des
2. Husaren-Regiments waren dorthin verlegt worden.
Allenthalben stieß inan in dem Park und der Um-
gebung auf Posten, Piquets und Husarenpatrouillen.
Die Vergnügungen des Badeortes erlitten jedoch
durch diese militärischen Maßnahmen keine Unter-
brechung. Wilhelmsbad zog gerade durch sein ver-
ändertes Aussehen die Besucher aus der Umgegend
241
massenhaft an, die hauptsächlich den Kurfürsten
und Hassenpflug sehen wollten.
Im nahen Frankfurt war inzwischen der alte
Bundestag wieder auferstanden, und der dortige
österreichische Präsidialgesandte Graf Thun stattete
dem Kurfürsten täglich seinen Besuch ab. Gestützt
auf die ihm nunmehr von dieser Seite in be-
stimmter Aussicht stehende Hülfe fielen die Worte
des Kurfürsten: „Es muß noch schärfer genommen
werden!", zu deren Bekräftigung die Ernennung
des alten, nicht mehr aktiven Generalleutnants
von Hayn au zum Oberbefehlshaber in Kassel
erfolgte, um den dortigen Belagerungszustand wirk-
samer zu gestalten und das Militär in strammer
Disziplin zu erhalten. Der 71 Jahre alte General
von Haynau war jedoch mit seiner mystischen
Denkungsweise am wenigsten dazu geeignet, seiner
Aufgabe, die Offiziere für die politischen Maß-
nahmen des Kurfürsten zu gewinnen, gerecht zìi
werden, denn er brachte es dahin, daß mit geringen
Ausnahmen die sämtlichen Offiziere der kur-
hessischen Armee ihren Abschied forderten, der
jedoch nur 48 derselben erteilt wurde.
Kurhessen erschien nun als Versuchsobjekt dafür,
ob die Union oder der Bundestag die größere
Macht in Deutschland besaß. Preußische Truppen
rückten aus den durch Hessen führenden Etappen-
straßen vor und besetzten Kassel, nachdem die
kurfürstlichen Truppen die Hauptstadt verlassen
hatten, um in die Provinz Hanau zu rücken.
Von Süden aus aber waren Bayern und Öster-
reicher, als die Vollstrecker der über Kurhessen ver-
hängten B u n d e s ex eku t i on, bereits über die hessische
Grenze gezogen. Am 8. November kam es zwischen
den preußischen und bayerischen Truppen bei dem
Torfe Bronzell zu einem unbedeutenden Zusammen-
stoß, wonach die Bundesexekution den Weg nach
Kassel frei bekam. Ende November fanden so-
dann in Olmütz die „bekannten Verhandlungen
zwischen Preußen und Österreich statt, nach denen
u. a. der Aktion der von dem Kurfürsten herbei-
gerufenen Truppen kein Hindernis entgegengestellt
werden durste. Diese, zusammen 6000 Mann
Bayern und Österreicher, rückten nun am 22. De-
zember unter dem Fürsten Thnrn und Taxis in
Kassel ein. Der Kampf um die Verfassung hatte
vorläufig sein Ende erreicht und die „Strafbayern"
traten ihre Funktionen an. Am 27. Dezember-
vormittags kehrte der Kurfürst nach Kassel zurück
und hielt sofort nach der Ankunft auf dem
Friedrichsplatz eine Revue über die österreichischen,
bayrischen, preußischen und die wieder eingerückten
hessischen Truppen ab.
Das neue Jahr nahm für viele der Einwohner-
Kassels einen sehr trüben Anfang, denn die
Strafeinquartierung von Exekutionstruppen sollte
mit ihm in größerer Ausdehnung beginnen.
Hauptsächlich wurden die Beamten, die sich irr
dem Verfassungskampf mißliebig gemacht hatten,
sowie die Mitglieder der aufgelösten Ständekammer
damit bedacht und zwar einzelne mit 30 Mann.
Neben der Bequartierung aber waltete in der
noch immer im Belagerungszustände befindlichen
Residenz das Kriegsgericht, das aus hessischen,
bayerischen und österreichischen Offizieren bestand,
seines Amtes und erkannte auf noch empfindlichere
Strafen als die Verpflegung einer Anzahl an-
spruchsvoller Soldaten. Die Erbitterung, die
hierdurch hervorgerufen wurde, war fast allgemein
und blieb in den Gemütern hasten.
Der Sieg des Kurfürsten über die Verteidiger
der Verfassung und über die demokratische Partei
war zwar ein vollständiger, aber ein teuer erkaufter,
denn in ihm sind die hauptsächlichsten Ursachen
der später über Kurhessen hereinbrechenden Ka-
tastrophe zu suchen.
Nachdem das hessische Militär seines Eides
auf die Verfassung entbunden worden war, wurde
ihm die Aufrechthaltung der Ordnung wieder
allein übertragen und die Exekutionstruppen ver-
ließen im Sommer 1851 das Land. Nur der
österreichische Bundeszivilkommissar Gras Lei-
ningen verblieb mit dem preußischen Geheimrat
Uh den noch in der Residenz, um mit Hassenpflug
eine neue Verfassung auszuarbeiten. Um Österreich
für die ihm zu teil gewordene Unterstützung zu
l danken, begab der Kurfürst sich 1852 nach Wien
und erregte dort durch seine verschwenderische
Freigebigkeit Aufsehen.*) Im Juni 1853 aber
erhob der Kurfürst, unter Anerkennung des Kaisers
Franz Joseph, seine Gemahlin und seine Kinder
in den Fürstenstand. In demselben Monat traf
in Kassel znm Besuch der kurfürstlichen Familie
der Grvßherzog Ludwig III. von Hessen ein, und
einen Monat später hatte der Kurfürst die Freude,
den König Friedrich Wilhelm IV. und den Prinzen
von Preußen auf Wilhelmshöhe bei sich zu sehen.
Bei dieser Gelegenheit erfolgte die oft zitierte
Äußerung des Königs, als die Löwenburg abends
in bengalischer Beleuchtung erschien: „Deine Wil-
helmshöhe wäre mir lieber als die ganze Türkei!"
Die Beratung über den neuen Verfassungsent-
wurf zog sich inzwischen durch die beiden Kammern,
die nunmehr gebildet worden waren, so in die
*) „Viele Orden und die wertvollsten Geschenke in (Hold
und Brillanten wurden unter den Offizieren und Hof-
leuten der Kaiserstadt ausgestreut; der geringste Lakai
empfing 10 Louisd'or. Der dreitägige Aufenthalt in Wien
soll 24 000 Thaler gekostet haben." „Hessische Erinne-
rungen", Seite 158. Kassel, Verlag von Klaunig, 1882.
242
Länge, daß Hassenpflug das von ihm geplante
Werk nicht mehr als Minister zustande kommen
sah, denn als er, gereizt durch den Widerstand,
den der Kurfürst der Wahl des Konsistorialrats
Vilmar zum General-Superintendenten der
Diözese Kassel entgegensetzte, abermals seine Ent-
lassung verlangte, erhielt er sie sofort. Über das,
was diesem politischen Ereignis vorausging, ist
einiges Licht durch Aufzeichnungen des damaligen
Marburger Professors W. Mangold verbreitet,
die nach dessen Tode in der „Protestantischen
Kirchenzeitnng" von Professor Kamphausen ver-
öffentlicht wurden. Mangold, der früher Erzieher
zweier Söhne des Kurfürsten gewesen war, hielt
sich während der Herbstferien 1855 in Kassel
auf und wurde von dem Kurfürsten auf einem
Spaziergang angerufen und über die rechtliche
Lage hinsichtlich des landesherrlichen oberbischös-
lichen Bestätigungsrechtes bei der Superintendenten-
wahl befragt. Mangold setzte darauf dem Kur-
fürsten auseinander, daß er zwar verbunden sei
einen der drei aus der Wahl der Geistlichkeit
hervorgegangenen Kandidaten zu bestätigen, daß
die Wahl zwischen diesen Kandidaten ihm aber
ganz frei stehe, und namentlich sei er nicht ge-
halten, wie das Ministerium ihm einreden wolle,
den zu bestätigen, auf den sich die Majorität der
Stimmen vereinigt habe, auch wies er aus ein
im Druck befindliches Gutachten der Marburger
theologischen Fakultät über den Bekenntnisstand
der niederhessischen Kirche hin, das den von Vilmar
vertretenen Auffassungen widersprach und das er
ihm binnen drei Tagen einreichen könne. „Da
brach der Kurfürst", schreibt Mangold, „in die
mir unvergeßlichen Worte aus: „Fürsten unglück-
liche Menschen sind! werden immer belogen! Sie
haben mir hoffentlich die Wahrheit gesagt; bringen
Sie mir das Gutachten!" Dann folgte ein sehr
stürmischer Ministerrat, in welchem der Versuch vom
Ministerium gemacht wurde, Vilmar's Bestätigung
zu erzwingen. Man wollte die Sache erledigen,
ehe das Gutachten von dem Kirchenrechtslehrer
Richter in Berlin einlief, das der Kurfürst sich
erbeten hatte. Der Versuch mißlang; der Kurfürst
berief sich aus die von mir erhaltene Information
und wollte erst das Marburger Gutachten ab-
warten, das ich ihm Ende der Woche einlieferte.
Drei Tage nach der oben mitgeteilten Unterredung
wurde Hassenpflug entlassen, Vilmar nicht be-
stätigt —Soweit Professor Mangold. Vilmar,
dessen Bruder sogar dem Kurfürsten Recht gab,
wurde nach Hassenpflugs Fall auf den Antrag
des neuen Ministeriums zum ordentlichen Professor
der theologischen Fakultät in Marburg ernannt,
wohin auch Hassenpflug sich begab.
Rach jahrelangen Verhandlungen war die von
Hassenpflug in Angriff genommene und unter
seinem Nachfolger Sch eff er weiter ausgestaltete
neue Verfassung 1857 endlich dem Bundestag
vorgelegt worden, der sie aber auch zwei weitere
Jahre lang ruhen ließ. Bevor mau in Frankfurt
überhaupt einen endgültigen Beschluß über die
Vorlage zu fassen vermochte, erhob Preußen seine
Stimme und kam auf die suspendierte Verfassung
von 1831 zurück, ohne jedoch bei dem Bundestag
die Wiederherstellung derselben durchsehen zu
können. Die neu ausgearbeitete Verfassung wurde
am 30. Mai 1860 von der kurfürstlichen Regierung
publiziert, stieß aber, wie vorauszusehen war, bei
der Ständeversammlung auf Opposition, die sich
bald wieder in der heftigsten Weise geltend machte.
Durch die nun fortdauernden Zwistigkeiten zwischen
Regierung und Ständen fand Preußen Grund zum
Einschreiten, und am 10. Mai 1862 traf der General-
adjutant des Königs Wilhelm I. Generalleutnant
von Willisen in außerordentlicher Mission in
Kassel ein. Bei der stattgehabten Audienz konnte
eine Äußerung des Kurfürsten als das preußische
Ministerium verletzend aufgefaßt werden. Die Folge
davon war, daß preußische Truppen sich bei Mar-
burg und bei Mühlhausen zusammenzogen, um in
Kurhessen einzurücken, worauf der Kurfürst die
abenteuerliche Idee hatte, sich mit seiner Armee auf
hannoversches Gebiet zurückzuziehen?) Dazu kam
es jedoch nicht, da schon ein Entschuldigungs-
schreiben nach Berlin abgesandt war und in der
Bundesversammlung die Erklärung abgegeben wurde,
die Verfassung vom 5. Januar 1831 solle wieder
eingeführt werden. Obwohl dieselbe auch in Wirk-
samkeit gesetzt wurde, kam es doch wiederum zu
neuen Differenzen zwischen der Regierung und der
liberalen Partei, sodaß am 25. November von
Berlin aus ein Feldjäger mit einer so energisch
gehaltenen Note der preußischen Regierung in
Kassel eintraf, daß alsbald die Landstünde ein-
berufen wurden, um das Budget festzustellen.
Noch zwei Lichtblicke sollten für den Kurfürsten
in seine nur noch kurz bemessene Regiernngszeit
fallen und beide folgten fast unmittelbar auf-
einander. Im Jahre 1863 Mitte August fand in
Frankfurt a. M. der vom Kaiser von Österreich ein-
geleitete F ü r st e n k o n g r e ß zur Reform des Bundes-
tages statt, bei welcher Gelegenheit der Kurfürst zum
letzten Male mit seinem vielbewunderten Jsabellen-
gespann unter all der Prachtentfaltung der anderen
deutschen Herrscher die allgemeine Aufmerksamkeit
auf sich zog. Am 18. Oktober desselben Jahres
*) Siehe „Aus dem Leben des Kurfürsten Friedrich
Wilhelm von Hessen" von E. v. Goeddaeus, Seite 41.
Kassel (Klaunig) 188:1.
243
aber fühlte er sich noch einmal seit dem 6. August !
1848 von den Wogen der Volksgunst getragen, j
jedoch mit dem bedeutsamen Unterschied, daß er
diesmal wirklich ganz und gar eines Sinnes mit
seinem Volke war, handelte es sich doch um die
fünfzigjährige Gedenkfeier der Völkerschlacht
bei Leipzig, deren glücklicher Ansgang das hessische
Regentenhaus wieder ans den Thron gesetzt hatte.
Wäre der Kurfürst bei der Grundsteinlegung des
Hessendenkmals aus dem Forst an jenem denk- j
würdigen Nachmittage durch die Unterneustadt
gefahren, so hätte er an dem dortigen Triumph-
bogen die Inschrift lesen können: „In Fährden
und in Nöten zeigt sich das Volk erst echt, drum
soll man nicht zertreten sein altes, gutes Recht!"
Dieser deutliche Hinweis aus die allgemeine
Stimmung im Lande entging ihm aber, da er
mit seiner Familie über eine an Stelle der jetzigen
Trahtbrücke von der Pionierkompagnie nur für
diesen Tag geschlagene hölzerne Brücke fuhr, um
noch vor dem großartigen Festzuge die Denkmalstätte
zu erreichen, wo er unter vielen Feierlichkeiten den
Grundstein legte. Hatte die Inschrift in der Unter-
neustadt ein Uhlandsches Wort wiedergegeben, so
konnte Pfarrer Dr. Falckenheiner in seiner Fest-
rede einen bekannten Vers Kerners aus den Kur-
fürsten anwenden, denn er sprach im Namen des
dankbaren Volkes ihm die Versicherung ans, „daß
er sein Haupt kühnlich jedem Unterthan in den
Schoß legen könne". Auf der Rückfahrt von
dem Forst über die erwähnte Holzbrücke schwebte
der Kurfürst in Lebensgefahr, da ein mittleres
Pferd seines Sechsgespannes über den Brückenrand
trat und plötzlich über dem Wasser schwebte, worauf
der neben dem Kutscher sitzende Leibjäger mit
großer Geistesgegenwart vom Bock sprang und
mit seinem Hirschfänger die Geschirrstränge des
ausgewichenen Pferdes durchhieb, das leicht die
übrigen Pferde und den Wagen hätte mit hinab-
ziehen können. Das Pferd stürzte in den Fluß
und schwamm wohlbehalten bis an das User,
während der Wagen die Fahrt fortsetzte.*) Den
Veteranen von anno 13 sandte der Kurfürst zu
dem im Stadtbau und im Östreichschen Saale
veranstalteten Festmahle 350 Flaschen Champagner,
ein Zeichen der überaus guten Stimmung, in welche
die Feier ihn versetzt hatte.
*) SiehePiderit-H offmeister. Geschichte derHaupt-
imb Residenzstadt Kassel, S. 389. Kassel (G. Klaunigl 1882.
(Schluß folgt.)
--------------------
Baltzer Wilhelm.
Ein Beitrag zur hessischen Gelehrtengeschichte von Dr. Carl Kn et sch.
egen Ende des 15. Jahrhunderts wurde zu
Schmalkalden ein Mann geboren, der für-
feine Vaterstadt von gewisser Bedeutung und als
Freund Luthers und gelegentlicher resormatorischer
Schriftsteller wohl auch für weitere Kreise von
Interesse ist. Baltzer Wilhelm, später mehr-
fach mit dem Beinamen Prehl oder auch kurz
Baltzer Prehl genannt, stammte ans einer
alten Schmalkalder Ratsfamilie. Sein Vater
war wahrscheinlich der ehrsame, begüterte Metzger-
meister Simon Wilhelm, der 1499 und 1500
Gemeinvormund seiner Heimatstadt war, 1500
in den Rat gewählt wurde und schließlich 1505
und 1509 das Bürgermeisteramt bekleidete. Baltzer
empfing seinen ersten Unterricht daheim in der
damals recht kümmerlichen Stadtschule, 1510 wurde
er an der Universität zu Erfurt immatrikuliert.
Er widmete sich dem Studium der Gottesgelahrt-
heit. Erst sieben Jahre später hören wir wieder
etwas von ihm. Am 31. März 1517 (Dienstag
nach annunciationis) präsentierte Graf Wilhelm
zu Henneberg den jungen „clericus Wirezpurger
Bistumbs" dem Stifte zu Schmalkalden für die
erledigte Vikarei St. Katharinen, die er darauf-
hin auch bekam und eine Reihe von Jahren time
hatte. *)
In dieser Zeit scheint eine innere Umwandlung
mit ihm vorgegangen zu sein, die ihn dahin
brachte, sich der neuen Lehre Martin Luthers
anzuschließen und den geistlichen Rock an den
Nagel zu hängen. 1521 verzichtete er freiwillig
aus seine Vikarei, die nun am 11. Januar
(Freitags nach Erhardi) 1522 vom Grasen
Wilhelm dem Kleriker Heinrich Swertig verliehen
wurde. Im Jahre 1525 tritt Balthasar-
Wilhelm politisch hervor. Er befand sich unter
den von seinen Landsleuten zum Landgrafen
Philipp geschickten Abgesandten, die für Schmal-
kalden, das in den Bauernunruhen sich den Aus-
rührern angeschlossen oder zum mindesten eine
etwas zweideutige Stellung eingenommen hatte,
des Fürsten Gnade erflehen und von neuem den
Eid der Treue schwören sollten.
Wohl um dieselbe Zeit erschien sein jetzt sehr
selten gewordenes Schriftchen: „Practica Deütsch
auß der Gütlichen Heyligen geschrifst / darinn zu
*) Meiningen, Henneberg, gemeinschaftl. Archiv IV. A 2,27a.
244
verneinen die grausamen Coniunction der finsternüß/
wie lange zeyl her / durch die Gotloseu wider-
christen/ wider das Heylig Wort Gottes eyugefürt
Das Titelblatt ist mit fünf astronomischen Figuren
in Rot- und Schwarzdruck geschmückt, die zur
Erklärung die Worte: Gotloß, Widercrist. Pfafsen,
Münch, Nonnen tragen. Außerdem sind die
Bibelstellen, woraus die im Text berührten fünf
Conjunctionen beruhen, hervorgehoben. Ganz
unten steht gewissermaßen als Leitspruch:
Das wart Gots Wirt nit zgan /
Wie hart Sathan dawider thut stau.
In der Einleitung des 16 Seiten starken
Büchleins sin kl. 4 o), das zu Weihnachten er-
schien, drückt der Verfasser seine Absicht und
Meinung, die er bei der Herausgabe gehabt hat,
ans: „ . .. lieben brüder / ich befinde um her-
gebrachtem gebrauch das ye cyn gut sreünd / um
zukommen des newen jars / beni andern mit
wünsch eynes guten jars vereeret / derhalb wünsch
ich B. W. allen menschen für eyn guts news jar /
eyn gut new leben in Chisto [sic !j / vnnd dar-
neben zulesen dyse Practica / die wol zubehertzigen
vnn verneinen / got den hymmlischen vatter vmb
sein Gnad / Frid / vnn barmhertzigkeit bitten /
dann wir sollen nit gedenken das innhalt dyser
schrifst auß der fünft Ptolomei / oder der stern-
seher / gemacht / vnnd zusammen colligiert / die
doch all jrrig vnd vngewiß fein mügen / Sonder
auß der Heyligen geschrifft / die nicht triegen noch
feien mag . . . Dysem allem nach / habe ich
noch keinen befunden / der auß der Heyligen schrifit
die warhafstig vnn grossen Coniunctiones gütliches
Worts / vnn die Zeychen vnnserer zeyt habe anzeygt /
welcher wirckunge vnnd zukunfste ab sie schon
nicht alle fürhanden / vnd sich eyn wenig ver-
zeücht / doch gewislich wäre vnn zukünfitig / derhalb
an vnterlaß allen menschen zu wachen / Marci XIII.
Darumb bin ich verursacht / derselbigen coniunction
vnn finsternüß doch eins teils anzuzeygen / ob doch
Gott der almechtig / durch sein selbe wort / nur
yetzlichen die es lesen odder hören / solchs recht
zubehertzigen gnade verleyhen wolle. AMEN."
Gleich die erste Konjunktion, der die Bibelstellen
Math. XXIV, Luk. XXI. Mark. XIII. Esaj. XXIV
zu Grunde liegen, geht offenbar auf den Bauern-
krieg und im besonderen aus seine Landsleute, die
in dieser Episode so üble Erfahrungen gemacht
hatten: „ ... sie werden aufftretten vnn sagen /
wenn jr vns das vnd das geben rc. so thun wir
für eüch diß vnn jenes werck / alß sie es nennen /
So werdet jr also durch solchs seelig. Vnd werden
vil verfüren / alß wir gar nahent alle verfüret
gewest sein / ist so offenbar / das es die Bawern
mercken."
Die andern 4 Konjunktionen wenden sich eben-
falls auf Grund alt- und neutestamentlicher
Prophezeiungen im allgemeinen gegen die Bosheit
der Welt, gegen die Gottlosen, Geizigen, Stolzen,
Hochsertigen, Lästerer rc., dann auch namentlich
| gegen die Klöster.
Der Bußprediger schließt nach einem Hinweis
aus das „exempel der von Niniue" mit den
Worten: „Gott erbarme sich vnser I AMEN."
Ganz bescheiden findet sich der Name des
Verfassers aus der letzten, sonst ganz leeren Seite
: als „Baltzer Wilhelms von Schmalkalden". Ein
Truckvermerk ist nicht vorhanden. Da die erste
Buchdruckerei in Schmalkalden erst 1564 durch
i Michael Schmuck eingerichtet wurde, haben wir
! den Drucker auswärts, wohl in Wittenberg, zu
I suchen.
Mit Wittenberg und den Reformatoren stand
Wilhelm in regem Verkehr, namentlich zu den
Führern der Reformbewegung, zu Martin Luther
und Philipp Melanchthon, trat er in ein wahrhaft
herzliches Freundesverhültnis.*) Luther wohnte
während der verschiedenen Schmalkalder Tage in
! Wilhelms prächtigem Hause am Fuße des Schloß-
bergs, das noch heute, allerdings stark verändert,
als „Lutherhaus" jedem Besucher Schmalkaldens
auffällt. Balthasar Wilhelms in Stein gehauenes
Wappen, eine Hausmarke in Gestalt einer so-
genannten Steinzange, von zwei Röslein begleitet,
ziert das Haus, das während der schweren Er-
krankung Luthers anno 1537 gar manchen hohen
Herrn und bedeutenden Mann, wie den Kurfürsten
Johann Friedrich von Sachsen, Landgraf Philipp
den Großmütigen, Melanchthon, Spalatin und
viele andere in seinen Mauern sah. Da der
Reformator das Haus mcht verlassen konnte, hielt
er in dieser Zeit in des Freundes Behausung
statt in der Kirche eine Predigt über den christ-
lichen Glauben.
Wilhelm war bereits in den 20er Jahren in
hessische Dienste getreten. Schon 1529 finden
wir ihn als Rentmeister zu Schmalkalden.**)
Dieses Amt verwaltete er bis 1544. Sein Nach-
folger wurde Bernhard Eckell. Es scheint fast,
als ob er wegen persönlicher Streitigkeiten seines
Amtes vom Landgrafen enthoben worden sei.
Sein anderer Landesherr, der Graf zu Henneberg,
machte ihn gleichwohl noch in demselben Jahre
*) Hierüber einiges in Geisthirts Historia Schmal-
caldica und Schmalcaldia literata.
**) Die Bemerkung Stolzels in der „Entwickelung
des gelehrten Richtertums ..." I, S. 159 u. 530 über
Balthasar Wilhelms „akademische Bildung" ist nach den
oben gebrachten Nachrichten über Wilhelms Vorleben cum
grano salis zu verstehen Juristisch war er nicht
vorgebildet.
245
zum Landvogte ober Amtmann in Wasungen.
In späteren Jahren bezeichnet er sich gern als
hessischen Erblehensmann mit Rücksicht aus ein
ihm zustehendes Freihaus im „Heynersloch" zu
Schmalkalden, mit dem er am 18. Januar (Frei-
tags nach Anthonii) 1538 vom Landgraf Philipp
belehnt worden war.*)
Die letzten Jahre seines Lebens hat er vielleicht
wieder in Schmalkalden gewohnt. Seine Gattin
Anna lebte noch 1547; er selbst, den ein gleich-
zeitiger Gelehrter, Or. Johannes Matthäus, „virum
prndentem et doctuin verneine religionis
amantissimum“ nennt, starb am 7. Juni 1555.
*) Lehnsakten im Marburger Staatsarchive, Bi. St.
S. 8713.
------------
Außer zwei Töchtern, von denen die eine an den
Pfarrer Johannes Müller zu Herrenbreitungen,
die andere seit dem 10. Oktober 1569 mit dem
Hosprediger M. Samuel Fischer verheiratet war,
hinterließ der Rentmeister einen gleichnamigen
Sohn, Balthasar Wilhelm den Jüngeren, der sich
der Theologie widmete und 1546 zu Erfurt mit
einer Disputation ,.De regno Christi et ejus
ministeri! functione. de potestate et censura
jurisdictionis ecclesiastica, de persecutionibus
propter justitiain scilicet procationis et officii
administrati seren dis" hervortrat. *) Über dessen
weitere Schicksale ist nichts bekannt.
*) Geisthirt, Schmalcaldia literata, S. 78—79.
Historia Schtnalcaldica ll. 97.
•<«>—-——------
wilhelnrsthaler wafsersxiel
Rokoko — du üppig Wort,
Anmutvoll und reizverschlossen,
Wie verklärst du manchen Ort,
Wo die Alten froh genossen,
Wo sie in verschwieg'nen Grotten
Hohes, Heiliges verspotten
And vor ernsten Züchten
Lachend flüchten.
Kleinod echten Rokokos,
Wilhelmsthal, weich eingebettet
Wald'ger Hessenberge Schoß
Und von Teichen perlumkettet;
Leuchtest in die Lande weit,
Strahlest aus das Licht der Zeit,
Da so leicht das Leben,
Glanzumgeben.
Zeit, wo sich die Fürstenmacht
Aus der Tage Schmuck besonnen,
Zartem Spiel die hehre Wacht,
Loser Lust den Geist gewonnen;
Wo dem Nolk man ließ die Lasten,
Nur die Großen prunkten, praßten,
Doch beim Schönen waltend,
Kunst hochhaltend.
Schloß und park, wie Himmelstau
Troff aus euch die Schönheit nieder,
Zhr zum preis durchsüßt die Au
Nogelkehle, Schmelz der Lieder.
Geister alter Zeit erwachen:
Nah' vom Weg — horch — Silberlachen
Locken traut zum Stelldicheine
Büsch'ge Haine?
Aassei.
Riesensaal: manch hundert Linden
Sind die Säulen, Laubdach tragend;
Wo wär's in der Welt zu finden?
Hoch umfriedend — herrlich ragend.
Wie geweiht dem Sonnengotte
Dort am Saum die Wassergrotte,
All' die Wonnen siegelnd,
Wunder spiegelnd.
Hundertmal der feuchte Strahl
Lichte perlen sprengt im Bogen,
Zn den See sprüht's hundertmal,
Reich von Schmiedewerk umzogen,
Das die Wauern zieret, krönet —
Aus der Halle Dämmer tönet
Dem entzückten Sinne:
Lvoe, Winne! —
Zweier Schwäne Hals, im Teicb,
Lin verschlung'nes „W" hell spritzet —,
Büblein, auf den federn weich,
Gleich dem Schwan von Golde blitzet.
Aus und nieder breite Stufen;
Rings ein Zubein, Lachen, Rufen —
Drängen sich zum Nenusfeste
Frohe Gäste? — —
Wasserspiel und Liebessang,
Alte Schloßpark - Bäume,
Rauscht wie Aolsharsenklang,
Rauscht in meine Träume! «
Holde Grotte, mich umschweben
Deine Schleier: selig Leben,
Rausch von Glück dem Herzen malen
Deine Strahlen!
Louis Wollt.
246
Lin welkes Blatt
Von H. Keller-Jordan.
in weicher, träumerischer Sommerabend an den
Ufern der Isar! Die Glut des Tages ist mit
der Sonne hinter den Alpen versunken und über
dem Wasser schleichen feuchte Dünste, durch welche,
schemenhaft, die elektrischen Kugeln leuchten.
Zuweilen hört man, gleich Meeresbrausen in
der Ferne, das dumpfe Geräusch der Großstadt.
Sonst ist alles still. Hier und da glüht ein ver-
späteter Johanniskäfer im Gebüsch, und durch die
Lüste zittert das geheimnisvolle Weben der Nacht.
Ta versenkt sich die Seele weltvergessen in sich
selbst. Inmitten dieser einsamen Ruhe werden die
Gedanken lebendig, es spinnt und webt — und
was tot in unserer Seele lag. wird befruchtet, regt
sich und beginnt zu leben. Geheimnisvoll verknotet
sich das Heute mit dem Einst. — Und so irren
auch meine Gedanken, der Gegenwart entrückt, zurück
in längst vergangene Zeiten! Ich kauere an dem
Gitter des Gefängnisses oben in dem Marburger
Schloß und schaue — meine langen Zöpfe um das
Gitter schlingend — hinunter, über die verkrüppelten
Häuser hinweg in das weite Gießcner Thal! Hinter
mir steht mein gefangener Vater und streicht mit
seiner abgemagerten Hand zärtlich über mein Haar;
er erzählt mir von der Welt da draußen, von der
sagenhaften Ruine des Frauenbergs, von edelen
Thaten und von Menschen, die hinter jenen Bergen
wohnen.
Wie ich glücklich bin — wie ich ihn liebe, diesen
Vater, und wie mir nichts fehlt, wenn ich bei ihm
bin — gar nichts, nicht einmal die Mutter. Aber
die Zeit vergeht, die Stunde kommt, wo ich scheiden
muß. Es war ein rauher, schneeiger Wintertag
und ich sollte bei Zeiten nach Hause gehn. Ich
sträubte mich, der Abschied wurde mir so schwer!
„Warum gehst Du nicht mit?" rang es sich
über meine Lippen.
„Ich darf nicht", gab mein Vater mit leiser
Stimme zurück.
„Du darfst nicht? Wer verbietet es Dir?"
„Die Pflicht, mein Kind, die Pflicht; es ist mein
dunkles Schicksal, aber es wird wieder hell werden,
sehr hell, mein Liebling — und nun frage nicht." —
Er küßte mich und schob mich sanft zur Thüre
hinaus.
Draußen stand der Gesangenwärter und rasselte
mit den Schlüsseln. Zum erstenmal fürchtete ich
mich vor ihm — ich fürchtete mich auch vor den
verrammelten Thüren, als ich die steilen, steinernen
Wendeltreppen hinunterging und dann einsam im
Schloßhos stand. Der Schnee wirbelte, mich fror —
ich fühlte, wie sich langsam der Vorhang von meiner
Kinderwelt zog und ich das bewußte Leben zu
ahnen begann.
Ich litt, wie Kinder leiden, die noch keine hand-
greiflichen Gründe kennen, aber mit ihren unbe-
holfenen Fähigkeiten im Dämmern ihrer Gedanken
Herumtasten und das Elend fühlen, ohne es zu
verstehen.
Ich drückte die Tasche, in welcher sich die Kanne
befand, in der ich, zweimal wöchentlich, meinein
Vater den Kaffee bringen durfte, fest, als sei sie
ein Teil von ihm, an die Brust und begann zu
lausen, aber der Schnee war glatt und der Berg
steil, ich glitschte und fiel, stand wieder aus und
fiel abermals.
Warum konnte ich nicht wenigstens bei meinem
Vater bleiben? Er war so allein, so hoch da oben —
so verlassen!
Und ich blieb stehen und sah hinauf zu dem
Turme, zu den vergitterten Fenstern, gegen welche
der Schnee jagte. Es war dunkel. Saß er allein
und sann — wie ich ihn so oft gefunden hatte?
Ticke Thränen rannen über mein Gesicht, und ganz
in meinen Kinderqualen versunken, stand ich, ohne
es bemerkt zu haben, vor der Thüre unseres Hauses.
Ich ging nicht hinein — ich konnte nicht —
ich mußte erst dem Vater „Gute Nacht" sagen,
wie ich es fast allabendlich that. Da oben, am
Ende des Kirchhofs, auf der steinernen Stufe, die
zum Superintendenten-Hause führte, da konnte ich
seine Fenster sehen, nnd wenn es Tag war, ihm
mit dem Tuche winken, so wie es die Mutter that.
Gottlob, er hatte Licht, er war nicht mehr traurig,
er schrieb oder las. Ich atmete erleichtert aus
und blickte unverwandt hinauf, wie zu einem ver-
heißenden Sterne!
Und dann wurde ich jäh aus meinen Träumen
gerüttelt — unsere Magd packte mich am Arm,
zerrte mich über den Schnee und schimpfte, daß
man mich allzeit suchen müsse. —
Und bald — bald wurde mein Vater frei —
wie ein Jauchzen ging es durch meine Seele.
Man begrüßte und bejubelte ihn. Die Studenten
feierten ihn und sangen. Bis nach Mitternacht
zechten sie vor unserem Hause und wurden nicht
müde „Hoch Sylvester Jordan!" zu rufen. Und
ich — ich lag in meinem Bett und begriff es nicht,
warum das so wandelt im Leben, warum die Menschen
heute gefangen werden und morgen verherrlicht!
Ich fragte meine Schwester, die neben mir im
247
Bette schlief, ob sie es verstände, allein sie stieß Tie Isar wurde jetzt lebendig, der Wind hatte
mich unsanft zurück und sagte: „Sei still, ich will sich erhoben, den Himmel verdüstert, und das Wasser
schlafen." schlug grollend gegen die Ufer. Ein ferner Donner
Ja schlafen, auch ich schlief bald ein, aber bis wurde hörbar, fern, ganz fern, wie ein verheißungs-
in die Träume hinein verfolgten mich diese un- volles Mahnen, aber mir war das alles eine Be-
begreiflichen Dinge. gleitnng zn meinen Gedanken, die sich in dieser
— — — — — — — — — — — — — wunderbaren Nacht nicht von der Heimat lösten.
--------
De ahle, schlachte Zoh.)
(Schwälmer Mundart.)
Hansklos hat em lengte Backe
So in ahler, schlächter Zoh,
Krecht de Angfläd2) senge Macke8),
Fangt^e löut se dowe^) o.
Alles dar^e, än se beste5),
Bus sich nurscht erdenke luß,
Dokterwärk5) schlockt7) hä zwo Nieste 8),
Dach es bleb om ahle Fuß.
Hinnerch mennt, hä mißt^en wärme,
Hansklos dats, vcrgäblich blebs,
On macht nn em Höus in Lärme,
Däß m'r ment, e Angleck9) gebs.
Wellem rut met Schnaps se betseln '"),
Hansklos betzt sich vom Verstand,
Menges n) woßt e Dotzend Retseln, —
On de Schmätz — bleb ver d'r Hand.
Do seng Frä, die sät 12) bedächtig,
Bruche mißt^e „ver" die Zeh,
Nackenicht18) on metternächtig
Mißt^e o e Wasser geh,
So on so mißt hä da spräche.
Wasser namme en seng Möul 14);
Hansklos dats, die Quäl se bräche —
Schmätze frecf)t~e bi in ©öiii!15)
Nu gung hä näm 78) lähme Schnejrer,
Dä langt senge Zang vom Brüt,
Rosterig on on so wejrer,...........
Nomm de Hansklos ens Gebüt.
Os on äb em ganze Härwel 17)
Donz^en 18) bi e lähme Stut:
Dretthalb Stäng durt däs Gesärwel79)
On Gegärgel28) bis ofs Blut.
Do of emol läg de Knäche
Ens, zwe, drei, em Stowedräck 27).
On die Schmätze von sächs Mäche
Wänn, Göttlob, of emol wäg;
Bi in Ädstäck 22 *) met drei Watzeln 28)
Säg^e öns, so stark on groß.
Bi c Zwellengspär von Hätzeln 24),
Bi in rächter dicker Klos.
On de Hansklos säd: „De Lemper 2h)
Höt mich lang genung gelähmt'"),
Langt Nch de Kattökfelstemper27),
Kläpt"en os, bo hä dro lähmt!"
Däch bi nu de lähme Schenger28)
Sich de Zoh langt von der Del29)
On befühlt met fteffe30) Fenger,
Märkt^e bal, bäs wär em Spel.
Senge84) Schmätz82) will necks88) bedejre84).
Konnte gär gelehrt geinenn.
Helf het hä gesucht bei Zejre85),
Nurscht in — Ouätschekänn88) wer brenn.
„Däch, meng Jäng 87), däs wär deng Gleckche 88),
Schrejb dersch hebsch hej ver die Stänn89),
Du wäscht ohne Gnad ems Eckche49),
Wäd in Böm47) de Quätschekänn!!"
h Zahn; h Unflat, Bösewicht; 3) Fehler; 4) toben;
*) stillen;') Arznei; h schlucken, trinken; 8) Meste, Fruchtmaß
— 30 Pfund Roggen; 3) Unglück; 4°) beizen; ") Magnus;
") sagte; "-nackend; ") Maul, Mund; ") Gaul; "-nach
dem; ") Herberge, Wohnung; ") zog er ihn; ", 3°) zwei
spez. schwälmer Ausdrücke für sinnlos an etwas herum-
arbeiten; "') Stubendreck; ") Erdstock; "> Wurzeln:
") gedörrte Birnen; ") Lump; ") geschmerzt; ") Holzgerät
zum Zerstampfen der Kartoffeln; 38) Schinder; ") Diele.
Fußboden; "-steifen; 31)fein; 8hSchmerz; 3hnichts;34) be-
deuten; '"-bei Zeiten; "-Zwetschenstein; '"-Junge; Glück;
") Stirn; 40) um die Ecke — verloren sein; 4'- Baum.
-------------- I. K- Schwalm.
Aus alter und neuer Zeit.
Kurfürst Friedrich Wilhelm und der
Mündener Schiffsbauer im Reinhardswald.
Ein alter Mündener Schiffsbauer Namens Asmus
Ringeling hatte, wie in den „Mündener Nachrichten"
kürzlich erzählt wurde, einst gebogenes Holz zum
Schlittenban nötig und war zur Erlangung der Kufen
248
in den Reinhardswald fürbaß gezogen. Groß und
stattlich, derb und knorrig wie die Eichenstämme
jenes Waldes war das Äußere des Mannes.
Bizarre Formen bietet mancher Baum in Hain und
Forst; nicht jeder ist als Schlittenkufe zu ver-
werten. Bedächtig hielt denn auch der Alte Um-
schau und Auswahl und erst beim Sonnenborn
fand er einen ihm genehmen, an der Abzweigung
passend gebogenen Stamm. In der Nähe war der-
weil um ein Jagen herum, still und lautlos, wie
es Weidgebrauch, eine Treibwehr angelegt; noch
nicht ganz zu Ende gekommen damit waren die
führenden Forstleute. Unbeweglich in seinem Natur-
schirm stand, den Beginn des Triebs und den Aus-
wechsel des darin bestätigten Hochwildes erwartend,
schußbereit . . . der Kurfürst. Ta hallte der längst
herbstlich angehauchte Wald — es war im No-
vember — wieder von dröhnenden Arthieben. Die
Landgrafen und Kurfürsten waren von jeher ebenso
eifrige, als vorzügliche Jäger. Im Flüsterton
erfolgte denn auch aus dem Schirm heraus der
Befehl, „die Kerle" zu packen und nach beendetem
Trieb vorzuführen. Des Himmels Einsturz be-
fürchtend, mag da bei den Arthieben mancher
aus der Treibwehr gewähnt haben: „Dit Unglicke".
Armer Asmus; dein Geschick war besiegelt und
das Verließ des nahe belegenen Beckerhagener Ge-
fängnisses dir sicher. Kratz' dich hinter den Ohren:
— dort giebt's nur Wasser. —
Hörnerschall. Häherschrei. Ab und zum Gahren-
berg strichen zwei Auerhähne. Ter Trieb begann.
Bon dem Geläute der Hunde, dem Knall und
Widerhall abgegebener Schüsse belebte sich der
Wald. Der Nebel war gewichen, die Sonne erschien.
Dem Kurfürsten war guter Anlauf beschieden: einen
Achterhirsch und eine grobe Sau hatte er gefällt,
-------------
Aus Heinrat
Preislied. Die Kasseler Schriftsteller-Ber-
einigung „Freie Feder" hatte vor einiger Zeit
unter ihren Mitgliedern ein Preislied ausgeschrieben.
Bis zu dem festgesetzten Termin, dem 1. September,
waren sieben Lieder bei dem Borsitzenden Herrn
Professor Di-. Kreßner eingegangen. In der
letzten Versammlung des Vereins wurde der aus
einem silbernen Federhalter bestehende Preis einem
Gedicht zuerkannt, als dessen Verfasser nach dem
beigefügten Kennwort sich Herr Kammerdirektor
Karl Pr es er in Wächtersbach herausstellte. Wir
geben nachstehend „Das Lied von der freien
Feder" unseres verehrten Mitarbeiters wieder.
Es giebt ein Ding, unscheinbar klein.
Das doch nach Großem trachtet.
Und alles, was nicht wahr und rein.
Echt souverän verachtet.
eine noch stärkere Sau, ein Hauptschwein, vermochte
jedoch infolge Versagens des zweiten Laufs der
kurfürstlichen Doppelbüchse auszubrechen. Mehrere
Forstleute, die den Holzfrevler umgangen, hatten
diesen derweil erwischt und in entsprechendem Ab-
stande hinter den Stand des Kurfürsten geschafft.
Dem ausbrechenden Keiler nun warf sich Ringeling
plötzlich mit solcher Wucht entgegen und wurde dar-
in von den zuerst verblüfft dreinschauenden Jagd-
beamten so erfolgreich unterstützt, daß der Keiler
Kehrt machte, um in das verlassene Treiben zurück-
zuwechseln. Hierbei wurde auch dieser vom Kur-
fürsten erlegt, der darob in gute Laune geriet und
in gehobener Stimmung sich dann unsren Asmns
vorführen ließ. Waidmannsheil! Die Frage des Kur-
fürsten, was Ringeling bei der Hofjagd in der Nähe
zu schaffen habe, beantwortete dieser in urwüchsiger
Art: „Ach wat, wie Münnischen koent 'sek hier
Holt langen: du heßt sau vele Holt im Reineusch-
wale, dat kannst du gar nich alle upbrennen: ek
will ja nur twei Schleenbäme (Schlittenbäume)."
Ein vom Wildhause bei Münden stammender Hos-
jäger Namens Otto, der sehr angesehen beim Kur-
fürsten war, vermochte das Platt seinem Fürsten
hochdeutsch zu übertragen, der wider Erwarten
und wohl des gestreckten zweiten Keilers wegen
die freimütige Aussprache nicht quer genommen.
Er ließ dem Manne den angehauenen Stamm
überweisen, zahlte die Forstschätzung dafür aus
seiner Tasche, und Ringeling erhielt obendrein auch
von den mitgesührten Mundvorräten und „Mund-
wasser". „Prost Herr Kaurserste!" Aber sehen
und hören lassen bei den Jagden möge Ringeling
hinfüro unterlassen, sonst würde er den Gang
zum Eisenhammer — Veckerhagen — antreten
müssen.
>-«-----------
nnb $vembe.
Nichts giebt's im weiten Weltenraum.
Daran cs sich nicht wagte, —
Kein Wahrheitskern, kein Menschentraum,
Dem's seinen Dienst versagte!
Und ohne dieses Ding kein Held,
Kein Meister am Katheder.
Der Ruhm, der deren Segel schwellt.
Fließt nur ans freier Feder.
Es giebt ein Ding, so scheinbar leicht,
Und doch voll Wucht und Schwere,
Wenn's trotzig weder wankt noch weicht
Im Kampf um geist'ge Ehre.
Doch weich, wie Nachtigallensang,
Schafft's in des Dichters Händen
Den Liederstrom, zu dessen Klang
Sich Herz und Seele wenden.
Das Ding, gestanzt aus purem Stahl,
Lobsinge stolz ihm jeder:
Bald führt es Blitz, bald Sonnenstrahl.
Es ist die freie Feder.
249
Wohlan, so laßt bei deutschem Wein
Die deutsche Feder leben!
Laßt sie. dem Weine gleich vom Rhein,
Nur goldne Perlen heben!
Sie schaffe, was des Geistes Macht
Umrankt mit Ruhm und Ehre,
Tie kämpfe gegen Trug und Nacht
Und fei der Freiheit Wehre!
Doch muß sie werden uns zum Schwert:
Tann frisch nur, zieht vom Leder.
Und schützt an deutschem Mannes Herd
Das Recht der freien Feder.
Brunnendenk mal. In Spangenberg wurde
am 7. September der von Herrn Fabrikanten
Heinrich S a l z m a n n zu Bettenhansen bei Kassel
seiner Vaterstadt gestiftete Monumentalbrnnnen,
welcher die Liebenbachsage versinnbildlicht, enthüllt.
Unter den mannigfachen Festlichkeiten, die statt-
fanden, nahm die Ausführung des von Alberta
von F r e y d o r f, geb. F r e i i n von Cornberg,
gedichteten Sangesfestspiels „Tie Liebesquelle zu
Spangenberg", in Musik gesetzt von Herrn Kapell-
meister K. Goepfart aus Weimar, die erste Stelle
ein. Die Figuren des Denkmals sind nach dem
Modell des Herrn Bildhauers Hoesel, Lehrers
an der Kunstakademie zu Kassel, in Bronzeguß
ausgeführt worden. Herr Salzmann wurde zum
Ehrenbürger der Stadt Spangenberg ernannt. Tie
Sage vom Liebenbach ist auch von Hugo Freder-
king in einer längeren Dichtung behandelt worden.
(Siehe „Hessenland" 1887, Seite 108.)
Hugenottentag. Am 21. und 22. September
findet in Kassel der Deutsche Hugenottentag
statt, der für die hessische Hauptstadt ein besonderes
Interesse hat, da die dortige Oberneustädter Kirche be-
kanntlich aus der alten französischen, von Hugenotten
gegründeten Gemeinde entstanden ist. Am 21. Sep-
tember abends gelangt bei der Festfeier ein von
? Franz Treller verfaßtes Festspiel ..Die Hessen
und das Evangelium" mit lebenden Bildern
und altkirchlichen Gesängen zur Ausführung.
Verleihung. Dem ersten Direktor derHenschel-
s ch e n L o k o m o t i v e n - u n d M a s ch i u e n b a u a n st a l t
in Kassel Herrn August Schäffer ist anläßlich
seines 50 jährigen Dienstjubiläums am 15. Sep-
tember der Titel „Königlicher Banrat" verliehen
worden. Dieselbe Auszeichnung wurde auch dem
zweiten Direktor Herrn Bauiuspektor Leißner zu
teil. Mit dem Jubiläum siel auch die Fertig-
stellung der 6000. Lokomotive zusammen. Frau
Geheime Kommerzienrat Heu schel und Herr Karl
Henschel überwiesen bei dieser Gelegenheit den
Unterstützungs- und Pensivnssonds für die Beamten
und Arbeiter der Fabrik wiederum sehr namhafte
Beträge und stifteten mehrere neue bedeutsame
Wohlsahrtseinrichtungen für die Arbeiter.
Todesfall. In Wächtersbach starb am 8. Sep-
tember der Forstmeister a. D. August Kayser
im Alter von 87 Jahren. Der Dahingeschiedene
war der älteste der noch am Leben befindlichen
Forstmänner aus der kurhessischen Zeit. Forst-
meister Kayser gehörte einer alten Försterfamilie
an, die den Grafen von Schaumburg und sodann
den hessischen Fürsten treu gedient hat. Nachdem
er die Forstakademie Melsungen und die Universität
Göttingen besucht hatte, wurde er 1839 als Revier-
förster zu Nonnenrod, Kreis Fulda, angestellt.
Später leitete er die Forstverwaltung des Fürsten
von Isenburg-Büdingen-Wächtersbach, um die er
sich große Verdienste erwarb. Am 12. September-
hütte der Entschlafene das Fest der diamantenen
Hochzeit feiern können.
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Hessische Bücherschau
Leutnants-Erinnerungen eines alten
Kur Hessen. Halbvergessene Geschichten aus
den dreißiger und vierziger Jahren des
19. Jahrhunderts erzählt von B. S. Coester,
geb. von B i s ch o f f s h a u s e n. Marburg (N. G.
Elwertsche Verlagsbuchhandlung).
Leutnants-Erinnerungen....ein vielversprechender
Titel, denn der Inbegriff alles Himmelhochjauchzenden und
zum Tode Betrübten ist in dem Worte „Leutnant" mehr
als in jeder andern Lebensstellung, zu der es die jungen
Jahre bringen können, vereinigt. Litterarisch aktuell ist
der Leutnant aber auch und zwar in sehr hohem Grade,
denn kein einziger der sog. lesenswerten Romane oder
sehenswürdigen Theaterstücke kann des Leutnants entbehren.
In den Romanen bildet die ewige Leutnants-Misöre selbst-
verständlich der Mangel des zu einer Heirat erforderlichen
Kommißvermögens, ein sehr betrübender Umstand, der zu
den schwierigsten Verwickelungen führt. Der kurhessifche
Leutnant aus den dreißiger und vierziger Jahren, der
uns in den vorliegenden Erinnerungen entgegentritt, ist
jedoch über solche Lappalien erhaben, denn erstens ist gerade
die Erwählte feines Herzens ein steinreiches Mädchen, was
in den modernen Romanen niemals vorkommt, und zweitens
hat er selbst in der Lotterie 6500 Gulden gewonnen und
zwar durch ein '/>« vom großen Loos, das ihm der
„Schlawihcr" aufgeschwatzt hatte. Mit dem „Schlawitzer"
aber werden wir in jene längst vergangene gemütliche
Zeit versetzt, die noch nichts mit Blut und Eisen zu thun
hatte, und in der es sich, hin und wieder einen kleinen
Krawall abgerechnet, ganz gut im Ländchen leben ließ.
Wie das Bild auf dem rotweiß umrahmten Einband vor
Augen führt, herrschten damals noch bei dem Militär der
Tschako und der Frack, und bei den Damen die großen
Florentiner Strohhüte, die Sonnenschirme mit Kniegelenken,
die Fichus, die ungeheuren Broschen und die Halbhand-
schuhe. Alles geht sehr gemütlich zu und man könnte fast
250
glauben, daß alles so recht von Grund aus blederineierlich
gewesen sei, wenn nicht die Erzählung von dein „Engländer",
in welcher ein raffiniert ausgeführter Juwelendiebstahl
geschildert wird, diese Illusion zerstörte.
In Scherz und Ernst spielen die hübsch erzählten Ge-
schichten sich zumeist in Hanau ab. aber nicht ohne einen
Besuch auf der romantischen Bergveste Spangenberg in sich
zu schließen, deren Bekanntschaft gar mancher knrhessische
Offizier machen mußte, wenn er etwas auf dem Kerbholz
hatte. Bei unserm Leutnant handelt es sich jedoch nur
um eine noch nicht einmal zum Austrag gekommene
Forderung auf Pistolen, die ihm drei Jahre Spangenberg
eintrugen, von denen ihm später nur ein Jahr geschenkt
wurde. Auch in das alle drei Jahre auf dem langen
Felde bei Wehlheiden errichtete berühmte Lager führen uns
die Erlebnisse des Leutnants. „War's gutes Wetter, gab
es fideles Leben im Lager, besonders abends und an Sonn-
tagen, wenn der hohe Adel und die Bürgerschaft von halb
Kassel angerückt kam, uns zu besuchen —", wie ein jeder
bestätigen wird, der des letzten Lagers im Jahre 1868
sich noch zu erinnern weiß. Bon den mannigfachen er-
heiternden Wendungen, die in dem Buch enthalten sind,
sei die vom „Buwelchen". einem kleinen Bruder der
Leutnantsbraut, wieder erzählt: „Buwelchen hatte am
Sonntag im Hasenbrätchen auf ein Schrot gebissen und
erschrocken ausgerufen: „Mutter, ich hab'n Knöchelche im
Mund." Darauf wird ihm der Ursprung des Schrot-
kügleins natürlich erklärt. Abends gibt's Cervelatwurst
und Buwelchen bekommt ein Pfefferkorn ins Mäulchen.
„Mütterchen", rief es vergnügt, „ich hab's Kiggelche ge-
sunde. womit das Würstche geschosse ist!" Wir lachten
alle auf Buwelchens Kosten und Thomas meinte, er sähe
ordentlich im Geiste die unglückliche Wurst vor dem Jäger
fliehen. „Aber zahme Schweine schießt man doch nit!"
rief Leutnant Sturm. „Stürmchen. Stürmchen, wo warst
du mit deinen Gedanken!"
Manchmal stimmen in dem unterhaltenden Buche die
Zeitangaben nicht ganz genau, was jedoch die Mehrzahl
der Leser kaum bemerken dürfte, einige unverständliche
Sätze aber, wie z. B. auf Seite 164 und 207 sollen, nach
Mitteilung der Verfasserin, ohne Verschulden der Verlags-
buchhandlung bei dem Druck entstanden sein.
Der Redaktion sind ferner folgende Schriften eingesandt
worden:
Verhandlungen der XIll. Jahresversammlung
des Hessischen Städtetags zu Marburg am 6. und
7. Juni 1902. Herausgegeben von Stadtkaffenrat
Boedicker, Mitglied des Magistrats der Residenz-
stadt Kassel.
Althessischer Volkskalender auf das Jahr 1903.
Herausgegeben von W. Hopf in Melsungen.
Personalien.
Verliehen: dem Archivrat Dr. phil. Heinrich
Reimer in Marburg der Charakter als Geheimer
Archivrat; dem praktischen Arzt Dr. med. B a l d e w e i n
in Obernkirchen der Charakter als Sanitätsrat.
Ernannt: Major von Lengerke, a la suite der
Armee und Adjutant des Präsidenten des Reichs-Militär-
gerichts. zum außeretatsmäßigcn militärischen Mitgliede des
Reichs-Militärgerichts; die Regierungs-Assessoren Pickert,
von Esch Wege, von Görs che n. Freiherr von T e t t a u
und Scholz in Kassel und von Aschoff. zur Zeit in
Melsungen, sowie die Spezialkommissare Regierungs-
Assessoren Dr. Wenke in Hanau, Zuschlag in Karls-
hafen und Schmidt in Treysa zu Regierungsräten;
Pfarrer Alles zu Ransbach zum Pfarrer in Lohne;
König!. Regierungsbaumeister von Sturmfeder in
Kassel zum König!. Eisenbahn-Bauinspektor; Mittelschul-
lehrer Vahlbruch zu Frankfurt a. M. zum ordentlichen
Lehrer am Seminar zu Homberg; Lehrer Pas so w in
Langenselbold zum Lehrer an der Präparandenschule zu
Homberg; Rechtskandidat von L i e b e r m a u n zum
Referendar.
Versetzt r Landgerichtsrat H e n ß c n von Hanau nach
Bonn; Staatsanwaltschaftsrat Greffrath von Kassel an
die Oberstaatsanwaltschaft zu Naumburg a. d. S.; Seminar-
lehrer Dr. Grau als Oberlehrer nach Schlüchtern.
Bestellt: der außerordentliche Pfarrer Die. theol.
Bach zum Gehilfen des Superintendenten Sold au zu
Großenwieden.
Entlassen: der Rechtsanwalt und Notar Prack in
Melsungen aus dem Amte als Notar infolge seiner Zu-
lassung zur Rechtsauwaltschaft beim Landgericht in Frank-
furt a. M.
Verlobt: Gerichtsassessor Karl von Baumbach-
Nentershausen zu Saalfeld i. Th. mit Fräulein
Natalie R ü h l aus Düsseldorf (September).
Geboren: ein Sohn: Oberförster Steubing und
Frau Anna. geb. Kothe (Bersenbrück, 1. September);
Königl. Domänenpächter Georg Ehrbeck und Frau
(Heydau-Altmorschcn, 1. September); Dr. med. H. Wittich
und Frau M i m i. geb. W o l p e r s (Kassel. 8. September);
Fabrikant W i l h e l m P i e p m e y e r und Frau Hedwig,
geb. Becker (Kassel, 5. September); — eine Tochter:
Kaufmann F r i tz L o e w e und Frau, geb. Andre (Kassel.
2. September); Dr. med. B a ch m a n n und Frau (Wahlers-
hausen) ; Oberlehrer D i t h m a r und Frau Frieda,
geb. Zuschlag (Kassel, 5. September); Fabrikant Julius
Engelhardt und Frau Ella, geb. Lambrecht
(Kassel. 11. September).
Gestorben: eaud. phil. Karl Julius Bücking,
25 Jahre alt (Marburg. August); Bildhauer Heinrich
Gib Hardt, 57 Jahre alt (Kassel, 81. August); Königl.
Förster a. D. Jakob Schmidt, 85 Jahre alt (Kirch-
ditmold, 2. September); Forstmeister a. D. August
Kayser, 87 Jahre alt (Wächtersbach, 8. September);
Frau Oberst Freifrau von Biedenfeld, geb. Freiin
von Stein-Liebenstein-Barchfeld (RittergutRitters-
hayn, 9. September); Königl. Baurat a. D. Karl
Blanckenhoru. 81 Jahre alt (Kassel, 14. September).
IMF* Mit dem heutigen Heft beschließt das „Hessenland" das HI. Quartal des XVI. Jahr-
gangs. Wir bitten namentlich die verehrlichen Post-Abonnenten um rechtzeitige Nen-Bestellnng.
Mit dem 1. Oktober neu zugehenden Abonnenten können die Hefte 1—18 nachgeliefert werden.
Probe-Hefte stehen jederzeit gern zur Verfügung. Der Uerlag des „Hessenland".
Für die Redaktion verantwortlich: W. Ben necke in Kassel. Druck und Verlag von Fried r. Scheel, Kassel.
An die Sterne.
3lu- wart mir Führer auf der Lebensbahn
Und leise Leuchten, ihr bestaunten Sterne.
Ihr hobt mein Leben läuternd himmelan
Und lehrtet mich die Liebe fernster Ferne.
Und das; die Stille meine Stärke sei,
Und daß ich segne selbst die langen Nächte,
Und daß ich — ein Gefangner — dennoch frei.
Und daß ich glaube an die ewigen Mächte.
Dberklingen. Karl 0.nst K|,oat.
Das Paradies der Cöne.
Es liegt ein Paradies weit hinter Dorn und Rohr . . .
Rühr' ich den Riegel an, fo öffnet sich
Sein Perlenthor . . .
Dann höre ich den Strom der Töne rauschen . . .
An seinem Blumenufer sink' ich hin,
Entzückt zu lauschen . . .
Und meiner Seele Saiten mit erklingen . . .
Und rings die Lilien heben an
Zu singen . . .
Ich fühl' nicht mehr der Erde Nichtigkeit . . .
Mein Sinn wird meergrund-tief,
Mein Blick wird groß und weit:
Des Pimmels Pforten feh' ich offen fteh'n . . .
Die U?elt versinkt — — — ich hör'
Der eig'nen Flügel lVeh'n . . .
Ravolzhausr» Sascha Gifa.
Rose.
Sterblich ist Schönheit —
U?ie bald ist die Rose entblättert,
Die noch heute fo schön,
Bald liegt sie vom UAndhauch gebrochen.
Ihr seid mir gegrüßet,
Schönheit des Geistes und perzens,
Selbst in späteren Tagen
Beglückt ihr, erringet den Sieg!
t)c>"lburg. £ v. Sodenstern.
Abschied.
Nun bist Du weg — ich bin allein.
Erblichen ist der Sonne Schein,
Seit ich Dich lassen müssen.
Nichts mehr von Dir, wohin ich schau' —
Nur aus den Lippen noch der Tan
von Deinen letzten Küssen.
henri du $ais.
Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Hessen
Ein Gedenkblatt zu seinem hundertjährigen Geburtstag.
Von W. Ben necke.
(Schluß.)
n jenem Erinnerungstage, der in dem Ge-
dächtnis der Zeitgenossen unverlöschlich fortlebt,
befand sich unter vielen patriotischen Hinweisungen
in der Obersten Gasse auch eine umftortc Fahne
Schleswig-Holsteins mit der Umschrift: „Op ewig
nngedelt! ! 1460." Drei Jahre später seilte Schles-
wig-Holstein die offizielle Ursache der E itthronung
des Kurfürsten geworden sein, denn bei dem zwischen
den Großmächten Preußen und Österreich wegen
der wiedergewonnenen beiden Herzogtümer aus-
gebrochenen Zwist, der schließlich zum Kriege
führte, lehnte der Kurfürst den Anschluß an
Preußen und den Eintritt in einen an Stelle
des alten Bundestages neu zu bildenden Staaten-
buud ab, obwohl Minister und Stände das über-
aus Gefährliche der Sachlage bei dieser Handlungs-
weise klar legten. Über die Gründe, welche den
Kurfürsten in die Arme Österreichs trieben, sind
die Ansichten verschieden. Die ihm freundlich
Gesonnenen stellen dabei seine Bund est reue
in den Vordergrund, die Gegner seine persön-
lichen Interessen, die sich um seine im öster-
reichischen Staatsgebiete liegende Herrschaft Horscho-
witz drehten, das hauptsächliche Erbteil seiner
Familie. Beide Motive mögen für den Anschluß
au Österreich bei ihm zusammengewirkt haben,
wenn auch kein Beweis dafür vorliegt, daß eigen-
süchtige Gründe den Kurfürsten in erster Linie
bestimmt hätten. Leicht ist dem Kurfürsten die Ent-
scheidung keinesfalls geworden, da er tief in den
preußischen Verhältnissen sowohl durch Tradition,
wie durch nahe Familienbeziehungen wurzelte. Von
dem preußischen Gesandten Herrn von Nöder
soll er für den Fall eines Bündnisses sehr ver-
lockende Versprechungen bez. Gebietserweiterungen
erhalten haben. Aber weder Versprechungen, noch
Drohungen von Seiten des preußischen Gesandten
konnten den Kurfürsten für die Idee der Bundes-
reform, die Berufung eines deutschen Parlaments
oder die Allianz mit Preußen gewinnen, und
als der Gesandte ihn darauf hinwies, daß Preußen
imstande sei, den Prinzen Friedrich von Hessen,
den damaligen präsumtiven Thronfolger, in die
Regierung des Kurfürstentums einzusetzen, hatte
der Kurfürst die stolze Erwiderung, daß er dem
Prinzen im gegebenen Falle als Hochverräter den
Kops vor die Füße legen lassen würde. Jedoch
halte er den Prinzen nicht für fähig, in solcher
Weise gegen ihn aufzutreten. In dieser Hinsicht
hatte der Kurfürst recht, denn am folgenden
Morgen traf der Prinz in aller Frühe von Berlin
kommend in Kassel ein. um sich dem Oberhaupt
des hessischen Fürstenhauses zur Verfügung zu
stellen.
Der Kurfürst ernannte ihn zum Befehlshaber-
seiner Truppen, die sämtlich die Ordre erhielten,
nach dem Main abzurücken, und sich sofort dort-
hin in Bewegung setzten. Alsbald aber miß-
trauisch geworden, entzog er dem Prinzen das
Oberkommando wieder und übertrug es dem
Generalmajor von Schenk zu Schweinsberg.
Er selbst blieb im Gefühle seiner persönlichen
Unantastbarkeit nur mit wenigen Offizieren ans
dem Schlosse Wilhelmshöhe zurück. Mit den
Truppen reiste auch die Fürstin von Hanau
und die älteste Tochter des Kurfürsten, die
Fürstin von Psenburg, die sich zum Besuche
bei ihren Eltern befand, nach Hanau ab. Es
geschah dies vom 16. auf den 17. Juni. Am
Tag darauf trug der französische Gesandte
Marquis de Bondy im Namen des Kaisers
Napoleon dem Kurfürsten eine Intervention an,
welche dieser jedoch-entschieden ablehnte. Indessen
hatten preußische Heeresabteilungen unter dem
General von Beyer von Wetzlar her die hessische
Grenze überschritten und am 19. Juni Kassel
besetzt. Nachdem am folgenden Tage die ersten
preußischen Soldaten auf Wilhelmshöhe erschienen
waren, gab der Kurfürst noch in völliger Gemüts-
ruhe, als ob er sich im tiefsten Frieden befände,
einem seiner Unterthanen eine Audienz, die mit
der Politik auch nicht tu dem geringsten Zu-
sammenhang stand. Es war ein Hofmusikus von
seiner Hvftheaterkapelle. den er empfing. Dieser
war einige Tage vorher zum Hoforganisten er-
nannt worden und wollte dafür seinen Dank
abstatten. Angesichts der drohenden militärischen
Bewegung, die sich bis nach dem Lustschlosse des
Fürsten gezogen hatte, glaubte der Künstler gar
nicht angenommen zu werden, aber der Kurfürst
253
ließ ihn vor nnb fragte ihn, ohne Zeichen irgend
welcher Aufregung nach feinen Verhältnissen, ja,
er erinnerte sich sogar, daß der Vater des Hof-
musikus in Hersfeld angestellt fei. Dieser an
und für sich nnbedentende Vorgang erscheint jedoch
charakteristisch in Anbetracht des geschichtlichen
Zeitpunktes.
Am 21. Juni machte der General von Beyer
durch eine Proklamation bekannt, daß die Autorität
des Kurfürsten suspendiert sei, und dieser
selbst wurde nunmehr von einer Kompagnie des
70. Infanterie-Regiments unter Führung eines
Hauptmanns von Lettow im Schloß zu Wilhelms-
höhe gefangen gehalten. Tie Behandlung, die
dem Fürsten in seiner eigenen Behausung dabei
zuteil wurde, machte ihm bcii jähen Wechsel der
Verhältnisse mehr als nötig bemerkbar.
Roch einmal versuchte Herr von Röder eine
Vermittelung, und wiederum wies der Kur-
fürst den Anschluß an Prellßen zurück. Als
aber am 23. Juni der kurhessische Gesandte
Geheimrat von Schachten aus Berlin eintraf
und die Stimmung der dortigen maßgebenden
Kreise schilderte, die zum Äußersten entschlossen
seien, wünschte der Kurfürst die Verhandlungen
mit Preußen wieder aufzunehmen, aber es war
zu spät. Die Entscheidung war von Berlin ans
bereits durch den Telegraphen Herrn von Röder
mitgeteilt worden und ging dahin, den Kurfürsten
als Kriegsgefangenen nach der Festung Stettin
bringen zu lassen. Nachdem der Kurfürst Kennt-
nis von dieser Bestimmung erhalten hatte, erließ er
die ergreifenden Abschiedsworte „An mein getreues
Volk" und rüstete sich zum Scheiden von dem
Lande seiner Väter. Um 8 Uhr abends nahm
der Kurfürst, Thränen im Auge, von der Schloß-
dienerschaft Abschied und reiste, von dem Major
von Griesheim und dem Rittmeister von Legat
begleitet, zu Wagen nach Möuchehof, um von da
mit Extrazug nach Stettin geführt zu werden.
Sein Gefolge bildeten die Flügeladjutanten
Major von Eschwege, Rittmeister Freiherr
von Verschuer und Hauptmann von Baum-
bach, Hauptmann Brack und Premierleutnant
von Lengerke vom Generalstab, Geheimer
Hosrat Or. B unsen (einer seiner Leibärzte),
Kabinets-Kassierer Hofrat Strübe, Kammer-
diener Müller, sowie mehrere Leibjäger und
sonstige Dienerschaft.
In Stettin, wo der Kurfürst am 24. Juni
spät abends ankam, wurde er von den Generalen
von Hermann und von Bö hu empfangen
und ihm das königliche Schloß zum Aufenthalt
angewiesem Zu seiner ständigen Beaufsichtigung
traf am 26. der Generalleutnant von Ratzmer* **))
von Berlin ein. Zwei Tage später aber wurde
der gefangene Fürst durch den Besuch seiner
Tochter, der F ü r st i n A u g u st e von Isenburg
überrascht, die es trotz mannigfacher Hindernisse
durchgesetzt hatte, zu ihrem Vater zu gelangen,
und in dem von der Cholera schwer heimgesuchten
Stettin im Hotel de Prusse bis zum l7. September
Wohnung nahm?*) Die Fürstin von Hanau
konnte erst am 27. August nachfolgen.
Aufs schwerste getroffen von der am 18. August in
den Zeitungen veröffentlichten königlichen Botschaft,
in welcher die Einverleibung Kurhessens in den
preußischen Staat ausgesprochen wurde, beging
der Kurfürst diesmal seinen Geburtstag, zu dessen
Feier aus Kassel ein von dortigen Damen dem
in der Ferne weilenden früheren Landesherrn
gewidmetes Riesenbouquet eintraf. An diesem Tage
sandte der Kurfürst den Flügeladjutanten Major
von Eschwege an den König Wilhelm mit einem
Schreiben ab, in welchem er unter Anrufung der
verwandtschaftlichen Gefühle nochmals seine An-
sprüche geltend machte, jedoch ohne Erfolg. Da
der Kurfürst hinwiederum sich nicht dazu bewegen
i ließ, unter Verzichtleistung auf Kurhessen den
souveränen Besitz der Landgrafschast Hessen-Hom-
> bürg anzunehmen, sv kam es zu dem Stettiner
Vertrag, der, ohne jede politische Bedeutung, von
1 den Vermögensverhältnissen des Kurfürsten handelt,
unter der Voraussetzung, daß er seine Unterthanen
; des ihm geleisteten Eides entbinde. Das letztere
geschah am 18. September, und am selben Tage
erhielt der Kurfürst seine Freiheit wieder. Am
19. reiste er von Stettin nach Dresden ab, wo
er iui Hotel Bellevue abstieg.
Die Liebe zur hessischen Heimat war aber so
mächtig in dem Kurfürsten, daß er sich vorerst
noch nicht für immer von seinem Lande zu trennen
vermochte. Er nahm seinen Wohnsitz in dem Schloß,
wo er geboren war, in Philippsruhe, und als der
*) Als Generalleutnant Don N a tz in e r einmal bei
Tafel eine Bemerkung über den Flamen „blinde Hessen"
machte, erwiderte der Kurfürst treffend: Davon will ich
Ihnen eine Geschichte erzählen. Es war im Jahre 1814,
als ein Kommando sächsischer Truppen das hessische Dorf
Bischhausen sehr früh des Morgens passierte. Durch die
Trommel aufgeschreckt, guckte ein hessischer Bauer zu seinem
kleinen Fenster heraus und rieb sich erstaunt die Augen,
um zu sehen. was los wäre. Da ruft ihm der Offizier
neckend zu: „Na. Ihr blinder Hesse, könnt Ihr uns schon
sehen?" Aber der Bauer wußte ihm zu dienen und rief
ihm auf gut niederhessisch zurück: „Ho, was so grob ist,
wie hä, könn mä schon säh!" („Die Gefangenschaft des
Kurfürsten." Althcssischer Volkskalender von W. Hops.
Jahrgang 1896, S. 87.)
**) Siehe „Meine Reise nach Stettin im Jahre 1866"
von Auguste Fürstin von Isenburg und Bü-
dingen. „Hessenland" 1894, S. 250 ff.
254
Winter kam, im Schloß zu Hanau. Den Tag, an
welchem die Annektiern n g Kurhessens öffentlich
in Hessen verkündigt wurde, wollte der Kurfürst
aber nicht auf heimischem Boden erleben, er reiste
deshalb schon am Vorabend, den 7. Oktober,
nach Aschaffenburg, um dort die Gräber der am
14. Juli 1866 gefallenen kurhessischen Husaren !
auszusuchen. Aus demselben Grunde und zu !
demselben Zweck halten sich ebenfalls von Hanau
aus dorthin der seitherige hessische Landtags-
abgeordnete Adam Trabert und der Führer
der 1848er Hanauer Sturmdeputation Pedro
Jung begeben. Ein geschichtlich bemerkenswertes
Zusammentreffen.
In Hanau verweilte der Kurfürst bis Mitte !
Juli 1867, um sich alsdann in seiner Herrschaft
Horschowitz in Böhmen, sowie in Prag dauernd !
niederzulassen. Das Hvfmarschallamt siedelte
jedoch erst im Spätsommer nach Horschowitz über,
und der Geburtstag des Kurfürsten wurde in
Hanau von seinen Hofbeamten, einer großen Anzahl
angesehener Bürger und einigen ehemals kur-
fürstlichen Staatsdienern im Saale des früheren
„Karlsberg" mit einem Festessen begangen. Ter
den Lesern des „Hessenland" wohlbekannte damalige
Hofsekretär Carl Pr es er wurde beauftragt, die
Glückwünsche der Versammlung nach Horschowitz
telegraphisch zu übermitteln, und erhielt darauf
die nachfolgende Antwort:
„Mein lieber Hofsekretar Preser! Ich habe das
Telegramm, durch welches Sie Mir die (Glückwünsche
zu Meinem Gebnrtsfeste Namens einer Festgesellschaft
zu Hanau übersendet haben, mit Vergnügen empfangen
und spreche Ihnen und sämtlichen Teilnehmern hier-
durch Meinen aufrichtigsten Tank für die festliche
Begehung Meines Geburtstags und die Mir dabei
dargebrachten Glückwünsche aus. Sagen Sie Ihren
Festgenossen, daß Ich die loyalen Gesinnungen, welche
Ich in der Stadt Hanau in den Tagen Meiner Heim-
suchung, wo die Herzen offenbar werden, wo wahre
Treue und Vaterlandsliebe sich erst erproben, gefunden
habe. und für die Mir auch die Feier Meines Geburts-
festes ein neuer. Meinem Herzeil wohlthuender Beweis
gewesen ist, wohl zu würdigen weiß und dankbar
erkenne. Ich hoffe zu Gott, daß es mir vergönnt
fein werde, dies in kommenden bessern Tagen durch
die That beweisen zu können.
Ihr wohlgeneigter
Friedrich W i l h e l m.
Schloß Horowitz, am 22. August 1867."
Ob auch Jahr aus Jahr verrann, der Kurfürst
hing an dem hier ausgesprochenen Gedanken fest. daß
er einmal wieder als Regent in sein ehemaliges Land
zurückkehren werde. Dabei kam es ihm jedoch nicht
in den Sinn, dies etwa durch fremde Waffengewalt
erreichen zll wollen, denn als 1870 der deutsch-
französische Krieg ausbrach, waren seine Sym-
pathien völlig auf der deutschen Seite, wie er zeit-
lebens ein persönlicher Gegner Frankreichs gewesen
war. Der Traum seiner letzten Jahre sollte sich
nicht verwirklichen. In seinem Palais in der
Waldsteingasse zu Prag starb der Kurfürst un
erwartet am Nachmittag des 6. Januar 1875
an einer Herzlühmnug, nachdem er, der sich sonst
einer sehr guten Gesundheit zu erfreuen gehabt
hatte, einige Zeit schon leidend gewesen war.*)
In zeitweise eintretenden Fieberphantasien sprach
er beständig von der Reise in die Heimat, die
Sehnsucht nach den Wäldern und Bergen des
Hessenlandes ließ ihn nicht los. Am Tage seines
Ablebens hatte er sich nach dem zweiten Frühstück
wieder zur Ruhe begeben, um nicht mehr zu er-
wachen, denn als der Kammerdiener erschien, um
seinen Herrn zum Diner anzukleiden, fand er ihn
friedlich dahingeschieden. Im Tode wurde der
Kurfürst statt des Zivilanzugs, den er seit seiner
Depossedierung fast stets getragen, wieder mit
seiner Lieblingsuniform, der des Leibgarde-Regi-
ments, bekleidet, in welcher er, mit den Insignien
des kurfürstlichen goldenen Löwenordens geschmückt,
aufgebahrt wurde.
Ta der Verblichene gewünscht hatte, in Kassel
auf dem alten Friedhof neben Mutter und Schwester
zu ruhen, fanden zwei Leichenfeierlichkeiteu statt.
Im Palais zu Prag nahmen außer den Familien-
angehörigen die Vertreter des Kaisers von Öster-
reich und des Königs von Hannover, der Erbprinz
von Nassau, die höchsten böhmischen Würdenträger
und der hohe Adel, sowie der Landgraf Alexis
von Hessen-Philippsthal und sechs hessische Edel-
leute, die nach Prag geeilt waren, an der Toten-
feier teil. Über Leipzig und Eisenach wurde der
Entschlafene nach Kassel gebracht, wo er am
12. Januar die letzte Ruhe fand.
Ter Trauerzug setzte sich in nachstehender
Reihenfolge in Bewegung: 1. Der dienstthuende
Hossourier mit schwarzem Marschallstab. 2. Zwei
Leibjäger. 3. Zwei Kammerdiener. 4. Die
*) Seit Oktober litt der Kurfürst an einem heftigen
Magenkatarrh. und etwa sechs Wochen vor seinem Ableben
hatte ihn während eines Spaziergangs in den Straßen
Prags ein großer Schwücheznstand befallen. Er wollte
in eine Droschke steigen; als der Kutscher, den Schlag
aufreißend, ihn aber „Majestät" nannte, wandte er sich
darüber unwillig ab und ging weiter. An der Moldau-
brücke erfaßte ihn der herrschende Sturm derart, daß er
sich an einen der Brückenpfeiler lehnen mußte, wo ihn ein
Ohnmachtsanfall überkam. Ein Wachtmann, der ihn er-
kannte. rief einen Wagen herbei und wurde von dem
Fürsten bedeutet, auf dem Bock bis zu seinem Palais
mitzufahren. Dort angelangt, erhielt er an 50 Gulden
ausgehändigt. Mit Bezug auf diese Fahrt sagte dann
der Kurfürst scherzend: „Heute bin ich von der Polizei
nach Hanse gebracht worden." (Nach „Hessische Erinne-
rungen", Verlag von G. Klaunig, Kassel 1882, S. 181,
und Zeitnngsmitteilnngen.)
Beamten des kurfürstlichen Hofmarschallamtes und
der Chatoullekasse. 5. Tie dienstthuenden Hos-
chargen: Kammerherren von Bodenhansen
und von Trott. 6. Der Hofmarschall Freiherr
von Verschuer. 7. Die kurhessischen Haus-
orden. getragen von dem Ordensrate Hvfsekretär
Preser. 8. Tie Geistlichkeit. 9. Der kurfürst-
liche Wagenmeister. 10. Der Trauerwagen, ge-
zogen von acht Isabellen, welche von acht Marstalls-
Livröedieueru an schwarzen, mit Krepp garnierten
Beizügeln geführt wurden. Dem Trauerwagen
zu beiden Seiten gingen die Hofoffizianten sowie
die Hof-Livrve-Dienerschaft. Am ersten Pferde
links ein Stallmeister. 11. Dem Leichenwagen
folgten und zwar: ;i) die hohen Leidtragenden;
b) fürstliche Personen und Vertreter von Sou-
veränen; c) der Kabinetsrat Schim inelpfeng;
«1) die Vertreter der Herrschaft Horschowitz und
zwar: «. Geheimer Hofrat von Baumbach,
ß. Forstmeister von Bodenharlsen; e) die
zur Abholung der Leiche nach Böhmen ge-
kommenen kurhessischen Offiziere rc. Von Fürst-
lichkeiten waren erschienen der Landgraf von
Hessen-Philippsthal. Prinz Alexander von Hessen-
Tarmstadt und der Prinz von Meiningen. Em-
pfangen wurde der Zug von dem Oberpräsidenten
von Bodelschwingh, dem kommandierenden
General des XI. Armeekorps von Bose, den
höheren Zivilbeamten und der städtischen Behörde.
Viele Tausende füllten die Straßen von dem
Bahnhof bis zum alten Friedhof, dessen Eingang
schnell erweitert worden war. um möglichst Raum
zu schaffen. Pfarrer Färber aus Prag hielt die
Leichenrede, und dann schloß sich das Grab über
dem Sarg des letzten regierenden Fürsten der
Linie Hessen-Kassel. —
Nachdem der Lebensgang des Kurfürsten, ohne
in das Einzelne zu gehen, zu schildern versucht
worden ist, sei noch einiger seiner persönlichen
Eigenschaften gedacht, die bisher nicht erwähnt
werden konnten.
Bei all' dem reichen Aufwand, den der Kur-
fürst für seine Hofhaltung als unerläßlich hielt,
war er selbst sehr genügsam. Dem äußern An-
schein nach war er stolz und kalt und der Eindruck
der Unfreundlichkeit wurde durch Wortkargheit
noch verstärkt, während er bei seiner Familie und
im Kreise seiner Vertrauten oft vielen Humor
entfalten konnte. Zahlreiche Überlieferungen legen
auch Zeugnis von seinem Sarkasmus ab. Den
besten Beweis für die dem Heiteren zugeneigte
! Leitung stehendes vorzügliches Orchester, in welchem
j zu einem großen Teil die Mitglieder der Kapelle
des Leibgarde-Regiments mitwirkten, eine Schar
von Künstlern, die in Deutschland ihresgleichen
suchten Ferner ist hervorzuheben, daß schon von
seinen Erziehern sein Verständnis für Architektonik
bemerkt worden ist, das auf seinen späteren Reisen
sich weiter entwickelte. Er glich hierin seinen
Vorfahren, nur daß er aus Sparsamkeitsrücksichten
seine Neigung nicht bethätigte.*) Die Schranke,
die er sich in dieser Beziehung namentlich mit
i Rücksicht auf die Zukunft seiner Familie auferlegen
j zu müssen glaubte, soll er stets drückend empfunden
haben. In der erwähnten Vorliebe dürste auch
die Einflußnahme auf die Privatbauten in Kassel
begründet gewesen sein, die ihm manchen Vorwurf
eingetragen hat. Die Änderungen, die er ver-
langte, waren aber meist Zeugnisse seines guten
Geschmackes, wie von einer ihm nahestehenden
Seite beobachtet worden ist, und würden auch
größtenteils willig hingenommen worden sein,
wenn sie schneller erfolgt wären. Ferner hatte
l der Kurfürst ein großes Interesse für Diamanten,
und ließ er dies auch nicht zur Liebhaberei werden,
so galt er doch als ein bedeutender Kenner auf
diesem kostspieligen Gebiet.**)
Nicht besser aber kann dies Gedenkblatt beendet
werden, als mit Wiedergabe der Schilderung der
kurhessischen Verhältnisse und der Charakteristik,
die Herr Professor Edward S ch r ö d er in seiner
Ansprache bei der Jahresversammlung des hessischen
Geschichtsvereins in Gelnhausen am 22. Äugust
von dem Kurfürsten entworfen hat, da letztere
von dessen eigenartigem Wesen ein scharf um-
rifsenes Bild giebt.
Nachdem Herr Professor Schröder dagegen
protestiert, daß die Verteidigung des Kurfürsten
zum Angriff übergehe nicht nur auf die Errungen-
schaften des letzten Menschenalters, sondern auch
auf die Personen, welche dem Kurfürsten in ehr-
lichem Kampfe gegenüberstanden, und es als eine
Kränkung der von hundert und tausend Lebenden
bezeugten historischen Wahrheit bezeichnet, wenn
„die 35 Jahre der Regierung Friedrich Wilhelms
zu den glücklichsten Zeiten gezählt werden, die
*) Trotzdem belief der Hofbauetat sich jährlich auf
80,000 Thaler. Goeddaeus, S. 28.
Sinnesart des Kurfürsten gibt jedoch das Repertoir
seines Hoftheaters, auf welchem das Lustspiel und
die Posse, sowie die Spieloper und das Ballet vor-
herrschten. Stolz war er auf sein unter Spohrs
**) Wenn jemand aus feiner Umgebung von einem
fremden Fürsten einen Brillantring empfing oder eine
Nadel oder eine Dose mit Brillanten, so lief; er sich die
Geschenke gern vorzeigen und hatte seine Freude daran,
dieselben zu taxieren und das offizielle Taxatum, welches
diesen Kleinodien gewöhnlich beiliegt, dem seinigen an-
nähernd zu finden. <AuS den Tagen eines erloschenen
RegentenhauseS, S. 65. C. Meyer, Hannover 1878.)
256
unser Volksstamm seit 600 Jahren durchlebt hat",
fährt er fort:
Die Regierungszeit Kurfürst Friedrich Wilhelms ist
zum großen Teil ausgefüllt durch den Streit um die
Verfassung. Zwei Generationen, unsere Väter und unsere
Großväter, haben darin ihre Kräfte erschöpft: das Bild,
das man von Kurhessen draußen im Reiche hatte, ward
einzig und allein von dieser Vorstellung beherrscht. aus
der sich wohl gelegentlich auch ein Zerrbild despotischer
Mißwirtschaft entwickeln konnte. In Wahrheit ließ es
sich gar nicht so übel leben im Ländchen. Es erfreute sich
einer zuverlässigen Rechtspflege, eines tüchtigen Beamten-
standes, in dem — und das war mit ein Verdienst des
Landesherrn — kein Strebertum aufkommen konnte, wohl-
geordneter Finanzen, mäßiger Stenern; das Militär, von
Alters her der Stolz unseres kriegstüchtigen Stammes,
wurde wenig drückend empfunden.
Aber — der Mensch lebt nicht vom Brot allein, er will
auch Licht und Luft und Sonnenschein zur Entfaltung
freudigen Strebens! Daran aber hat es in Kurhessen
durch mehr als ein Menschenalter nur allzusehr gemangelt.
Es ging ein finsterer Geist dlirch das Land in den Tagen,
da Hassenpflug, Vilmar und Scheffer am Ruder waren,
und das reiche Kapital an Bürgertugend und patriotischem
Streben, an Thatkraft und Intelligenz, das damals in
unserem Vaterlande aufgespeichert lag, ist nicht zur Ent-
faltung gekommen. Wer hat den Schomburg und Gerland,
den Pfeiffer und Baumbach, den Schotten und Schwedes
die Freudigkeit ihrer Hingabe an das Vaterland gestört
und gebrochen? Welche Unsumme von Bitterkeit und Harm
ist in unzählige unserer besten Familien getragen worden
unter dem Schutze des Feldgeschreies: Nieder mit der
Revolution!
Nun hat man uns freilich einen Ausweg eröffnen
wollen: nicht die Menschen seien schuld an diesen traurigen
Zuständen gewesen, sondern das unselige Ding, das sich
knrhessische Verfassung nennt. Es ist wahr. das unschein-
bare Heftchen vom Jahre 1831, das ich hier in der Hand
halte, ist ein furchtbarer Erisapfel gewesen. Tie Ver-
fassung vom Jahre 1831 ist längst von der Geschichte
gerichtet: sie ist durch die eine Thatsache gerichtet, daß sie
über unser Volk und insbesondere über den Offizierstand
jene furchtbare Gewissensnot bringen konnte, die dieser ehren-
haft, aber tieftragisch-bestanden hat.
Diese Verfassung, dem schwachen und schuldbeladenen
Kurfürsten Wilhelm I I. in der Notlage abgerungen, miißte
für jeden Fürsten, der den Begriff der Monarchie nicht
zum Kinderspott werden lassen wollte, unerträglich sein.
und die Geschichte würde Friedrich Wilhelm ans seinem
Widerstrebe» keinen Vorwurf machen, wenn er die rechten
Mittel und Wege gesucht und gefunden hätte, mit dem
intelligenten Bürgertum zu einer Verständigung über den
Ausbau der Verfassung im Sinne einer gründlichen Re-
vision zu gelangen. Es hat später nicht ganz an ehrlichen
Ansätzen dazu gefehlt, aber das Mißtrauen war beiderseits
zu tief eingefressen: man hatte unter dem Anshängeschilde
Auslegung und Revision der Verfassung allzuviel Beugung
und Bruch des guten Rechts erfahren, und so war man
auch auf Seiten der Landstände immer hartnäckiger ge-
worden.
Gewiß, die Verfassung war ein unhistorisches Produkt
eines importierten Doktrinarismus, ihre Verteidiger haben
den besten Teil ihrer Kraft und ihres Bürgersiuns in
unfruchtbaren Streitigkeiten verbraucht, sie haben ihren
Gegnern, die in ihnen die Revolution bekämpften, viele
Blößen gegeben. Aber trotz allem dem trifft die schwerere
Schuld den Kurfürsten und seine Ratgeber.
Kurfürst Friedrich Wilhelm freilich war ein Mann,
der wenn irgend einer von der Geschichte ein mildes Urteil
fordern darf. Er hat eine freudlose Jugend, Mannesjahre
voll Sorgen und Kümpfe, ein Alter in Kummer und
herzbrechendem Heimweh gehabt. Er ist ein unglücklicher
Fürst gewesen. Seine ersten Erinnerungen fallen zusammen
mit dem Exil. von den erhebenden Eindrücken der Be-
freiungszeit ist ihm wenig zu gute gekommen, und der
wach gewordene Blick des Jünglings sah die Maitresscn-
und Günstlingswirtschaft des Vaterhauses. Wohl haben
ihm der Großvater und die Mutter die besten Erzieher
und Lehrer zur Seite gegeben:. v. Below. Suabedissen,
Wilh. Grimm; aber ganz abgesehen davon, daß die Geistes-
gaben des Knaben nicht hervorragend waren, sie vermochten
den schlimmsten Fehler, seine Verschlossenheit und sein
Mißtrauen gegen die Menschen, nicht zu besiegen. Und
leider, leider hat er nur allzuviel erlebt, tvas diese ver-
hängnisvolle Neigung bestärken mußte. Ich brauche ans
jene Kette aufregender, niederschlagender, beklemmender
Erlebnisse aus der Regiernngszeit seines Vaters nur hin-
zuweisen. nur zu erinnern an den unheimlichen Tod des
Lakaien Bechstädt. an die Drohbriefe und so vieles andere
Der Kurfürst hat keinen Glauben an edle Regungen
und Instinkte der Menschen gehabt, wenigstens nicht in
ihrem Verhältnis zu Fürsten und Höfen. Unter diesem
tiefeingewnrzelten Mißtrauen haben schließlich mehr oder
weniger alle leiden müssen, die längere oder kürzere Zeit
sein Vertrauen zu besitzen glaubten. Dazu kam ein anderes,
was abzuleugnen thöricht und ein Frevel wäre. Der Kur-
fürst hatte nicht nur eine schwere Zunge, die ihm die leichte
Anssprache erschwerte und ihm selbst in Reden und Schweigen
manchen Kummer bereitet hat. sondern auch einen zähen,
schwere» Verstand. Er erfaßte nicht leicht eine Situation
und hielt dann mit einer an Starrsinn grenzenden Zähig-
keit an dem einmal Erfaßten fest. Es war sein tragisches
Verhängnis, daß auch seine guten Eigenschaften lind Gaben
selten so zutage traten, daß sie sich der Mißdeutung ent-
zogen. Friedrich Wilhelm ist nicht nur ein sorgender
Gatte und Vater von bürgerlicher Tugendhaftigkeit gewesen,
er war auch als Regent in seiner Art ein Mann der
strengen Pflichterfüllung, und wenn er gegen die höheren
Beamten oft mit quälender Strenge seine Herrschergcwalt
ausübte, so traten ihm anderseits die Sorgen und Leiden
des kleinen Biannes leicht nahe. Sein Verhängnis war
zeitlebens die Enge seines Blickes: als die höchste seiner
Pflichten, aber wirklich und ernsthaft als eine Pflicht er-
schien ihm unter allen Umständen die Geltendmachung
seines Souveränetütsrechtes. Im Sinne des aufgeklärten
Despotismus des 18. Jahrhunderts hielt er darin seine
Pflichten und Aufgaben für sämtlich eingeschlossen. Und
er war durch und dlirch ein Alaun jener früheren Zeit
ein Rationalist, den die Romantik Wilhelm Grimms.
Hassenpflugs und Vilmars völlig unberührt gelassen hatte,
Er war auch in seiner Art ein deutscher Patriot und ein
Alaun von nationalem Ehrgefühl, und wir haben kein
Recht, über die Unsicherheit seiner Politik zu spotten, wenn
wir die Jrrgänge betrachten, die damals auch andere
gegangen sind . . .
Lschwege im öreitzigjährigen Kriege
Von Wilhelm Kolbe.
welcher Weise die hessische Haupt- und Residenz-
3 stabt Kassel unter den kriegerischen Ereignissen
des 17. Jahrhunderts, die drei Jahrzehnte hin-
durch ganz Deutschland erschütterten, zu leiden
hatte, ist in dieser Zeitschrift bereits erörtert
worden.*) Doch weit härter als die Hauptstadt
wurden die übrigen Städte Hessens betroffen.
Wieviel Elend und Armut der deutsche Völker-
krieg über Eschwege und seine Umgebung gebracht
hat, verkünden mit herzbewegenden Klagen zu-
verlässige Männer, die in jener Zeit der Greuel
und Verwüstungen durch wahrheitsgetreue Aus-
zeichnungen uns ein Bild von dem Elend ihrer
Tage hinterlassen haben. —
Glückliche Zeiten hatten den Wohlstand der
Stadt gemehrt und ihr Ansehen unter den ersten
Städten des Landes gefestigt. Da brach mit
roher Gewalt der Krieg über unser Vaterland
herein und bedrohte die Städte des Werrathales.
Anfangs Juni 1623 ergab sich Wihenhausen,
und noch in demselben Monat wurde Allendorf,
das den ligistischen Truppen Widerstand geleistet
hatte, genommen. Mitte Juni verlegte Tilly
sein Hauptquartier von Hersfeld nach Eschwege
und setzte am 24. Juni zwischen Allendorf und
Witzenhausen über die Werra, ließ aber in Esch-
wege Truppen zurück. Tie Besetzung der Stadt
war Tilly ohne Scharmützel gelungen. Auf güt-
lichem Wege hatte er sich in den Besitz des wichtigen
Ortes gesetzt, einesteils durch Verhandlungen mit
der Witwe des Prinzen Otto, die damals in
Eschwege residierte, andernteils mit Hilfe des
Adels, der durch allerlei Gefälligkeiten und gesell-
schaftliches Entgegenkommen die Gunst des ge-
fürchteten Feldherrn gewonnen hatte. Zum Lohne
dafür stellte Tilly mehrere Schutzbriefe aus.
Daß der Landesherr, Landgraf Moritz, mit
dem Verhalten seiner Ritterschaft und der Werra-
städte nicht einverstanden war, beweist eine strenge
Untersuchung, in die er auch die Stadtbehörde
Eschweges und die beteiligten Adelsfamilien ver-
wickelte. Auch führte er Beschwerde beim Kaiser.
Daß diese Maßnahmen des Landgrafen zu
dem bald erfolgten Abzüge Tillys in irgend
welcher Beziehung standen, ist kaum anzunehmen.
Thatsache ist, daß Tilly Ende Juli 1623 seine
Besatzungstruppen aus den Städten des Werra-
thckls abrief.
*) „Kassel im 30jährigen Kriege" von Dr. Schwarz-
kopf. „Hessenland" 1900, Seite 226 ff.
Zwar war die Umgegend Eschweges nun von
den Truppen gesäubert, aber noch lange währte
das Andenken an Tillys Soldateska; der Feind
hatte eine ansteckende Krankheit zurückgelassen, der
Hunderte zum Opfer sielen.
Jedoch nur kurze Zeit blieb die Stadt von
den Truppen verschollt. Anfangs Oktober brach
Tilly abermals in Hessen ein, und seine Scharen
sogen von neuem das Land an der Werra ans.
„In und um Eschwege war bald kein Rind- und
Zugvieh mehr aufzutreiben, und man erklärte sich
außer stand, die noch rückständige Landrettungs-
steuer zu zahlen, welche die Regierung für die
landgräflichen Truppen, die Kriegskommissare
aber für Tillys Einquartierung verlangten. Ein
kaiserlicher Oberbefehlshaber. Adolf von Holstein,
drohte sogar den Kommissaren von Boynebnrg
und Hundelshausen, sich an ihnen zu erholen,
wenn sie seinen Leutnant in Waldkappel, Georg
Dobschütz, nicht befriedigten. Derselbe verlangte
u. a. wöchentlich für Gewürz und Konfekt sieben
Thaler und statt eines Eimers Wein zehn Thaler." *)
Das ganze Jahr 1624 hindurch hausten Tillys
Truppen in Eschwege und der Werralandschaft.
Im Februar 1625 berief der Feldherr sogar
einen Landtag nach Hersfeld, der auch von einem
Eschweger Vertreter besucht wurde. Zwar ver-
sprach Tilly der Stadt und der gesamten Ritter-
schaft Schutz und Beistand, verschaffte ihnen auch
einen kaiserlichen Schutzbrief, konnte aber gleich-
wohl die Stadt nicht vor den Greueln des Krieges
bewahren.
Als eine Erlösung empfanden es die Bürger,
als endlich beim Anzuge des Königs Christian
von Dänemark Tilly nach fast zweijährigem
Aufenthalte das Land verlassen mußte.
Doch auch dieses Mal konnte sich die Stadt
nur kurze Zeit der Ruhe freuen. Jin September
zog das gefürchtete Heer Wallensteins durch
Hessen. In Eschwege blieb dieser mehrere Wochen
und richtete dort ein Feldzahlamt ein.
Rach dem Abzüge des Friedlünders bemächtigte
sich der Graf Merode mit 6000 Mann der
Stadt und gründete dort, dem Befehle Wallen-
steins folgend, eine Sammelstelle für die zerstreuten
Truppen. Im Frühjahr 1626 zog der größte
Teil der ligistischen Heerhaufen ab.
Die Kaiserlichen wurden von dem Korps des
[ Herzogs Georg von Lüneburg abgelöst. Sein
*) Schminke. Geschichte der Stadt Eschwege. S. 227.
258
Oberstleutnant Wurmb rückte in Eschwege ein
und ließ in weitem Umkreise Frucht. Schlachtvieh
und Pferde von den schon völlig erschöpften Ein-
wohnern beitreiben. Auf eine Ersatzforderung des
Landgrafen Moritz erwiderte er, die geschädigten
Bauern sollten ihm nach Braunschweig folgen.
Nach kaum drei Monaten wurde Niederhessen
von bayrischen Regimentern heimgesucht, auch
Stadt und Amt Eschwege wurden von zwei
Kompagnien des Herbersdorfer Regiments besetzt.
Nahezu unmöglich war es den bedrängten Bürgern,
die Verpflegungsvorschriften zu erfüllen. An barem
Gelde mußten außer der Fourage wöchentlich
330 Thaler für jede Kompagnie und 158 Thaler
für den Stab des Regiments aufgebracht werden.
Wie sehr das Land in jener Zeit ausgesogen
war, das beweisen die Klagen der Landstände an
den Landgrafen Wilhelm: „Im verwichenen
Monat April haben die Kroaten und kaiserlichen
Truppen auf seither unerhörte Weise das Land
erbärmlich verderbt, fast alles, was in ihre Hand
und Gewalt kommen, niedergehauen, den Leuten
die Nasen, Zungen und Ohren abgeschnitten, die
Augen ausgestochen, Nägel in die Köpfe und Füße
geschlagen, heißes Pech, Zinn, Blei durch Mund,
Nase und Ohren in den Leib gegossen, etliche
durch allerhand Instrumente schmerzlich gemartert,
viele durch Stricke aneinander gekoppelt, im offenen
Felde in eine Reihe gestellet und teils mit Büchsen
aus sie geschossen, teils mit Pferden geschleift k.
Wie die wilden Thiere sind sie über die Kinder
hergefallen, haben sie niedergehauen, gespießt und
in Backöfen gebraten. Kirchen und Schulen haben
sie zu Kloaken gemacht und viele adlige Wohnungen,
Städte und Dörfer verbrannt."
Wie sehr auch die Bewohner der Werrastädte
zu geradezu unerschwinglichen Lasten herangezogen
wurden, das lehrt ein Blick in die Allendorfer
Stadtrechnung für 1627, aus welcher ein Auszug
mitgeteilt sei: „Vom 17. Januar bis 23. Mürz
1627 wurden dem kaiserlichen Oberstleutnant
Quadt wöchentlich 400 Thaler ausgezahlt, was
in zwanzig Zielen 8000 Thaler betrug. Bei
seinem Abzug im Mai wurden noch verausgabt:
9 Thaler zu Wein, 10 */2 Thaler für einen Becher
dem ersten Quartiermeister wegen Verschonung
mit starker Einquartierung rc. 33 Thaler sind
der Pfaffe, Adjutant, Quartiermeister rc. beim
Abzüge schuldig geblieben und haben solche dem
Weinwirt nicht bezahlen wollen. 29 Thaler haben
zwei Leutnants und die Vettern des Oberstleutnants
beim Löwenwirt verzehrt und 9 Thaler an Wein
damals vertrunken.
Am 29. Februar verzehrte Tilly 61 Gulden
7 Albus, der Kommissar Lerchenfeld 40 ©ulöcu
23 Albus, der Stückhauptmanu Schneeweiß bei
seinem Durchzuge 9 Thaler 13 Albus, für Ver-
pflegung von 200 Pferden 110 Thaler rc.
Der Durchzug des Generals Pappenheim im
August, der sich nach Göttingen wandte, kostete
der Stadt 1431 Gulden 2 Albus 8 Heller. Es
wurden ausgezahlt 202 Thaler für den General,
100 Thaler für den Kommissarius, weil das
Kriegsvolk zum Teil in die Dorsschaften gelegt
wurde rc."
Ähnliche Lasten brachte der Krieg auch der
Stadt Eschwege. Nicht nur Wochen und Atonale,
Jahre lang währten die Erpressungen. Noch im
Mai 1629 lag der Oberst von Wahl mit seinem
Regiment auf Kosten der Bürger in Eschwege.
Da endlich erschien dem bedrängten Hessenlande
von Norden her ein Strahl der Hoffnung. Gustav
Adolf betrat den Kriegsschauplatz. Die feindlichen
Besatzungen Hessens, auch Eschweges, wurden ver-
trieben. Zwar nahte Tilly, um Rache zu nehmen,
schon waren in Eschwege die Quartiere bestellt,
aber er mußte plötzlich seinen Zug abbrechen, um
Pappenheim gegen Gustav Adolf beizustehen.
In der Schlacht bei Leipzig wurde er geschlagen,
und die Schlacht am Lech befreite die Stadt für
immer von ihrem furchtbarsten Bedränger.
Neue Hoffnungen erweckten die Erfolge des
Schwedenköuigs in den Gemütern der erschöpften
Bürger. Aber während noch die Hessen über die
Siege der Schweden frohlockten, während der
Landgraf entfernt von seiner Hauptstadt und der
Werragegend weilte, fiel in diese Graf Pappen-
heim ein. Anfangs Juni 1632 sandte er eine
Schar Kroaten unter Gil de Hasst und Lambvi
an'die Werra. Diese bemächtigten sich auch der
Stadt Eschwege, nahmen die hessischen Besatzungen
gefangen und beraubten die Bewohner, welche in
die Gegend von Eisenach und Koburg flüchteten.
Ter Stadt wurde eine Kontribution von 20000
Thalern auferlegt, und die mit Brand und Mord
bedrohten Einwohner, nicht imstande, diese Summe
zu bezahlen, brachte!! Gold, Silber, Leder, Leinen,
Tuch rc. aus das Rathaus. Als dies aber nicht
langte, das Zahlungsziel ablief, Pappenheinis
Reiter von neuem die Stadt heimsuchten und den
Bürgermeister und Stadtschreiber als Geiseln mit-
schleppten, sandte die Landgräfin Juliane, Moritz'
Witwe, deren Leibgedinge auf Eschwege stand, ihre
Juwelen, Perlen und andere Kleinodien der Stadt
zum Beitrag. Einige Monate nachher, als Pappen-
j heim in Langensalza sich zum Zuge nach Lützen
bereitete und Landgraf Wilhelm ihm einen Trom-
peter zur Auswechselung der Gefangenen zusandte,
| entflohen jene Geiseln. Die Landgräfin Juliane
259
erhielt ihre Kleinodien zurück und Pappenheims
Forderung erlosch mit seinem Tode bei Lützen.*)
Doch nicht nur ans Eschwege selbst wurden
Geiseln genommen, auch die Edelleute der llm=
gegend wurden gefangen fortgeführt, so die Herren
von Buttlar, Berlepsch, Bischofs hausen
und H a n st e i n.
Für kurze Zeit wurde diesen Übergriffen des
Feindes bind) die Nähe der Hessen Einhalt geboten.
Als nämlich der Husarenvberst Stephan Horwath
gar zu unmenschliche Forderungen stellte, sandte
Landgraf Wilhelm den Grafen von Eberstein,
dem sich auch sechs Fähnlein aus Eschwege an-
schlossen , gegen eine Abteilung Kroaten von
1200 Mann. Der Feind wurde besiegt. Einen
Sieg erfocht and) der Befehlshaber Eschweges,
. Major von Herda, über die Kaiserlichen in der
. Nähe von Sontra. Auch bei Eschwege fand am
! Sonnabend vor Jubilate 1635 ein Kampf gegen
die kaiserlichen Obersten Korpes, Forgaes und
Plafchkvwitz mit 1500 Mann statt. Oberst
Plaschkvwitz fiel gleich zu Anfang des Gefechts.
! „und hat diese Charge", so berichtet das Theatrum
Europaeum, „vier Stunden lang gewährt, also
daß die Kaiserlichen endlich abziehen, ziemlich
Tode und Gequetschte mitnehmen und an vierzig
gesattelte' Pferde nnb Gefangene zurücklassen müssen,
worüber die Crabaten so entrüstet waren, daß sie
an 14 Dörfer abgebrannt und alles von Unter-
thanen, alte und junge, Weib und Kind, nieder-
gehauen und jämmerlich gehaufet".
(Schluß folgt.)
') 3 cf) in t n cf c, Geschichte der Stadt Eschwege, S. 236 37.
--------—
Ich bin der Aönig von Thule.
Ich bin der Rönig von Thule!
Den Becher vom Golde schwer,
So füll' ihn, Du herzige Buhle,
Und fröhlich trink' ich ihn leer.
Doch nimmer werf' ich den Becher
Ins Uleer in toller Lust;
Ich leer' ihn als jubelnder Zecher
Und drücke mein Lieb an die Brust.
Ich trinke, wenn fröhlich Frau Sonne
Sich spiegelt im Rebenblut
Und heiliges Feuer der Wonne
Ulein l)erz mir entfacht zur Glut.
Ich trinke im Sterngefunkel,
von Dir mit Rosen bekränzt.
Wenn, Liebste, im traulichen Dunkel
Dein strahlendes Auge mir glänzt.
Doch kommt mir das Rnochengerippe,
Der Sensenmann, in die (lZner.
So werf' ich zum Schrecken der Sippe
Ihn und die Sense ins Meer.
Was kümmern mich gierige (Erben?
Gieb, Liebste, den Becher mir her!
Ich habe noch Zeit zum Sterben,
Zum Trinken und Rüssen noch mehr.
w i e ii.
Adam Crabert.
-------------
Lin kurzer Lebenstraum.
Bon Nora Keller.*)
I.
chnell fährt der Ztveirüder dahin, dein „Strand" **)
zu! Eben schlägt Big Ben, die große Uhr
des Parlamentsgebändes. die siebente Stunde. Das
Theater beginnt erst um 8 Uhr, also war ja
genügend Zeit! Seufzend lehnt sich der junge
Schauspieler im Wagen zurück, — ein nervöses
Lächeln zuckt um seinen seinen Mund. In einer
Stunde schon wird er zum ersten Mal als Hamlet
auftreten! Monatelang hat er Tag und Nacht
*) N o ra Keller ist die in London lebende Enkelin
unserer hochgeschätzten Mitarbeiterin Frnu H. Keller-
I orda ».
**) Ein bekannter Teil der City in London.
gearbeitet, um so weit zu kommen; er wollte besser
spielen, als andere Schauspieler es gethan. Oft
genug hatte er den Hamlet gesehen, aber keine
Darstellung des Dänenprinzen hatte ihm gefallen,
sie alle mangelten des Enthusiasmus, — die Seele
fehlte. Sie hatten sie, seiner Ansicht nach, nicht
richtig erfaßt! — Donald Quentin hatte in seinen
Studien die Welt um sich vergessen und sich sehr-
selten eine Erholung gegönnt. Er brach zusammen,
er hatte sich überarbeitet. Der Arzt wollte ihn
auss Land schicken, da er zu schwach war, ntn
etwas zu thun. Aber Quentin lachte ihn aus;
war er denn ein Narr. jetzt, wo er so dicht vor
seinem Glück und vielleicht seinen Triumphen stand,
260
alles aufzugeben, wofür er gearbeitet, sollte denn alles,
alles umsonst gewesen sein?! Der Arzt meinte,
es könne ihm schaden, da er ein schwaches Herz
habe; — und wenn auch, — heute mußte er
spielen, seine Kraft durste ihn nicht verlassen.
Morgen wird er auf lange Zeit fortgehen und
ruhen, und alles wird Friede und Ruhe um ihn
sein. Und Marjorie Jerrald, seine hübsche Braut,
wie wird sie sich erst freuen, tvenn sie seinen Namen
in allen Zeitungen liest und von seinem Erfolge
hört, — wenn nicht alles umsonst war?
Merkwürdig, sie hatte ihm lange nicht geschrieben,
und schließlich hatte ja auch er lange nichts von
sich hören lassen, — er wollte ihr nicht schreiben,
wie sehr er kämpfte und arbeitete, und wie er
and) zuweilen kaum etwas zu essen hatte. Aber
morgen wird er sie umarmen können, und wie
stolz wird sie auf ihn sein, — er arbeitete ja
auch nur für sie, das einzige Wesen, das ihn auf
der ganzen Welt liebte. — — —
Donald fährt plötzlich aus seinen Träumereien
aus, es ist eine fieberhafte Aufregung in ihm.
Ter Wagen kann sich kaum durchdrängen. Mehrere
Equipagen sind vor ihm, viele Pferde gleiten aus,
die Straßen sind hart gefroren. Es wimmelt
nur so von Menschen, Kops an Kopf, viele, die
heimkehren, andere, die in die verschiedenen, schon
hell erleuchteten Theater eilen. Endlich — ein
Ruck, der Wagen hält. Donald stößt den Wagen-
schlag aus und springt heraus. Außerhalb des
Theaters stehen die Menschen Kops an Kops, elegante
Gespanne halten, aus denen Damen und Herren
in Abendtoilette steigen. —
Donald eilt ins Theater. Auf der Treppe saßt
ihn jemand am Arm, erstaunt dreht er sich um,
ein eleganter junger Mensch steht vor ihm, Edward
Lennox, sein alter Schulfreund! „Hallo, Quentin,
kennst Du mich noch! Ich wünsche Dir Glück;
ich kam, um Dich spielen zu sehen; begleite Dich
nachher heim; ich habe Dir auch noch eine Neuig-
keit mitzuteilen!"
Ehe Quentin Zeit fand, etwas zu erwidern, hatte
er seinen Freund im Gedränge verloren.
II.
Das Haus ist überfüllt, kein Platz scheint leer!
Ter Vorhang hebt sich, das Spiel beginnt. Einen
Augenblick ist's Quentin, als solle ihm der Mut ver-
gehen, — alle Augen und Operngläser sind auf den
jungen, neuen Schauspieler gerichtet, — zum Hamlet
ist er wie geschaffen, bedeutend und ausdrucksvoll,
dunkles Haar umgibt fein fast erschreckend blasses,
schmales Gesicht, — wie mag er wohl spielen?!
Bald vergißt er die Welt um sich her, — er ist
Hamlet, nichts anderes —, wie Hamlet durchlebt
und fühlt er alles. In jedem Akt spielt er besser
und besser, seine ganze Kraft setzt er ins Spiel,
in dem sich sein Fühlen widerspiegelt. Zuletzt ist
es ihm wohl. als sollte er ohnmächtig zusammen-
sinken, aber er beherrscht sich. Nur noch ein paar
Minuten, und dann ist es überstanden.
Der Vorhang fällt, das Schanspiel ist aus, —
ei» mächtiger Beifallssturm durchbraust das ganze
Theater. Immer und immer wieder wird Hamlet
hervorgerufen, der mit seiner letzten Kraft auf die
Bühne wankt. Sein Name ist gemacht. Heute
kann er seinen großen Erfolg kaum genießen —
aber morgen, wenn ihn Ruhe umgibt und er bei
ihr ist!
lll.
Dumps erzittert die zwölfte Stunde durch die
flacht! Tie Theaterbesucher sind heimgekehrt. Für
einige Stunden ist die große geheimnisvolle Stadt
in Schlaf gehüllt.
Lennox und Quentin sind zusammen. Matt wirft
sich Donald in den Sessel am niedergebrannten
Feuer. Lennox, der nach Licht geklingelt hat, setzt
sich dicht neben seinen Freund.
„Weißt Tu, Quentin, daß Du wunderbar gespielt
hast, man vergaß, daß es nur Spiel war. Du
hast die Rolle gelebt, ich gratuliere Dir!"
Donald lächelt müde und reicht Lennox matt
die Hand. „Du übertreibst, — aber da füllt mir
ei», Tu wolltest mir eine Neuigkeit melden, —
sag, was ist es?"
„Nun, ich habe mich verlobt mit einem sehr
schönen und guten Mädchen. Du kannst mir wirk-
lich Glück wünschen, alter Freund."
„Freilich, dann gratuliere ich, Lennox, — mögest
Du glücklich mit ihr werden."
Quentin denkt an Marjorie, auch sie ist gut
und schön, und wie wird er geliebt von ihr!
„Ehe ich es vergesse, Quentin, ihren Namen
habe ich Dir nicht genannt. Sie heißt Marjorie
Jerrald!"
Kaum hat Donald diesen Namen vernommen,
als er aufspringt, sein Gesicht ist todesblaß, in
seinen Augen blitzt ein unheimliches Feuer, ein
Seufzer, — und er sinkt in den Sessel zurück. —
Lennox bemerkt es nicht, er ist in Gedanken an
seine Braut vertieft! Da öffnet sich die Thüre,
die Wirtin stellt ein Licht auf den kleinen Tisch
und verläßt wieder leise das Zimmer. Lennox
erwacht nun auch aus seinen Träumen und erhebt
sich. Wie kalt und still ist es in diesem Ziutmer,
er schauert zusammen. Leise tritt er au den Sessel
seines Freundes. Er scheint zu schlafen! Armer
Mensch, er braucht Ruhe, diese Anstrengung nach
der schweren Krankheit war zu viel für ihn!
261
Lennox will ihn nicht stören; er verläßt leise das
Haus, um in seine warmen und eleganten Zimmer
zurückzukehren. — — —
Aber Donald Quentin schläft weiter, immer weiter,
für ihn gibt es kein Erwachen, keine Triumphe
mehr! Ter Mond, der langsam hervortritt, wirst
sein sanftes silbernes Licht auf Quentins Antlitz.
Der Kopf ist etwas zurückgesunken, der Mund ein
wenig geöffnet, — ein stiller Friede hat sich über
seine Züge gebreitet. — Den Frieden hat er erlangt,
aber nicht den Frieden, nach dem er so sehnsüchtig
getrachtet hat! — — —
Aus alter und neuer Zeit
Die Statuen am Bowlinggreen der
Karlsaue bei Kassel. Die ausgedehnte Gras-
fläche, die sich vor der Hanptfront des Orangerie-
schlosses in der Karlsaue bei Kassel befindet, führt
gleich manchen ähnlichen an andern Orten den
englischen Namen Bowling-green, deutsch Kegel-
platz. Zu hessischen Zeiten hat dieselbe manche
glänzende Heerschau gesehen, auch heute wird sie
noch öfter zu militärischen und verwandten Übungen
und Schaustellungen benutzt. Auch der bis Ansang
der 80er Jahre und dann wieder in 1895 ver-
anstaltete Festzug am Sedantage bewegte sich dahin.
Ter Bowlinggreen wird von einer Anzahl Statuen
umkränzt, die früher andere Standorte hatten.
Über ihre Geschichte und Bedeutung sei hier einiges
mitgeteilt. Wohlgemeinten Berichtigungen wird
dabei gern entgegengesehen.
An der Stelle der dem Friedrichsplatze zugewandten
Südseite des jetzigen Gartens der Kriegsschule sowie
der darau stoßenden katholischen Kirche und des
Gebäudes der Kriegsschule befand sich eine sehr starke
Bastion der unter dem Landgrafen Wilhelm IV. dem
Weisen angelegten Festungswerke, der sog. Zeug-
mantel. Sein Sohn und Nachfolger Moritz der
Gelehrte legte bald nach seinem Regierungsantritte
in dem freien Raume zwischen der genannten Bastion
und dem Schlosse (also im jetzigen Garten der Kriegs-
schule), welcher bis dahin zum Teile zum Bären-
graben benutzt worden war, für die Ritterspiele
littb ähnliche Sportübungen der vornehmen Jugend
in damaliger Zeit eine Rennbahn an mit
Jndizirhäuschen zur Abhaltung der Kritik (1593).
Letzteres wurde unter FriedrichI. abgebrochen (1734),
und aus der Rennbahn wurde unter Friedrich II.
ein P aradepla tz für das Militär. Der Bau-
meister Simon Ludwig Du Ry, der dritte in der
berühmten Künstlersamilie, erhielt den Auftrag,
denselben sv geschmackvoll als möglich herzurichten,
und der von ihm (1763) angelegte Zirkus, 750 Fuß
lang und 204 Fuß breit, mit Triumphbogen aus
der Nordseite und Arkaden und Kolonnade
gereichte der Stadt Kassel zur Zierde und kam
nach Niederreißung der Festungswerke, welche
(Dezember 1767) mit dem Zeugmantel begann, recht
zur Geltung. Verschiedene Statuen schmückten das
Werk, vor allem au den beiden Ecken der Nordseite
die zwei Rossebändiger, vom vaterländischen
Bildhauer Joh. Aug. Nahl bezw. beffen Sohn
Samuel Nahl gefertigt in freier Nachbildung nach
den beiden Koloffalfignren auf dem Monte-Cavallo
in Rom (in der Nähe des Königspalastes), sodann vier
römische Fechter, davon zwei als D i s k n s w e r s e r,
zwei als St ein schien derer, ebenfalls Nahlsche
Werke Verschiedene Zeichnungen und Pläne von
1. H. Tischbein von 1782 und 1783 veranschaulichen
die herrliche Schöpfung. Diese wurde unter der
westfälischen Fremdherrschaft, nachdem König Jörome
im alten Chattenschloß seinen Herrschersitz auf-
geschlagen hatte, arg verwüstet, und zwar wurde,
wie ein Zeitgenosse, Oberhofrat Dr. Ludwig Völkel,
klagend mitteilt, „die Kolonnade abgebrochen, um
den Schloßplatz zu erweitern, damit es nicht an
Raum fehlte, unsere Jugend in den Waffen zu
üben, die sie für die Unterdrücker führen sollte".
Nach Rückkehr des Kurfürsten Wilhelm I. wurden
die genannten Statuen in die Karlsaue versetzt*)
und zwar die vier römischen Fechter auf die lange
Steingallerie in der Orangerie und die zwei Rosse-
bändiger an die beiden Ecken der Nordseite der
vom Bowlinggreen zum großen Bassin führenden
Allee. Die um und auf dem Bowlinggreen befind-
lichen Bildsäulen, sämtlich von Sandstein und auf
Sandstein-Unterlagen, sind nun, vom Marmorbade
beginnend, nach Süden zu:
Auf dem Bowlinggreen : 1. Amazone mit Schwert ;
2. Venus mit Delphin und Hummer, als dem
Meeresschaum entsprossen, mit lächelndem Gesichts-
ausdruck; 3. Pomona mit Füllhorn und Früchten;
4. Flora mit Blumenkorb.
Zwischen Küchengraben und dem Mittel-Fahrwege :
5. Hades (Pluto), der Beherrscher der Unterwelt,
mit düsterm Gesichtsausdruck, und mit Füllhorn, in
*) Vergl. Pidcrit, Geschichte der Haupt- und Residenz-
stadt Kassel S. 146, 330 (Anm. 2j. — Jakob Hoff-
meifter, desgl. S. 126. 286, 287 (Anm.); Derf.: Rach-
richten über Künstler und Kunsthandwerker in Hessen
(Hannover 1883), S. 81. — Zeitschrift des Vereins für
Hess. Gesch. R. F. Bd. IX. S. 3i3. Anm. (Aufsatz von
Dr. SD un cf er). — Otto ©erlaub, Paul. Charles
und Simon Louis Du Ry (Stuttgart 1895), S. 92 u. 94.
262
welchem er den in der Erde verborgenen Reichtum
hat, Krone und Szepter in der Linken; 6. Göttin
des Friedens (Eirene), mit Kind auf dem linken
Arme, den Reichtum (jtaovrog) bedeutend, und
Frucht in der rechten Hand, ähnlich einer Statue
in der Glyptothek zu München, Gruppe des Kephi-
sodotns, Vaters des Praxiteles.
An den beiden Eckpunkten des Mittel-Fahrwegs:
7. und 8. die zwei Rossebändiger von Rahl.
Zwischen dem Mittel-Fahrwege und dem Hirsch-
graben: 9. Göttin Vesta mit dem Feuer zur Rechten;
10. römischer Liktvr mit Rutenbündel und Beil.
Auf dem Bowlinggreen bis zum zweiten bewohnten
Pavillon an der östlichen Seite der Orangerie:
11. Apollo mit Leier in der Linken; 12. Raub
der Proserpina durch Pluto mit dem dreiköpfigen
Höllenhunde Cerberus zur Seite; 13. Mann und
Frau, welche ersteren tränkt. Diese Gruppe wird ans
die Haft des Atheners Cimon, des Sohnes von
Miltiades, wegen Nichtzahlung der ihm auferlegten
Geldbuße bezogen, der im Gefängnisse dem Hunger-
tode preisgegeben und von seiner Halbschwester
gerettet wurde, deren späterer Ehemann die Schuld
zahlte. 14. Vulkan mit Hammer und Ambos.
Möchte Vorstehendes zur besseren Würdigung
der beschriebenen Kunstwerke beitragen, welche so
recht in die paradiesische Schöpfung der Karlsaue
hineinpassen, und sich der herrlichen Naturschönheit
derselben zur Seite stellen. <5. Neuvcr.
Die Kanzel in Ät. Katharinas zu Eschwege?)
Seit Kaiser Ottos Tage», „der Rote" zubenannt.
Ist auch im Werrathäle eia alter Ort bekannt.
9iarf) „Wegen unter Eschen", die dort man früher sah.
Erhielt er seine» Namen, so sagt die Chrvuika.
In diesem Städtchen ragt noch aus längstvergaugner Zeit
Ein altersgrauer Tempel. St. Katharin' geweiht,
Ter manchen Erdenpilger lind manches Menschenglück
Sah kommen, blüh'n und sinken zum Erdenschoß zurück.
Fast dreinndsiebzig Jahre die Werra floß ins Land,
Seitdem er ward begonnen und nach und nach erstand.
Als fertig Bauwerk steht er. gefügct nur ans Stein —
Zur Ehre unsres Gottes feit Fünfzehnhundertnenn.
Es stützen mächt'ge Pfeiler und Säulen voller Kraft
Die kühngewölbten Bogen in gvt'schcr Meisterschaft;
*) Hofphotograph O. Tellgmann in Eschwege hat die
Kanzel von verschiedenen Seiten photographiert, so das; jede
Aufnahme ein vollständiges Bild bietet. Auf dem Erce
bonio - Bild erscheint das am Pfeiler eingelassene und in
Stein gehauene Wappen des Stifters klar und deutlich.
Ta sämtliche Rclicfbilder Kunstwerke sind. haben die
wvhlgclnngcnen Aufnahmen besonderes Interesse.
Ein steinern' Kunstgebilde vor allem ist der Chor,
Wie hebt er uns're Seele so andachtsvoll empor.
Ane Schafte eines Pfeilers siehst Tn die Kanzel dort.
Wo seit vierhundert Jahren ertönt schon Gottes Wort.
Sic gelte als ein heilig', besond'res Denkmal Dir.
Alan sieht an ihren Seiten verfchied'ne Bilderzier:
Das Ecce Home vorne, mit Szepter. Dorneukron',
Tic Gottesmutter seitlich mit ihrem Gottessohn.
Tic bilderreiche Kanzel auch unsern Sinn bewegt.
Weit sie des edlen Stifters berühmten Namen trägt.
Herr Heinrich von Eschewc, der kurz auch Heinz genannt.
Ist uns aus der Geschichte als Kriegsheld wohlbekannt.
Auch heute noch erglänzet des Urahns Wappenschild,
Bei seines Stammes Sprossen die deutsche Treue gilt.
Des Ritters Enkel standen dem Fürstenhansc nah,
Mit Glanz und hohen Ehren man sie.umgeben sah.
Noch heut' sind sie geachtet, in Würde und in Kraft,
Im Heer, auf Ahnensihen als Zier der Ritterschaft.
_____________ X
In Nr. 199 der in Frankfurt a. M. erscheinenden
Zeitung „Tie Sonne" vom 26. August d. I. sind
unter der Überschrift „V o in letzten K tl r s ü r st e n
von Hessen" von I. B. Müller-Hersurth Mit-
teikungen über den genannten Regenten gemacht
worden, die nicht völlig zutreffend sind. U. a. wird
darin eine kleine Begebenheit wiedererzählt, in
welcher der Oberstallmeister von Eschwege, der
zugleich Oberst und Flügeladjutant des Kurfürsten
war, eine Hauptrolle spielt. Herr von Eschwege
wird hier als einfacher Stallmeister angeführt, der
„sich öfter in finanziellen Kalamitäten befand",
obwohl er zu den Hofchargen zählte und bekannt-
lich ein großes Vermögen besaß, sodaß er völlig
unabhängig leben sonnte. Obwohl die Geschichte
ebenso falsch als unappetitlich erzählt wird, wollen
wir sie doch in der Fassung der „Sonne" wieder-
geben, um daran wieder einmal zu zeige», wie
auch die kleinsten Thatsachen entstellt werden können.
Ter in Rede stehende Passus in der „Sonne" lautet:
„Zum Schlüsse meiner heutigen Plauderei will
ich noch bemerken, daß der Stallmeister, ein Herr
von Eschwege, den mau den schönen nannte, beim
Kurfürsten in großer Gunst stand. Er durste sich
viel erlauben. Eines Tages hatte ein Zirkusbesitzer
begonnen, ohne des Kurfürsten spezielle Erlaubnis
seine Bretterbude aufzuschlagen, weil ihm Herr
von Eschwege gesagt hatte, er wolle ihm die Per-
mission besorgen, er möge nur einstweilen mit den
Arbeiten anfangen. Herr von Eschwege vergaß
aber die kurfürstliche Einwilligung zu holen, und
als der Kurfürst von dem Zirkusbau vernahm,
wurde er sehr wild."
263
In dem nun zwischen dem Kurfürsten und Herrn
von Eschwege folgenden Gespräch bemerkt der letztere,
dos; er den Zirkusbesitzer, falls ihm die Erlaubnis
versagt werde, schadlos halten müsse, worauf der
Kurfürst erwidert:
„Na, dann lassen Sie ihn in drei Teufelsnamen
Weiterbanen, denn wenn Sie ihn schadlos halten,
Eschwege, muß ich die Geschichte ja doch bezahlen."
Eschwege ärgerte sich über die Logik des Fürsten
und begann alsbald stark zu husten.
„Was fehlt Ihnen, Eschwege?"
„Ich bin verschnupt (!), Königliche Hoheit."
„So! — Wie kommt das?"
„Es ist mir eben eine Mücke in den Mund
geflogen und die habe ich verschluckt?"
„Verschluckt!" ries der Kurfürst aus, der sich
ungemein leicht verekelte, und begann sich dann
heftig zu erbrechen. — Der Stallmeister, dem gar
keine Fliege in den Hals geraten war, hatte sich
gerächt und der kleinen Majestät ans dem Throne
Hessens die erhaltene moralische Backpfeife mit dem
Zirkusbesitzer aus seine Art zurückgezahlt."
Mit Bezug auf diese Darstellung schreibt uns
Herr Heinrich Jonas, der bewährte Kenner
altkasseler Verhältnisse und Begebenheiten:
„Seitdem in der Frühjahrsmesse des Sturmjahres
1848 der jugendliche Renz seinen Zirkus auf der
damals wüsten Rasenfläche hinter der Garde-dn-
Corps-Kaserne aufgeschlagen hatte, sahen wir durch
eine ganze Reihe von Jahren keine anderen Kunst-
reiter hier, hauptsächlich aus dem Grunde, weil
man dem Kurfürsten eingeredet hatte, daß durch
Zirkusvorstellungen die Kasselaner vom Besuche des
Hostheaters zurückgehalten würden. Dem Polizei-
direktor, bei dem zu allen derartigen Schaustellungen
zuvor die Erlaubnis auszuwirken war, wurde dem-
zufolge befohlen, der Aufstellung eines Zirkus oder
verwandten Unternehmens, von dem ein starker
Zuspruch der besseren Kreise zu befürchten war,
ein für allemal zu verbieten, und diesem Befehle
wurde vorkommenden Falles auch streng Folge
gegeben. Nun passierte es in der Frühjahrsmesse des
Jahres 1860, daß die Zirknsbesitzer Hütte mann
und Suhr hierher kamen und bei dem damaligen
Polizeidirektor Bernstein um Genehmigung nach-
suchten, Vorstellungen geben zu dürfen. Der unter
dieser Flagge segelnde Zirkus stand zuvor wegen
seines ausgezeichneten Pferde- und Künstlermaterials
in hohem Ansehen, hatte aber zu jener Zeit in
Südrnßland oder in der Türkei durch Unglücksfälle
so argen Schiffbruch gelitten, daß von all' der
früheren Herrlichkeit nichts übrig geblieben war
als außer wenigen ganz unbedeutenden noch zwei
Pferde von allerdings höchster Dressur, womit die
Besitzer sich elend durch die deutschen Lande schlugen
und entblößt von allen Mitteln hier ankamen.
Polizeidirektor Bernstein, der diese Armseligkeit
wohl nicht unter den Begriff eines Zirkus glaubte
bringen zu müssen, der den Besuch eines Kunst-
instituts wie unser Hoftheater zu gefährden im-
stande sei, gab ohne weiteres die Erlaubnis zum
Spielen, und so stand denn unter anderen Schau-
buden auf dem alten Kadettenplatze (Steinweg) ein
kleiner Zirkus von trauriger Gestalt in der Um-
hüllung von abgenutztem, rissigem und hundertfach
geflicktem Leinen.
Ter kurfürstliche Oberstallmeister von Eschwege,
dessen ritterliche, schöne Erscheinung uns Älteren
in lebendiger Vorstellung geblieben ist, ein echter
Kavalier von feinster Art, der nie niib nimmer
sich solche unpassenden plumpen Scherze dem Kur-
fürsten gegenüber erlaubt hat, wie sie in dem
Artikel der „Sonne" erzählt worden sind, hatte
schon vor Beginn der Messe durch seine Stall-
bediensteten Kunde von der Anwesenheit der Zirkus-
pserde erhalten, und als großer Pserdesrennd und
-Kenner machte er alsbald dem Zcltstall am Stein-
wege seinen Besuch und ließ sich die Pferde vor-
führen. Ganz entzückt von der Schönheit und
hohen Dressur der beiden Tiere, sicherte er für
sich und seine Freunde regen Besuch der Vor-
stellungen zu.
Der Polizeidirektor, welcher dem Kurfürsten jeden
Montag über alle wichtigen Vorkommnisse in seinem
Ressort Vortrag zu halten hatte, wurde nun sehr
ungnädig empfangen, weil er, dem kurfürstlichen
Gebote zuwider, dem genannten Zirkusbesitzer erlaubt
habe, Vorstellungen zu geben, was dem Kurfürsten
von übelwollender Seite sofort hinterbracht worden
war. Wie Bernstein sich auch bemühte, dem Fürsten
darzulegen, daß er durchaus nicht gegen seine Vor-
schrift gehandelt habe, da dieses ärmliche Zelt denn
doch ganz und gar nicht unter die Kategorie der
Zirkusse zu registrieren sei, es blieb bei dem strengen
Befehle, die Bude sofort abbrechen zu lassen. Bern-
stein mußte dem nachkommen, so leid es ihm für
die armen Menschen auch that.
Das gab nun gar großen Jammer. Die Leute,
die ohne einen Heller Geld gekommen waren, hatten
bisher alles auf Kredit entnehmen müssen und
wußten nun keinen Rat, wie sie diese Schulden,
die sie aus den bevorstehenden Einnahmen zu decken
gedachten, begleichen sollten. In seiner Verzweif-
lung wandte sich Hüttemann an Herrn von Eschwege,
ob er, der sich so freundlich gezeigt hatte, ihm
vielleicht aus seiner Not herauszuhelfen vermöchte.
Dieser sann darüber nach. Mit einer mäßigen
Geldunterstütznng war es nicht gethan. Da kam
ihm ein guter Gedanke, und er gab Hüttemann
einen Weg an, wie er den Kurfürsten, aus dessen
264
große Liebe zu den Thieren, insbesondere zn den
Pferden, er baute, zur Zurücknahme seines harten
Befehles bewegen könne.
Als der Kurfürst am nächsten Tage in Begleitung
des Herrn von Eschwege seine Ausfahrt durch die
Wilhelmshöher Allee machte und, wie er gewöhn-
lich zu thun pflegte, ansstieg und ein Stück Wegs
zu Fuß zurücklegte, stand Hüttemann mit seinem
schönsten und gelehrigsten Pferd in der Nähe des
langen Feldes, und als der Fürst herankam, ließ
dasselbe sich ans die Kniee nieder, einen Fußfall
markierend, während Hüttemann herantrat und
dem erstaunt stehen bleibenden hohen Herrn eine
Bittschrift überreichte. Ter Kurfürst trat dicht an
das Pferd, klopfte ihm freundlich auf den Hals,
wobei er wiederholt sagte: „Schönes Tier, schönes
Tier." Er gebot dem Besitzer, es ausstehen zu
lassen, versicherte ihn seiner Gewogenheit und ent-
ließ ihn.
Herr von Eschwege machte den Kurfürsten als-
bald mit dem Inhalte der Bittschrift bekannt,
unterstützte sie mit bewegten Worten, und die Folge
war, daß der Zirkus nicht abgebrochen wurde,
sondern daß noch eine rotsammetne Hosloge hinein-
gebant werden mußte zum angesagten und auch
stattgehabten persönlichen Besuche Sr. Königlichen
Hoheit. Hüttemann und Snhr verließen Kassel
mit einer ungeahnt reichen Ernte."
------—----------------
€ Sonndoagk off dr Suhre?)
lWetterauer Mundart.)
E steiler Sonndoagksmoarje zuck 2)
So heall eann blo, voll Himmilsglanz
Eann's Hesseland. Stell 3) stiht dr Pluck 4),
Tie Fricht reist schnhnd 5) zennn H Ährnekranz 7);
Dorch Moarjelofit eann 8) Himmilsdofft
Fihrt Gloackeklang ds Doalentlang
Eann hunch vom Bahm '') eamm Danneschloagk,
Singts Bihlche: haut12) eaß Feierdoagk!
Mir 13) säße früh als Sommergast,
Tie Suhre woar gebotst zonm Fest
Met alle Blomme gähl eann blo.
Kahn trauerig Gemoit woar do.
Bei zwanzig Groad die Welt per Road
Zonm Fest noochNäid.'3^) „Heil!" Wäidoas fläit!")
Eann aach met Wahn geng's sresch eann früh.
Die Setz '3), däi sein vo Ärmesstruh. 1T)
Off ahnmol konträr, her vo Näid,
Do hihrte merr 18) e Haareläid.
Eaß dann ds Moarjeland haut do,
Kimmt dann dr Kenig Pharao?
's giht met Wahn, doas muß merr sahn,
Eann schwoarze Keann 19) e Dozzelt 23) dreann,
Eann Haare 21) heanne, Haare voarrn;
Haut22) sein die Haare Herr bahl woarrn. So * * * * * * *
So zäie23) se eann die Welt ennaus,
Dr Wahld, der eaß ihr Sommerhaus,
Ihr Brohre24) fette Jhl25) eann Katze
Eann ihrlich sein se wäi die Ratze.
„Froh allezeit, ohn' Traurigkeit,
„Nur Geigenklang das Leben lang,
„Mir mache nooch dm Jwwerrhein 2Ö),
„Mir hun die Braut, 's soll Huuchzett sein!"
Wuihl honnert Mann, näit winger glaab,
Trahn27) häi de Beall-2^) eann Wanderstab.
Kahn Bleiwes 28) ohn kahn Platz off Eare,
Kahn Herzer eann kahn Heun2") zonm Beare39),
Kahn Glawe näit, nurts Haareläid;
Ds Bett eamm Groas, e Sekte doas!
Stihr wn e ahler Schinnerkärrn,
To leihe31) se, do sein se gern.
E steller Sonndoagkmoarje lügk
Eann Gloackeklang schallt dorch ds Feald.
Tie Haare läse dicht ohm Wägk
Eann rappilte met Doalergeald.
Off ahnmol auf dorch's Haarekraut
Zolim Jwwerrhein;
„Wir hun die Braut, 's schoadd32) alles nant,
„'s muß Huuchzett sein!"
Dr Zugk woar dorch. — Alles verrbei,
Nvochmeddongks kohm dr Bollezei33),
Jmm noochzeseahn, wäi's her hatt gange.
's woar noach alles voller Bange,
De Owed spott) imm halwer vacht,
Do woar merr noach eann ahner Foacht'"),
Eann beaß die Noacht imm halwer ahns
Bleabb 85) alles off, 's legkt sich Kahns.
Die Fra Baronin vo eann zou,
Däi hatt die Noacht kahn bessi3G) Rouh,
Der drahmt se schwihr vo Brahnd eann Mord,
Moarrn37) will se vo dr Suhre fort.
Toach Moarjets frvi38), wäi 's Bihlche schlugt,
Woarsch annerschter 39) — fort Brast eann Druck.
Die Miss wäiWörz^O); stolz leir eammDah47)
Salzhause eann dr Wearrera.
265
Tie Woachtinn") ftcit42), biiif aus emm Ruhr
2ci)lüt)t44> bahl c gahnzer Sengerchur.
Dr Wissgrond imm's Salinche l)cv,
Ter stroahlt als wäi e Perlemeer.
Segoar de ahle Äppilbehm
Eaß so e Moarje ohugeuehm.
Ts Erdreich scheckt aus däisem Grand
Te Salzborn: „trinkt uch hibsch gesond!"
Hott merr de halwe Weanter als
Eannn Bett gesteckt beaß ohn de Hals
Eann näit geweaßt etzt wäi eann wo,
Off ahnmol woar Gehanni do.
„Gepackt de Kuffert, ennans geschlappt,
„Salzhanse eaß ds best Rezept!"
Saalz aus emm Born, Melch vo dr Konh,
To seht merr gern drei Woche zou.
Gießen.
-------------
(— 's hott merr Ahner ohnvertraut,
E leichter Wein schoadd aach groad naut.
E Dotter woarsch, e Herr aus Gäiße.
Hen deht4"') sein Weinche aach genäiße.
Tr Atoselweiu könnt naut verderrwe
— Ach, alle Mensche mißte sterrwe —
Wer „Rosenberg" tränk und verstünde.
Begehe niemals eine Sünde.)
') Sode (Saline) ; 8) zog; 3) stille; 4) Pflug; 5) schon
') zum; 7) Erntekranz; 8) und; *) fährt; °) Thal
“) Baum; heute; wir; sstidda (Stadt!
'4> fliegt; "-Wagen; "-Sitze; 'h Erbsenstroh; wir
Kinder ; "-Dutzend; '') Heiden (Zigeuner) ; '*) heute
iaj ziehen; 24) Braten; 2:’) Igel; Überrhein ; 2’) tragen
2'") Bettel- ; '"-Bleiben; "-Hände;"") Beten; S1) liegen;
32) es schadet; 33- der Polizeidiener; 34- Furcht; 35) blieb
3<1) bischen;3T) morgen ; 3S) morgens frühe; 3S) war's anders
40) Würze; 4I) Tau; 42- Wachtel; 43) steigt; 44) schlägt
, ") er thäte.
Ar. von Trais (Ar. Möbius).
--------------
Aus Heimat und Fremde.
Schcnkllng. Die Witwe des kürzlich ver-
storbenen F ü r st e n W i l h e l m v o n H a n a u it n d
Horschowitz hat der Stadt Kassel zwei wertvolle
Ölgemälde zum Geschenk gemacht, welche die ehemals
berühmten Paraden in der kurhessischen Residenz-
stadt zum Motiv haben. Das eine derselben ist
von Handwerk gemalt.
Abschieds fei er. Der älteste Rat und lang-
jährige Personalreferent bei der Oberpostdirektion
in Kassel, Herr Geheimer Postrat Schreiner, tritt
am 1. Oktober nach einer fast 50jährigen Dienst-
zeit in den Ruhestand. Zu Ehren des hochver-
dienten Beamten fand am 28. September im Hotel
Schirmer ein Festmahl statt, an dem über hundert
Personen teilnahmen.
Jubiläum. Am 1. Oktober feiert die Hof-
schanspielerin Frau Marie von Mills-Milarta
ihr vierzigjähriges Jubiläum als Mitglied des
Königlichen Theaters in Kassel. Frau von Mills-
—--------<»•
hessische:
Grebe, E. R. Friedrich Wilhelm I., Kur-
für st v o n H e s s e n. Ein Beitrag zur Geschichte
seines Lebens und seiner Regierungszeit. Aus
Anlaß der hundertsten Wiederkehr seines Geburts-
tages. Kassel (Verlag von Carl Vietor, Hof-
buchhandlung) 1902.
Der Herr Verfasser hat sich in anerkennenswerter Weise
bemüht, dem Spruch „äs mortui« nil nisi bene“ gerecht
Milarta ist die letzte Darstellerin, die sich noch aus
der Zeit des Kurfürstlichen Hoftheaters in dem
Engagement der Königlichen Bühne befindet.
M el su n g er Fo r sta ka d em iker. Das „Mel-
sunger Kreisblatt" schreibt: Vor 50 Jahren hatten
sich die in der damals hier bestehenden, später nach
Münden verlegten Forstakademie abgehenden Stu-
dierenden verabredet, nach dem Verlauf von 50 Jahren
der Stadt Melsungen, in der sie zwei schöne Jahre
verbracht, wieder einen Besuch abzustatten. Diesem
Vorhaben sind die noch lebenden Herren treu ge-
blieben und haben sich am Mittwoch den 24. Sep-
tember in den Mauern unserer Stadt eingesundeu.
Von den damaligen 50 Studierenden befinden sich
noch 14 Herren am Leben und von diesen waren
12 erschienen, zwei durch Krankheit am Kommen
verhindert. Außerdem hatten sich zur Feier des
Tages eine große Anzahl Forstbeamte der früheren
hiesigen Akademie aus der näheren und weiteren
Umgebung und Freunde des Forstwesens eingefunden.
•«>---------
zu werden, hat sich auch bemüht, durch Quellenstudien zu
abschließenden Ergebnissen zu gelangen. Ob seine Ergeb-
nisse einwandfrei sind und ob nicht viele, die das Buch
in die Hand nehmen, sehr abweichender Ansicht sein werden,
diese Frage soll hier nur angedeutet werden. Auf mich
wenigstens hat das Buch nach den mir zu Gebote stehenden
Quellen und nach meinen persönlichen Erlebnissen einen
überzeugenden Eindruck nicht ausgeübt. Andere denken
ja vielleicht anders. Ein genaueres Eingehen auf den
Inhalt des Buches würde den mir hier zu Gebote stehenden
Raum überschreiten, und so schließe ich mit dem Wunsche,
daß weitere Forschungen den Herrn Verfasser zu mehr
allseitig besriedigeudeu Ergebnissen führen werden.
«Ml« Gertaud.
Roths Spezialkarte von Hessen-Nassau,
Oberhessen, Vogelsberg. Westerwald,
Taunus und L a h n t h a l. Tritte, gänzlich
neu bearbeitete Auslage. Maßstab 1:200 000.
Gießen (Verlag von Emil Roth) 1902. Preis
M. l,50, ausgezogen ausLeinwandin EtuiM.3.—.
Eine von 50 zu 50 m von tiefgrün bis dunkelbraun
abgetönte Skala der Höhenschichten ergiebt ein überaus
plastisches Bild der Landschaft, die vom Main im Süden
bis Battenberg und Homberg im Norden auf dieser Karte
dargestellt ist. Inmitten derselben liegt die von Süden
nach Norden sich verengende hessische Senke, von der daS
Lahn- und das Kinzigthal abzweigen. Östlich erheben sich
Spessart, Rhön. Vogelsberg und Knüll, westlich Taunus
und Westerwald. Die Aufführung aller Orte und Srtlich-
Personalien.
Verliehen: dem Postdirektor Buch zu Marburg,
bisher in Bvppard, der Rote Adlerorden 4. Klasse.
Ernannt: Regierungsrat von Engelbrechten bei
der Generalkommission zu Kassel zum Oberregierungsrat
in Bromberg; Landrat Lucke in Jnowrazlaw zum
Regicrungsrat bei der Königlichen Regierung zu Kassel;
Pfarrer Ni u h l zu Harmuthsachsen zum Pfarrer in
Wasenberg; Rechtskandidat Freiherr von Stumm zum
Referendar.
Versetzt: Ober- und Geh. Baurat Thelen von
Königsberg nach Kassel unter Verleihung der Stelle eines
Mitgliedes der Königlichen Eisenbahndirektion; Land-
rat von Baum dach aas dem Kreise Melsungen in den
Kreis Burgdorf (Lüneburg); Regierungs- und Forstrat
John zu Kassel an die Königliche Regierung zu Frank-
furt a. O.; Amtsrichter Dr. Zeddies von Spangenberg
als Landrichter nach Hanau; Bau- und Betriebsinspektor
Hentzeu von Kassel nach Halle; Kreissekrctär Thamer
zu Frankenberg in gleicher Amtseigenschaft nach Hersfeld.
Übertragen: dem Regierungs- und Forstrat Heiners-
dorff die Stelle eines Rcgierungs- und Forstrats lind
technischen Mitglieds der Regierung zu Kassel; dem Ober-
förster Kettn er zu Wünnenberg die Oberförsterstelle zu
Ödelsheim.
Überwiesen: der Direktor der Königlichen Baugewcrk-
schule zu Görlitz Kunz den Königlichen Regierungen zu
Kassel und Wiesbaden auftragsweise als Regierungs- und
Gewerbeschulrat mit dem Amtssitze in Kassel; Landmesser
B eh re iß zu Schmalkalden der technischen Vermessungs-
inspektion für Kiautschou; Referendar Albert Brink-
mann dem Amtsgericht in Hess. Oldendorf.
In den Ruhestand getreten: Oberbaurat Ballauf
in Kassel; Kreissekretär Heeg zu Hersfeld unter Bei-
legung des Charakters als Kanzleirat.
Geboren: ein Sohn: Dr. Ruschmann und Frau
Margarethe, geb. vonKnieriem (Marburg, 19.Sep-
tember); Dr. nied. Otto Eisenberg und Frau Bertha,
geb. Baumann (Schweinsberg. 22. September); Ober-
keiteu, Eisenbahnlinien, Landstraßen und Wege lassen die
Karte als besonders brauchbar für den Touristen erscheinen.
________ Jt, Gttd.
Braun. Christophine, Schillers Lieb-
lingsschwester. Ein Lebensbild. 192 S.
Berlin (Verlag von Friedrich Stahn).
Dieses neue Buch unserer durch ihre verdienstvolle Mit-
arbeit au den litterarhistorischen Werken ihres Mannes
(über Goethe, Schiller. Lessiug) bekannten Landsmännin
ist der Lektüre sehr zu empfehlen. Christophine war
Schillers älteste Schwester und an den herzoglichen Biblio-
thekar Reinwald in Meiningen verheiratet. Nichts lese»
wir Deutsche lieber als Biographien, und so bringt auch
dieses Lebensbild nicht nur dem Fachgelehrten Material,
sondern weckt auch um der Persönlichkeit selbst willen
unsere Teilnahme. Es ist wirklich ein liebes Buch. Viel-
leicht macht sich Frau Brau» noch einmal durch eine
vollständige Herausgabe der zahlreichen Briefe Christo-
phinens verdient. Das geradezu klägliche Papier macht
dem Verleger wenig Ehre. Keidelbach.
lehrer Wehmeyer und Frau Auguste. geb. Schäfer
(Biedenkopf. 23. September); Albert Dettweiler und
Frau Aennchen. geb. Prävnt pWintersheim. Rhein-
hessen); — eine Tochter: Dr. Wigand und Frau
Elisabeth, geb. Lühl (Clausthal, 18. September);
Dr. med. Siebert und Frau Sophie, geb. Metz
(Gurhagen, 22. September); Dr. med. Schaufler und
Frau Gertrud, geb. Birken stock (Winterbach in
Württemberg, 24. September); Pfarrer Theodor Sippel
und Frau Hildegard, geb. Stengel (Tann, 24. Sep-
tember).
Gestorben: Steuereinnehmer a. D. C h. M ö l l e r.
70 Jahre alt (Bettenhausen. 13. September); Rechnungs-
rat a. D. Adolf Luthmer. 80 Jahre alt (Kassel,
15. September); Fräulein Charlotte Schneider.
67 Jahre alt (Kassel. 15. September); Königl. Landgerichts-
direktor Otto A h l e m a n n, 54 Jahre alt (Kassel, 16. Sep-
tember); Rechnungsrat a. D. Theodor Feuerherd,
64 Jahre alt (Kassel. 16. September); Fabrikant Gustav
Jaenemann, 46 Jahre alt (Kassel, 17. September);
Fräulein Kathinka lc Noir (17. September); ver-
witwete Frau Staatsrat Emilie von Dehn-Rotfelser,
geb. Freiin von Wrede. 80 Jahre alt (Kassel, 19. Sep-
tember); Landessekretär Th. Nassall, 67 Jahre alt
(Kassel, 20. September); Frau Luise Klaunig, geb.
K launig, 88 Jahre alt (Kassel, 20. September); Apotheker
Dr. phil. Karl Haverbeck. 50 Jahre alt (Kassel,
24. September); Fräulein Elise Breiding, 71 Jahre
alt (Wilhelmshöhe, 24. September); Vorsteher des Bürger-
ausschusses Dionys Reit. 82 Jahre alt (Fulda, Sep-
tember); Eisenbahilsekretär a. D. Rechnungsrat Adolph
V i e h l, 78 Jahre alt (Kassel. 25. September); Privat-
mann Hermann Reinhard, 66 Jahre alt (Wahlers-
hausen, 26. September); Königlicher Baurat Fabrikdirektor
Gustav L e i ß n e r (Kassel, 28. September).
VG^ Aus die dem heutigen Heft von der N. G.
Elwertfchen Verlagsbuchhandlung in Marburg bei-
gelegte Empfehlung des Romans „Leute vom Burgwald"
von unserem Mitarbeiter Valentin Traudt machen
wir hiermit aufmerksam.
Für die Redaktion verantwortlich: W. Bennecke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.
Unser Kampfgenosse.
Schon legt der Winter die starre Band
11 "iit dröhnendem Schlag auf der Berge Band,
Und sein weißes Baar, das flattert im Sturm
Wie Nebelkrciscn um Berg nnd Turin,
Und sein starres, stählernes Auge schaut,
Das; es den ängstlichen Seelen graut,
Und die Raben hocken auf Baum und Stein,
Als bräche das letzte Gericht herein . . .
Aus dein Nachbargarten klingt leise es her:
„Wenn ich, wenn ich ein Döglein wär'!"
Ls singt's wohl die Kleine den Winden vor,
pflückend der Astern verbleichenden Flor . . .
„Wenn ich, wenn ich ein Döglein wär'!"
(>)uäle, quäle dich nicht zu sehr —:
So drohend der Winter die Fäuste auch streckt,
Sich selbst dann über die Berge reckt
Und alle seine Gesellen weckt,
So mutig wappnen wir unsere Brust —
Und entgegen geht es dein Feind voller Lust,
Und wir halten uns tapfer in Nacht und pein —:
Unser Kampfgenosse heißt Sonnenschein!
Wie sie nun auch so herzlich lacht!
Recht so! — Das ist die geheime Nacht.
Deren der Lenz im vertrage gedacht
Und die er uns für den Fall verlieh,
Daß des Leides zehrende Melodie
Uns plage, wenn er in fernem Land . . .
Recht so! — Nun mag auch die starre Band
Sich legen auf nebliger Berge Rand,
Treu halten wir aus in Nacht und pein —:
U n i e r K a m p f g e n o s s e hei ß t S o n n e n s ch ein!
Uothxnditmold. Valentin Lrandt.
» » »
Per Mutter.
M Mutter — wie viel Liebe liegt mit Dir im Grab!
0 Mutter — wie viel Schleier schlägt uin inich Dein
Schlaf!
0 Mutter, deren Tod mich wie ein Blitzstrahl traf:
Die Thränen nur und Träuinc nahmst Dn nicht hinab!
Die ließ'st Dn mir. Und die ich Tags geweint, die Flut
Der Thränen, trocknet Nachts ein treuer Traum von
Dir.
Ich fühle Deinen nahen Geist. Dn bist bei mir,
Legst mir die liebe pand aufs Berz. — Ich schlafe gut.
Gberklingen. Karl Ernst Knodt.
Lschwege im öreitzigjährigen Kriege.
Von Wilhelm Kolbe.
i-Lchluß.)
Rach den gleichzeitigen Aufzeichnungen des Pfarrers
Ludolf in Niederhone hausten die Kroaten bis
zum Juni in der Umgegend Eschweges, „schleppten
viele Leute mit weg, Manns- und Weibspersonen,
marterten und peinigten auf türkisch, henkten Ein-
wohner an Händen und Füßen auf, spannten sie !
in Wannen, wie Jost Schwarzmann begegnet, i
plagten sie, bis sie eine Summe Geldes versprachen, >
und schossen sie nieder, wenn sie dieselbe nicht zu- j
zusammenbrachten, gleich Hunden und Katzen. >
Dem Martin haben sie die Fußsohlen mit Prügeln !
von den Füßen geschmissen. Sie steckten in Brand !
das Pfarrhaus zu Niddawitzhausen,, über 80 Häuser
in Reichensachsen, etliche Häuser in Öttmannshausen
und Hoheneiche, über die Hälfte des Dorfes Wich-
mannshausen nebst den Jnnkerhänsern daselbst und
die Stadt Sontra".
Die Kroaten wurden abgelöst von den Kaiser-
lichen des Generals von Hatzfeld, der durch
Niederhessen zog und besonders Stadt und Amt
Eschwcge stark plünderte. Raub und Brandschatzung
nahmen nun bei den häufigen Durchzügen kein
Ende. Die Kaiserlichen unter Götz und die
Schweden unter Banners Führung überboten sich, I
von dem verarmten Volke das Letzte zu erpressen. !
Ihren Höhepunkt erreichten die Greuel des
Krieges nach dem Beschluß des Regensburger
Kurfürstentages: Landgraf Wilhelm war abgesetzt, '
das Land herrenlos, der Willkür zügelloser Soldaten- j
Horden preisgegeben. In dieser Periode der herren-
losen, der schrecklichen Zeit fällt der größte Unglücks-
tag, den die Geschichte der Stadt Eschwege während
des ganzen Krieges zu verzeichnen hat.
„In Eschwege", schreibt Pfarrer Schmincke in
seiner Geschichte der Stadt Eschwege S. 243ff., „War-
ans Gründonnerstag 1637 eben, wie herkömmlich, ;
die Spende Corporis Christi ausgeteilt worden, als
der Schreckensruf von der Ankunft der Kroaten ;
erscholl. Die Besatzung unter Ludwig Gei so wich
aus und es erfolgte eine allgemeine Ausflucht der
Bewohner aus der Stadt und der Umgegend, welche
teils nach Kassel oder andern sicheren Orten, teils
in dunkeln, entlegenen Waldschluchten, namentlich
des Schlierbachs, sich bargen. Das 1100 Häuser
zählende, schon mehr als zwanzig Mal ansge- j
plünderte Eschwege war menschenleer geworden;
nur Alte, Lahme und Gebrechliche waren im
Hospital und Siechenhause zurückgeblieben und
außerdem wenige, die sich nicht von ihrem Herde
trennen konnten. Jetzt zogen die Kaiserlichen ein
und alle Greuel begannen und dauerten von
Ostern an 14 Tage lang. Ans alle Weise wurde
gemordet. Gebrechliche in den Rauch gehenkt, ncht-
nndzwanzig Unglückliche im Backofen oder am
Feuer gebraten, andern die Fußsohlen aufgeschnitten
und mit Salz bestreut. Selbst in den Kirchen
wurden die gemordet, welche dort ein Asyl gesucht
hatten. Auch der Toten wurde nicht geschont:
die schwedischen Obristen Abelmodn und Rachels-
dors, welche 1636 in der Altstädter Kirche bei-
gesetzt waren, wurden ausgegraben und ans einem
Kohlenhausen verbrannt. Einige ansgebrochene
Fenersbrünste wurden von den Kroaten gelöscht,
weil man erwartete, daß Abgeordnete des Land-
grafen oder der Stadt diese durch Erlegung einer
Brandschatzung würden zu retten suchen. Da dieses
nicht geschah, so wurde Eschwege am 20. April
an mehreren Orten angesteckt, zugleich mit mehreren
Dörfern der Umgegend und in wenig Tagen lag
die Stadt in Schutt und Asche. Aus den Trümmern
ragte empor das Schloß, in welchem Geleen seine
Wohnung genommen und ans welchem kostbare
Gemälde geraubt wurden, die Neustädter Kirche,
das Hochzeitshans, die Cyriakuskirche und vierzehn
elende Hütten, sowie viernndzwanzig (nach anderer
Angabe 29) Scheuern in der Nähe der Mauern.
Die Dyonisienkirche stürzte über der stark gewölbten
Fürstengrnft zusammen und der Nikolaiturm brannte
etliche Tage wie ein Licht; auch fand das Augustiner-
kloster seinen Untergang. Schon sollten die Pech-
kränze an der schönen Nenstädter Kirche angezündet
werden, da machte ein katholischer Priester dem
kaiserlichen Befehlshaber dringende Vorstellungen,
dieses Gebäude zu schonen, indem nun doch bald
alle Ketzer zum katholischen Glauben zurückkehren
würden. Selbst die Stadtmauern waren so zer-
stört, daß noch 1657 dieselben an mehreren Orten
mit Dörnern zugelegt werden mußten. Die Stadt
war dergestalt verwüstet, daß man vor Schutt
keine Straße mehr finden und ans dem Markte
269
wie auf einer Wiese Heu machen konnte; am
Cyriaksberge war so viel Gestrüpp aufgewachsen,
das; sich die wenigen Einwohner nachher dort bei
Überfällen zu verbergen suchten. So war Eschwege
in den Flammen untergegangen, die Bürgerschaft
hatte sich zerstreut und der einst so blühende Ort
war eine Stätte des Jammers geworden. Nach-
dem die Kannibalen sich entfernt hatten, kehrten
manche der Flüchtlinge zurück und suchten anfangs
Obdach in den Kellern mitten in den Trümmern.
Der Mangel. die ausgestandene Augst und das
Elend erzeugten Krankheiten und nur wenig ge-
sunde Menschen wurden angetroffen. Dazu kamen
Füchse aus Wald und Feld, griffen die Menschen
au in ihren Zufluchtsstätten und quälten sie, ebenso
Hunde, welche vor Hunger und vom Genusse des
Menschenfleisches (!) rasend geworden waren. Ta
sehr viele nicht wieder zurückkehrten, ging der Wieder-
aufbau der Stadt nur langsam von statten. Wie
klein der Rest der Bürgerschaft im Jahre 1638
war, läßt sich daraus schließen, das; im ganzen
Jahre nur sechzehn Kinder getauft wurden." *)
Neue Schrecken brachte der Aufenthalt Ba uners
über die Werralandschaft. In nächster Nähe
Eschweges lagerte er erst am rechten, dann am
linken Ufer der Werra. Pfarrhäuser und Edelsitze
wurden bis auf den Grund zerstört, dem Land-
mann das letzte Stück Vieh, die letzte Frucht ge-
raubt. So klagt der Pfarrer von Niederhaue,
das; ihm von 85 Ackern nicht so viel Stroh ge-
blieben wäre, daß er darauf hätte ruhen können.
In Reichensachsen war „das Winter- und Sommer-
feld gant; von den Kriegern hinweggenohmeu
worden, das mau auch nicht erkennen können an
manchem Ort, was und ob Frucht da gestanden.
Umb die Berge her und an entlegenen heimlichen
Feldern haben wir eine geringe Nachlese funden,
das man etwa ein Par mahl davon in die Mühl
thun können; daraus eine große Theurung und
Hunger erfolgt. Das Malder Korn kostete
6 — 7 Thaler; es kam aus Polen über Bremen."
Obwohl die Schweden nach etwa sechs Wochen
die Gegend verließen, dauerten die Beunruhigungen
dennoch fort. Ludolph versichert: „Ob wir nun
wohl (nach dem Abzüge der Schweden, d. V.)
daheim gewest, so hat sich doch niemand getrost
*) Diese lebhafte Schilderung hat Schmincke, wie er
berichtet, nach handschriftlichen Nachrichten des zeitgenössischen
Pfarrers Ludolf zu Reichensachsen gemacht, die derselbe
ursprünglich in der Wildnis mit Rötelstein auf einzelne
Zettel zeichnete. Das Manuskript befindet sich in der
Ständischen Landesbibliothek zu Kassel. Weiter folgte
Schmincke den Aufzeichnungen des Altstädter Pfarrers und
nachmaligen Superintendenten Hü ttervdt in einem Kopial-
buch der Allenbörfer Snperintendentnr, sowie handschrist-
lichen Chroniken.
dörffen sehen lassen, deil die Streifferey so stark
hin und wider gangen, das man nicht gewust, was
j vor Bolck. So haben Freund und Feind Brodt
j und Kleider, Pferde und Vieh weggeuohmeu. Es
! hat sich einer hier, der ander dort vf den Bergen
iil Hecken und Wildnussen gegen den Winter sein
i Huttlein gemacht, mit Weib und Kind, Tag mib
; Nacht vshalten müssen, da haben wir gewohnt,
gekocht, predigt, Betstunde oftmahle, auch wohl
Tauff verrichtet."
Ein gefährlicher Bundgenoß des Feindes war
die Teuerung. „Zu Eschweg war auch oft weder
Brodt noch Korn zu bekommeil, das wir (aus
Reichensachseu) in den grossen Ängsten vvrtgelauseu
nach Alleudorf, da wir ein Schiff antroffen, vild
dlirch grosses Gedrängt iiitb List darzu kommen,
das wir in den Säckeil das Geld in das Schiff
geworffen nnb ein jeder ein wenig Korn erhalten.
Ausflüchte halten an von Pfingsten bis zum Ende
dieses Jars. Kurtz vor Christag sind wir etwas
zil Ruhe kommen, das wir in die Kirch kommen
können. Sonst den ganzen Sommer haben wir
mit großer Gefahr die Arbeit gethan, des Nachts
in den Bergen und Wildnussen unser Schlaf-
cammerleiu gehabt. Oft haben wir uns gewagt,
den Sontag unsere Versammlung in der Kyrch
zn haben, aber ist nicht in die Kyrch geleutet
worden, dreymahl an die große Glock geschlagen
ist das Zeichen gewesen, znr Kirch zu kommen,
welches Zeichen die Partheyen, so vom Eichsfelde
hero ufgepasset, nicht verstanden, haben vielmehr
gemeinet, als ob wir von ihnen wußten, mib
geben das Zeichen daraus, das jedermann ans dem
Wege gehen nnb fliehen solle. Dieser Modus des
Kirchenleutens hat ein halb Jar gewehrt bis nach
Martini, da eine Kayserliche Salvaguard in
Eschweg gelegt worden, sind wir aus den Bergen
iil grossem Regenwetter und Kälte ufgebrocheu
und haben mit grosser Gefahr die Stadt erreicht.
Viele vor und hinder uns sind auf der Strassen
ertappet und geplündert worden, dadurch sie uf
ein newes umb alle das ihrige kommen. Kurtz
vor Christag von Eschweg sint wir wider heim
kommen, haben einen elenden Winter gehabt und
einen Auslaus über den anderen gehalten. Sint
keine Stunde zu Tage oder Nacht sicher gewesseu.
Da sind so viel Leute hinweg gangen, sich theils
in die Pfaltz, theils nacher Bremen und daherumb
in's Land zu Braunschweig, Hollstein und in
Hamburgk begeben, das 10 Wittfrawen und etwa
26 Mann im Dorfs geblieben, die der Gemein
Bestes vertretteu und ausgehalten haben. Da hat
mancher feinen Acker Land umb ein Liemas Korn
feil gebotten. Da ist das Rathhaus vvrtgangen
vor 60 Thaler, so au Coutributiou und Brand-
270
schatzung uf's Eichsfeld gegeben werden mußte. Da
hat man ein Hans oder Scheuer vor ein Scheffel
oder Malder Korn oder etliche verkaufst. — Anno
1642 hat alles Elend so stark continuiret, wie
im vorigen Jar, das nunmehr alle Trübsalen härter
gedruckt, jemehr dieselbe uf vorigen Schlag sich
geheuffet haben. In solchen Zeiten hat man Kind-
tausfen und Kirmessen gehalten ohne Fleischsuppen,
ohne gesotten und gebraten. Es ist ja wohl mehr
als ein Jahr hingegangen, daß ich, der Pfarrer
nicht Ein Gericht Fleisch ns meinem Tisch haben
können. ... Es continuiret noch der Mangel
des Viehes, kein Schwein, kein Gans im Tors zu
finden, dahero auch der Steinweg noch mit grünem
Klee überwachsen, darzu mit Korn, Hafer und
Gersten. Ein Acker Graß vom besten hat man
können zu Kauf bekommen vor ein Kopfstück
oder vor zwei Brvdte, auch oft vor 1 Brodt
u. s. w........."
Noch öfter wurden bis zum Ende des Krieges
Bürger und Bauern in Schrecken gesetzt, noch oft
mußten sie Haus und Hof verlassen, um sich vor
der Mordgier entmenschter Raubzügler zu bergen.
Nachdem 1646 die Schweden unter Wränge!
und Löwenhaupt in Amt und Stadt Eschwege
gehaust hatten, und sodann die fast menschenleere
Landschaft noch von dem kaiserlichen Oberbefehls-
haber Melander heimgesucht worden war, da erst
hatte sich die Kriegssurie ausgetobt.
Als ihr endlich der westfälische Frieden die
alles verheerende Brandfackel entrissen hatte, war
die einst blühende Stadt ein Trümmerhaufen.
Die Erwerbsquellen ihrer Bürger waren versiegt
oder auf lange Zeit verschüttet.
-------------------
Alfred Bock.
Von Alexander Burger.
ls vor einigen Jahren die alte Heimatkunst zu
frischem neuen Leben erwachte, sprach man die
Besorgnis aus, daß auch sie bald dem Philistertum
verfallen würde, jener Richtung in der Litteratur,
die ohne lieferen Kuustwert dem augenblicklichen
Unterhaltungsbedürfnis dienen will und zur Hervor-
bringung harmloser und gemütlicher Situationen
sich ihre Stoffe meist aus den Kreisen der Klein-
städter und Landbewohner sucht. Diese Befürchtung
war nicht so ungerechtfertigt: wenn die neue, alte
Richtung sich liebevoll aller derer annahm, die in
irgend einem Dialekte schlechte Lieder zum Preise
ihrer Heimat sangen, wenn sie alle die Dichter, die
ans ästhetische Wirkungen verzichtend nur durch
das Zuschaustellen ihrer Liebe zur Heimat den Lorbeer
erringen wollten, liebevoll unter ihre Fittiche nahm,
daun mußte auch die neue Heimatkunst zu Grunde
gehen, wie es der alten geschah und — eine neue
Richtung war wieder einmal „überwunden". Das
konnte und kann auch jetzt immer noch der Fall f
sein, wenn sich eine gesuchte Liebe zur Heimat
breit machen wollte, wenn der Dichter nicht mit
ganzem Herzen an ihr hängt, sondern eben nur,
weil es einmal so Mode, sich dem neuen Geschmacke
zuneigt. Niemals aber kann und wird die Heimat-
kunst im edelsten Sinne des Wortes verschwinden,
wenn Dichter, mit ganzem Herzen an ihrer Heimat
und ihrer Eigenart hängend, auch in künstlerischer
Hinsicht nach jener Vollendung streben, an die allein
der Maßstab ernster Kritik gelegt werden kaun,
wenn sie zu jener Höhenkunst hinanstreben, die allein
den Tag überlebt, wenn sich mit einem Wort Liebe
zur Heimat und tiefes ästhetisches Empfinden innig
berühren. Dann muß und wird die Heimatkunst
ihren edelsten Beruf erfüllen können, der darin be-
steht, unserer deutschen Litteratur wieder die Kraft
zuzuführen, die das Grvßstadtlebeu, die Cliquen-
wirtschaft, jene wahrhaft widrige Erscheinung der
neueren Zeit, ihr entzogen.
Es ist völlig natürlich, weil den ganzen Ver-
hältnissen entsprechend, daß die Heimatkunst zuerst
in den kleinen Städten und auf dem Lande festen
Fuß fassen tonnte, also überall da, wo noch ein
inniger Kontakt mit dem Lande und seinen Be-
wohnern besteht. So haben denn die Provinz-
litteraturen naturgemäß die meisten Heimatdichter
zu verzeichneil. Und auch wir in Hessen haben
manchen Namen, der mit goldenen Letteril in der
Litteraturgeschichte unseres Landes verzeichnet ist,
aber auch manchen Dichter, der die Leyer zum
Preise des engeren Vaterlandes schlug und dessen
Bedeutung doch nicht über den Augenblick hinaus-
ging. Tenn das ist ja ein charakteristisches Merk-
mal der Heimatkunst, daß zu viele Unberufene sich
ihr zugesellen und daß der große Gedanken der
Dichtung verschwindet unter dem Wust von
Worten, der vielleicht einem Dialekte sehr genau ent-
sprechen mag, aber doch eine rein künstlerische Wirkung
nicht auskommen läßt. Charakteristisch ist es auch
hier wieder, daß bei uns in Hessen das lyrische
Gedicht, die kurze Erzählung und Novelle so viele
Vertreter gefunden, daß aber der Roman großen
Stiles, der in vollendet künstlerischer Weise auch
das heimatliche Milieu zu wahren weiß, deren nur
271
eine geringe Anzahl aufzuweisen hat. Nur wenige
Namen sind aus der ganzen hessischen Litteratur-
geschichte der älteren Zeit anzuführen und aus der
neueren, aus der lebenden Generation wüßte ich
nur zwei zu nennen: Alfred Bock und Wilhelm
H o l z a m e r.
Mein Aufsatz soll von Alfred Bock allein
handeln, wenn auch die Versuchung nahe gelegen,
die beiden Schriftsteller hier einander zu vergleichen.
Otto Müller hat einmal in einem seiner Werke,
der kleinen packenden Erzählung „DerTannenschütz"*),
ausgerufen: .„Die Heimat läßt nicht von uns los,
so weit und lange wir uns auch von ihr entfernen
mögen." Diese Worte möchte ich meinen Aus-
führungen über Bock voranstellen, denn auch er hat
zuerst den Lorbeer auf anderen Gebieten, außerhalb
der Heimat gesucht, bis auch ihm das Bewußtsein
seiner Stammeszugehörigkeit zu einem braven, kernigen
Bolksschlage packte und er in dieser Stimmung den
oberhessischen Bauern in die Litteratur einführte.
Otto Müller, über den ich in Nr. 22 des letzten
Jahrgangs ausführlich sprach, hat dieselben Be-
strebungen ja auch gehabt. Aber hier ergibt sich
schon der rein formale Unterschied, daß Müllers
Personen aus allen Lebensklassen genommen, ja in
der Mehrzahl den Kreisen der „besseren Stände"
angehören, während Bock mit wenigen Ausnahmen
seine Helden aus den Kreisen der Landbewohner,
also der Bauern und der städtischen Arbeiterschaft
entnimmt. Diese rein äußerliche Verschiedenheit ist
charakteristisch für den Dichter Bock. Er vermag
sich so in das Volkstum seines Stammes zu ver-
senken, daß anders geartete Figuren gar nicht auf-
kommen, er vermag sich so in einen Dialekt zu
vertiefen, daß er ihn auch dann nicht verläßt, wenn
er mit seinen eigenen Worten etwas erzählen will.
Wir finden überall in Bocks Werken, die ausgesprochen
aus heimatlichem Boden entstanden, das tiefste und
liebevollste Sichversenken in das Gemüt des Volkes,
das innigste Vertrautsein mit all den Sorgen
und Mühen, die das tägliche Leben, ganz besonders
in diesen Kreisen mit sich bringt. Und hier möchte
ich auch wieder auf ein Wort Otto Müllers ver-
weisen. In seinem schon genannten „Tannenschütz"
läßt er den Pfarrer die ebenso schönen wie richtigen
Worte sprechen: „O ihr glaubt nicht, wie gerade
im gemeinen Volke das rein Menschliche in seinen
guten und schlimmen Seiten oft viel großartiger
und poetischer zu Tage tritt wie dort, wo das
Leben der sogenannten gebildeten Stünde mit seinem
Lurus, seinen Rücksichten und Formen die ursprüng-
liche Naturanlage und Individualität verwischt und
*) „DerTannenschütz", Vertag vvn Adolf Bonz ^ Comp.
Stuttgart 1883. (4. Ausl.)
den angeborenen Charakter oft in sein gerades
Gegenteil verkehrt." In dem Hervorkehren des
rein Menschlichen liegt aber auch das, was Bock
und mit ihm so viele der modernen Schriftsteller
von den „Dorsnovellisten" entfernt. Hier kraft-
volles Sichversenken auch in die Schwächen des
Landbewohners, dort sentimentales Hervorkehren und
Hervorsuchen nur der guten Eigenschaften. Ta tritt
es denn bei Bock nun thatsächlich ein, daß sich die
Grenzen zwischen Realismus und Heimatsknust zu
verwischen drohen,, aber niemals triumphiert der
Realismus. Bock ist Realist durch und durch, in-
sofern auch, als er das innige Bestreben zeigt, dem
Seelenleben seiner Helden gerecht zu werden. Seine
letzten Romane sind durchweg psychologischer Art.
Niemals geht er aber über die Grenzen der Ästhetik
hinaus, niemals wird sein Wahrheitsdrang zum
Naturalismus. Er giebt uns dörfische Sittenbilder
teilweise mit krassen Farben, er schildert eben, ich
kann das nur immer wiederholen, das Leben, wie
es ist. Hierdurch steigt er aber zu höheren künst-
lerischen Sphären, hierdurch erhebt er sich über
den Boden des Dorfromanes zum Romane großen
Stiles, ohne aber das Heimatsgefühl zu vergessen
und sich der heimischen Erde abzuwenden. So
weht in allen seinen Werken ein frischer Erd-
geruch......... Bock ist ein Freund psychologischer
Probleme, stets vertieft er sich ins Seelenleben seiner-
handelnden Persönlichkeiten und nie bleibt er an der
Oberfläche bloßer Beschreibung. Charakteristisch für
ihn sind die in allen Werken wiederkehrenden Mono-
loge, die, teilweise auch in leichtem Dialekt geschrieben,
das ganze Dichten und Trachten der Personen vor
uns eröffnen. Hierin liegt etwas zu Natürliches,
und gerade die an vielen Stellen angewandte Mund-
art läßt uns die ganze Situation als eine ganz
natürliche vor unserem geistigen Auge erstehen.
Man kann ja geteilter Meinung darüber sein, ob
der Dialekt an Stellen, wo die Personen des Romans
nicht selbst sprechend auftreten, notwendig sei. Ich
muß gestehen, daß ich im allgemeinen der Ansicht
war, daß der Dialekt im ernsten Romane nur im
Dialoge zu verwenden sei. Ich will aber Bock
gerne zugestehen, daß, die Berechtigung des Dialekts
überhaupt anerkannt, er vollständig mit Recht ge-
handelt hat, wenn er die Gedankengänge seiner
Personen auch in dialektisch gefärbter Weise vor-
bringt. Denn niemals wird eine Persönlichkeit,
die sonst eine Mundart spricht, aus einmal, wenn
sie mit sich in Gedanken verkehrt, ansangen hoch-
deutsch zu sprechen resp. zu denken. Es bleibt
natürlich auch hier der Dialekt bestehen, und da-
durch, daß Bock dieses erkannt und angewandt, hat
er eine große Natürlichkeit einerseits und freiere'
Beweglichkeit andererseits erzielt. Als Beispiel für
diese Art Monologe führe ich die Gedanken Jakobs
im „Flurschütz" an, eine prächtige Schilderung, die
uns das ganze Seelenleben des jungen Mannes enthüllt.
Noch etwas Allgemeines möchte ich, bevor ich zu
den einzelnen Romanen übergehe, als anerkennens-
wert für den Schriftsteller Bock hervorheben. Es
ist dies ein Punkt, der besonders für unsere schnell-
lebige Zeit dankenswert ist. Ich meine das: Bock
ist kein Freund lang ausgesponnener Erzählungen.
Seine Romanbünde enthalten sämtlich nicht viel
über 100 Seiten. Ohne unnützes Wortgeschwütz
entwickelt sich die Handlung, kraftvoll dahinschreitend
und dem Ende zueilend. Jetzt möchte man aber
freilich auch fast kein Wort missen. Was in den
kleinen Bänden steht, gehört unbedingt zur Handlung.
Bocks dichterisches Wirken können wir in zwei
Perioden teilen. Tie erste beginnt mit der Aus-
gabe eines Bandes Gedichte und schließt mit dem
Schauspiel „Ter Gymnasialdirektor". Zu ihr ge-
hören eine Reihe Lustspiele und Schwänke, die
Bock teils allein, teils in Verbindungen mit Anderen
verfaßte und die hier aus begreiflichen Gründen
nicht näher betrachtet werden sollen. Die zweite
Periode beginnt dann mit der Ausgabe der Novellen-
sammlung „Wo die Straßen enger werden" und
schließt mit dem erst vor einigen Wochen erschienenen
Romane „Kinder des Volkes". Zn ihr gehören
alle Romane, die natürlich auch sämtlich in nach-
folgenden Zeilen besprochen werden sollen. Ich
werde mich bei der Besprechung nicht an die Zeit des
Erscheinens der einzelnen Bände halten, sondern sie
mehr ihrer inneren Zusammengehörigkeit nach be-
trachten.
(Fortsetzung folgt.)
t
-■»-»—
Alte Akten.
Ara bestaubte alte Akten
Lagen auf dein Bodenzimmer;
Um sie abzusenden, packten
Mir sie ein. Ade für immer!
fncrbct tanzten die Gedanken
ITItr so sonderbar im Kopfe;
Mild gewachs'ne Sehnsuchtsranken
Faßten rücklings inich beim Schopfe.
Gerne hätt' ich wissen mögen,
Mas die Ulkten da enthielten
Mit den längst vergilbten Bögen,
Die so traurig nach mir schielten.
Frankenberg.
-------------4BH&-
Melche Fülle regen Strebens
Mar in jeden Band gebunden!
Mancher Mechselfall des Lebens
Uatte hier sein Grab gefunden.
An das Merden uild vergehen
Mußten mich die Akten mahlten . . .
Dn auch, eh' Du Dich's versehen,
Manderft einst zu Deinen Ahnen.
Meint Kollegen, alt und bieder,
Ihren Schritt zutn Ruh'stand lenken,
Muß ich stets von neuem wieder
All die alten Akten denken.
C. firandjot.
Gemälöe-Lrwerbungen unter Kurfürst Wilhelm II.
Von Dr. Carl Schwarzkopf.
^er schönste Schmuck unserer Vaterstadt Kassel
U ist unzweifelhaft die herrliche Bildergallerie,
die uns von dem regen Kunstsinn unserer hessischen
Fürsten heute noch glänzende Kunde gibt. Im
allgemeinen nimmt man an, daß nur die hessischen
Landgrafen die eigentlichen Förderer künstlerischer
Bestrebungen in unserer engeren Heimat gewesen
sind und daß die letzten Kurfürsten für die Blüte
und das Gedeihen der bildenden Künste nur geringes
Interesse an den Tag gelegt hätten und, abgesehen
von den Aufwendungen für das kurfürstliche Hof-
theater, nur geringe Summen für künstlerische
Zwecke aus ihrer reichen Apanage oder ihrem
Privatvermögen gegeben hätten.
Was indessen den Kurfürsten Wilhelm II.
angeht, so scheint derselbe doch gerade kein Gegner
der Kunst gewesen zu sein und die Malerei be-
sonders hat er durch Erwerbungen im größeren
Stile thatkräftig und gar häufig unterstützt. Ein
Zufall führte mir auf unserer Landesbiblivthek
ein eigenhändig geführtes Ausgabebuch des genannten
Kurfürsten in die Hände und zwar aus den Jahren
1828—1830, aus welchem klar hervorgeht, daß
der Kurfürst alljährlich doch ziemlich bedeutende
Summen für den Ankauf von Gemälden aufgewandt
und mit den namhaftesten Kunsthändlern seiner Zeit
in reger Geschäftsverbindung gestanden hat. Die
Namen der Kunsthändler von Berlin, München u.s.w.
273
sind angegeben, ebenso der für die Bilder gezahlte
Preis, aber bei den meisten Bildern fehlt bedauer-
licher Weise der Name des Meisters und die
Bezeichnung der Bilder, sodaß wir leider vielfach
nicht mehr genau feststellen können, wo sich die
gekauften Bilder jetzt befinden und welche von ihnen
in unserer Gallerie Aufnahme gefunden haben.
Von einem Bilde glaube ich indessen mit Be-
stimmtheit annehmen zu dürfen, daß dasselbe aus
den oben erwähnten Einkäufen herrührt und jetzt,
wenn auch auf einem Umwege, in unserer Gallerie
Ausnahme gefunden hat. Bon dem bekannten
Meister Theodor van Thulden, der unter
dem Einflüsse von Rubens sich ausgebildet, in Ant-
werpen und im Haag thätig war, befindet sich ein
Werk in unserer Gallerie, das „Loth mit seinen
Töchtern" darstellt. Ganz sicher freilich scheint es
nicht zu sein, ob dieses Bild von Thulden herrührt,
da in dem vortrefflichen, aber leider vergriffenen
Katalog von O. Eisenmann ein Fragezeichen hinter
den Namen gesetzt ist und somit wohl triftige
Gründe vorliegen, das vielfach beschädigte Werk
dem Meister zuzusprechen. Das Bild ist im Jahre
1877 erst aus dem Schlosse zu Hanau in unsere
Gallerie überführt worden. Ausweislich des Aus-
gabebuchs hat der Kurfürst am 4. März 1830
dieses Bild vom Kaufmann Rinald zu Kassel
für 500 Thaler gekauft. Rinald, der einer hoch-
angesehenen und sehr wohlhabenden israelitischen
Familie entstammte, war kein eigentlicher Kunst-
händler, sondern selbst Liebhaber und Sammler.
Noch jetzt befinden sich im Besitze seiner zum Teil
nach Paris übergesiedelten Familie ganz hervor- I
ragende Bilder der Niederländer Meister. Ein
zweites Bild von Thulden. Magdalena, die Füße
des Heilands salbend, kann nicht in Betracht kommen,
da es zu den allerjüngsten Erwerbungen unserer
Gallerie zählt.
Auch ein anderes, in unserer Gallerie befind-
liches Bild rührt mit hoher Wahrscheinlichkeit aus
den Ankäufen Wilhelms II. her und ist dieses das
bekannte Bild von Martin von Rohden, der,
1827 zum Hofmaler in Kassel ernannt, sich zu
jedermanns Erstaunen an dem einsamen Franz-
graben anbaute. An ihn und seine Behausung er-
innert noch ein am Hause des Herrn Gärtners Rohde
eingemauerter, prachtvoller Sturz eines Kamins,
der, in den zierlichsten Formen des Rokoko gehalten,
sofort die Aufmerksamkeit jedes Kenners erregen
muß. Das Bild von Rohden stellt einen Eremiten
in einer Grotte dar. Dieses wie ein anderes Bild
wurden am 31. August 1829 von dem Kurfürsten
für 1200 Thaler aufgekauft. Unser Bild wurde
ebenfalls 1877 aus dem Schlosse zu Hanau nach
Kassel gebracht, während das andere verschwunden ist.
Für den späteren Erwerb dieser Bilder spricht
ihr Fehlen in den alten Katalogen der Kasseler
Bildergallerie sowie vor allem der Umstand, daß die-
selben aus dem Schlosse zu Hanau hierher gebracht
wurden, da bekanntermaßen infolge der ihm wenig
wohlwollenden Stimmung der Bevölkerung Kassels
Wilhelm II. einem Aufenthalt im Süden seines
Landes bedeutend zuneigte. Es liegt deshalb nahe
anzunehmen, daß Wilhelm II. gerade das früher
höchst dürftig ausgestattete Hanauer Schloß, in
welchem er oft residierte, mit Bildern auszuschmücken
bestrebt war. Dieser Annahme entsprechend liegt
es auch nahe, daran zu denken, daß die Bilder der
Münchener Maler Wilhelm K o b e l l und Julius
Dörner, die ebenfalls von Hanau hierher gekommen
sind, mit unter die im Ansgabebuch erwähnten
Bilder zu zählen sind.
Bon weit größerem Interesse aber ist es, zu
wissen, wohin ein vom Kurfürsten für 1400 Thaler
gekaufter Paul P o t t e r gekommen ist. Bekannter-
maßen hatte unsere Gallerie die herrlichsten Werke
dieses gesuchten Meisters, den Meierhof. die Be-
strafung eines Jägers durch wilde Thiere, das
Schweineschlachten, durch die Plünderung Tenons
verloren. Für die von der Kaiserin Josephine an
den Kaiser Alexander verkauften und noch jetzt in
der Eremitage zu St. Petersburg aufgestellten
Prachtwerke Potters war kein Ersatz da. da nur
zwei kleine Bilder dieses Meisters, abgesehen von
dem ihm fälschlich zugeschriebenen großen Bilde
Camphausens, zu uns zurückkehrten. Gekauft hat
der Kurfürst einen Potter, aber wo ist derselbe
hingekommen? Eine Möglichkeit ist, daß der Kur-
fürst denselben der Gräfin Reichenbach zum Geschenk
gemacht hat und daß derselbe sich vielleicht doch
noch in deren Nachlaß befindet.
Der Maler Grünbaum erhielt fernerhin für
eine Kopie en miniature nach Carlo Dolce
20 Louisdor. Dieses Miniatnrbildchen befindet
sich dem Vernehmen nach noch in den Sammlungen
des Unterstockes der Bildergallerie und überrascht
durch Sauberkeit der Ausführung.
Näheres über die anderen Bildern und deren
Verbleib anzugeben, ist mir leider nicht möglich.
Jedenfalls würde es eine sehr verdienstvolle Sache
sein, dem von Herrn Professor von Drach in so
hervorragender Weise gegebenen Beispiele zu folgen
und weitere Untersuchungen über die Provenienz
unserer Bilder anzustellen. Unzweifelhaft aber ist
es, daß derjenige, der wirkliche Neigung und Liebe
zu diesen hervorragenden Kunstschützen besitzt, auch
den Wunsch hegt, zu wissen, wie und unter welchen
Umständen diese in unsere Gallerie gelangt sind.
Häuser haben bekanntermaßen ihre Geschichte,
aber auch die Werke hervorragender Meister und
274
Künstler haben ihre Geschichte, und auf diesem
noch wenig gepflegten Gebiete ist auch die kleinste
Erforschung von hohem Interesse.
Aus dem Privat -Notizbuch des Kurfürsten
Wilhelm II:
182s, April 7. An die Kunsthandlung Atüller in Berlin
für 10 Ölgemälde 4500 Thlr.
1828, April 30. Dem Kunsthändler Cavallo in München
für 3 Ölgemälde 4000 Thlr.
1829, Mürz 6. An Artorin und Fontaine in Mann-
heim für 5 Stück Ölgemälde 2136 Thlr. 8 Gr. —
Dem Kunsthändler Winter in Heidelberg für 1 Ölgemälde
2500 Thlr.
1829, März 27. An Atüller in Wien für angekaufte
7 Stück Ölgemälde 2840 Thlr. 21 Gr.
1829. August 31. Dem Hofmaler v. Rohden für zwei
von demselben verfertigte Gemälde auf allerhöchsten
Befehl gezahlt worden 1200 Thlr.
1829, November 26. Dem Hof- und Theatermaler Prima-
vefi für 1 Ölgemälde 250 Thlr.
1829. März 7. Dem Maler Grünbanm für eine Kopie
6n miniature nach Carlo Dolce 20 Louisdor, der
Louisdor — 5 Thlr. 17 g. Gr.. 114 Thlr. 4 Gr.
1830, Mai 4. Dem Kaufmann Rinald für 1 Ölgemälde
500 Thlr.
1830, Juli 15. Dem Kunsthändler delle Rvvero für ein
Bild von Paul Potter 1400 Thlr.
----------------------—------
Die eiserne Basis.
Humoristische Skizze von Valentin Trau dt.
Es war ein wunderschöner Wiutertag. In
meinem Arbeitszimmer wob eine wohlthätige Wärme,
und über die weißen Dächer der Nachbarshäuser
blickten die dunkeln Tannen des Schloßberges gar
zutraulich zum Fenster herein. Die ganze Land-
schaft war in funkelndes Licht getaucht.' Solche
Tage wecken bekanntlich auch in den Menschenherzen
Licht und Lust und Schaffensfreude. Und ich ar-
beitete- mit einem wahren Feuereifer an einem
Aufsatz über Kältemischungen. Ta trat leise meine
Frau herein.
„Arthur, einen Augenblick nur", bittet sie sanft.
„Gewiß, Schatz! Nun, was giebt es?"
„Es giebt nichts; aber ich möchte 28 Mark
haben, die Schusterrechnung zu bezahlen."
„Schon wieder?"
Und ich suche mich wie alle Ehemäuner dagegen
zu sperren, obgleich ich doch wußte, daß das un-
nütz, eigentlich kindisch sei. Aber die' Ausgaben
für das Notwendige sind uns Männern gewöhnlich
immer zu hoch, während uns dergleichen Beträge
für die nichtigsten Nebensachen gar nicht rühren.
Wir sind geneigt, eher eine Blumenvase für 10 Mark
als einen Schinken für 6 Mark zu kaufen.
„So viel für Schuhe?"
„Ernst zerreißt die stärksten Stiefel mit einer
unheimlichen Leichtigkeit. Er ist eben so wild wie
Du", sucht sie zu entschuldigen.
Ich zähle das Geld ab und reiche es ihr mit
einem bitteren Lächeln.
„Und ich muß ihm schon wieder zwei Paar
schicken."
„Das kommt von den Kaufschuhen. — Wir
sollten ihm richtige, derbe „Tappen" machen lassen,
gehörig mit Nägeln verkamisolt."
„Aber die gestrichenen Stuben und die Haus-
leute unten?" senszte sie.
„Ja, ja," pflichte ich ihr bei, „das ist die Kul-
tur. — Gestrichene Stuben, feine Nerven . . . unsere
Zeit läuft schnell und verreißt drum eine solche
Menge Schuhwerk. Bei uns daheim und früher
war das anders."
„Ernst seine Schuhe wären ja noch ganz,
wenn — —"
„Wenn eben das berühmte „Wenn" nicht wäre!"
„Nein." sagte sie nun auch wieder lachend, „wenn
er nicht heute Morgen auf der Eisbahn gewesen
und die Knopfstiefel aus der Seite ganz durch-
gerutscht hätte. ... Ich zog ihm dann die neuen
Schnürschuhe an und er fuhr den Berg hinab auf
seinem kleinen Schlitten. .. Du weißt doch, wie
das die Jungen machen? — —"
„Ob ich's weiß."
„Na. also — und er verliert richtig beide
Absätze."
„Dann muß er jetzt barfuß laufen. Wenigstens
hätte er es vor sechzig Jahren bei meinem Groß-
vater in Walddors gemußt. Wenn da die Jungens
im Winter zu sehr aus ihren Schlitten zu Thal
fuhren oder „glanerten" auf dem glänzenden Eise,
nahm man ihnen einfach die Schuhe weg. Und was
meinst Du? Die beherzten, kühnen Kerle unter
ihnen gingen barfuß aufs Eis. Ich weiß noch wie
heut, als mein Vater von seinen ersten Schuhen
erzählte. Er war schon ein Bursche und stand
noch ohne Strümpfe und Schuhe auf dem väterlichen
Zinunerplatz und hals Stämme zersägen. Da sagte
einst ein Bauer zu meinem Großvater: „Ihr hot
jo auch ’ite barfiße Zimmermann!" Diese halb
spöttischen Worte griffen dem sparsamen Mann so
ans Herz, daß mein Vater Schuhe bekam."
„Nun, Arthur, Deine ersten Schuhe sind auch
nicht von Pappe. — Ich glaube, die paßten unserem
Ernst gerade."
275
„Dann hättest Du sie ihm doch anziehen tonnen,
statt ihn in die Stube zu verbannen?"
„Sie sind aber gar zu klobig! — Tie haben
ja ein Gewicht!"
„Das ist eben die gesunde Basis. — Nämlich,
wenn es bei uns Schuhe gab, dann holte mein
Bater selbst das Leder, und die Eisen und Nägel
kaufte er gewöhnlich ans dem Markte von dem
„Pinnschmied" für das ganze Jahr im voraus,
und dann kam der Meister Jakob mit seinem Ge-
sellen und stellte, noch in der Thür stehend, jedes-
mal die hochwichtige Frage: „Iß wieder ebbes
auf schlechter Basis? — Ja, die Basis muß vor
allein gut sei, fest gepinnt nn mit Pechdraht ver-
arbeitet, so mit der Hand — — brS, brs, brs, —
Stich an Stich." Tann gab er seinem Gesellen
einen Puff, warf seinen Ranzen ans die Ofenbank
und stürzte hurtig den Wachholder hinunter, der
ihm als Willkommentrunk gereicht wurde. So sehr
er nun auf eine feste Basis seiner Mitmenschen
bedacht war, so wenig hielt er ans seine eigene.
Bon diesem Meister stammen meine „eisernen"
Schnhe, der nebenbei auch der Ansicht war, daß so
gewichtige Objekte den Jungen gerade zögen und
kühn behauptete, daß derohalben auch in seiner ganzen
Kundschaft keiner sei, der einen „Verdruß" habe."
„Ich darf den Mann nicht länger warten lassen",
fiel mir nun endlich meine Frau ins Wort und
eilte hinaus. In demselben Augenblick kam mein
kleiner Bengel herein und sing an zu betteln:
„Papa, Schuhe anziehen und Schlittern."
„Du hast sie ja zerrissen", entgegnete ich ernst.
„O nein, Papa, ganz von selwerst."
„Dann müßtest Du Deine gelben Sommerschuhe
von Mama holen."
„Ach ja!" Der Kleine hüpfte vor Freuden.
„Tie sind aber in längstens einer Stunde auch
geliefert, und Du müßtest doch wieder hier sitzen. —
Spiel doch mit Deinen Soldaten."
„Dann wünscht' ich grad', ich wär' ein Engel",
sing er nun zu weinen an.
„Warum, Ernst?"
„Mama hat g'sagt, die brüuchten kein' Schuh'
und könnten so im Schnee fahren und thäten auch
nett in ein' Scherbel trete'."
Da mußte ich an meine und Vaters Jugend
denken. Es ist etwas Wahrheit demnach doch, daß
wir früher ans unserem Walddorf wie im Himmel
wohnten.
„Die ganze Stube schwimmt." Meine Frau
erschien mit diesen Worten wieder in der Thüre
und fuhr auf den kleinen Übelthäter zu, welcher
sich vorhin, ehe er heraus mußte, noch schnellseine
Tasche voll Schneebällen gesteckt hatte, die sich nun
in verräterischer Weise auslösten.
Ich mußte doch lachen, als er die Mutter ängst-
lich ansah und dann, ein unendlich feines Schalk-
lächeln um die Kirschlippen, mit den weißen Fingern
in beide Hosentaschen fuhr, die sich bereits durch
eine dunklere Färbung kenntlich machten.
„Tu hast wohl auch in den Hosentaschen
Schnee? — Was?"
Er nickte und hielt mir mit lebhaftem Blinzeln
zwei triefende Schneebällen entgegen und legte sie
blitzschnell auf den Schreibtisch, indem er sagte:
„Tie sind für Dich, Papa! — Im Übermantel
die waren für Mama."
Und Mama nahm den Herzjungen an ihre Brust;
denn für sie hatte er ja zwei Taschen voll mit-
gebracht. — Wenn jetzt auch die Stube schwamm .. !
„Du bist ja ganz naß, inein Schatz? — Es ist
doch 'n Goldjunge. Mann."
„Freilich", sage ich etwas zerstreut, streife meinen
Schreibtisch, auf welchem sich indessen meine Schnee-
bällen schon eine passende Rinnbahn ausgesucht
hatten und zwei Bächlein über meine „Kälte-
mischungen" entsandten.
Mama mußte das wieder in Ordnung bringen
und ließ mich mit dem Jungen einige Zeit in
Ruhe.
Es dauerte indessen nicht allzu lange, bis sie
wieder hereinkam und meinte: „Mann, ich habe
Deine „eisernen" ans dem Boden gesucht und sie
gehörig eingefettet. Ernst wird sie tragen können."
Ihre zarten Finger glänzte» noch von dem Ge-
misch der Wichse und des Thranes, und ich hatte
Angst, sie rühre mir in ihrem Eifer ein Buch an.
„Denke an den Herrn Hauptmann unter uns.
Wenn er das Getrampel hört, wird er wieder mit
seinem „Himmelkreizsakrement" den Burschen herauf-
schicken. Du weißt, das Schaukelpferd haben wir
auch pensionieren müssen."
„Wenn ihm sonst keine ans dem Kopf 'rum-
trampeln", seufzte meine Frau.
„Und der Hausbesitzer wird für seine Treppen
bangen!"
„Ach!"
„Ja, die „eisernen" sind eine starke Nummer
in jeder Beziehung, Primaeisen, zwei mal zwanzig
gewichtige Pinnen. Und die Pinnen sind noch da-
heim in Walddors, eine jede gewiß mit einem
Krastsluch geschmiedet; denn unser „Pinnschmied"
war ein Kerle, der stets unter seinem Werktisch
eine kräftige Schnapsflasche stehen hatte und in
stetem Kampf mit seinem Weibe lag. Aber er
mußte seinen gewaltigen Zorn in die „Fliegen-
köpse" donnern, da seine Holde sich keiner Sache
annahm und stets einen Besen handbereit in der
Nähe hatte. Am Markttag hatte er seinen Stand
gerade am Gemeindehaus, und ich weiß noch tvie
heute, als mein Vater sich zweihundert von den ;
stärksten „Fliegenköpfen" vorzählen ließ und ich ^
mir heimlich einige Stiftchen bettelte." '
„Meinst Du, daß wir die Schuhe in Gebrauch
nehmen könnten?"
„Aber nur für die Straße. Hier oben hat der
Junge so keine „feste Basis" nötig."
In dem Augenblick klopfte es schüchtern an.
Das Mädchen des Herrn Hauptmann bestellte
einen schönen Gruß von der gnädigen Frau und
wir möchten doch so keinen Heidenlärm in unserer
Küche dulden, die ganze Decke käme ja herunter.
Wir eilten ahnungsvoll in die Küche und sahen
wie unser „Goldjunge" versuchte, durch heftiges ;
Aufstampfen die „eisernen" an seine Füßchen zu j
zwängen. Küchenstuhl und Küchentisch zeigten bereits j
starke Fettspuren, und an der Wand daneben sah '
man den schwarzen Abdruck von zwei kleinen :
Händen.
Jetzt drohte uns doch die Galle ins Blut zu gehen, ;
und wie auf Kommando erscholl das -strafende: !
„Ernst, Ernst!"
Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis die ,
Schuhe so weich geworden waren, daß der lachende >
Bengel in ihnen auf seine Schlittenbahn springen
konnte. Wir hörten angstvoll jeden seiner Schritte
auf der Treppe. Eine Thür wurde unten ge-
schlagen . . .
------------
Gleich nachdem Ernst znm Mittagessen heraus
gekommen war, erschien auch Frau Grützer, die
liebliche Gemahlin des Hausbesitzers.
„Das hat sich aber man «ich mit Ihrem Bengel. —
Wir sind hier uich in — - "
„Einem Krankenhause", setze ich erregt hinzu.
„Nu man aber, Herr Dokter? Aber ich kann
unsere Treppen nich zweimal im Jahre streichen.
Ni au sieht jeden Nagelkopp. Kommen Sie man
gefälligst selbst mit. sehen Sie sich das Gedibbelt
ans den Tritten an. Man meint, Ihr Ernst wäre ein
Backsteiubreuner. Das sind keine gebildeten Schuhe."
Wir besahen uns den kleinen Schaden und ent-
zogen mit betrübtem Herzen unserem „Goldjungen"
die feste Basis, auf die er sich etwas allzu stolz
gestellt hatte. Nun saß er mit Thränen in seinen
treuen Augen hinter der dampfenden Suppe und
konnte nur damit beruhigt werde», daß ihm Mama
versprechen mußte, noch heute zum Schuhmacher zu
gehen und dem biederen Meister die ganze Trost-
losigkeit der Lage vorzustellen.
Draußen lachte die Sonne und klang das fröh-
liche Schreien der kleinen Schlitteufahrer. In
meine Arbeit über Kältemischungen woben sich ganz
von selbst einige bittere Bemerkungen über Kälte-
mischungen in unserem modernen Kulturleben und
Mahnungen, sich doch wieder auf eine gesundere,
aus eine eiserne Basis zu stellen . . .
£*>-------------
Aus Heiinat und Freinde.
Hessischer Geschichtsverein. Am 6. Ok-
tober hielt der Verein für hessische Geschichte
zu Kassel im Gebäude der Handelskammer seinen !
ersten wissenschaftlichen Unterhaltungsäbend im be-
gonnenen Winterhalbjahre ab. Herr General
E i s e n t r aut, der erste Vorsitzende, begrüßte die
Erschienenen und erstattete Bericht über seine Teil-
nahme an der Generalversammlung der deutschen
Geschichts- und Altertumsvereine in Düsseldorf.
Sodann hielt Herr Major von Löwen st ein
einen Vortrag über das Stände haus in Kassel,
der viel des Interessanten bot. Veranlaßt war
derselbe durch eine Sammlung von Bauzeichnungen
und Skizzen aus dem Nachlaß des Kurfürstlichen
Hosbaudirektors R u h l, welche der in Kassel woh-
nende Herr Generalmajor von Bauer dem Verein
znm Geschenk gemacht hat und unter denen sich
auch die Entwürfe zu dem Ständehaus besinden.
Aus den ans die Vorgeschichte dieses denkwürdigen
Gebäudes bezugnehmenden eingehenden Erörterungen
des Redners sei hervorgehoben, daß dasselbe zuerst
ans die Höhe des Weinbergs, da wo sich gegen-
wärtig die Bauverwaltung befindet, kommen, dann
an Stelle der Kattenbnrg errichtet werden sollte.
Endlich, nachdem auch der Platz des jetzigen Löwen-
brnnnens, ebenso wie der Kattenburgplatz der cnt=
stehenden Kosten wegen von den Ständen abgelehnt
war, einigten diese sich mit der Regierung dahin,
das Ständehaus in der neu anzulegenden Friedrich-
Wilhelms-Straße da zu erbauen, wo es heute
steht, sodaß am 24. Juni 1834 die Grundstein-
legung mit großem Pomp vollzogen werden konnte.
Bereits nach zwei Jahren war Ruhls Werk voll-
endet. Am 22. November 1836 fand die feierliche
Einweihung und Eröffnung des Ständehauses statt.
Tie Kosten des Gebäudes, das im Geschmack der
italienischen Spätrenaissance ausgeführt und ein
Werk von hoher künstlerischer Bedeutung ist, be-
liefen sich im Ganzen auf 132 400 Thaler. —
Herr Oberbibliothekar Dr. Brunner, Ehren-
mitglied des Vereins, verlas sodann ein von
Herrn Obersekretär Matthien dem Kasseler Stadt-
archiv geschenktes Aktenstück, das sich ans die An-
werbung für den amerikanischen Krieg bezieht.
277
Einen weiteren Beitrag ,;u demselben gab Herr
Dr, Schwarzkopf, indem er die „Glüchvünscheude-
Abschiedsode" bei Einschiffung der britisch-hessischen
Truppen unter General von Heister zur Kenntnis
brachte, welche von dem unter der Regierung des
Landgrafen Friedrich II. in Kassel weilenden Rat
Gottsched, Bruder des berühmten Leipziger Professors,
herrührt. Auch wies Herr Dr. Schwarzkops ans*
die Überreste einer Statue in Imperatorentracht
hin, die im sog. Hanauschen Garten am Weinberg
umherliegen.*)— Im Laufe des Abends ergriff Herr
Dr. Brunner noch mehrfach das Wort, um über eine
Reise von Kasseler Magistratsmitgliedern HU 7 nach
Treysa als Abgeordnete zu dem dortigen Landtag zu
berichten, sowie über die Jagdliebhaberei des Land-
grafen Philipp. Ferner legte Herr General Gisen-
traut die Ergebnisse seiner aus der Wüstung
Mattenberg bei Nordshausen unternommenen Ans-
grabungen vor, die mittelalterlichen Ursprungs sind
und in Knochen, Scherben u. a. bestehen. — Tie
sämtlich sehr interessanten Ausführungen, mit denen
der erste Unterhaltnngsabend begann, können als
das beste Borzeichen für den Verlaus der ferneren
Abende.in diesem Jahre betrachtet werden.
*) Noch einer in den letzten Tagen von Herrn Dr. Schwarz-
kopf am Sockel der zertrümmerten Bildsäule vorgenommenen
Untersuchung lautet dieJnschrift an demselben: Duileliiio I X.
qui nobis liaec otia fecit. Es handelt sich also um eine
Statue des Laudgrafen Wilhelm IX., des späteren ersten
Kurfürsten, nicht wie zuerst angenommen wurde, um eine
solche Wilhelms II.
Universitätsnachrichten. Ter außerordentliche
Professor in der philosophischen Fakultät der Uni-
versität Marburg Dr. Karl Oldenberg ist zum
ordentlichen Professor in derselben Fakultät der
Universität Greifswald ernannt worden. — An
Stelle des nach Berlin berufenen Professors der
Mathematik Schottky hat Professor Hensel von
dort einem Ruse an die Universität Marburg
Folge geleistet.
Am 1. Oktober feierte HerrRegierungs- und
Geheimer Medizinalrat a. T. Dr. Albert Weiß
in Kassel ganz in der Stille den Tag, an dem er
vor 50 Jahren in den Staatsdienst getreten war.
In Kassel wirkte er als Medizinal-Dezernent bei
der Königlichen Regierung und zugleich als Mit-
glied des Medizinal-Kollegiums der Provinz Hessen-
Nassau von 1892—1900. Außer auf dem medi-
zinischen Gebiete war er seit Jahren auch aus dem
der Sprach- und Völkerkunde mit Erfolg schrift-
stellerisch thätig, sodaß ihm bereits 1881 von dem
„Freien deutschen Hochstift" zu Frankfurt a. M. die
Meisterwürde verliehen wurde. Ferner sind einige
Sammlungen von eigenen Dichtungen und Über-
tragungen namentlich slavischer Poesien von ihm
erschienen. Auch in unserer Zeitschrift sind mehr-
fach Gedichte von Herrn Geheimen Medizinalrat
Dr. Weiß zum Abdruck gelangt.
Familientag. In Düsseldorf fand ein Familien-
tag der Träger des Namens R o ch o l l zwecks
Gründung eines Familienverbandes statt. Unter
den vielen Erschienenen befanden sich auch Mit-
glieder dieser weitverzweigten Familie aus Hessen,
hauptsächlich aus Kassel. Tie urkundlichen Familien-
nachrichten sollen bis in das 12. Jahrhundert zu-
rückgehen. ____________
Todesfälle. In Schlüchtern starb am 30. Sep-
tember Amtsgerichtsrat Hermann Zimmer mann
im Alter von 46 Jahren. Derselbe war in Stadt-
lengsfeld geboren. Er hatte die Gymnasien zu
Fulda und Hersfeld und sodann die Universitäten
Würzburg, Leipzig und Marburg besucht. 1885
wurde er Assessor bei dem Amtsgericht in Hersfeld,
danach Hilfsrichter in Meerholz und in Gelnhausen
und 1890 Amtsrichter in Schlüchtern. Seit 1893
gehörte der Dahingegangene dem Abgeordnetenhanse
als Mitglied der freikonservativen Fraktion an. —
Wenige Tage nach Amtsgerichtsrat Zimmermann
am 10. Oktober, starb auch sein Vater, der frühere
Domänenpächter Lorenz Zimmermann, zu
Schlüchtern im Alter von 80 Jahren. Derselbe
war ebenfalls preußischer Abgeordneter gewesen und
hatte von 1877 — 1879 zu den Nationalliberalen,
von da bis 1882 zu den Freikonservativen gezählt. —
In Kirchhain verschied am 6. Oktober, 75 Jahre
alt, der Geheime Sanitätsrat Dr. Karl Friedrich
Klingelhöfer, der fast vierzig Jahre im dortigen
Kreise erfolgreich gewirkt hat und sich allgemein
großer Beliebtheit erfreute. — In Charlottenburg
starb am 10. Oktober der Generalleutnant z. D.
Karl von Wurmb. Der Verewigte, am 26. Ok-
tober 1838 zu Kohlgraben in Sachsen-Weimar
geboren, war 1857 in den kurhessischen Militär-
dienst getreten und stand 1866 als Sekondleutnant
bei den Gardes du Corps. 1870 wurde er Ritt-
meister im Kürassier-Regiment Nr. 4, 1878 Major
im Husaren-Regiment Nr. 3, 1885 Kommandeur
des Ulanen-Regiments Nr. 13, 1886 Oberstleutnant
und zwei Jahr später Oberst. 1890 erhielt er
das Kommando der 3. Kavallerie-Brigade, wurde
1891 Generalmajor und 1894 als Generalleutnant
zur Disposition gestellt.
278
hessische Bücherschau.
Valentin Trau dt, Leute vom Burgwald.
Eine Erzählung aus dem oberhessischen Volks-
leben, Mit Buchschmuck von Otto Ubbelohde.
Marburg, N. G. Elwertsche Verlagsbuchhand-
lung. Preis 3 Mark, gebunden 4 Mark.
Es ist ein prächtiges Buch, nicht vielleicht in der Ge-
samtheit als Roman, sondern in den Einzelschilderungen.
Der Reiz der Erzählung lwohltveislich nannte der Ver-
fasser sie nicht Roman) beruht auf den geradezu prächtigen
Schilderungen oberhessischen Volkslebens. Ta ist alles bis
ins kleinste hinein lebendig vor nns gestellt. Ta werden
wir in die Eigentümlichkeiten des vberhessischen Bauern-
tums eingeführt auf eine Weise wie bisher itoch niemals.
Und gerade das erhebt das Buch über die berüchtigten
„Dorfgeschichten". Hier ist alles Leben. Dabei ist der
Herr Verfasser ein Meister psychologischer Darstelllmg,
mit ein paar Worten nur vermag er das ganze Seelen-
leben seiner Helden uns vorzuführen. Nur gegen das
Ende wird die Erzählung zur „Dorfgeschichte", wenn der
Konflikt ntit der berüchtigten amerikanischen Erbschaft ge-
löst wird. Das Buch thut mir leid um dieses Schlusses
willen. Denn wenn ja auch Verhältnisse so vorkommen
mögen, wie sie geschildert werden, eine derartige Lösung
empfindet man doch als unkünstlerisch, als zu sehr an den
Haaren herbeigezogen. Es ist immer ein Verlegenheits-
mittel. wenn der Konflikt anders nicht inehr gelöst werden
i kann. Aber das sind ja schließlich nur Nebensachen, die
' dem Buche vielleicht in seiner Gattung als Erzählung
Eintrag thun können, die aber den hohen volkstümlichen
Reizen iticht gleich kommen. Ich möchte auch heute keine
Analyse des Buches geben, wie sehr es mich auch drängt.
,den Fäden bäuerlichen Stolzes und bäuerlicher Eifersucht,
wie sic Traudt spannt, nachzugehen. Möge jeder, der
Interesse für oberhessisches Volkstum hat. das schöne Buch
selbst lesen. Aufmerksam tvill ich aber noch ans die
prächtigen Naturschilderungen machen und hier ganz be-
sonders wieder das Kapitel hervorheben. >vo die Pilzsucher
ihrem armseligen Verdienst nachgehen. Das ist, teilweise
sehr realistisch, aber überaus tief empfunden uns vor-
geführt. — Lob kann ich auch der Ausstattung des Buches
widmen, das der hessische Künstler Otto Ubbelohde. der
u. a. auch das Holzamersche Buch „Im Dorf und Draußen"
mit Zeichnungen geschmückt, mit einer Reihe Griffelzeich-
nungen versehen hat. Und nun noch statt vieler Worte
— wie manches ließe sich noch über die schöne Durch-
führung des Dialektes, den feinen Humor, gewürzt mit
Ironie, der sich bisweilen findet und dergl. mehr sagen —.
ich wünsche dem Buche recht viele Leser, wie es sie auch
verdient: Leser, die noch mit vollem Herzen den Eigentüm-
lichkeiten unseres Volkslebens nachgehen. Leser, die unser
Volk liebelt oder es liebgewinnen wollen. Für sie ist
Traudts Buch der beste Leitfaden.
Äkerander Aurgcr.
Personalien.
Verliehen: bei der Versetzung in den Ruhestand:
dem Geheimen Postrat Schreiner in Kassel der Rote
Adlerorden 3. Klasse mit der Schleife, dem Ober-Baurat
Val lau ff in Kassel der König!. Kronenorden 2. Klasse;
dem Hegemeister Förster No hl zu Wohro und dem Schloß-
kastellan a. D. Franz Casper in Kassel der König!.
Kronenorden 4. Klasse; dem Regierungssekretär Ritz in
Kassel der Charakter als Kanzleirat.
Grnaiirit: Oberförster Wagner in Ödelsheim zum
Regierungs- und Forstrat bei der Regierung in Trier;
Dr. Vahle zum Kreisarzt - Assistenten für den Kreis
Marburg; Pfarrer Ludwig Ha pp ich zn Rockensüß zum
Pfarrer in Schrecksbach; Pfarrer axtr. Nolte zn Herren-
breitungen zum Pfarrer in Ransbach; Pfarramtskandidat
de Haan zu Borkum zum zweiten Pfarrer in Greben-
stein; die Referendare Heldmann und Kühl zu Ge-
richtsassessoren; die Rechtskandidatelt Becker und v. Baum-
bach zu Referendaren; Vermessungsrevisor Feißel zum
Oberlandmesser.
Berufen: Landrat v. Baumbach in Gelnhausen als
Hilfsarbeiter in das Finanzministerium.
Versetzt: Staatsanwaltschaftsrat von Jbell von
Hanau an das Landgericht zti Kassel; Postrat Gieseke
voit Magdeburg nach Kassel; Amtsrichter Schor von
Frankenberg nach Nordhausen.
Gestorben: Verwitwete Frau Professor Mathilde
Nubino, geb. Hartmann. 79 Jahre alt (Marburg,
29. September); Kurfürstlicher Mundkoch a. D. Georg
Fischer, 89 Jahre alt (Kassel, 29. September); ver-
witwete Frau Lti i se Buhlmann. geb. R öm feld,
75 Jahre alt (Marburg, 30. September); Amtsgerichtsrat
Hermann Zimmer mann, 46 Jahre alt (Schlüchtern.
30. September); Dechant Kon rad Helfrich, 62 Jahre alt
(Batten, !. Oktober); Königl. Forstmeister a. D. Wilhelm
Rausch, (Hersfeld, 1. Oktober); Fräuleiit Friederike
Bonacker, 79 Jahre alt (Kassel. 3. Oktober); Frau
Pfarrer Bö ekel, 59 Jahre alt (Marburg, 3. Oktober);
verwitwete Frau Katharine Braun, geb. Sinning,
74 Jahre alt (Gudensberg, 3. Oktober); Geheimer Sani-
tütsrat Dr. Karl Klingelhöfer. 75 Jahre alt (Kirch-
hain, 6. Oktober); Rechnungsrat Friedrich Asp.
69 Jahre alt (Kassel, 6. Oktober); verwitwete Frau Me-
dizinalrat Karoline Westernacher, geb. Rumpf,
72 Jahre alt (Büdingen. 7. Oktober); Bürstenwaaren-
fabrikant Jean Baptist Petri, 80 Jahre alt (Kassel,
10. Oktober); Frau Wilhelmine Hartmann. ver-
witwete Wenzel, geb. Füller, 76 Jahre alt (Kassel.
10. Oktober); Domänenpächter Lorenz Zimmermann,
früherer Landtagsabgeordneter, 79 Jahre alt (Schlüchtern,
!0. Oktober); Generalleutnant z. D. Karl von Wurmb,
63 Jahre alt (Charlottenburg, 10. Oktober): Oberland-
messer a. D. Oskar Matthes, (Kassel. 12. Oktober);
Oberlandmesser Paul Goetze, 49 Jahre alt (Roten-
burg a. d. Fulda, 12. Oktober).
Briefkasten.
Frau l>. C. in Rotenburg. Dank für die freundlichen
Worte. Die Reise erfolgte wegen der Truppentransporte
auf einem großen Umweg und zwar über Paderborn.
Hamm, Minden, Hannover. Braunschweig. Magdeburg,
Berlin »ach Stettin. In Minden wurde des Morgens
nnr Aufenthalt genommen, um Kaffee zu trinken.
H. M. in Kassel. Mitteilungen aus der Zeit Jaromes
dankend angenommen. Weitere Beiträge sehr erwünscht.
Für die Redaktion verantwortlich: W. Bennccke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.
JV? 21. XVI. Jahrgang. Kafftl, 1. ilouruitm 1902.
Des Sämanns Cod.
seitab vom Schlachtfeld in zerstampftem Korn
Liegt ein Soldat in seinen letzten Zügen;
wild fährt er um sich wie im grimmen Zorn, —
Dom Säen phantasiert er und vom pflügen.
init letzter Kraft ist er emporgeschnellt,
Ivat eine Hand voll Ähren mitgenommen! —
„ Ich habe meinen Acker — wohl — bestellt, —
Pie Ernte — wartet — Mutter! — siehst mich kommen? —
Hier bring' ich — meine Aussaat— blutend — ja!" —
Dann stürzt er schwer und atmet nimmer wieder. —
Fern klingt's im Walde wie „Piftoria".
Und trauernd neiget Halm um Halm sich nieder.
Und in der Heimat stillem Ährenfeld
Läßt eine Witwe laut die Sichel schallen.
Er hat's gesät, was sie in Armen hält;
Poch still! — war das nicht seiner Stimme Lalle»? —
Sie drückt die volle Garbe an die Brust,
Pen Kops vergrabend drin mit heißen Zähren; —
lind bebend spricht ihr Mund: „Ich hab's gewußt!" —
Um ihren Sämann weinten mit die Ähren.
¿4P******
Line Bergpredigt.
(Tief lag die Welt. Pie letzte Hütte schwand
Am reich besonnten, blnm'gen Wiesenrand.
Pnrch dunklen Bnchendom mit leisem Schauer
Stieg ich empor zur schroffen Felsenmaner,
Und zarte Farne, roter Fingerhut
Belächeln lustig meinen Wagemut.
Mein pochend Herz drängt weiter noch nach oben,
wo letzte Wipfel einen Kranz gewoben
Um den bemoosten, alten Mpferstein,
Per hinstarrt stumm ins Himmelblau hinein,
wie ein Altar hebt er sich aus dem Grünen,
Als gält's hier Erd' und Himmel zu verfühnen.
Und als ich faß ans grünem Rasengrund,
wie eine predigt kam's aus stein'gem Mund:
„Ich grüße dich ans taufend Ewigkeiten,
Pn Sohn der flücht'gen, wandelbaren Zeiten!
Mich hat umtost des Urmeers wüste Flut;
Mich hat bespritzt des Heidenopfers Blut;
Ich sah das erste Kreuz hier oben stehen;
Ich sah im Thal die Dölker kommen — gehen;
Jahrhundert auf Jahrhundert sah ich treiben —
Ich blieb mir treu, und werde treu mir bleiben." —
So sprach der alte, wettergrane Stein. —
wie schämt' ich mich, wie war ich mir so klein!
Noch lange saß ich träumend ans dem Gipfel,
Bis mit dem Abend spielten rings die Wipfel.
Zn Thale ging's. Poch fest ins Herz mir schreiben
!PU1 ich den Spruch: „Sich selber treu nur bleiben!" —
I). Bertelniann.
Die kurhessischen Landtagsabgeordneten von 1862
Von Professor Dr. Karl Wippermann.
€iu wichtiger Abschnitt in der politischen Ent- ■
Wicklung des hessischen Kurstaats war es. als
nach langen Kämpfen das 1850 durch Hassenpflug
beseitigte Verfassungswerk von 1831 bezw. 1840
wiederhergestellt war und nun zum ersten male
wieder ein nach Maßgabe des letzteren berufener
Landtag zusammentrat, der nach dem Falle der >
„provisorischen" und anderer Gesetze der Zwischen-
zeit die gesetzgeberische Anknüpfung an das alte
Recht und die entsprechende Neugestaltung als Ans- j
gäbe hatte. Naturgemäß fielen die Wahlen meistens
aus Männer, die in den Zeiten des Ringens sich
zu gunsten des alten Rechts verwendet und das
allgemeine Vertrauen erworben hatten.
Da wirft sich wohl jetzt, nach 40 Jahren, die
Frage auf: Haben diese Männer die großen deutschen
Reformen und wie lange haben sie sie erlebt, oder
was ist ans diesem Stück Kurhessen etwa noch am
Leben?
Am 21. Juni 1862 war infolge des 1850
wieder begonnenen Verfassungskampfs die Verfassung
vom 5. Januar 1881 auf Verlangen des Bundes-
tags wiederhergestellt worden und am 80. Oktober
1862 trat ein zum ersten male wieder nach dem
Wahlgesetze vom 5. April 1840 gewählter Landtag
zusammen, der bis zu dem ihm durch die Verfassung
gesteckten Zeitpunkte, dem 31. Oktober 1868, ver-
sammelt blieb. Seine Mitglieder waren:
Hartwig, Oberbürgermeister und erster Abgeordneter
der Stadt Kassel. Er hat die großen Neugestaltungen
nicht mehr erlebt; schon am 1. März 1868 starb er in
Kassel.
N e b e l t h a n . Oberpostmeister, zweiter Abgeordneter der
Stadt Kassel. Präsident des Landtags, war 1867 mehr-
fach thätig in der Überleitung in die preußischen Ver-
hüttnisse, erhielt endlich die lange vorenthaltene Bestätigung
als Oberbürgermeister von Kassel, Mitglied des preuß.
. Herrenhauses, 1871 als Abgeordneter von Marburg
Mitglied der Versailler Kaiserdepntation, starb am
31. Juli 1875 in Kassel.
Rudolph, Oberbürgermeister und Abgeordneter der Stadt
Marburg, Sekretär des Landtags. Gestorben am 13. De-
zember 1893.
Ziegler, erster Abgeordneter der Stadt Hanau, Vize-
präsident des Landtags, starb am 14. August 1878.
T r a b e r t. zweiter Abgeordneter der Stadt Hanau, ging
nach 1866 nach Österreich, wurde 1889 als General-
sekretär der K. K. Staatsbahnen Pensioniert, lebt in
Wien. Bekannter Schriftsteller.
Weinzierl, Abgeordneter der Stadt Fulda, starb am
5. Juni 1886.
Scholl, Abgeordneter der Stadt Melsungen.
Oetker, Friedr., Abgeordneter der Stadt Schmalkalden.
1867 hessischer Vertrauensmann in Berlin. 1868—74
Mitglied der hessischen Kvmmunallandtage. 1867—81
Mitglied des Abgeordnetenhauses, starb am 17. Februar
1881 im Augustahospital zu Berlin, beerdigt in Kassel.
Reischauer, Abgeordneter der 5 schaumbnrger Städte,
starb am 80. Dezember 1872 in Rinteln.
Henkel. Obergerichtsanwalt in Kassel. Abgeordneter der
10 Diemel-Städte. Ihm, als Vorsitzenden des permanenten
Stündeausschnsses. reichte der Befehlshaber der am 20. Juni
1866 von Wetzlar ans in K nrhcssen eingerückten preußischen
Truppen. General v. Beier, und damit symbolisch dem
ganzen Lande im Ständehause zu Kassel die Hand mit
dem Versprechen, daß die Landesverfassung erhalten
bleiben solle. In preußischer Zeit Justizrat und Ehren-
bürger von Kassel, wo er am 26. Juni 1873 starb.
Sunkel. Kaufmann in Hersfeld, Abgeordneter der Städte
Hersfeld. Rotenburg. Sontra. Spangenberg. Ist in
Hersfeld gestorben.
Malcomeß, Schreinermeister in Homberg. Abgeordneter
der Städte Homberg. Borken. Felsberg.
Mangold, Abgeordneter der Städte Eschwege, Altendorf,
Großalmerode. Lichtenau, Waldkappel. Wanfried. Witzen-
hansen, ist schon in den 1860er Jahren gestorben.
Brom m. Abgeordneter der Städte Frankenberg. Kirch-
hain. Wetter rc.. war später Mitglied des preußischen
Abgeordnetenhauses.
C o m i t t i, Abgeordneter der Städte Hünfeld. Salmünster.
Schlüchtern. Soden. Steinau, ist schon in den 1860er
Jahren gestorben.
Reiff ert, Abgeordneter der Mainstädte.
Loth. Abgeordneter des Landmahlkreises Kassel und der
Landgemeinden in den Ämtern Wolfhagen und Zieren-
berg, später Mitglied einiger hessischer Kommunalland-
tage. starb am 1. Oktober 1884 in Rothenditmold.
Knobel. Abgeordneter des Laudwahlbezirks Hofgeismar,
der populäre Volksmann. starb schon am 2. November
1867 in Ehken.
Vaupcl, Abgeordneter des Landwahlbezirks Eschwege-
Schmalkalden, ist in den 1870er Jahren gestorben. Ebenso
W n ch s m u t h. Abgeordneter des Landwahlbezirks Witzen-
hausen. und
Nödiug, Abgeordneter des Landwahlbezirks Rotenburg.
G und lach, Abgeordneter des Landwahlbezirks Hersfeld.
Hellwig, Abgeordneter des Landwahlbezirks Fritzlar,
war in der preußischen Zeit noch mehrere Jahre lang
Mitglied des Abgeordnetenhauses und ist am 25. Juni
1889 in Haddamar gestorben.
Schreiber. Abgeordneter des Landwahlbezirks Homberg.
E ucker. Abgeordneter des Landwahlbezirks Marburg.
Löber, Abgeordneter des Laudwahlbezirks Frankenberg.
Gutsbesitzer, starb am 14. Juni 1876.
Erb, Abgeordneter des Laudwahlbezirks Fulda, starb am
_ 21. August 1871.
H a berland, Abgeordneter des Landwahlbezirks Hünfeld,
Apotheker, schon Mitglied des Landtags von 1881, starb
am 30. August 1870.
281
yinb, Abgeordneter des Loudwahlbezirks Hanau, ist 1873 I
gestorben.
H c r r l e i n, Abgeordneter des Landwahlbezirks Salmünster,
war in preußischer Zeit Mitglied des Abgeordnetenhauses,
in dem er durch sein Auftreten im Sinne der Parti-
kularisten eine scharfe Erwiderung des Grafen Bismarck
hervorrief. Er starb auf seinem Gute Margarethen haun
am 1. August 1890.
Peter, Abgeordneter des Landwahlbezirks Rinteln-Olden- ;
dorf, starb am 3. Februar 1877 in Fuhlen.
Wipp er mann. Abgeordneter des Landwahlbezirks Rodcn-
berg-Obcrnkirchen, I)r. zur., 1860—72 Redakteur von
Oetkers „Hess. Morgenzeitung", Mitglied der ersten drei
Kommunallandtage, Redakteur der „Deutsch. Allg. Ztg."
und von Brockhaus Konversationslexikon in Leipzig, der
„Rat.-Ztg.", der „Dresdner Ztg.", seit 1877 Mitglied
des Litt. Bureaus des preuß. Staatsmin.; Professor.
Z u s ch lag. erster Abgeordneter der Höchstbesteuerten des
Bezirks Kassel, ist hier am 15. Januar 1877 gestorben. j
Bcinhauer, zweiter Abgeordneter der Höchstbcstenerten '
des Bezirks Kassel, Gutsbesitzer in Vollmarshausen, starb
hier am 7. Mai 1884.
Braun, erster Abgeordneter der Höchstbesteuerten des
Bezirks Hersfeld, später Mitglied des nordd. Reichstags,
ist am 28. September 1879 in Hersfeld gestorben.
Wild, zweiter Abgeordneter der Höchstbesteuerten des
Bezirks Hcrsfeld, Gutsbesitzer, siedelte in der preußischen
Zeit nach der Provinz Posen über.
H ü n e r s d o r f, erster Abgeordneter der Höchstbesteuerten
des Bezirks Fritzlar.
Harnier, zweiter Abgeordneter der Höchstbesteuerten des
Bezirks Fritzlar, Dr. zur.. Rechtsanwalt, war noch
Mitglied des Reichstags, Direktor der Landeskreditkasse
in Kassel, starb in Cannstndt den 17. Oktober 1885.
Schüttler, erster Abgeordneter der Höchst besteuerten des
Bezirks Eschwegr, war nach 1866 noch Mitglied des
braunschweigischen Landtags und ist verstorben.
R o s e l i c b, zweiter Abgeordneter der Höchstbesteuerten des
Bezirks Eschwegc, Gutsbesitzer, starb am 26. Mai 1884.
Schneider, erster Abgeordneter der Höchstbcsteucrtcu des
Bezirks Marburg. Gutsbesitzer in Marbach bei Mar-
burg, gestorben 1868.
Lauer, zweiter Abgeordneter der Höchstbesteuertcn des
Bezirks Marburg, Gutsbesitzer.
Brenner, erster Abgeordneter der Höchstbesteuerteu des
Bezirks Hanau. Rentier in Hanau, ist verstorben.
Wiegand, zweiter Abgeordneter der Höchstbesteuertcn
des Bezirks Hanau, Regierungsrat, einst einige Tage
ins Auge gefaßt als Mitglied des zur Herstellung der
Verfassung von 1831 zu berufenden Ministeriums v. Loß-
bcrg; war nach 1866 Mitglied der Regierung in Kassel
und ist am 24. Februar 1877 zu Bari in Unteritalicn
verstorben.
v. B i sch o ffsha u se n, erster Abgeordneter der Höchst-
besteuerten des Bezirks Fulda, war nach 1866 Präsident
der ersten hessischen Kommunallandtagc, dann Landcs-
direktor in Kassel, wo er am 13. Juli 1884 starb.
H u p f e l d. zweiter Abgeordneter der Höchstbesteuertcn des
Bezirks Fulda. Rechtsanwalt in Hünfeld, dann in Kassel,
nach 1866 Justizrat und Vorstand der städtischen Spar-
kasse in Kassel, später Geh. Justizrat. Mitglied des
Kommunallandtags, langjähr. Vorsitzender des Bürgcr-
ausschusses, Ehrenbürger von Kassel, Mitglied einer
Deputation nach Friedrichsruh, starb in Kassel nur
19. April 1897.
v. S chen cf zu Sch w einsbc rg, Abgeordneter der Höchst-
bestcucrten des Bezirks Schmalkalden, früher Minister
in HvhenzoUcrn, starb schon am 3. August 1867.
Oetker, Karl, Abgeordneter der Höchstbesteuertcn des
Bezirks Schaumbnrg, Dr. zur., Rechtsanwalt in Kassel,
Justizrat, 1890 in Berlin, Mitglied des Reichstags,
starb in Berlin den 24. August 1893, beerdigt in
Rehren. seinem schaumburgischen Heimatsdorf.
Dirks. Landsyndikus, ist 1871 in Kassel gestorben.
Schüler, Landtagskommissar, am 26. September 1881
in Leipzig als pensionierter Rcichsauwalt gestorben.
Alfred Bock.
Von Alexander Burger,
(Fortsetzung.)
yu einer eng umgrenzten Gruppe gehören die drei
" Romane, die auch am charakteristischsten den Hei-
matsdichter erkennen lassen, „Tie Pflastermeisterin",
„Der Flurschütz" und „Kinder des Volkes".*) Sie
zeigen alle das eine gemeinsame Motiv von der
Schlechtigkeit der Welt, der Vertrauensseligkeit nn-
ersahrcner weiblicher Personen und den hierdurch
entstehenden unglücklichen Verhältnissen. In diesem
Punkte gleichen sich alle drei Romane aufs Haar. In
der „Pflastermeisterin" ist es die Lina, die betrogen
wird, im „Flnrschütz" die Christine, in dem letzten
Werke „Kinder des Volkes" das Leuchen. Immer
fleht Bock mit seiner Sympathie ans der Seite der
armen Betrogenen, die für eine schwache Stlinde,
*) Sämtliche genannte Werke sind bei Fvutaue & (io.
in Berlin erschienen. ,
da sie sich einem Schurken hingaben, ihr ganzes
Leben ans das bitterste büßen müssen. Von der
Pflastermeisterin bis zum Leuchen — es ist die
ganze Skala menschlicher Verzweiflung und mensch-
licher Ohnmacht, die sich vor uns zeigt. Und
da möchte ich die Bemerkung machen, daß diese
Franellgestalten in den Bockschen Werken, jene edlen
Personen, die nur ein unbedachter Augenblick zu dem
gemacht, was sie augenblicklich sind, zu den liebevollst
herausgearbeiteten gehören. Da ist die Pflaster-
meisterin, die nach dem Tode ihres ersten Gatten, ans
Rücksichten ans das übernommene und von ihr weiter-
geführte Geschäft ihres Mannes, sich ihrem ersten
Gesellen geradezu an den Hals wirst. Dieser kann
natürlich zu der alternden Frau nicht mehr in jener
Liebe entbrennen, die ihn von Abwegen fernhielte.
Er weiß wohl zu schätzen, welche Vorteile ihm ans
282
einer Heirat mit seiner Meisterin entspringen und
er reicht ihr die Hand zum ehelichen Bunde. Hier
tritt nun der tragische Konflikt ein.
„Alte Frau und junger Alaun
Haben nie nit gut gethan!"
Die Seelenstimmungen der Personen sind geradezu
meisterhaft geschildert. Wie sich in der Pflaster- |
Meisterin der Wandel vollzieht, wie Friedmar. der *
die Liebe nicht gekannt und überrumpelt die Heirat
mit der alternden Meisterin eingegangen, in Zu- !
neigung zu der Wirtstochter Lina. entbrennt, das
alles ist mit einer plastischen Darstellnngsweise vor ;
uns gestellt, daß wir die Handlung vor uns zu
sehen meinen und unwillkürlich den Gedanken fassen
müssen: das ist das Leben, wie es wirklich ist. — !
Ich habe selbst, um die Wirkung zu erproben, einen
kleinen Versuch gemacht und gerade dieses Buch im
Vereine mit dem Romane „Der Flurschütz" Leuten
in die Hand gegeben, welchen eine ästhetische Bildung
nicht zu eigen ist, die aber vielleicht als Beurteiler
des wirklichen Lebens kompetenter waren. Auch bei
ihnen habe ich die Erfahrung gemacht, die mir
selbst wurde, und aller Ausspruch gipfelte in dem
einen „da ist das Leben wirklich geschildert, so wie
es ist". Es giebt für einen Schriftsteller m. E.
kein größeres Lob. — Hinweisen möchte ich nvch
aus die prächtigen Detailschilderungen. so der Hoch-
zeit u. a. m. Wer in den Kreisen, die da be-
schrieben werden, heimisch ist. der wird sich wunderbar
angemutet fühlen von den trefflichen Schilderungen
ländlicher Sitten und Unsitten, die Bock uns hier
entwirft. Es sind in der Hauptsache keine sym-
pathischen Gestalten, die da als Staffage figurieren.—
Und doch auch von ihnen geht ein Hauch echten
ländlichen Lebens aus, auch sie heimeln jeden an,
der das Land und seine kräftigen, kernigen Gestalten
liebt und — kennt. Denn Lieben und Kennen ist
nicht einerlei und gerade bei Bock merkt man es,
wie beides sich erst aufs innigste berühren muß,
um das Leben des Volkes in seiner Tiefe zu er-
sassen. Die Liebe allein verursacht zu oft ein Ver-
schönern und Verschleiern, erst die genaue Kenntnis
des Volkes, die man sich nicht von heute auf morgen
aneignen kann, vermag es, Licht und Schatten gleich-
mäßig zu verteilen. Das ist der Punkt, aus den
ich schon in meinen Einleitungsworten hinwies.
Es darf sich keine g e s uchte Heimatsliebe geltend
machen.
Künstlerisch höher wie die Pflastermeisterin steht
wohl der nächste Heimatsroman Bocks „Der Flur-
schütz". Er bildet nur ein kleines Bändchen von
96 Seiten. Straff und folgerichtig entwickelt sich
auch hier die Handlung. Es ist fast gar kein Bei-
werk dabei, das etwa zu entbehren wäre. Alles ist
Handlung — und welche Handlung.
Auch hier ist sie ein tragisches Stückchen aus
dem Volksleben. Tie Christine, die von einem
Soldaten verführt wird, findet eine Stelle im Hause
des Flnrschützen, dessen Sohn der Verführer war.
Hier treffen nun beide wieder zusammen. Gerade
diese Szene des Sichaussprechens der beiden gehört
zu den schönsten im ganzen Romane. Charakte-
ristisch ist die Figur des Flurschütz herausgearbeitet.
Er ist ein fester, kerniger Mann. treu im Dienst
und doch nicht an die Buchstaben seiner Instruktion
gebunden. Auch er hat noch ein Herz im Leibe
und als er. der Wittwer. sich die Christel ins Hans
nimmt, da will sich sogar etwas wie Liebe regen,
sodaß der alte Graukopf noch sensterlu will. Am
Kirchweihtag ist es. Alles hat sich draußen ans
dem Festplatze versammelt. Nur die Christine ist
zu Hause. Sie liebt das Treiben der Jugend nicht
mehr, seitdem ihre Gedanken nur noch bei dem, der
ihres Kindes Vater ist, und bei ihrem Kindchen
selbst verweilen. Da aus einmal kommt der Jakob
zurück ins Elternhaus. Von neuem läßt er sich
von seinem Ungestüm fortreißen und der Flnrschütz,
der von einem Gange zurückkehrend die beiden findet,
tötet in rasendem Zorn seinen Sohn. Erst da er-
fährt er, daß er den Vater des Kindes von Christine
getötet hat, uiib ruhig, willenlos läßt er sich ins
Gefängnis abführen. — „Mit einem Male flammt
die Sonne auf und entzündet die Krone zu gleißender
Glut. Eine Feuersbrnnst loht zur Straße hinaus.
Und die Niesenfackeln zur Rechten und zur Linken
geben dem Flurschütz das Geleit." Mit diesen
Worten schließt das packende Bild.
Man kann. wenn man die letzten Kapitel des
Buches für sich betrachtet die Bemerkung, die s. Zt.
in diesen Blättern gelegentlich einer Besprechung
des Buches, gemacht wurde, daß sich nämlich Natura-
lismus und Heimatkunst hier zu innigem Bunde
zu vereinigen scheinen, wohl verstehen. Und doch haben
wir hier keinen Naturalismus, der das Häßliche
des Häßlichen wegen schildert, sondern Realismus,
der das Häßliche der Wahrheit wegen bringt und
ins Gemälde einfügt. Daß Bock hier manchmal
die Grenzen zwischen Realismus und Naturalismus
zu verwischen droht, sei gerne zugegeben. Und
doch läßt das Ganze, wenn auch nicht einen befreienden,
so doch den Eindruck eines wahrhaft tragischen Ge-
schickes in uns zurück, um desientwillen wir zittern
und beben und uns für die Betroffenen ängstigen
und sie bemitleiden. „Befreiend" wirkt die Er-
zählung nicht, eher niederdrückend und darum wird
sie auch von der modernen Heimatkunst nicht an-
erkannt werden. Wir aber sollten uns um des
Büchleins willen freuen, denn es zeigt doch eine
Kunst des Erzählers, wie wir ihr in unserer hessischen
Litteratur selten genug begegnen. Die Anwendung
des Dialektes auch bei der Schilderung der Ge-
danken heimelt so an. daß wir auch für dieses
Werk vom Standpunkte des Heimatliebenden ans
dem Dichter dankbar sein müssen?)
Der neueste Roman Alfred Bocks „Kinder des
Volkes", der, nachdem er zuerst ins Feuilleton der
„Frankfurter Zeitung" erschienen, nun auch in Buch-
form vorliegt und von mir bereits kurz in dieser
Zeitschrift angezeigt wurde, ist wiederum ein voll-
wichtiges Werk durch und durch. Er übertrifft das
Meisterstück knapper Darstellung, den „Flurschütz",
zwar nicht. Mir persönlich steht in künstlerischer
Hinsicht das kleine Bild aus dem Volksleben be-
deutend höher wie das neueste Werk aus der Feder
unseres Dichters. Nicht etwa, daß „Kinder des
Volkes" einen Rückschritt bedeuten, das Sujet ist
vielmehr ein solches, daß es uns gerade in diesen
Tagen besonders interessieren kann. — Auch hier
ist das Klagelied vom armen betrogenen Weibe
der Anfang. Ter Notarschreibex hat das Leuchen
betrogen und sie dann sitzen lassen. In ihrer Not
findet sie Trost bei einem Lehrer des Städtchens,
beim Bolksschullehrer Vollhardt. Dieser, ein ehe-
maliger Theologe, lebt jetzt kümmerlich genug sich,
seinem Kinde — und seinem Volke. Denn sein
Ideal, sein höchstes Streben ist es, dem Volke
wahre Bildung zu bringen, es aus dem geistigen
Schlafe zum Leben zu erwecken. Ihm will er die
Werke unserer Meister der Litteratur vorführen, die
nicht für eine Klasse, für die Reichen, geschaffen,
sondern die in ihren Werken für das ganze Volk
ihr Edelstes Hingaben, was sic zu vergeben hatten.
Volkskunst will er treiben, nicht im Sinne einer
*) Als Probe der Erzählungsart Alfred Bocks wird
in der nächsten Nummer des „Hessenland" mit Genehmigung
der Verlagsbuchhandlung ein Abschnitt aus dem Roman
„Der Flurschütz" abgedruckt werden. T. Red.
neuen Kunst, die für die Bedürfnisse des einfachen
Mannes erst zugestutzt wird, sondern in dem Sinne
des Zukommens echter, wahrer Kunst an alle
Menschen. Geradezu herrlich ist in dem Buche das
Kapitel, das uns einen öffentlichen Vortragsabend
des Lehrers vorführt. Wie sein beobachtet sind da
die Charaktere, wie schön ist uns die Rede des
Lehrers vorgeführt, wie er in seiner einfachen
schlichten Weise seine Zuhörer in ein Gebiet ein-
führt, das ihnen bisher völlig fern gelegen. Mancher,
der heute für die Bestrebungen eintritt und in
ihnen wirkt, die sich mit dem Vorgehen des Lehrers
Vollhardt in diesem Romane decken, kann sich hier
ein Beispiel nehmen. Das ist wahrhaft volks-
tümlich geredet, das ist wahre Kunst fürs Volk. —
Mit diesem Volksbeglücker im edelsten Sinne
des Wortes wird nun Leuchen bekannt und er ist
ihr Schutz und Trost, bis er ihr am Ende die
Hand zum ehelichen Bunde bietet. Daneben geht
die mehr ins Humoristische spielende Geschichte von
der Heirat des Notarschreibers mit der gerade
nicht in gutem Rufe stehenden Stadlern und die
i Strafe, die er in der Ehe für sein früheres wüstes
Leben erleidet; alles auch hier mit getreuester Be-
obachtung und Natürlichkeit wiedergegeben. Fein
komisch wirkend ist die Hochzeit der Stadlern mit
dem Notarschreiber geschildert, von den Anzüglich-
keiten des Pfarrers in der Kirche ab bis zu der
mit allen möglichen Zitaten gespickten Rede des Herrn
Wollenweber.
Der Schauplatz ist in diesem Romane nicht aus
dem flachen Lande, sondern in einem kleinen Städt-
chen zu suchen. Es ist hier mehr die Arbeiter-
schaft, die uns entgegentritt, gerade wie in einem
früher erschienenen großen Romane Bocks in „Bodo
Sickenberg"*).
*) Verlag F. Fontane *V Co., Berlin 1900.
(Schluß folgt.) Z J 6
------------------------
Oie symbolischen Thaler des Landgrafen Wilhelm V.
zu Hessen.
Von Theodor Meyer.
Zu den eigenartigsten hessischen Prägungen,
welche die Aufmerksamkeit des Beschauers sofort
fesseln, gehören wohl die symbolischen Thaler
des Landgrafen Wilhelm V. Wieviel ist und wird
über dieselben bis aus den heutigen Tag gefabelt.
Der Volksmund nennt sie kurzweg Weideubaum-
oder .Kornthaler, ja die meisten Münzwerke und
Kataloge alter und neuester Zeit bedienen sich
dieser Benennungen, jedenfalls ohne eine Ahnung
von deren Unrichtigkeit zu haben. Diese Thaler
zeigen auf der Vorderseite entweder das hessische
Wappen oder nur den gekrönten Löwen in ver-
schiedenartiger Zeichnung und Anordnung, die
Umschrift lautet teilweise abgekürzt: YVilhelmus
Dei Gratia Landgravius Hassiae, Administrator
Hirsfeldiae,(JomesCattimeliboci,Dieziae,Ziegen-
hainae Et Niddae. Auf der Rückseite befindet
sich ein aufrecht stehender, durch Stlirm gebeugter
Baum. auf welchen aus schweren Wolken ein
Donnerwetter mit Blitzen niedersaust, darüber die
strahlende Sonne mit der Inschrift „Jehova"
in hebräischen Buchstaben, die Umschrift lautet:
VNO (oder DEO oder IEHOYA) VOLENTE
HYM1LIS LEYABOB und Jahreszahl. Dieser
Baum und die sonstige bildliche Darstellung sind
es. worüber sich so verschiedenartige Erzählungen
und Fabeln gebildet haben. Bald wird er für
einen Weidenbaum, dann sogar für eine Korn-
garbe gehalten, ohne indes eines von beiden zu
sein, wie ans nachstehendem hervorgehen wird.
Landgraf Wilhelm, dessen 300jühriger Geburts-
tag aus den 14. Februar dieses Jahres siel, regierte
iu den Drangsalen des 30jährigen Krieges, von
1«»27 — 37, und war dem Schwedenkönig Gustav
Adolf getreu und beständig zugethan, wodurch er
in der hessischen Geschichte auch den Beinamen
„der Beständige" erhielt. Dieser kommt aus
Münzen jedoch erst ans denjenigen, welche aus
seinen Tod geschlagen wurden, zum Ausdruck.
Es heißt aus diesen: Wilhelmus Y. Dictus
Constans it. s. w.
Tie verschiedenen Auslegungen des aus den
Thalern befindlichen Sinnbildes sind nun folgende:
Als der Landgraf einst durch die sogen. Au (die
jetzige Karlsaue in Kassel) ritt und von einem
Gewitter überrascht wurde, sei der Blitz vor ihm
iu einen Weidenbaum gefahren und er wohl-
behalten geblieben. Eine andere besagt, daß, als
Wilhelm aus einer Reise von einem Donnerwetter
überfallen wurde, der Blitz ganz in seiner Nähe
in eine Korngarbe einschlug, wodurch er vor
Schreck mit dem Pferde zu Boden gestürzt sei.
Seine Pagen wären sogleich hinzugesprungen und
hätten ihn gefragt: „Gnädigster Herr! Sie sind
doch nicht verletzt?", woraus der Landgraf geant-
wortet: „Nicht hier, sondern oben im Himmel ist
der gnädigste Herr, durch dessen Gnade ich und
ihr noch das Leben habt." Eine andere, haupt-
sächlich im Hanauischen verbreitete Erzählung ist:
Als Landgraf Wilhelm, welcher der hart durch
den kaiserlichen General Lamboi bedrängten Stadt
Hanau Hilfe bringen wollte, am Morgen des
13. Juni 1636 seine Scharen auf einem Korn-
seldc zum Angriff ordnete, sei plötzlich aus heiterem
Himmel ein Blitz mit heftigem Donnerschlag
niedergesahren, ohne ihn zu verletzen, und er habe
dieses für ein günstiges Zeichen zum Gelingen
seines Planes angesehen. Die Wirklichkeit ent-
sprach dem auch, denn Wilhelm ritt schon am
Mittage desselben Tages als Sieger durch das
Nürnberger Thor in Hanau ein. Die dankbaren
Bewohner der Stadt feiern bis aus die Gegen-
wart diesen Tag als großes Volksfest. Lamboitag
genannt, ebenso wird noch von vielen derselben
geglaubt und weitererzählt, daß die Thaler ans
obigen Vorfall geschlagen seien. Noch eine, jedoch
ganz unwahrscheinliche Sage ist, daß in irgend
einem Jahre das große Kornfeld, an dessen Stelle
sich jetzt der Auepark befindet, durch Blitz und
Sonne entzündet oder daß ein Glutwind in Hessen
geweht habe, wodurch alle Felder und Fluren
verdörrt und danach diese Thaler „An- oder Korn-
thaler" benannt worden wären.
Aus jede dieser vorstehenden Begebenheiten sollen
nun die Thaler zum Angedenken geschlagen worden
sein, ohne daß sich hierfür sei es geschichtlich oder
urkundlich etwas erbringen ließe. Nun ist aber
das Merkwürdige, daß alle Münzen Wilhelms,
von denen es auch dreifache, doppelte, halbe, viertel
und achtel Thalerstücke gibt, und aus allen Jahren
seiner Regierung, ja selbst noch aus den ersten
i Jahren seines Sohnes und Nachfolgers Wilhelms YI.
dasselbe Gepräge zeigen. Mithin kann ein einzelnes
Ereignis gar nicht gemeint sein, auch würde als-
dann wohl die Inschrift einen bestimmteren Hinweis
enthalten. Es gibt nun auch Thaler, aber nur vom
ersten Negierungsjahr, welche gewiß früher als
die mit Sinnbild geschlagen sind, da sie in den
nächsten Jahren nicht mehr vorkommen, welche
nur den Spruch Uno volente it. s. w. ohne jenes
Sinnbild tragen. Hiernach ist wohl die Annahme
berechtigt, daß Wilhelm den Wahlspruch bereits
. früher angenommen hatte und erst später die
sinnbildliche Darstellung hinzufügte. Wie ist diese
aber zu deuten! Betrachtet man nun den rätsel-
haften Baum aus gut erhaltenen Stücken aus
den ersten Regierungsjahren Wilhelms genauer,
so kommt man zu der Überzeugung, daß derselbe
weder ein Weidenbaum noch eine Korngarbe sein
kann, sondern unverkennbar ein Palmbanm ist.
Unter Berücksichtigung und Erwägung aller vor-
stehenden Umstände wird wohl folgende Auslegung
den Sinn des Spruches und des Bildes der Wahr-
heit am nächsten bringen.
Wilhelm, welcher ein gottessürchtiger Mann
war, wählte den vom Gewitter zwar gebeugten,
aber durch den Schutz der Gottheit im Bilde der
strahlenden Sonne unerschüttert und aufrecht er-
haltenen Palmbaum, um damit denjenigen Zustand
anzudeuten, in welchem er sich in den bedenklichen
Zeiten des 30jührigen Krieges fühlte. Es ist genug
bekannt, in welcher drangvollen und verantwvrtungs-
reichen Lage er sich beim Antritt der Regierung
befand und wie er die Stürme voraussah,
welche über ihn und sein Land hereinbrechen
würden, sich dabei aber immer auf den mächtigen
Arm Gottes verließ. Dieses drückt auch der
Spruch aus den Thalern so schön und klar aus.
der soviel, wenn auch nicht wörtlich, sagen will:
Wenn gleich alle Wetter auf mich losstürmen,
wird Gott mich Schwachen dennoch aufrecht zu er-
halten wissen. — Hieraus folgt, daß der gewählte
Palmbaum als Sinnbild der Stärke, den die
Wetter nicht zum Wanken bringen können, Wil-
helms damalige bedrängte Lage figürlich bezeichnen
sollte, wozu der Wahlspruch vortrefflich angemessen
war, zugleich kam hierbei so recht sein religiöser
und demütiger Sinn zum Ausdruck. Man sieht,
es ist nicht nötig, seine Zuflucht zu obigen albernen
Zabeln und Auslegungen zu nehmen, welche leider,
durch die Münzlitteratur verbreitet, so allgemein
wurden und es bis ans den heutigen Tag noch
sind.
An den Thalern ans den späteren Regierungs-
jahren Wilhelms fallen nun verschiedene Verände- j
rangen auf, welche am Titel, Spruch und Bild
vorgegangen sind. Zuerst bemerkt man die
Änderung des Hoheitstitels im Jahre 1629,
welcher jetzt nicht mehr die Worte Administrator
Hirsfeldiae enthält, da Wilhelm nach dem
Restitutionseditt des Kaisers das Stift Hersfeld
wieder hergeben mußte. Eine große Bitternis
und Enttäuschung für ihn. Man sieht, auch
Münzen, diese stummen Zeugen einer längst ent-
schwundenen fernen Zeit, können reden. Sodann
erscheinen auf den Thalern des Jahres. 1630
hinter dem Baum des Sinnbildes einige Thürme
und Häuser mit Mauer umgeben, anscheinend soll
es eine Stadt vorstellen, vielleicht Kassel, damals
der Zufluchtsort vieler vor den Scharen Tillys
flüchtender Menschen, welche auch hier sicher ge-
borgen waren, da während des ganzen Krieges
Kassel nie vom Feinde betreten wurde. In diesem
Jahre schloß auch Wilhelm sein Bündnis mit
Gustav Adolf, verbesserte die Befestigungen Kassels
und befahl, daß alle Einwohner sich reichlich mit
Lebensrnitteln versorgen sollten, um für die nun
kommenden Kämpfe gerüstet zu seirr. Ter Land-
graf durste das stark befestigte Kassel wohl als
seinen vornehmsten und sichersten Hort betrachten
und wollte dieses durch Hinzufügung der mit
Mauern umgebenen Stadt auch ans seinen Münzen
jetzt zum Ausdruck bringen. Ein anderer Grund
hierfür läßt sich schwer finden, auch kann man
nicht gut annehmen, daß die Veränderung des
Sinnbildes durch die Willkür eines Münzmeisters >
oder der Stempelschneider entstanden ist. Ferner
fallen die Änderungen am Wahlspruch auf. An-
sangs lautete er: Vno volente u. s. w., dann:
Deo volonte n. s. w. und in den letzten Jahren:
-Jehova volente u. s. w. oder auch wieder: Vno
volente u. s. w. Vom Jahre 1633 au benutzte
man die Anfangsbuchstaben der Worte des Spruches,
indem diese viel größer als die anderen Buchstaben
dargestellt wurden, um den Namen und Titel
Wilhelms dadurch auszudrücken, znm Beispiel:
Vno .Volente . Hi milis . Levabor, also V V. H . L.
(Wilhelmus Hassiae Landgravius). In solchen
kleinlichen Spielereien wurde in früheren Jahr-
hunderten etwas Bedeutungsvolles gefunden, viel-
leicht auch abergläubische Vorstellungen damit in
Verbindung gebracht. In den folgenden Jahren
sind alsdann noch Hagel und Regen der bildlichen
Darstellung des Gewitters hinzugefügt. Die Zeich-
nung des Palmbaumes verändert sich vom Jahre
1629 ab immer mehr, sodaß man ihn wirklich
für einen Weidenbanm halten kann, und ähnelt
schließlich einer Korngarbe eher als einem Baume.
Wie und wodurch mögen nun diese ausfälligen
Veränderungen entstanden sein ? Es ist schwer,
hierfür einen sicheren Grund zu finden, auch die
einschlägige Litteratur enthält kein Wort darüber.
Tie wahre Ursache der Entstellung, ja Verzerrung
des Palmbanmes wird wohl in der Unkenntnis
und stüchtigen Arbeit der Stempelschneider zu
suchen seiii, von denen gewiß immer eine größere
Anzahl beschäftigt war, die Menge von Stempeln
anzufertigen, welche bei der damaligen Unvoll-
kommenheit der Prügewerkzeuge und des Materials
nötig waren, um diese Masse von Münzen her-
zustellen, die Wilhelm in seiner kurzen Regierungs-
zeit schlagen ließ. Ausfallend und merkwürdig
ist es ja immerhin, daß sich an dem Sinnbild
solche Veränderungen sozusagen unter den Augen
des Landgrafen zugetragen haben, ohne daß da-
gegen eingeschritten wäre, denn auch nicht ein
einziges Stück der späteren Jahre ist bis jetzt
gesehen worden, ans welchem der Palmbaum so
deutlich zu erkennen wäre wie auf den Thalern
der ersten Jahrgänge. Die vielen Stempel-
verschiedenheiten dieser Thaler, von denen es gewiß
weit über 100 gibt (besitzt meine Sammlung doch
ungefähr einige 50 Stück davon) und welche man
bestimmt bis ans den heutigen Tag noch nicht
alle kennt, da immer noch solche auftauchen, die
Jakob Hoffmeister in seinem klassischen Werke
hessischer Münzen nicht aufführt, rühren auch
nicht daher, wie verschiedene numismatische Schrift-
steller berichten, daß Wilhelm diese vielen Thaler-
aus Eitelkeit oder auch Liebhaberei habe schlagen
lassen, sondern erklären sich nur durch die rasche
Abnutzung der Stempel, weil dieser Fürst wie
kein anderer zu den schweren Kriegslasten des
30jährigen Krieges solcher ungeheuren Summen
Geldes und in so kurzer Zeit bedurfte. Alle diese
Münzen sind grob und unförmlich gearbeitet und
lassen in Hinsicht aus die Geschicklichkeit der
Stempelschneider viel zu wünschen übrig, dagegen
ist ihr Gehalt ein guter, auch haben fast alle
vorkommenden Stücke volles Gewicht.
In Kassel waren zwei Münzstätten, die eine
unter der Kanzlei (jetzt Nenthos), die andere im
„Wildenmann" ständig im Betrieb. Die Thaler
des Jahres 1637, welche heute noch am zahl-
reichsten vorkommen, tragen vier verschiedene
Münzmeisterzeichen, von welchen man drei bestimmt
kennt*), das vierte ist bis zur Gegenwart unbekannt
geblieben. An dem gleichzeitigen Vorkommen dreier
Münzmeister läßt sich ermessen, was für hohe An-
forderungen an die Münze gestellt wurden, und
welche große Summen geprägt fein müssen.
Über was für Geldreichtümer Wilhelm verfügte,
geht schon daraus hervor, daß er bei seinem oben
erwähnten Einzug in Hanau den Armen und
Bedürftigen der Stadt sofort taufend Thaler als
Geschenk überweisen ließ und außerdem zur Unter-
haltung der gräflichen Besatzung Hanaus noch
fünftausend Thaler als Darlehn vorschoß, gewiß
für jene geldarme Zeit eine beträchtliche Barsumme.
Auch muß man hierbei noch in Betracht ziehen,
daß der damalige Reichsthaler — es gingen 9 Stück
auf die kölnische Mark seinen Silbers — schwerer
und daher wertvoller als der heutige Thaler war,
von denen 14 Stück auf die seine Mark entfallen,
mithin jener im Verhältnis zum heutigen Zwangs-
knrs von 3 Mark einen Wert von 4 M. 662 3 Pf.
besaß, ohne die viel größere Kaufkraft und den
höheren Silberwert damaliger Zeit im Vergleich
zur Gegenwart dabei in Anschlag zu bringen.
Von keinem hessischen Fürsten hat man verhältnis-
mäßig so große Mengen guter Münzen, nament-
lich Thaler, und diese in so vielfachen Stempel-
verschiedenheiten. wie von Wilhelm V. Seine
Thaler kommen heute, nach ungefähr 270 Jahren,
noch so häufig vor, daß kaum eine Münzen-
Versteigerung tm In- und Auslande stattfindet,
auf welcher solche nicht in einem oder mehreren
Stücken zu finden wären. Im Lande selbst gibt
es noch manche Familien, welche diese Thaler seit
Urväterzeiten als Erbstücke treulich aufbewahren.
Man kann als sicher annehmen, daß die Thaler
Wilhelms bis zur Zeit des Landgrafen Friedrich II.,
welcher gleich nach dem siebenjährigen Krieg eine
*) Vergl. den Aufsatz des Herrn Professors Wein-
meister im „Hessenland" 1902. S. 215.
-----------------<»>■
Aschgraue, regungslose Luft,;
tsalbverwelkter Astern herber Duft
Legt wie ein Grabstein sich aufs tNenfchenhcrz.
ITiit dumpfem Druck bedeckend Lust und schmerz
D t> r m st fl i> t.
neue Währung einführte, die herrschende Thalersorte
in Hessen gewesen sind. Alle Regiern ngsnachsolger
Wilhelms haben nur selten Thaler und alsdann
nur äußerst mäßig schlagen lassen, was man
zuverlässig an dem sehr spärlichen Vorkommen
solcher Stücke verfolgen kann. Als Beweis für
Vorstehendes möchte ich kurz anführen, daß meine
Sammlung von den Thalern Wilhelms ungefähr
60 Stücke answeist, welche alle in dem Zeitraum
von 10 Jahren (1627—1637) geschlagen sind,
während ans der langen Zeit von Wilhelms Tode
bis zum Ende des siebenjährigen Krieges, mithin ans
126 Jahren, dieselbe nur einige 20 Stücke enthält,
und diese noch nicht einmal alle aus verschiedenen
Jahrgängen, der Jahre, in welchen Kursthaler
geprägt wurden, sind es noch weniger als 20.
Hiernach kann man sich wohl einen Begriff machen,
in welchen beispiellosen Mengen Wilhelm hat
Thaler schlagen lassen. Dieselben kamen noch his
zur Mitte des vorigen Jahrhunderts bei hessischen
Rentkassen in Zahlung vor, trotz verschiedentlicher
Ansforderungen zur Einlieserung dieser Münzsorte.
Der Liebhaberwert der shmbvlischen Thaler
schwankt hellte zwischen 15 und 20 Mark das Stück,
während die Thaler sämtlicher Regierungsuachsvlger
bis 1763 einen solcheil von 60 bis zu 200 Mark
das Stück besitzen.
Ter Verfasser dieses würde sehr erfreut sein,
wenn jüngere Kräfte sich dem Studium lind
Sammeln hessischer Münzen zuwenden wollten.
Wie manches Stück ist und wird durch den
Sammler vor dem Schmelztiegel, dem größten
und gefährlichsten Feinde aller Münzen, bewahrt
und der Zukunft erhalten, um Zeugnis in fernster
Zeit noch ablegen zu können voll der Kultur
unseres Stammes; denil was ist wohl unvergäng-
licher als Münzen, welche heute noch ebenso in
unserer Hand ruhen wie vor Jahrhunderten in der
unserer lücltern! Welch hohen Genuß und reiche
Befriedigung das Münzsammeln gewährt, wird
jeder empfinden, der in den Münzen mehr als nur
Augenweide sucht. Was für eine unendliche Fülle
historischer Belehrung nnb Unterhaltung bieten sie
und zu welchen Erwägungen nnb Betrachtungen
über alles Vergängliche regen sie an, denil in
ihnen spiegelt sich wie kaum anderswo die Ge-
schichte einer mehr als 600 jährigen ruhmvollen
Vergangenheit lehrreich ab.
----------—
5 t.
Das ist die Ruhe vor dem Lad,
Ihr armen Blätter, blutigrot,
Ihr müden Bäume mit den dürren Zweigen,
IDollt ihr ein düster Zukunftsbild mir zeigen?
Lderese Köstlin.
287
Aus alter und neuer Zeit.
LclmiSrettuiig durch eine Geburts-
tagsfeier. Vor der Errichtung des neuen, statt-
lichen Universitütsgebändes in Marburg, welches im
Sommer 1879 feierlich eröffnet wurde, pflegten die
dortigen Professoren, mit Ausnahme derjenigen der
Medizin, welchen die Räume des Anatomiegebäudes
zur Verfügung standen, ihre Vorlesungen in ihren
Privatwohnungen abzuhalten, in welchen sie sich zu
diesem Zwecke geeignete Hörsäle einrichten mußten.
Denn das schon im Jahre 1521 bei der Gründung
der Universität durch den Landgrafen Philipp I.,
den Großmütigen, erbaute alte Universitätsgebände
enthielt keine zur Abhaltung von Vorlesungen dien-
lichen Räume, sondern nur die für die öffentlichen
Akte der Universität erforderlichen, die Aula nebst
dem Prüfnngssaal, die Bureaus des Universitäts-
gerichts lind — den Karzer. Da die Frequenz der
Universität damals die Zahl von 800 Studenten
aller Fakultäten nie überstieg, und viele, besonders
ältere Professoren, eigene Wohnhäuser besaßen, so
bot die geschilderte Einrichtung auch keine besonderen
Schwierigkeiten dar.
Auch der damalige, langjährige Vizekanzler der
Universität Professor Dr. jur. Eduard Löbell,
dessen Spezialfächer Kriminalrecht und Kriminal-
prozeß waren, besaß ein Wohnhaus am Stein-
wege, in welchem er sich ein geräumiges Parterre-
zimmer als Hörsaal eingerichtet hatte. Dieses Haus
war, wie aus seinen sehr starken Fundamenten und
seiner sonstigen Bauart hervorging, von sehr ehr-
würdigem Alter itnb schon mehrere Generationen
hindurch im Besitze von Professoren gewesen, so
daß es gewissermaßen als ein Jnventarstück der
Universität betrachtet wurde. Professor Löbell selbst,
welcher im Jahre 1868 in hohem Alter, nachdem
er bis zuletzt in seinem Berufe thätig gewesen war,
starb, war eine sowohl als Jurist, wie als Mensch
und Politiker hochgeschätzte Persönlichkeit, welcher
auch als Vertreter der Universität im knrhessischen
Landtage viel zur Wiederherstellung des kurhessischen
Veriassnngsrechts vom Jahre 1831 beigetragen
hatte und daher auch über die Grenzen seines
engeren Vaterlandes hinaus in hohem Ansehen stand.
Seine Vorlesungen, welche er in den Morgenstunden
von 10 bis 12 Uhr zu halten pflegte, erfreuten
sich daher auch eines besonders eifrigen Besuchs,
welcher nur selten von einem seiner Zuhörer ver-
säumt wurde. Auch der Professor pflegte, abgesehen
von ganz besonderen, außerordentlichen Veran-
lassungen . nur einmal im Jahre die Vorlesungen
auszusetzen, nämlich an seinem Geburtstage, an
welchem ihm zahlreiche Glückwünsche von Verwandten
und Freunden, namentlich seinen akademischen
Kollegen, sowie and) von Studenten und ans dem
Kreise der Bürgerschaft dargebracht zu werden
pflegten. So geschah es auch im Sommer 1864,
und die Zuhörer Löbells benutzten diesen freien Tag
je nach der Verschiedenheit ihres Naturells teils
zum Studium, teils auch zu einem Erholungs-
ausflnge in die romantische Umgebung Marburgs.
Als sie nun andern Tags sich wieder zur ge-
wohnten Stunde zum Besuche der Vorlesungen ein-
gefunden hatten, staunten sie nicht wenig, den Hörsaal
verschlossen zu finden. Doch wurde ihnen bald
Aufklärung hierüber durch Professor Löbell selbst
zu teil, welcher sie ersuchte, in sein Empfangszimmer
einzutreten, das er bis auf weiteres zu seinen
Vorlesungen zu benutzen genötigt sei, da der
Hörsaal der Zerstörung anheim gefallen sei.
Denn gestern Morgen gerade zur Zeit der sonst
stattfindenden Vorlesung zwischen 11 und 12 Uhr-
habe er sich mit mehreren Gratulanten in dem an
den Hörsaal anstoßenden Empfangszimmer befunden,
als sie plötzlich bnrd) ein furchtbares Krachen und
Gepolter in jenem erschreckt worden seien. „Und
sehen Sie. meine Herren, dieses war die Ursache des
Lärms!" Mit diesen Worten schloß Löbell die
Thüre des Hörsaals aus, seine Zuhörer traten ein
und standen an einer Stätte der Verwüstung. Der
dicke, aber wie sich nun herausgestellt hatte, schon
längere Zeit morsche Querbalken, welcher nach alter-
tümlicher Bauart die Zimmerdecke getragen hatte,
war geborsten und herabgestürzt und hatte dadurch
auch den Sturz des übrigen ans ihm ruhenden,
aus Balken. Lehm und Dielen bestehenden Materials,
sowie mehrerer in dem über dem Hörsaal ge-
legenen Zimmer gestandenen Möbelstücke herbei-
geführt. Die Wirkung dieses Einsturzes war höchst
verderblich gewesen. Das Pult des Katheders, vor
welchem Professor Löbell bei seinen Vorträgen zu
stehen pflegte, war durch den herabgestürzten Balken
völlig zertrümmert, und es blieb nach der Lage
des letzteren kein Zweifel übrig, daß dem Prvsessvr
selbst, wenn er sich während des Einsturzes in
seiner gewohnten Funktion befunden hätte, das Haupt
zerschmettert worden wäre. Auch die Pulte der
Znhörer waren vielfach schwer beschädigt, und
mancher der letzteren hätte den Tod oder eine
schwere Verwundung erleiden können, wäre die Vor-
lesung nicht gerade zur Zeit des Eintritts der
Katastrophe ausgesetzt gewesen. Löbell wies hieraus
seine, von dem sich ihnen darbietenden Bilde der
Zerstörung und einer glücklich vermiedenen augen-
scheinlichen Lebensgefahr ohnehin ergriffenen Zu-
hörer hin und fügte tiefbewegt hinzu, daß sie alle
der Vorsehung nicht genug dafür danken könnten.
288
daß der Einsturz, welcher, obgleich er von den Auch bei der übrigen Einwohnerschaft der Uni-
Hansbewvhnern nicht im geringsten geahnt worden, vcrsitätsstadt erregte dieser rasch bekannt gewordene
doch nach der nunmehr zutage getretenen Morsch- merkwürdige Vorfall lebhafte Teilnahme und Freude
heit des Materials schon lange gedroht habe, gerade darüber, daß durch ein glückliches Zusammentreffen
an diesem kvllcgienfreien Tage erfolgt sei. Eine der Umstünde ein schwerer Unglückssall vermieden
durchgreifende gründliche Reparatur seines Mohn- worden war. R v A
Hauses werde seine nächste Sorge sein.
Aus Heinrat und Fremde.
H es si scher Gcschichtsvcrein. Unter zahlreicher
Beteiligung wurden die Monatsversammlnngen des
Vereins für h e s s i s ch e G c s ch i ch t c u n d L a n d e s -
künde zu Kassel im kleinen Saale des evan-
gelischen Bereinshalises am 27. Oktober wieder er-
öffnet. Ter erste Vorsitzende, Herr Generalmajor z. T.
Eise nt raut, begrüßte die Anwesenden und be-
tonte in einer Ansprache die Notwendigkeit der
Werbung neuer Mitglieder zur Verbesserung der
Finanzen, damit Hessen nicht den anderen Geschichts-
nnd Altertumsvereinen gegenüber ans einzelnen
Gebieten im Rückstand bliebe, wie es jetzt leider that-
sächlich der Fall sei. Ties habe die kürzlich in Düssel-
dorf stattgesnndene Tagung des Gesamtvorstandes
dieser Vereine bewiesen. Vor allem erforderten die so
sehr nötigen Arbeiten mit dem Spaten zur Freilegung
historischer Altertümer viel Geld. Erreiche der Verein
»och eine größere Mitgliederzahl, so würden auch
die ihm gewährten Zuschüsse in reichlicherem Maße
fließen. Nach den weiteren geschäftlichen Mitteilungen
hat der Verein in dem vergangenen Vierteljahr
einen Zugang von 36 Mitgliedern zu verzeichnen,
während elf ausgeschieden sind. Der Vorstand des
Kasseler Zweigvereins ist derselbe geblieben, in den
Gesamtvorstand aber tritt an Stelle des an die
Universität Göttingen berufenen Herrn Professors
Edward Schröder in Marburg Herr Landesgerichts-
rat Gleim daselbst. Nachdem der Herr Vor-
sitzende einigen Herren, welche dem Verein Bücher,
Zeichnungen und Mnsikalien geschenkt, seinen Tank
ausgesprochen hatte, erteilte er Herrn Dr. Schwarz-
k v p f das Wort, der daraus den angekündigten
Vortrag H e r b st m a n ö v e r d e r k n r h e s s i s ch e n
Truppen unter dem letzten Kurfürsten"
hielt.
Der Redner leitete seinen Vortrag mit citiern;
Hinblick auf diejenigen Manöver ein, die der Welt-
geschichte angehören, wie z.B. die gewaltigen Truppen-
übungen, die Friedrich der Große und Napoleon I.
vornahmen, und auf jene, welche nur für die Sonder-
geschichte einzelner Staaten von Bedeutung sind.
Tie hessischen Manöver seien freilich nur Kriegs-
spiele in kleinem Maßstab gewesen, aber sie hätten
doch das Gute gehabt, daß die tüchtige Ausbildung
der Truppen durch sie noch erweitert wurde. Möchte
auch vieles dabei nach unseren heutigen Begriffen
mit einem Lächeln abgethan werden, so müsse man
die damaligen Zeitverhältnisse dabei in Rechnung
ziehen und auch erwägen, daß die knrhessischen Land-
stände in rebus inilitaribus nur widerstrebend
irgendwelche Geldmittel bewilligt hätten. Nach von
ihm gemachten Auszeichnungen schilderte I>r. Schwarz-
kopf nunmehr ein Manöver ans den 60 er Jahren
und zwar jenes, welchem als Bundes-Jnspektivns-
Offiziere der königl. preußische Generalleutnant von
Brauchitsch und der großherzoglich badische
Generalmajor von Fab er beiwohnten.*) Mit
köstlicher Kleinmalerei wurde der Auszug der Kasseler
Bürger und der Schuljugend nach der Knallhütte,
in deren Umgegend das Manöver stattfand, wieder-
gegeben und all die kleinen Abenteuer eingeflochten,
die sich dabei hin und wieder zutrugen. Ein weiteres
Bild zeigte den Kurfürsten, begleitet von seiner
glänzenden „Schwidde", bei welcher auch des fran-
zösischen Obersten, späteren Generals Duplessis ge-
dacht wurde, den Familienbeziehungen öfters in
die kurfürstliche Residenz führten, wo er auch dies-
mal anwesend war. Die Gesandten der verschiedenen
Höfe fehlten ebenfalls nicht auf dem Manöverseld.
Redner gab darauf eine eingehende Beschreibung
des Manövers, in welchem ein von Süden her an-
rückender Feind von Kassel zurückgeschlagen wurde.
Bei den in das Gefecht eingreifenden Truppenteilen
wurden auch eine Menge von Namen genannt,
welche das damalige knrhessische Osfizicrkorps vor den
älteren Zuhörern in voller Frische wieder erstehen
ließ: General v. Lvßberg, die Obersten v. Baum-
bach, v. Bicdenscld, Bödicker, v. Buttlar,
v. Ende, der Oberstleutnant v. Sturmscd er, die
Majors v. Heathcüte, v. Oeynhausen, v. Stein
und andere Stabsoffiziere, von den jüngeren Offizieren
aber traten hauptsächlich die Gestalten der schneidigen
Husarenleutnants Beinhalt er und Ferdinand
v. Stein in den Vordergrund. Nachdem die Gardes-
dn-Corps dttrch eine kühne Umgehung des Schenkel-
bergs die dunkelblatten Husaren zu Gefangenen
*) Vergl. „Hessenland", laufender Jahrgang, Seite 09.
gemacht hatten, wofür sie das unumschränkte Lob
des Generals v. Brauchitsch ernteten, wurde „Feuer
vorbei!" geblasen und Offiziere wie Soldaten gaben
sich willkommenen Stärkungen hin. Auf die ersteren
übten selbstverständlich die Hofküchenwagen eine
besondere Anziehungskraft aus, wo die Frau
F ü r st i n v o n H a n a u in liebenswürdigster Weise
die Wirtin machte. Mit einem Hinweis ans die
neue Zeit, die sich im Militärwesen so gewaltig
entwickelt habe, schloß Herr I)i-. Schwarzkopf seinen
mit großem Beifall aufgenommenen Vortrag, der
in frischen Farben ein äußerst getreues Bild des
kurhcssischen Mauöverlebeus gab. Als sichtbare
Erinnerungszeichen an die damaligen hessischen
Truppen waren Bilder, Waffen und Bekleidungs-
stücke aller Art aus den reichhaltigen Sammlungen
des Redners wie des Herrn Konstantin Rudolph
aus Kassel aufgestellt.
Kronprinz von Dänemark. Am -80. Ok-
tober stattete der Kronprinz'von Dänemark
dem 2. Kurhessischen Husaren - Regiment Nr. t4,
Landgraf Friedrich II. von Hessen-Homburg, dessen
Chef der Kronprinz ist, von Berlin aus einen Besuch
in Kassel ab. Auf dem Friedrichsplatz fand nach-
mittags die Vorstellung des Regiments statt. — Da
die Mutter des Kronprinzen eine hessische Prinzessin
war und auch die sonstigen verwandtschaftlichen
Beziehungen zwischen dem dänischen Königshanse
und der hessischen Fürsteufamilie sehr nahe gewesen
sind, so entbehrt diese Anwesenheit des dänischen
Thronfolgers in Kassel nicht eines gewissen geschicht-
lichen Interesses.
Universität 6 Nachrichten. Ter ordentliche
Professor Dr. Hugo Ribbert zu Marburg ist in
gleicher Eigenschaft in die medizinische Fakultät der
Universität zu Göttingen versetzt worden. — Der
bisherige Assistent am Historischen Institut zu Rom
Dr. Johannes Haller ist znm außerordentlichen
Professor in der philosophischen Fakultät der Uni-
versität Marburg ernannt worden. — Professor
Di-. W rede in Marburg ist zum Bibliothekar an
der Königs. Bibliothek zu Berlin ernannt worden,
behält jedoch seinen dienstlichen Wohnsitz in Marburg.
—--8"
Hessische L
Müller, H. F. Emanuel. Neues Weihnachts-
Festspiel für Soli und gemischten Chor mit
Klavierbegleitung, tst». 28. Fulda, Verlag
von Aloys Maier.
Eine Besprechung dieses geistlichen Festspieles, dessen
Komponist und Verleger Hessen sind, darf in dem „Hessen-
Jnbiläum. Der Präsident des Landgerichts
zu Hanau, Herr Geheimer Ober-Justizrat Louis
Koppen, welcher am 14. August 1881 zu Kassel
geboren ist, beging am 29. Oktober die Feier des
5 0jährigen Dienstjubiläums, da er au
diesem Tage im Jahre 1852 vor dem Kurfürst-
lichen Obergericht in Kassel die Referendarprüsung
bestanden hatte und vereidigt worden war. Am
16. August 1860 wurde er zum Amtsassessor in
Schmalkalden und ein Jahr später zum Gerichts-
assessor an dem Kurfürstlichen Stadtgericht in Kassel
ernannt, von wo er 1868 als Obergerichtsassessor
nach Rinteln versetzt wurde. Nachdem er 1867
Kreisrichter am dortigen Kreisgericht geworden war.
wurde er 1871 Kreisgerichtsrat daselbst, 1874
Kreisgerichtsdirektor in Bergen auf der Insel Rügen
und bei Einführung der neuen Justizorganisatiou
1879 Landgerichtsdirektor am Landgericht zu Wies-
baden. Am 1. Oktober 1885 fand seine Ernennung
zum Landgerichtspräsidenteu au dem Landgericht
in Limburg statt. Von dort wurde er am I. April
1888 in gleicher Eigenschaft an das Landgericht
Hanau versetzt, wo er noch heute in seinem Amt
aus das erfolgreichste wirkt. Als vortrefflicher
Jurist fand Herr Landgerichtspräsident Koppen auch
verdiente Anerkennung durch Beförderung in eine
hohe Rangklasse und Verleihung von Orden. In
seinen jüngeren Jahren war der Jubilar auch
schriftstellerisch thätig und hat die Fachlitteratur
durch ein verdienstvolles Werk über „die Zivil-
prozeßordnung und die Zivilgesetze in Kurhessen",
das 1861 erschien, bereichert. Möge Herr Geheimer
Ober-Justizrat Koppen in der seitherigen geistigen
Frische und körperlichen Rüstigkeit dem Staate,
seinen Angehörigen und seinen Freunden noch lange
erhalten bleiben!
Kunst nach richten. Der in Düsseldorf seinen
Studien lebende, ans Hessen gebürtige Kunstmaler
Adolf Lins hat auf der Düsseldorfer Kunst-
ausstellung die kleine goldene Medaille erhalten. —
Bei dem vom Verein zur Erhaltung und Pflege
der Bau- und Kunstdenkmäler in Danzig aus-
geschriebeneu Wettbewerb erhielten die Herren M.
Hummel und K. Prövot, Architekten und Lehrer
an der Baugewerkschnle zu Kassel, den ersten Preis.
----------
land" nicht unterlassen werden. Der erstere, früher
katholischer Stadtpfarrer in Kassel, jetzt Doindechant in
Fulda, hat schon viele solche Werke in leicht ausführbarem
Oratorienstil mit Benutzung schöner, alter Kirchenchoräle
verfasst, welche bei den Aufführungen durch großartige
lebende Bilder illustriert werden. In allen bedeutenderen
hessischen Städten und in ganz Deutschland haben die
Müllerschen Festspiele durch ihren echt religiösen Text, ihre
rührend ergreifende, fromme Musik und herrliche lebende
Bilder die Zuhörer entzückt und begeistert. „Emanuel"
Hut mit dem früheren Weihnachts-Oratorium nur den
Aufbau, die Disposition gemein, während die Texte nnd
Melodien neu sind. Die Chöre sind teilweise choralmüßig,
teils in bewegtem */« und "'s Takt geschrieben; sie können
vier- nnd zweistimmig gesungen werden. Du sie leicht
sangbar sind, hat diese im übrigen sehr wirkungsvolle
.Komposition den Vorteil, daß sie auch mit kleinen Mitteln
und Kräften vorgetragen werden kann, also in höheren
Schulen, Seminarien, Mädchen-Pensionaten und Klöstern
oder von kleineren Kirchenchören. Von größeren Gesang-
nnd Oratorienvereinen kann das Werk um so wirkungs-
voller mit gemischtem Chor und Orchesterbegleitung auf-
geführt werden. Ta der geschützte Komponist seinen
Weihnachts-Oratorien „Die heiligen drei Könige" und
„Heliand" nun den „Emanuel" hat folgen lassen, so ist
für Aufführungen in der schönen, frommen Weihnachtszeit
eine vorzügliche Abwechslung geboten, svdaß diese noch in
erhöhtem Maße wie früher ihre Zugkraft bei allen christ-
lichen Konfessionen ausüben werden. — Der Verleger hat
in gewohnter Weise das Werk mit vorzüglichem Notendruck
lind sinnig dem heiligen Stoff entsprechend gemaltem Titel-
blatt vornehm allsgestattet. £>.
B u r m e ft e r, Marie. Pfarrhäuser. Verlag
von Clauß & Feddersen, Hanau.
Ein gutes. von evangelischem Geiste durchdrungenes
Buch, dem der Gedanke zli gründe liegt, wahrer demütiger
Frömmigkeit ein Lob zu singen, den geistlichen Hochmut
aber zu tadeln. Dieser Gedanke ist in ein anmutiges,
novellistisches Gewand gehüllt. Friesische Pfarrhäuser und
—M
Personalien.
Verliehen: dem Landesgerichtsprüsidenten Geh. Ober-
Justizrat Louis Koppen zu Hanau ans Anlaß seines
50jährigen Dienstjubiläums der Krvnenvrden 2. Klasse
mit Stern und der Zahl 50; dem Pfarrer Sch im me l-
pfeng zu Abterode und dem Stadtschulrat Born mann
zu Kassel der Note Adlerorden 4. Klasse; dem Hanptlehrer
Giese bei seiner Versetzung in den Ruhestand und dem
Lehrer a. D. Grün. beide in Kassel, der Kronenorden
4. Klasse; dem Obersten z. D. Ernst von Kietze ll in
Kassel, dem Kreissekretär Friedrich Brunner in Ziegen-
hain und der Frali Gutspächter Lucie Meyer, geb.
Belln er, in Bebra die Rote Kreuz-Medaille 3. Klasse.
Ernannt: Pfarrer H e r t t i ll g zu Steillbach-Hallenberg
zum dritten luth. Pfarrer in Schmalkalden; Pfarrer extr.
Kienzler in Waldensberg zum Pfarrer daselbst; die
Referendare Dr. Bernus und Graf zu Solms-Laubach
zu Regierungsassessoren; die Referendare Brunner und
Harry Schmidt zu Gerichtsasfessoren; Rechtskandidat
K o ch zum Referendar; Regierungs-Hauptkassen-Buchhalter
Jacobi in Kassel zum Rentmeister in Wehlau.
Überwiesen: die Regierungsräte Rötger in Oppeln
nnd v. Gostkowsky in Posen der Regierung zu Kassel;
Regierungsassessor Dr. jur. Lohr in Kassel der königlichen
Polizeidirektion zu Aachen.
Übertragen: dem Regierungsassessor v. Gröning in
Schleswig die kommissarische Verwaltung des Landratsamts
im Kreise Gelnhausen.
ihre Zufassen werden uns vor Augen geführt; alle Begeben-
heiten find frisch und natürlich geschildert, svdaß sich der
Leser gefesselt fühlt. Einige Gestalten sind sehr lebensvoll
gezeichnet, so diejenige des Pastors R e i in a n n . eines Mannes,
der für sein heiliges Amt auch aus den Überzengnngen
anderer Gutes zu schöpfen weiß, und das Idealbild der
schönen Gerlinde, welches ein seltsam wohlthuender
Hauch umweht — eine Verschmelzung von herbem Meeres-
odem und dem einschmeichelnden Dufte der Lindenblüte.
Der Leser hört gerne, daß Gerlinde den Schmerz um
die Untreue des Jugendgeliebten endlich überwindet nnd
dem zum Protestantismus übergetretenen früher katholischen
Priester Gn errier als Gattin in sein französisches Vater-
land folgt, wo dem Paare ein gemeinsames segensreiches
Wirken beschieden ist. — Viel Sinn für Poesie scheint
Verfasserin zu besitzen; sie muß gut Märchen schreiben
können, was die reizend kindliche Paradies-Geschichte der
kleinen Inge (Seite 58) ahnen läßt.
Das Buch mit den darin beschriebenen religiösen Kckn-
slikten wird nur von wenigen völlig begriffen werden,
wer es aber mit Verständnis liest, der wird die Gediegen-
heit seines Inhaltes anerkennen müssen, auch wenn er mit
der darin vertretenen Tendenz nicht durchweg übereinstimmen
sollte. — Fraglos hat Verfasserin die friesischen Pastorate
nach der Natur gemalt; interessant ist es, das Leben in
unseren heimatlichen Pfarrhäusern mit dem dortigen zu
vergleichen. Wird auch das Werk auf geistigem Gebiete keine
mächtigen Umwälzungen hervorrufen, so hat doch Verfasserin
in vielen Herzen verwandte Saiten anzuschlagen gewußt.
Wir sollen uns freuen, neben so manchen überspannten,
unfeinen Produkten übermoderner Schriftstellerinnen ein
Büchlein begrüßen zu dürfen, ans dessen Seiten uns
nur reine Töne entgegenklingen.
N. ' L. <5.
—
In den Ruhestand versetzt: Pfarrer Schimmelpfeng
in Abterode.
Geboren: ein Sohn: Rechtsanwalt Heinrich Schott
und Frau Sophie, geb. Pvth (Kassel, 17. Oktober);
Kaufmann Albert Hördemann und Frau Else. geb.
Kornrumpf (Kassel, 20. Oktober); — eine Tochter:
Pastor Heinrich Grote und Frau Helene, geb. Rolfss
(Düderode a. Harz, 28. Oktober).
Gestorben: neun. Frau General Irene von Blume,
geb. Aldefeld. 71 Jahre alt (Marburg, 12. Oktober);
Rentner Alexander Müller, Kreistagsabgeordneter des
Kreises Gersfeld. 61 Jahre alt (Poppenhausen. 13. Oktober);
Pfarrer Ludwig Ha pp ich. 35 Jahre alt (Rockensüß.
16. Oktober); Freifrau Eleonore von Oeynhausen,
geb. von Hattorf. Witwe des Obersten z. D. Freiherrn
August von Oeynhausen, 84 Jahre alt (Kassel. 16. Oktober);
Amtsgerichtsrat Dr. jur. Hugo Born (Düsseldorf,
17. Oktober); König!. Regierungsrat Dr. jur. Rudolph
Lantzins-Beninga. 54 Jahre alt (Kassel. 19. Oktober);
Privatmann Karl Friedrich Klepper, 61 Jahre alt
(Kassel, 19. Oktober); Frau Schloßkastellan Mathilde
Baldewein, geb. Erb, 65 Jahre alt (Kassel.20. Oktober);
Kaufmann Heinrich Claus. 70 Jahre alt (Kassel, 21. Ok-
tober); Oberpostrat a. D. Karl von Rumohr, 78 Jahre
alt (Kassel, 25. Oktober); Landgräflich Hessischer Kastellan
Adam Rampf. 63 Jahre alt (Philippsrnhe); Posthalter
Fritz Schäfer (Schlüchtern); Knnstmater Hans Feh ren-
berg (Bremen. 27. Oktober); ehemaliger Bierbrauerei-
besitzer I. Gelder. 82 Jahre alt (Rotenburg a. F..
28. Oktober).
Für die Redaktion verantwortlich: W. Bennecke in.Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.
Kerbst.
Lief im Garten, müd und matt,
Steht ein alter Glieder,
Lautlos stahl sich Blatt um Blatt
von den Zweigen nieder.
Manches Blatt, das niederglitt,
Bahrn im Abwärtsfallen
wieder andre Blätter mit . . .
Stetes Lrdwärtswallen.
Das war ein Tausch! Und nun ist er Dein,
Nimm Dich in acht. Du „versinkst ja schier!
Nun noch recht tief in die Ärmel hinein, —
Siehst Du, Kiiib, so gefällst Du mir!
So, — nun häng' Dich an meinen Arm.
Setz' auch die Füße nur mit Bedacht;
Liegst Du daheim im Bett erst warm,
Schläfst Du uoch 'mal so gut heut' Nacht.
Dassel. Paul Reidelbach.
Fliederblätter, Menschenglück!
Greift der Herbst ins Leben,
Hältst vergeblich Du zurück
Die Dich einst umgeben.
V
Sturm.
wie uns der Regelt ins Antlitz schlägt!
Hörst Du nicht, Rind, wie der Sturmwind saust,
Fühlst Du nicht, wie er uns vorwärts trägt
Und Dir das flatternde Haar zerzanst? —
Stürme doch weiter und spar' die Müh',
pack dich nur, alter verliebter West;
Siehst du, mein Mädel bekommst du nie,
Dazu halt' ich es viel zu fest. —
Hörst Du da droben die wilde Jagd?
Hui, wie das prasselt und immerzu
pfeift und jäh in den Zweigen kracht!
Horch, und des Ränzleins In hu! Iuhu!
Frierst Du. mein Schatz? Dir trieft ja das Haar,
Äch, und das Röcklein, vom Regen schwer!
weißt Dtt — um einen Ruß fürwahr
Geb' ich Dir meinen Mantel her.
Klrmestanr.
(Nachdruck verboten.)
Die Rlarinette
Schnarrt ohitc Ruh,
Rirmes ist heute,
Rirmes juchhei!
Lustige Leute
Trollen herbei.
Stämmige Jungen,
Dirnen im Rranz
Innig umschlungen,
Springen zum Tanz.
Urväter Truhe
Speitdet den Tand:
Schnallen und Schuhe,
Mieder und Band.
Stampfende paare,
wogende Glut,
Flatternde Haare,
Stürmendes Blut!
Rurzröcke wallen
wirbelnd empor,
Waden, die drallen,
Blitzeit hervor.
Gießen.
Amor, ich wette,
Richert dazu! —
Tine nur, eine,
Dunkel von RIeid,
wandelt alleine
Mhne Geleit.
Heimliche Wonnen
Brachte der Iliai, —
Alles verronnen,
Alles vorbei!
Lachend umworben,
Glühend entfacht,
Ach, itnd verdorben
Schon über Nacht! -
Singen und Rlingen!
weh, wie das brennt,
Schwingen und Spriitgen
wär's erst zu Lud' I —
0. Kindt.
Briese eines hessischen Offiziers aus Amerika
Mitgeteilt von Karl Alexander Freiherrn Scheuet zu Schweinsberg.
Die nachfolgenden Briefe, die aus den Jahren
1776 und 1777 stammen, wurden von dem
Kapitän Max Michael vonOreilly*) an den
Baron Milchling von Schönstüdt geschrieben,
auf dessen Gut Oreillys Gattin Trinette, eine
geborene Milchling von Schönstüdt und Nichte
des Vorgenannten, sich während des damaligen
amerikanischen Krieges aufhielt. Die sehr leb-
haften genauen Schilderungen geben ein getreues
Bild der Kampfesweise der beteiligten Völker,
sodaß ihr Inhalt, der nach den französischen
Originalbriefen im Auszug wiedergegeben wird,
von bleibendem Interesse sein dürfte. -
Lager von Laug Island bei Newtown,
31. August 1776.
Zum ersten Btale, mein lieber Schönstüdt, habe
ich einen Augenblick Zeit, Ruhe und die nötigen
Utensilien, um einen Brief zu schreiben, seit wir
in Amerika angekommen sind. In aller Eile und
so klar wie möglich werde ich Ihnen mitteilen, was
wir in diesem neuen Erdteil fertig gebracht haben;
denn um. eine genaue, systematische Darstellung zu
geben, warte ich bis aus die Winterquartiere, anders
ist es unmöglich, da man die Abfahrt eines Schisses
nur wenige Stunden vorher erfährt, oder dann
gerade aus dem Marsch ist. Also zur Sache: Am
14. August wurden wir bei Staaten Island aus-
geschifft; hier erfrischten sich unsere Soldaten so
gut wie möglich, da die Engländer weder mit Brot
noch Gemüse versehen waren, und der größte Teil
der Einwohner seine Wohnungen verlassen hatte.
Da bis jetzt, erstaunlicher Weise, nach keine Feld-
bäckerei eingerichtet ist, so sind wir noch gezwungen,
Schiffszwiebäcke zu essen. Am 21. d. M. wurden
wir bei Redchef auf die Schiffe verladen, aus denen
unser ganzes Bataillon die Nacht zubrachte. Den
folgenden Tag, 22., wurden wir aus Floße, deren
jedes eine Kanone hatte, ausgeschifft. Drei Kriegs-
sregatten bedeckten uns; wir landeten Angesichts
einiger feindlichen Pikets, die es nicht für ratsam
hielten, uns anzugreifen. Den 23. hatte unser
*) Max Michael von Oreillp stand nach dem Staats-
handbuch von 1776 als Kapitän im Regiment von Trüm-
bach, Standquartier Hofgeismar. Eelking in „Die deutschen
Hilfstruppen im nordamerikanischen Befreiungskriege
1776—1783" führt ihn als zum Grenadierbataillon von
Lengerke gehörend an.
Bataillon den ersten Borpostendienst im Angesicht
des Feindes, der in einem großen Walde vor uns
Stellung genommen hatte. Die ganze Küste ist
von den gefürchteten Riflemen in einer ungefähren
Stärke von 3000 Mann besetzt. Sie haben Büchsen,
ungefähr so wie die deutschen, aber von einer
außerordentlichen Länge; sie schossen 40 Stunden
lang aus uns und die Donopschen Jäger, wie die
Kroaten auf dem Bauche durch die Felder kriechend.
Mehr als 2000 Schüsse, die sie abgaben, hatten
blos die Wirkung, 12 unserer Leute zu verwunden
und einen Jäger zu töten. Sie gaben einige Kanonen-
und Bombenschüsse ab. aber ohne Erfolg. Unser
Bataillon lag hinter einer Hecke, in der Hoffnung,
sie aus die Ebene herauszulocken, aber nein, es kam
nicht zum Gefecht, und das Bataillon Minigrode
löste uns ab. Herr v. Donop setzte oft sein Leben
ein, die Jäger töteten ungefähr 12 dieser Helden,
und unser Bataillon gab keinen Schuß ab. Einem
englischen Offizier, der auf unseren rechten Flügel
kommandiert war, durchbohrte eine Kugel die Nase.
Ich kann Sie versichern, daß ihre Kugeln uns auf
1000 Schritte um die Kopse flogen. Sie können
sich denken, wie unsere hessischen Grenadiere aus
Wut mit den Zähnen knirschten, daß sie an diesen
Kerlen nicht Rache nehmen konnten; aber dazu
sollte es bald kommen. Tag und Nacht hörte man
nichts als das Gewehrseuer aus den ungeheueren
Wäldern, die unserm und dem englischen Lager
wie ein Halbmond gegenüber lagen. Endlich stellten
sich uns diese berüchtigten Riflemen, welche die
amerikanische Fabel zu Helden stempelt. Sie be-
drohten uns aus dem Wald und manchmal sogar
in der Ebene. Sie höhnten unsere Vorposten, in-
dem sie dieselben anriefen, doch näher zu kommen.
Sie wissen ja, daß das Gefecht von Bunkershill
und die englischen Zeitungen diese Braven sämtlich
zu Herkulessen erhoben haben. Ja, ich muß voraus-
schicken, daß nachdem ich 1 — 2 Deserteure der
Rebellen gesprochen habe, dieselben mir sagten, daß
sowohl in der Armee von Washington als auch in
New Hvrk man eine entsetzliche Beschreibung der
Hessen gemacht habe, indem man den Rebellen vor-
spiegelte, daß wir grausame, blutdürstige Barbaren
seien, aber blos dann, wenn wir ihnen überlegen
wären, und Washington dieselben so viel als mög-
lich aufstachelte, uns zu besiegen. Wahrlich, mein
293
Freund, die Hessen besiegt man nicht mit Redens-
arten Diesen entwürdigenden Ausspruch erzählte
ich meinen Kameraden Bentheim, Weiters-
hausen und Eschwege und meinen Kameraden
im Blockschen Bataillon. Darauf faßten wir den
Entschluß, denselben durch Handschlag bekräftigend,
daß wir in dem ersten Gefecht gegen diese berühmten
Rifleinen ihrem Feuer ruhig Stand hallen und
statt aus sie zu feuern, unsere Musik spielen lassen
und sie zugleich mit dem Bajonett angreifen zu
wollen. Tie Wirkung dieses unseres Entschlusses
zeigte sich folgendermaßen: Den 27. August morgens
um 9 Uhr wurden wir in unserm Lager alarmiert
(und zwar blos die Grenadiere, unsere Regimenter
nicht). Wir formierten uns mit den Grenadieren
und der leichten englischen Infanterie und griffen
den Feind auf der Höhe und im Wald in Schlacht-
linie an. In dem Augenblick, wo unser Bataillon
(dessen linken Flügel ich führte) den Fuß des Berges
erreicht hatte, wurde ich veranlaßt, mich von den
drei andern Kompagnien zu trennen und den Feind
vor dem Wald in der Flanke anzugreifen, sodaß
ich ungefähr 2000 Schritt von Block entfernt war
und sichelförmig mit meiner Kompagnie gegen den
Wald avancierte. Als wir noch ca. 300 Schritte
von der Waldlisiöre und dein Bergrücken entfernt
waren, erhielten wir ziemlich starkes Gewehrfeuer,
in demselben Augenblick spielte, wie wir es ver-
abredet hatten, die Musik der vier Kompagnien,
und wir stürmten, so schnell wir laufen konnten,
mit dem Bajonett gegen sie. ohne einen Schuß ab-
zugeben. —
Als guter Patriot, als welchen ich Sie kenne,
würden Sie diesen Angriff, wenn Sie Zeuge davon
gewesen wären, für den schönsten Augenblick Ihres
Lebens gehalten haben. Endlich stürmten wir in
einem Augenblick Höhe und Wald, ohne eine zweite
Salve zu bekommen, wie wir vermutet hatten.
Hieraus ließ ich von meiner ganzen Kompagnie
gegen den Waldrand Feuer geben, wo diese ge-
fürchteten Riflemen einen Augenblick Halt gemacht
hatten. In diesem Augenblick konnte ich die drei
anderen Kompagnien nicht mehr sehen, hörte aber
ihr Feuer. Nachdem meine Kompagnie wieder
geladen, stellte ich sie in Schlachtordnung. Wir
drangen in dem Wald vorwärts, rechts und links
feuernd. Endlich warfen wir sie zurück teils schießend,
teils mit dem Bajonett und dem Gewehrkolben. Die-
jenigen, die aus uns schossen, mußten den Kopf
ganz verloren haben, denn sie trafen uns nicht,
so sehr waren sie aus der Fassung gebracht. Ich
hatte Mühe, manchen von ihnen, die ich gefangen
nahm, das Leben zu retten. Die Grenadiere wollten
sich wegen der Berleumdnngcn rächen, was auch
vollständig der Fall war. Denken Sie sich nur.
daß, nachdem ich ziemlich in den Wald vorgedrungen,
ich ganz von meinem Bataillon isoliert war. Links
von mir war niemand von uns, da ich den linken
Flügel des Angriffs befehligte. Ich rückte vor, wie
es glücklicherweise die andern Kompagnien auch
thaten, immer fort durch einen dichten Wald, der
der Stützpunkt der Riflemen war, bis ich plötzlich,
nach 2 — 3 Meilen, das feindliche Lager von New
Pork vor mir sah; infolge der Aussendung von
Patrouillen fand ich glücklicherweise mein Bataillon
und später auch die andern, welche ebenfalls vor-
gerückt waren.
Seit diesem Tage hört man nichts mehr von
Riflemen, ich glaube, sie sind von der Erde ver-
tilgt; nach meiner Schätzung können es ca. 3000
Mann gewesen sein, sie galten für die besten Sol-
daten Washingtons. Nach Aussage der Gefangenen
ist ihr Führer Lord Sterling selbst gefangen, ebenso
General Sulivan, 1 Oberst, 9 Hauptleute, 27 Offiziere
und ca. 500 Riflemen. Zwei oder drei Tage nach
dem Gefecht konnte man sie sehen, wie sie beinahe
verhungert durch das Gebüsch krochen. Bor unsern
Vorposten warfen sie sich ans die Knie, dieselben
mit erhobenen Händen um Pardon bittend, kurzum,
unsere Hessen haben ihnen solchen Schrecken und
Angst eingejagt, wie es kaum zu denken ist. Jetzt,
lieber Freund, muß ich Ihnen von mir und meiner
Kompagnie erzählen. Ich hatte blos 4 Verwundete,
von denen einer gestorben ist: was mich anlangt,
so denken Sie sich nur, daß ich, nachdem ich sieg-
reich durch den ganzen Wald vorgedrungen war,
mich mit meinen Leuten auf einer kleinen Ebene
befand; plötzlich bemerke ich eine kleine Abteilung
Riflemen fliehend, was sie lausen können. Sie
kommen links von mir aus dem Wald und wollten
den Porkfluß erreichen. Ich stürmte mit meiner
Kompagnie auf sie, um sie zu Gefangenen zu machen,
ohne zu feuern. Da ich der vorderste war, rief
ich ihnen aus englisch zu, daß, wenn sie die Waffen
niederlegten, sie Pardon erhielten. Statt Antwort
dreht sich einer derselben um und schießt auf mich.
Glücklicherweise ging die Kugel auf die Schnalle
meines Degenkoppels, welches am Patronentaschen-
riemen hing unterhalb der linken Brustseite; danach
schoß ich ans ihn, fehlte aber, war jedoch über seine
Unverschämtheit so wütend, daß ich den Schuß
vergaß, mit allen meinen Kräften aus diesen Dumm-
kopf, der immer noch nicht die Waffen niederlegen
wollte, zulies, ihn mit dem Kolben gehörig zwischen
die Ohren schlug, ihn auf den Rücken warf, ent-
waffnete und gefangen nahm. Meine Leute schossen
auf die andern und nahmen sie gefangen, aber stets
feuernd, da sie nicht Halt machen wollten. Aus
Furcht, daß man diese Geschichte übertreibt, teile
ich Ihnen dies alles so genau mit. Deshalb bitte
294
ich Sie auch, dieses der armen Trinette mitzuteilen,
denn in der That bin ich glücklicherweise blos
2—3 Tage durch den Schuß inkommodiert ge-
wesen, auch habe ich keinen Augenblick meine Kom-
pagnie verlassen. Meine Brust ist stark angeschwollen
und etwas schwarz, die daraus folgende Nacht brachte
ich im Biwak zu, den Rücken gegen einen Baum
gelehnt, da ich mich nicht lang ausstrecken konnte.
Ich hatte starkes Seitenstechen, weshalb ich mir
etwas Ader ließ, und befinde mich, Gott sei Dank,
ganz gut, und die Anschwellung verschwindet von
Stunde zu Stunde mehr und mehr.
Den 30. verließen die Feinde zwei ausgezeichnet
verschanzte Batterien, welche sie auf dieser Insel,
der Stadt New Hort gegenüber, noch hatten. Ich
weiß nicht, ob es infolge des panischen Schreckens
oder warum es geschah, denn dieselben waren außer-
ordentlich befestigt und sehr gut gebaut.
(Schluß folgt.)
Hans Fehrenberg f.
Ter Kunstmaler Hans Fehrenberg ist am
27. Oktober in Bremen gestorben. — Sein Tod ist
das Ende langer Leiden.
Er wurde am 2. November 1868 als Sohn
des Kaufmanns Fehrenberg in Kassel geboren,
besuchte die dortige Realschule und wurde 1883
Schüler der Akademie der bildenden Künste. Er
zeichnete daselbst bei Koch und malte unter Reu-
mann und Kolitz. 1889 ging er mit dem
Bose-Stipendium uach München, stellte im Glas-
palaste aus und von 1893 ab in der Sezession,
deren Mitglied er später wurde.
Es ist ein seiner Künstler in ihm dahingegangen.
— Wenn er früher nicht unbeeinflußt war von
den schnell wechselnden Anschauungen, die gerade
in München seiner Zeit so grell und scharf in die
Erscheinung traten, so war er später ganz er selber,
ganz persönlich in Anschauung, in Ton und Tech-
nik, und in der Darstellung von großer Tiefe.
Dichterischer Inhalt ernstester Art, eine an Schwer-
mut grenzende Innigkeit lag in seinen Sachen, für
die leider so gut wie kein Publikum vorhanden
war.
Seine Studien von fabelhafter Richtigkeit malte
er im bayrischen Weßling, in Alling und Fürsten-
feld und später in Gottsbüren, Willingshausen,
Dörnberg in seinem geliebten Hessenlande, und
gerade die kurze Gottsbürener Zeit war wohl die
glücklichste in seinem Schaffen. Da stand er voll
in seiner Arbeit, die ihn beglückte. Auch da sind
Weimar, November 1902.
seine Motive die denkbar künstlerischsten, an die
sich nur ein Kühner wagen mag.
Ein einzelnes Bauernhaus, mitten im Bilde
stehend, ein Stück Hof in großer Perspektive; ein
Feld, überschnitten von ein paar Hütten zur Zeit
des Herbstes, wo alles in weicher Auflösung be-
griffen ist. Nicht trockene Abschriften, sondern ge-
sühlgetrünkte Übertragungen von stiller Intimität
eines Romantikers — auch der Lehmhütte gegenüber.
Oder: ein liebes Thälchen, ein paar Raben
schwingend über dem Bächelchen, eine mächtige Buche
in der Bronze des Herbstes, höher der Wald und
darüber der mächtige Wolkenzug des Herbstabends:
Eroica!
Immer wieder der werdende Abend, der Zauber,
den das verglimmende letzte Licht über die Land-
schaft gießt, den wir intensiv vor seinen Bildern
mitempfinden. Das ist keine geklügelte Absicht, das
ist volle, klare Empfindung, mit dem Herzen aus-
gesprochen und ihrer reinen Wirkung sicher.-------
Im September vorigen Jahres wollte er in
seine Heide, die ihn lange angezogen, er reiste nach
Bremen, von wo er nicht wiederkommen sollte.
Es ist ein merkwürdiges Geschick, das uns die
jungen Künstler des engeren Vaterlandes, an die
wir glaubten, nahm und nimmt. Wir denken an
Faust, wir denken an Bohlender, denen jetzt
Fehrenberg folgt. Man hätte ihn vielleicht einst
zu den „Großen" gezählt, wäre ihm ruhige Fort-
entwicklung beschieden gewesen.
W. S.
Kinderspiel unö Kinderlied auf der Schrvalnr
Bon Joh. Heinr. Schwalm (Obergrenzebach).
Kinderspiele, Kinderlieder, welche Fülle freundlicher
Bilder aus vergangenen schöneren Tagen der
Kindheit erwecken diese Worte in Herz und Gemüt!
Sie sind der Baum im Kindheitsparadiese, dessen
Frucht ewige Jugend verleiht; nur der ist vom
Genusse ausgeschlossen, dem Lebensüberfluß das
Herz verdorben oder Lebensnot verknöchert haben.
Die folgenden Blätter wollen mit einer Anzahl
Schwälmer Kinderliedern und Kinderspielen bekannt
machen. Es sind anspruchslose Kinder der Bolks-
dichtung, Ursprünglichkeit und Ungezwungenheit
strahlen ihre blitzenden Augen, Lebenslust atmet
ihr kirschroter Mund. Was zunächst den Titel
betrifft, so ist hierzu zu bemerken, daß derselbe nur
insofern gerechtfertigt erscheint, als diese Strophen
und Liedchen in besagter Gegend gesammelt wurden.
Ter Bezirk, in dem die einzelnen in gleicher oder
ähnlicher Form bekannt sind, dürste sich jedoch
über das ganze Hessen und weiter erstrecken.*) Unser
Sammelgebiet gleicht einem Acker, von dem leider
trotz seines relativen Reichtums vielleicht das Beste
verschwunden ist. Anderes erscheint so verunstaltet,
daß seine ursprüngliche, wertvollere Form kaum
noch erkannt oder wieder hergestellt werden kann.
Ost mußten zwei Halbe zu einem Ganzen vereinigt
oder verschiedene Lesarten verglichen resp. verschmolzen
werden, um zum Ziele zu gelangen. Nur hier und
da liegt eine volle Ähre. Bei der Auswahl wurde
darum so zu Werk gegangen, wie es ungefähr eine
Ährenleserin thut, sie nimmt aus, was ihr des
Bückens wert erscheint. Wie weit jeder Griff ge-
lungen, muß freilich dahingestellt bleiben.
Tie Form der Liedchen bietet nichts Besonderes,
es ist vielmehr die dem Bolksliede eigentümliche,
reich an treffenden Bildern und kühnen Vergleichen,
fast durchweg von verblüffender Einfachheit. Merk-
würdige Wortbildungen kennzeichnen besonders einige
Rätsel in der Mundart. Als interessant, ebenfalls
der Volkspoesie eigentümlich, sind die „Reimketten"
hervorzuheben, bei denen die folgende Zeile immer
mit dein Reimwort der vorhergehenden beginnt,
dieselbe in der Umstellung wiederholt, um erst in
der nächsten Reihe den Gedanken weiterzuspinnen.
Bei der Niederschrift wurde sich in der Regel des
leichteren Verständnisses halber des Hochdeutschen
bedient, der Dialekt trat in sein Recht, wo auch
von den Kindern die „Rengmeln" ausschließlich in
der Mundart gesprochen werden oder wo eine
Wiedergabe in hochdeutscher Sprache aus Schwierig-
keiten stieß.
Zum Schlüsse ist vielleicht auch die Bemerkung
nicht überflüssig, daß bei Beurteilung dieser Proben
volkstümlicher Kinderpoesie sich dieselben von Kinder-
mund gesprochen (gesungen) zu denken sind;
Lebensodem weht dieser Gedanke den toten Buch-
staben ein!
Die Reihenfolge der Darbietungen ist an Vor-
gänge aus dem Kinderleben zwanglos angeschlossen.
In der Wiege schläft klein „Ankäthrengche". Bruder
„Hansklesche" reitet indes den Besen aus, sein
*) Vergl. auch „Kasseler Kinderlieber" von l)r. G. Es-
knche und I. Lewalter, „Hessenland" 1891, Nr. 14 ff.
Die aus dieser wertvollen, auch in Buchform (bei Ernst
Huhn, Kassel) erschienenen Sammlung schon bekannten
Lieder sind größtenteils hier fortgelassen. D. Red.
Steckenpferd. Anfangs geht's, wie strengstens an-
befohlen, ziemlich „dusement" her, bald aber wird
das „Hop-kalop" immer kräftiger, und der Stoß,
der jetzt beim Schwenken die Wiege erzittern macht,
ist auch kein Einschläferungsmittel. Ankäthrengche
wird munter und läßt alsbald ihr kräftiges Organ
hören. Die Mutter setzt geschwind die Wiege in
Thätigkeit. Dabei singt sie jene Liedchen, wie sie
eben nur einer Mutter allliebendem Herzen entströmen
können. Bald sind es nur Töne, bald einzelne
Strophen oder ganze Lieder. Da singt sie vielleicht:
So, so, söuse.
De Hotzelmann es dröuse.
Hä lest d's Güßche ros on räb:
Er Weiwer fest m'r Hützeln ab.
Oder:
So, so, söuse,
Eiwel (Oberaula) leit bei Höuse (Hausen),
Schwazebän leit no d'rbei,
Kacht d'm Kengche Häschebrei
On e besche Botter brof,
Gett d's Mejlche schnipp schnapp of.
Bald lallt das drollige Bürschlein, das Paus-
bäckige Mägdlein mit und der Vater oder der
Ellervater (Großvater) nimmt's auf den Schoß
oder aufs Knie und schankelt's, und auch ihm fallen
die Verslein längst entschwundener Tage ein. Wie
wunderlich, halb Rede, halb Gesang, tönt's aus
seinem Munde:
Troll, troll, treppche,
Sure Kohl eus Deppche,
Eier on Späck ens Pännche,
Gets e wacker Männche.
Endlich sprechen die Kinder selber manches wohl
ziemlich sinnlose, aber trotzdem nicht wertlose Vers-
lein, weil dadurch die Sprachwerkzenge ihre erste
Übung erhalten. Daneben füllt bei dieser Gelegen-
heit der erste Klang der Poesie in die kindlichen
Herzen, um dann lebenslang darin sortzutönen,
leise, leise, bis das Menschenherz selbst stille steht'
Auch hiervon eine kleine Auslese:
Bätsche, bätsche Küchelchen.
Mir und Dir ein Schühchelchen,
Mir und Dir ein Hellerchen,
Sind wir zwei Gesellerchen.
Hänsche von Wier (Wiera!)
Stell Linse beis Fier (Feuer),
Kach Arwes (Erbsen), fach Ärwes, d's Kann (Korn, Roggen)
es so dier (teuer).
Ein e
Seilg m'r en Ste (Steina),
Em zwo
Seng m'r do,
Em drei
Äffe m'r de Brei,
Em vier
Trenke m'r d's Bier,
Em sens
Komme die Wels,
Em sächs
Kemmt die Häx,
Em sewe
Seng m'r dreive,
Em ächt
Wäds Nacht.
Em neng
Trenk m'r de Weng,
.Ein zah
Es alles geschah.
Em elf, zwelf, drekze, vätze
Well inse Mäd schätze.
Größer und stärker werden indessen die Kleinen, i
Ist der Frühling eingekehrt, sitzt uns dem Tuche
der Buchfink, der im Winter kläglich sang: „Ban'r,
Bau'r, laß mich in dein' Schi------------ier! (Scheune)"
und ruft übermütig: „Bau'r, Ban'r, ich — flieg'
über dein' Schier!", läßt die Meise ihr „Spetz die
Schar! Spetz die Schür, mürn wann mer on Acker
führe!" vernehmen, und das Huhn ruft munter:
„Gütz, gätz, geleht! De Sommer muß ich Eier
lehng, em Wenter muß ich barwes (b'arfuß) geh,
eß düs erlebt, erlebt, erlebt?!" Tann hält es
auch die Kinder nicht länger in den vier Wänden.
Scharenweise sammeln sie sich wie die Böglein aus
der Wiese zum Spiele. Da klingt's gar lustig:
Kriechen sie durch den Busch.
Meine Mutter hat geschlagen
Mit dem Stock
Ein Loch in Kopf,
Das darf ich niemand sagen.
Tie Kinder marschieren im Gänsemarsche auf,
wobei das nächstfolgende immer das vorhergehende
am Rocke anfaßt. Zwei bilden den „Busch", indem
sie sich an beiden Händen gegenseitig ergreifen. Alle
Mitspielenden kriechen unter ihren hochgehobenen
Händen hindurch, bis auf den letzten, der vom
„Busche" festgehalten wird. Auf die Frage „Wurst
oder Speck?" „Himmel oder Hölle" entscheidet er
sich für eine Partei. Sind durch wiederholtes
„Durchziehen" alle Kinder verteilt, saßt die Ab-
teilung „Wurst", wovon sich die einzelnen Kinder
um den Leib oder an den Kleidern festhalten, die
Gegenpartei „Speck", die sich ebenso widerstands-
fähig gemacht, und nun kommt's zum Ziehen. Das
Häuslein, welches verliert, wird mit dem Zeter-
geschrei „Verloren! Verloren!" verspottet.
Einige Jungen schneiden nun Weiden, um Pfeifen
und „Hoppen" (vergl. die Hoboe, Oboe), auch
„Buzen" genannt, daraus anzufertigen. Beim Los-
schlagen der Weidenrinde sprechen sie:
Sift, Saft, Sejre,
De Hüngd „macht" *) Krejre,
De Hüngd macht Witze. Watze,
Sächze Häller es in Batze.
„Motter geb m'r Reiche (Nadel)!"
„Büs wet de met^dem Nelche ?"
„Säckche flecke."
„Büs wet"de met^dem Säckche?"
„Stenerche (Steinchen) läse."
„Büs wet^de met^de Stenerche?"
„Belche wärfe."
„Büs wet^de met^dem Belche?"
"Brore."
Bans net gerot, sons die dolle Hünge
On die welle Rüwe frässe. **)
*) Der eigentliche Ausdruck unwiedergeblich.
**) In der Hersfelder Gegend fingen die Kinder beim
Verfertigen der Pfeife:
Weide, Weide, Weifchen.
Ich schlag' dich auf das Pfeifchen,
Jetzt sondern sich die Knaben wieder ab, um
Reiterball zu spielen. Je ein Knabe ist „Pferd",ein
anderer „Reiter". Der Ball wird von den Reitern
so lange zum Fangen hin und her geworfen, bis
er zur Erde fällt. Die „Pferde" suchen nun die
„Reiter" zu treffen, gelingt's, so wechseln die
Parteien.
Die Mädchen, beharrlicher wie die Buben, singen:
Gute» Morgen, Herr Spielmann,
Wie geht es denn dir.
Mit der kleinen Violine,
Mit dem großen Bvmbom?
Es rasseln die Schellen,
Es klappert der Topf,
Es tanzen die Mädchen einen Galopp.
Alle erforderlichen Bewegungen, die Instrumente
zu spielen, werden ausgeführt.
Als Glanznummer steigt die „schauderhafte, höchst
traurige" (ähnlich aus anderen Gegenden bekannte)
Geschichte:
„Johanna saß am breiten Stein."
Tie Jungen sind jetzt das Ballspiel überdrüssig
und wenden sich dem „Krichchen" (Haschen) zu.
Jeder weiß einen Zähl reim, um festzustellen, wer
zuerst das Amt des Läufers übernehmen soll. Lange
können sich die Kampfhähne nicht darüber einigen,
welches der schönste sei. Wir entscheiden den Streit
ebensowenig, sondern lassen einige der kürzesten
Reime hier folgen:
1. Ännche, Sänuche. sitt^chc sah,
Emmche, Behmche, knall.
2. Äbelche, bäbelche, wie, wa, wäck.
3. Eje, weje.
Du sät greje.
Du sät lurn,
Buchstaburn.
Die Mädchen bilden jetzt eine bunte Gruppe, die
einen stehen, andere sitzen auf dem schwellenden
Rasen und geben sich gegenseitig neue und alte
Rätsel auf. Auch davon möge sich eine Auslese
hier anreihen:
1. Guckuck, Hitzegeber. Wohlleber. Was ist das?
sFenster, Ofen, Brotkasten.)
Wenn du nicht gerätst,
Dann werf' ich dich in den Graben
Bei die wilden Raben,
Bei die wilden Witzen-Watzen,
Daß sie dir die Augen auskratzen.
(Salzmann: Die Hersfelder Mundart, S. 106.)
Und in der Wetterau singen sie:
Saft, Saft, Sinn!
Koarn i die Münn (Mühle).
Stüb \ die Bach!
Dout nun Paifche
'n healle Krach.
297
2. Henger insem Höus
Wetzt e Bemche röus,
Es ke Jches (eichenes).
Es ke Biches (buchenes).
Es von kinerlei Holz (?)
(Eiszapfen.)
3. Was hängt an der Wand wie toten Manns Hand?
(Handschuh.)
4. Wie tragen 5 Hammel die Schwänze?
(Ungerade.)
5. Wenn's „heute" regnet, wird's Leder billig, (Häute.)
Wcnn's „morgen" regnet, wird's Land billig. (Morgen.)
Wenn's „abermals" regnet, wird's Bier billig (aber
Malz).
Da stürmt die wilde Rotte der Buben heran;
es entsteht eine regelrechte Zänkerei mit den
Mädchen. Wieder müssen allerlei Reime herhalten.
Ta bekommt der kleine Konrad „seinen Treff" mit:
Koneräd.
Schlapperbürt,
Leg' dich en die Doreläd (Sarg).
Wat, ich well's deng Väter sang.
Satt dich Werre rönser jäng.
Er rächt sich mit:
Else, belse, Bilsebäck,
Stäp die Hänner engen Rack.
Owe neu on enge rous
Bus nach lähme Schneiresch Höus.
Die ganze kinderbedeckte Wiese schreit ans, als
ein Hühnerhabicht hoch in den Lüsten seine
Kreise zieht:
Hinkelhäbch (Hühnerhabicht),
Kränzekräbch,
Dreimol em de Kres rem,
Dn Höst meng Mutter die Eier gestohln.
Mässer hür.
Hals âbschnejre: Onik, guik, quif !
Den Schwarzrock Rabe, der sich auf einem
Baume in der Nähe niedergelassen hat, grüßt das
Verslein:
Râwe. Râwerik,
Geh m'r net en Kri(e)g.
Geh m'r net nach Angerod,
Schlo sc dich met Stange dot.
Ein Storch aber wird mit dem Wunsch nach
einem Bruder oder einer Schwester begrüßt.
Damit ist der Friede wieder hergestellt und die
fröhliche Schar wandert, da die Abendglocke ertönt,
mit geröteten Wangen und blitzenden Augen ver-
gnügt nach Hause, um morgen wieder jene Spiele
weiter zu spielen, bei denen schon Vater und Groß-
vater in dasselbe Lustgeschrei ausgebrochen sind,
wie jetzt die Enkel.
Nicht nur der Frühling, sondern auch jede andere
Jahreszeit bringt für die kleinen Spielrätze be-
sondere „Sorgen". Bald sind es die Stelzen,
die zurechtgezimmert werden müssen, bald die Bälle
(aus Garn gewickelt und mit Wollsäden gestickt),
jetzt die „Flitzebogen" und dann wieder die „Gescheln"
(Peitschen), die besonderes Nachdenken verlangen.
Auch die nötige Übung mit oder auf allen diesen
Instrumenten ist erforderlich, um es, womöglich
als angestauntes Wunderkind, den andern zuvor-
zuthun, wenn es „um die Wette" geht.
Im Winter hat der Schwälmer Nachwuchs voll-
auf mit dem Schlitten zu thun. Als besondere
Oase in der schneeweißen Eintönigkeit desselben
wird es von den Kleinen und von der ganzen Familie
begrüßt, wenn der „Ellerv-cker" oder die „Görrel"
oder der „Better" (Onkel!) Hann-Jost Schlachte-
sest ansagt. Wie eilig versammeln sich da alle
Vettern und „Wasen", um wacker hacken und —
essen zu Helsen! Am Mittag beim „Quellfleisch"
und am Abend zur Wäschtsupp (Wurstsuppe) sind
alle Mann an Bord. Und diese Freude und diese
Eile ist die Festlichkeit auch wert. Hier der Küchenzettel:
1. Trockene Brot- oder Wecksuppe.
2. Sauerkraut und Schweinefleisch.
3. Steifer Reisbrei und Rindfleisch.
4. Kohlraben und Schweinefleisch.
5. Saure Brühe.
6. (Kartoffelklöse.)
7. Zwetschen.
8. „Weckemilch."
Die Kinderschar sitzt an einer besonderen Tafel,
ihr werden die Schüsseln gereicht, wenn sie den
Tisch der „Großen" verlassen. Diese vergessen
neben fleißigem Essen auch das Trinken nicht.
Schon beim zweiten Gerichte ertönt der Alarmruf:
„Sure Kohl on kin?" (kein, nämlich Branntewein).
Jedoch kann man sagen, ohne der Wahrheit zu
nahe zu kommen, daß der Schnaps immer mehr
in Mißkredit gerät, resp. daß au seine Stelle un-
aufhaltsam das Bier tritt.
Ungefähr in der Mitte der Gasterei erscheint
das „Schlachtemännchen" (eine vermummte,
arme Person oder auch ein Knecht oder eine Magd)
mit großmächtigem Knüppel und weitbauchigem
Gefäß, um die Kinder mit verstellter Stimme
drohend zum Beten aufzufordern, vor allen Dingen
aber, wenn's eine arme Person ist, um einen kleinen
Tribut an Fleischbrühe und am liebsten auch guten
Fleisch—brocken darin einzuheimsen. Die armen
Kinder, „Trollgäste" genannt, sind schon am
Nachmittage gespeist worden. Steckt dagegen eine
Magd (Knecht) in der Verkleidung, so gilt der
Mummenschanz hauptsächlich dem kleinen „Hanskurt"
oder der kleinen „Lejsewit", um sie noch wochenlang
mit dieser Schreckperson bei Gelegenheit zum Ge-
horsam zu zwingen, und das gelingt dann, wie
versichert wird, durch dieses zwar drastische, aber
keineswegs empfehlenswerte Mittelchen besser, als
durch die am „Striche" (Tragbalken) in der Stube
drohend liegende Familiengerte vom süßen und
doch, ach, so bittern Haselnußstrauche.
Alfred Bock.
Von A l e x a n d e r B u r g e r.
lSchluß.)
Bock hat in seiner Thätigkeit als Fabrikant Gelegen-
heit genug gehabt, die städtische Arbeiterbevölkerung
zu studieren. Eine Frucht dieses Studiums war
der vorliegende Roman „Bodo Sickenberg", der
uns mitten hinein in das Getriebe einer großen
Zigarrenfabrik versetzt. Mit großer Liebe und
Sachkenntnis hat uns der Dichter ein Bild des
geschäftlichen Lebens und Treibens gegeben. Auch
hier stehen sich natürlich die Kontraste schroff gegen-
über. Ter Chef der Fabrik Sickenberg, ein junger
ideal veranlagter Manu — der Vorarbeiter Mispel-
baum, der das Vertrauen seiner Arbeitsgenossen
mißbraucht und schauerlichen Betrug verübt, es sind
nur zwei, vielleicht die am feinsten herausgearbeiteten
Personen des Romans. Die schönsten Kapitel sind
auch hier die, in denen der Dichter die niederen
Kreise des Bolkes schildert. In technischer Hinsicht
stehen die drei erstbesprochenen Romane zweifellos
höher. Das Volkstümliche scheint die Domäne
Bocks zu fein, hier fühlt er sich wohl und mit
ihm der Leser, der das innige Vertiefen in den
Volkscharakter dankbar anerkennt und dem Dichter
mit Vergnügen znm höchsten Verdienst anrechnet.
Ich weiß ja nicht, ob der Roman „Bodo Sicken-
berg" auf Thatsachen basiert. Das aber weiß ich
und jeder, der in Gießen, der Heimat des Dichters,
bekannt ist. daß hier das Leben und Treiben seiner
Vaterstadt aus das genaueste geschildert ist, etwa
wie dies in dein Schauspiel Bocks „Der Gymnasial-
direktor', auf das ich noch kurz zu sprechen komme,
geschehen ist.
Die Reihe von Romanen, die uns Alfred Bock mit
immersteigendem technischen Können geboten hat, wir
vermögen seine Entwicklung zu immer reinerer Kunst
an der Reihe „Bodo Sickenberg (1900)", Tie Pflaster-
meisterin (1901)", ..Der Flurschütz (1902)" zu er-
kennen, — wollen wir in unserer Besprechung be-
schließen mit der 1898 erschienenen Sammlung von
Novellen „Wo die Straßen enger werden"*). Es sind
hier sechs Novellen zu einem Bande vereinigt. Schon
der Titel deutet an, daß nicht die Großstadt mit
ihrem Lebe» und Treiben oder die vornehme Welt
als Schauplatz dient, sondern daß die Erzählungen
sich da abspiegeln, wo „die Straßen enger werden",
wo die kleine Stadt ihre Rechte hat und der kleine
Mann wohnt. Die Eigenart Alfred Bocks lassen
diese sechs Novellen nicht erkennen. Es sind hübsch
geschriebene Geschichten. nicht mehr und weniger.
*) „Wo die Straßen enger werden". Geschichten von
Alfred Bock. Neue Ausgabe 1901. Berlin. F. Fon-
tane & Co. *.....■
Für den Meister Bock, den Meister, wie er sich
in seinen Heimatromanen zeigt, ist die Sammlung
völlig belangslos. Man wird es deshalb verzeihen,
wenn ich mit diesen wenigen Worten über das
Buch hinweggehe. Es geschieht nicht aus dem
Grunde, weil Gutes davon nicht zu sagen ist und
Schlechtes nicht gesagt werden soll, sondern einzig
und allein, weil es uns keine neue Eigenart des
Verfassers, keine neue Seite seines Talentes er-
kennen läßt.
Von den fünf Lust- und Schauspielen, die unser
Dichter geschrieben, haben sich zwei einer größerell
Aufmerksamkeit erfreut: das Schauspiel „Ter Gym-
nasialdirektor" *), das er mit Eugen Zabel zu-
sammen schrieb, und das Lustspiel „Die Prinzessin
von Sestri".**) Das erstgenannte Stück ist uns
besonders interessant wegen seiner Tendenz. Es
behandelt, wie schon in diesen Blättern erwähnt,
lange vor Dreyer, Otto Ernst u. a. Fragen aus
dem Lehrerleben. Bock hat hier äußerlich an die
bekannten unglückseligen Verfehlungen, die eine
Anzahl Schüler des Gießener Gymnasiums sich zu
Schulden kommen ließen, angeknüpft. Ich darf
wohl mit Recht annehmen, daß die Idee zu dem
Stücke von Bock, der ja aus nächster Nähe die
That und ihre Folgen beobachten konnte, ausging.
Ich habe das Stück s. Zt. in einer prächtigen Dar-
stellung im Frankfurter Schauspielhaus gesehen.
Bauer spielte den Direktor, den Schulmonarchen,
der aber noch ein Herz hat für die Jugend und
ihre Wünsche und Bedürfnisse, der trotz seiner
Gelehrsamkeit — er war in Berlin und hat „so ’n
großes Buch über Shakespeare" geschrieben —, doch
noch üicht genug Bücherstaub geschluckt hat, um
gegen die Liebe gefeit zu sein. Mit der Liebe
kommt der Konflikt. Liebe und Pflichtgefühl —
beide zu vereinigen, danach strebt er. Und es gelingt
ihm nicht. Äußere Einflüsse sind stärker wie er
mit feinem strengen Gefühle von Recht und Pflicht.
Er fühlt selbst, daß mit dem Moment, wo der
Mensch in ihm hervortritt, wo er sich mit der
Mutter des jungen Mannes verlobt, deren Sohn
der freilich unschuldigere Teilnehmer eines Diebstahls
ist, daß mit diesem Moment der Direktor seine Stel-
lung der Welt gegenüber nicht mehr behaupten kann.
Und er geht, um nur noch seiner Liebe zu leben.
*) Eugen Zabel und Alfred Bock: „Der Gym-
nasialdirektor." Schauspiel in 4 Aufzügen. Fontane & Co.
Berlin 1896.
**) „Die Prinzessin von Sestri." Lustspiel in 3 Auf-
zügen. Fontane & Co. Berlin 1900.
„Unsere Zukunft birgt zwei heilige Güter: Freiheit
und Liebe!"
Das Schauspiel hat seinen Gang über die deutsche
Bühne gemacht. Es ist nachher verschwunden, wie
so viele Werke nach einer gewissen Zeit vom Schau-
platz abtreten müssen, um andern, vielleicht weniger
guten Platz zu machen. Wo es gespielt wurde,
erzielte es stets eine gewisse Wirkung und wurde
beifällig aufgenommen.
„Tie Prinzessin von Seftri" führt uns zurück
in die Zeiten italienischer Kleinstaatelei. Es ist
ein ganz ansprechendes Bild einer Zeit. die von
neuen Ideen überholt worden war. Es ist ein
Lustspiel feinerer Art, den historischen Lustspielen
entsprechend, die uns namentlich aus dem Französischen
in so ausgezeichneter, unübertroffener Weise über-
kommen sind. Die Figuren, an der Spitze der
eitle Herzog von Sestri, der gar zu gerne unter
die alte Herrlichkeit seines Herzoghutes zurückkehren
möchte, der Erbprinz, der den Gedanken an Herr-
schaft ausgegeben hat und nur seinen Wissenschaften
lebt, die Erbprinzessin, die aus politischen Motiven
in eine Heiratsintrigue verwickelt wird, sie, um nur
die drei Hauptpersonen zu nennen, sind von cha-
rakteristischer, lebenswahrer Zeichnung. Sie werden
dann von einer ganzen Reihe von Nebenpersonen
umgeben, die alle in ihrer Art treu gezeichnet sind,
wenn auch ihre Notwendigkeit manchmal nicht zu
erkennen ist.
Es wäre wunderbar gewesen, wenn unser Dichter
nicht auch ein Bändchen poetischer Schriften heraus-
gegeben hätte, das kommt doch gewöhnlich als erster
Versuch. So war es auch bei Bock. Er hat seiner
kleinen Sammlung „Gedichte" *) kein weiteres
Bändchen mehr folgen lassen. Seine Begabung
liegt ja wohl auf einem andern Gebiete, aber er
braucht sich auch seiner Gedichte nicht zu schämen.
Besonders möchte ich das kleine, aber tiefempfundene
Gedicht aus Richard Wagners Tod hier erwähnen:
Richard Wagner, zu dessen begeistertstem Anhänger
sich Alfred Bock, wie auch aus jeder Zeile seines
Buches „Deutsche Dichter in ihren Beziehungen zur
Musik" **) hervorgeht, rechnen darf. Es zeigt uns
den Romancier Bock, als den wir ihn bis jetzt
betrachteten, von einer ganz anderen Seite, als
feinsinnigen Essayist. Es ist eine einzig dastehende
Sammlung, in der der Verfasser mit großer Genauig-
*) Dresden und Leipzig, E. Pierson's Verlag, v. I.
**) Gießen 1900, I. Rickersche Buchhandlung.
keit und liebevollem Sichversenken in das Wesen
der von ihm behandelten deutschen Dichter, den
Beziehungen nachgeht, die diese selbst zur Musik
und zu den Strömungen auf musikalischem Gebiete
ihrer Zeit hatten. Wo sich mir durch Beherrschen
des ganzen Materials wie bei Lenau und Grill-
parzer Gelegenheit ergab, die Aufsätze kritisch durch-
zugehen, habe ich kaum einen Fehler oder eine
wichtige Auslassung entdeckt. Plan erkennt überall
das genaue Studium, das die Vorbereitung zu
diesen Aussätzen gekostet.
Das zweite dem wissenschaftlichen Gebiete an-
gehörende Buch Bocks sind die kulturgeschichtlichen
Bilder „Aus einer kleinen Universitätsstadt".*) Sie
sollen nach dem Vorwort „den Anteil Gießens au
der Entwicklungsgeschichte des deutschen Geistes-
lebens" kennzeichnen. Dieser Einfluß ist ja nie-
mals. wenigstens zu den Zeiten, von denen die
vorliegenden Aufsätze handeln, ein hervorragend
großer gewesen. Es ist immer mehr die ins Kleine
gehende, aber genaue Arbeit hier angefertigt worden.
Und doch sind auch diese Aufsätze, die die Besuche
Goethes in Gießen bei Professor Höpsner, die
Studienzeit Klingers und Börnes in Gießen u.v.a.m.
behandeln, interessant und hübsch zu lesen. Der Ver-
fasser führt uns bis zum Jahr 1848, wo Karl
Vogt eine bedeutende, wenn auch etwas zweideutige
Rolle im großen Trauerspiel inne hat. Von Wichtig-
keit ist besonders der fünfte Aufsatz „Fichte, Schleier-
macher und Professor Schmidt in Gießen" insofern,
als hier bisher ungedruckte Briefe Fichtes und
Schleiermachers, die sich in der Handschriftensamm-
lung der Universitätsbibliothek in Gießen befinden,
abgedruckt werden.
Wir stehen am Ende unserer Betrachtungen über
einen oberhessischen Dichter, dem unsere Landes-
litteratur schon jetzt so viel zu verdanken hat.
Seine dichterische Persönlichkeit stellt sich uns als
eine durchaus selbstständige gegenüber. Er steht
in der Vollkraft seiner Jahre und so können wir
es nur wünschen, daß er lauge noch nicht aus der
Höhe seiner Kunst angekommen ist, daß seine noch
kommenden Werke nicht ein Absteigen sondern ein
stetiges Weiterauswärtsschreiten bedeuten. Dies
ist unser innigster Wunsch. Die warme Liebe des
Dichters zur Heimat und ihren Bewohnern werden
uns hoffentlich noch manches vollwertige Buch
schenken.
*) Gießen o. I. Verlag von Emil Roth.
300
Aus -ein Homan „Der Flurschütz"
von Alfred Bock.
(VII. Kapitel.)
„Zehn, ihr Leut'!" rief mit schnarrender Stimme der
lange Schorsch, der Nachtwächter zu Eschenrod. Darauf
tutete er zehnmal in sein Horn. Ein fernes Echo gab die
langgezogenen Töne zurück. Alles tag in tiefstem Schlaf,
nach harter Arbeit brauchte der Körper Ruhe. —
Zur selbigen Stunde verließ der Flurschütz seine Be-
hausung und trat seinen nächtlichen Rundgang an. Während
der guten Jahreszeit hatte er mindestens einmal in der
Woche sein Revier zu begehen, und er befolgte genau seine
Instruktion.
Unweit der Kirche kam ihm der lange Schorsch entgegen.
„Daniel, weißt schon?"
„Was?"
„Der Hobach ist aus dem Kästchen kommen."
„Sind dann dem seine drei Monat' schon um?"
„Freilich."
„Die Zeit vergeht, man weiß nicht wie."
„He sieht gottserbärmlich aus."
„Ja, das macht die Stockhausluft."
Der Wächter trat nah' an den Flurschütz heran.
„Was ich sagen wollt', Daniel, nehm' Dich in Acht.
Der Justus hat's auf Dich gepackt."
Der Flurschütz faßte den Knotenstock fester und sprach
gelassen:
„Ich fürcht' mich nicht."
Er bot dem langen Schorsch die Zeit und schritt der
freien Feldmark zu.
Über dem GeierSberg stieg der Blond empor und streute
sein Silber auf das Gelände. Rings Blütenschnee und
Wohlgeruch. Da atmete man noch einmal so tief und
fühlte innerst die Kräftigkeit, die aus Millionen Keimen
drang.
Wenn man jung war, sah man nur obenhin, wie schön
unser Herrgott die Welt gemacht und dachte, das bleibt
dir ewig lang. Ja fehlgeschossen, lieber Kumpan! Jahr
um Jahr flog pfeilschnell dahin. und guckte man rechts
und links sich um, war schon die halbe Kameradschaft fort.
Und waS noch am Leben, war mehrenteils mürb. Kurios!
Man hatte doch auch was auf dem Buckel und merkte
noch nichts von Hinfälligkeit. —
Er reckte sich unwillkürlich empor. Er kam halt von
einer gesunden Art. Die trotzte stämmig Prall und Stoß.
Was konnte am Ende das Quengeln helfen ? Alan
that sein Mannwerk ohne Scheu und war zufrieden mit
seinem Brot.
Er hatte sich auch über nichts zu beschweren, seit ihm
die Christine die Wirtschaft führte. Die war eine Schanzern,
nicht zu beschreiben. In aller Herrgottsfrühe auf den
Beinen, schurgelte sie bis in die Nacht, 's war eine Freude,
ihr zuzugucken. Nur -blickte sie manchmal so trübetrostig
drein. Ja, ja, das Kind! Sie hatte eben auch ihr Herz-
gespann. Das war unter den Mädcrchen ganz verschieden,
die eine nahm so was auf die leichte Achsel, die andere
kam nicht darüber hinweg.
Die Stadtlent' wollten was Besseres sein lind schämten
sich nicht ihrer Schuftigkeit, ein armes Mädchen zu Fall
zu bringen und hernach in Kümmernis sitzen zu lassen.
Da ging'S auf dem Land doch fittiger zu. War ein
Bursche über das Schwabenalter hinaus, hatte er wie recht
und billig seinen Schatz. „Passierte" etwas, so hielt man
zueinander. Allenfalls wurde die Hochzeit verschoben, bis
man im eigenen Haus zusammenzog. —
Die Christine hatte halt Unglück gehabt. Darum achtete
er sie gewiß nicht gering. Tie brauchte sich vor niemand
zu versteckcln. Dahingegen stach sie gar manche aus, und
trug sie erst ihren Sonntagstaat, konnte sie sich weitum
mit den Frauenbildern messen.
Putzig, daß er dafür noch Angen hatte, wo er doch
schon in gesetzten Jahren war. Ein Lächeln flog über
sein Gesicht. Die Alten wurden mit einem Mal giferich.
Ter Katzenhannes voran. WaS war dem Hannebambel
dann eingefallen ? Die Christine hatt' es ihm angethan.
Zum Heiraten gehörten freilich zwei. Sie hatte ihn fix
ablaufen lassen. Wie mochte wohl ihr Gusto sein? Der
Katzenhannes war abgeblitzt, aber morgen konnte ein
anderer kommen, unb eh' man sich umsah, war sie fort.
Er zog die Stirne mächtig kraus. Sie hätte ihm jetzt
doch gefehlt. Er hatte sich an sie gewöhnt. Schon wieder
ein anderes Gesicht im Hans? O Jemine! Und dann
wußte man nicht, wen man bekam. Wenn er ihr monat-
lich zwei Mark zulegen würde? Jawohl, das konnte gleich
geschehen. Aber lag ihr denn wirklich an dem Lohn? Sic
hob nur das Kostgeld für ihr Bübchen ab, das andere,
meinte sie, stünd' gut bei ihm. Das war klar, am Geld
hing sie nicht. Ja, wer ihre Gedanken ausknicheln könnte!
Vielleicht war ihr gerad' seine Art kommod. Er schob
ihr keinen Riegel vor, sie durfte hinlangen, wo sie wollte,
just als ob sie die Bäuerin wäre. Und freundlichen Zu-
spruch hatte sie auch. Das verstand sich am Rand, wenn
eins sich so plagte. Obendrein war sie nicht auf den Kopf
gefallen, konnt' manchmal reden wie ein Buch. Wann
war's dann gewesen? Ja, letzt am Sonntag. Er hatte
sich einen Schliwwer in den Finger gerannt. Da war sie
allein in die Kirche gegangen. Wie sie heimkam, that sie
die ganze Predigt verzählen. 'S war die Geschichte vom
verlorenen Sohn. Der Pfarrer hatte mancherlei zugesetzt
und seiner Gemeinde ans Herz gelegt. Die Christine hatte
kein Wörtchen vergessen, das floß ihr nur so aus dem
Mund heraus. Er mußte alsfort an den Jakob denken,
dann der war ja auch ein verlorener Sohn, aber keiner,
301
wie er in der Bibel stand. Der kam nicht reumütig nach
Haus, strunzte lieber als Fittch in der Welt herum. Lb
die Christine auf den Jakob hatte anspielen wollen, weil
sie alles so hübsch nachsprechen that? Schon möglich, sie
war seelengut. Ihm war sell viel auf der Zunge gelegen,
er hatte es aber Hinuntergeschluckt. Was sollt' er dem
Mädchen oorlaincntiercn! Das verschloß man gottseben
am besten in sich. Sie kannte den Jakob nur voiit Hören-
sagen, wußt' nicht, wie grundverdorben er war. An dem
war alle Predigt verloren. Die Sünde nahm er auf sein
Gewissen: Der Bnb war bei ihm ausgethan. —
Vom Dorf her drangen abgerissene Klänge, der Wächter
hörnte Mitternacht. Der Flnrschütz schlug einen Feldweg
ein und näherte sich bcm Hollerbach. Auf dem Wasser
lag ein Nebelstreif, darüber goß der Mond sein Licht.
Ein Lüftchen hatte sich ausgemacht und trieb das Silber-
gcfpinnst hin und her. Da formten sich seltsame Gestalten.
Alraune und Wichtel, eilt ganzes Heer. Ja. wer an den
Spnk noch glanben mochte. Bei Gott! Dort drüben regte
sich was. Kein Heinzelmännchen, ein leibhafter Mensch. —
Mit einem Satz sprang der Flurschütz über den Bach,
ging einer schmalen Furche nach und sah den Wolfsacker
vor sich liegen.
Über den Grenzstein bückte sich ein Mann.
„Wer da?" rief ihn der Flurschütz an.
„Ich sein's", gab eine heisere Stimme zurück.
Der Flurschütz war auf Schrittlänge herangekommen.
„Hobach? Du?"
„Ja. ich."
„Was schaffst Du hier?"
„Kümmert's Dich? Ich denk', ich steh'n auf meinem
Grund."
„Nachts?"
„Jawohl, nachts."
„Und lawerierst wieder da am Grenzstein herum?"
„Was fällt Dir ein?"
„Hobach. fass' ich Dich noch einmal, kommst Du unter
drei Jahr' nicht weg."
„Ich hab' den Grenzstein nicht angerührt."
„Ich sag' Dir's in Gutem. Hobach, geh' heim."
Der Mann machte keine Miene zu gehen.
„Ich bleib'! Du hast mir nix zu kommandier'»."
Jetzt donnerte der Flnrschütz ihn an:
„Galgenstrick, gleich gehst Du mit!"
Da zuckte der Justus Hobach zusammen, zog blitzschnell
etwas aus der Tasche hervor und drang auf sein Gegen-
über ein.
Des Flurschützen Adlerblick war ihm gefolgt. Im Nu
sauste sein Knotenstvck nieder und traf mit Wucht des
Gegners Kopf. Ein Messer fiel auf die Ackerscholle. Der
Hobach aber schlug rücklings zu Boden, von seiner Stirn
rieselte Blut. —
Fernher rauschte der Hollerbach. Eine Eule flatterte
über die Stätte und erhob ihr häßliches Geschrei. Es
war so hell wie am lichten Tag.
Der Flurschütz richtete den Getroffenen auf und band
ihm sein Schnupftuch um den blutenden Kopf.
Der Justus hatte ihm ans Leben gewollt, er hatte sich
bloß seiner Haut gewehrt. So weit war's jetzt mit dem
gekommen. Gestern aus dem Stockhaus entlassen, heut'
ein wüster Mordgcsell. Wie ein Mensch sich sein Leben
so verschütten konnte! Er kannte den Hobach von Kinds-
beinen an. Der trübte vordem kein Wässerchen, ging still
und friedsam seiner Wege. Nun fiel ihm aus Erbschaft
der Wolfsacker zu, der lange brach gelegen hatte. Und es
passierte, daß er Sonntags sein Gewann beschritt und
vermeinte, ein Streifen sei ihm abgezackert. Herrgott, wer
hatte das pexiert? Das mußte vor Tag geschehen sein.
Daneben lag dem Schmalbach sein Acker. Der schien auf
einmal so merkwürdig breit. Schmalbach, Nimmersatt,
daß Dich die Pest! Der Schmalbach leugnete alles ab.
Die Sache kam ans Feldgericht. Das sprach den Friedrich
Schmalbach frei und ließ alsbald einen Markstein setzen.
Der Hobach war selbigmal ganz aus dem Häuschen und
schlich wie verpicht um den Stein herum, Die Leute
sprachen: Der schnappt noch über. Der Grenzstein ging
ihm nicht aus dem Kopf. Und er griff wahrhaftig zu
Hacke und Spaten und verrückte im Dusterlicht den Stein.
Dabei hatte der Flurschütz ihn gefaßt nnd stracks dem
Strafgericht überliefert. Drei Monat hatten sie ihn ein-
gesteckt. Drei Monat Gefängnis, das war hart. Unter
den „Kochemern" war er völlig verwildert. Das sah man,
wie er zum Messer griff.
Der Flurschütz hob das corpus delicti auf und steckte
es behutsam ein.
Der Justus hatte einen Haß auf ihn, weil er der An-
geber gewesen war. Er hatte gethan, was sein Amt ihm
gebot. Da gab's beileibe kein Berdutscheln. Und wenn's
der eigene Bruder war.
Selbigmal hatte er freilich seine besonderen Gedanken
gehabt. Der Schmalbach war ein durchtriebener Kunde.
Dem war eine Büberei schon zuzutrauen. Nun that das
Feldgericht seinen Spruch. Dernacher hieß es: das Maul
gehalteu.
Der Hobach wollte sein gutes Recht und hatte sich
schrecklich hineingerannt. Der Schmalbach, der Kujon, rieb
sich die Hände. Wie's zuging unter dem Menschenvolk!
Es war zum Lachen und Flennen zugleich! —
Vor ihm lag der blutrünstige Mann. Da beschlich
das Mitleid sacht sein Herz. Der da war gewiß der
Schlimmste noch nicht. Die Menschen hatten ihn rabbiat
gemacht. Und es liefen ihrer im Dorf herum, die schmuckeligcr
waren wie der. Ans dem armen Teufel herumzutrampeln,
war Skandal und Niedertracht. Wenn er sich sonst nur
wieder aufrappeln that — was diese Nacht geschehen war.
gelobte der Flurschütz sich, schwieg er tot. —
Der Verwundete stöhnte leise.
„Wie ist's dann?" fragte der Flurschütz besorgt.
Der Mann war leicht verletzt, aber völlig zerknirscht.
„'s hat mir nix gethan", sprach er dumpf vor sich hin.
302
Der Flurschütz atmete erleichtert auf.
„Du mußt eilten harten Schädel haben. Wann ich
einem eins auf den Grind geb', hat's geschellt."
Der Justus brachte sich mühsam auf die Beine und ächzte:
„Hättst Dn mich doch kaput gemacht."
„£) ha!"
„©tief, Daniel, ich sein wie bedäumelt gewest. Gest'
Alittag sein ich losgekommen. Drei Monat haben meine
Leut' nicht nach mir geguckt! Etz tret' ich ins Haus.
Und rührt sich keins. Und mein' Frau hat ein Gift auf
mich und hat die Kinder verhetzt, der Vater wär' zu nix
mehr nutz. Ta sein ich Dir fort in einer Wut und wollt'
vermordessern. was vor mich kam. Daniel, was hab' ich
ausgestanden!"
Die helle Verzweiflung sprach aus dem Mann. Da
der Flurschütz schwieg, sah er ihn flehentlich an.
„Daniel, ich bitt' Dich, führ mich etz ab. Nur nicht
am Tag. wo die Leut' ein' neipeln."
„Wer spricht dann von abführen?" that der Flurschütz
erstaunt. „Ich schätz'. Du bist ein freier Mann."
„Daniel!" schrie der Hobach auf und suchte zitternd des
Flurschützen Hand.
Ter aber sagte mit leisem Schüttern:
„Justus, wenn Du sonst nix mehr verkerbe» willst,
von mir aus geschieht Dir gewißlich nix. Was Du sell
gethan hast, ist alleweil glatt. Tadrüber hat Dir keins
uir mehr vorzuwerfen. Kopf hoch. Justus. Und etz geh
heim!"
Der Justus blieb erst wie versteinert stehen, daun
wankte er dem Dorfe zu. Der Flnrschütz »ahm seinen
Marsch wieder auf und schritt durch das nächtliche
Revier.
-42°-«-
So meatte dorch. )
^Hinterländer Mundart.)
Reachdom meacht nit gleeklich — Larmut oawer dreakt.
Joa. 's hot bei Bäre2) sealle reacht g'gleekt.
Da. zwing'') meacht Soarge. z'viel eaS ugesoud.
Meatte dorch — d'S Beste woaS m'r feanne konnt.
Meacht d'S Geald die Herze kealt ean hoat wäi Slee.
Breangt goar leacht die negste Mensch außenee;
Ach, wäi mancher Geizhals soag ich schn ean Nut,
Fra ean Kea» de gönnte nit d's droak'ue Brut.
Meacht doach oach die Oarmut häi d'r grißte Streit
Zesche deje, däi sich 3 doach aus Läib g'freit,
Eas uaut ean d'r Schessel. ean d'm Sack ke Gold.
Git d's e d'm aaner goar z'gern die Schold.
Mecht ich drim so oarm nit — oach so reach nit Wern —
Woas z'm Leawe nierig, doas nor härr ich gern;
Kinnt ich da om Owed friedlich lege mich,
Härr e gout G'weasse — ach. wäi reach wier ich!
Nanzhausen. Heinrich Waumayn.
') So mitten durch; 2) Beiden; 2) zu wenig; 4) Zwischen
denen, die sich.
Scp Meike?)
tMundart: Umgebung von Rinteln a. d. W.)
„Ek maj') bei doch sau4) geern lein 5)
Worümme wutt “) Din mei nich frein,
Sej' Meike!
An meinem Howe') sind feuw8) Peer")
Un hunnert Acker, wutt Din mehr?
Sej' Meile?!
Tä Huiser up'") sind neih biut ")
Un allens suiht sau glatt '"> doch int, '')
Sej' Meike?
Tal Reih is düchtig. gaud iu'u Stand
Un Blaumen sind iu'n Goorn plant. ">
Sej' Weife!
Sej' ja, denn bist Din meine Brint, '")
In veier Weken '") wär wir triât.
Sej' Meike?
Un wenn eök ") meine Mudder schellt '"),
Weil Din eût nich'n Speier '") Geld,
Sej' Meike!?"
„Ach jaue2") Junge, lat mei jahn "').
Most Dei bat int betn Koppe slahn",22)
Sejt Meike.
„Suih mei nich an sau spiß 2il) und scheif.
Ek hew ") Dei nich'n betken leitv",28)
Sejt Aîeike.
„Mei heuert!" 2") „Härst Diü noch sau vel.
Mein Harte kümmt da me in't Spel."27)
Sejt Meike.
„Dein How, mein Armauth paßt nich recht,
Leiw hew und frein will 28) deinen Knecht."
Sejk Meike!
Hohenrode. Adolf Dalwig.
') Sag'; 2) Mädchen; ') mag; 4) so; ^) leiden; 6) willst;
7) Hofe; 8) fünf; *) Pferde; '") die Häuser darauf; ") neu
gebaut; ,2) schön; 1S) aus; ") in den Garten gepflanzt;
")Braut; '")vierWochen; "jauch; ") schilt; '") Spürchen —
Spier — Strohteilchen; 281 guter; 2') gehn; * 22 *) schlagen;
22) spitz; 24 * * 27) Ich habe; 28) bischen lieb; *") Mir gehört;
27) Mein Herz kommt dabei mit ins Spiel; 28) Lieb hab'
und frei'n will ich.
Aus alter nnb neuer Zeit
Die Kassel er „National garde" unter König
Jérôme. In alten Papieren blätternd, fällt mir
ein Schriftstück aus der westfälischen Zeit in die
Hände, das heute nach fast 100 Jahren nur noch
wenig bekannt sein dürfte, wenn es nicht vielleicht
ganz der Vergessenheit anheimgefallen ist. Mit
Veröffentlichung desselben glaube ich daher im
Interesse der Allgemeinheit zu handeln. Außerdem
aber wirst es aus die Prachtliebe und den Sinn
Jérômes für das Äußerliche, sowie ans die ganze
damalige Zeit so interessante und bezeichnende
Streiflichter, daß ich glaube den Lesern dieser Zeit-
schrift einen Dienst zu erweisen, wenn ich im Nach-
stehenden den Inhalt bekannt gebe. Bemerken will
ich noch, daß das Schriftstück sowie die Unterschriften
Original sind. Die dritte Unterschrift ist sehr-
verschnörkelt und schwer zu lesen, ich kann daher
keine Verpflichtung übernehmen, ob sie richtig von
mir gelesen wird. Das Schriftstück lalltet:
„Seine Majestät der König haben, wie es der hiesigen
Bürgerschaft bereits bekannt ist. zu wiederholten malen
den Wunsch geäußert, die Casselsche National Garde
uniforniirt zu sehen, ein Wunsch, der um so billiger er-
scheint, da die National Garden mehrerer benachbarten
Städte, selbst die der Stadt Frankfurth, deren Souverain
nur ein geistlicher Fürst ist. bereits mit Militärischer
Kleidung versehen sind.
Die der Stadt vorgesetzten Behörden haben diesen Wunsch
Sr. Majestät zu der Kenntniß ihrer Bewohner gebracht.
Indessen hat ihm die Mehrzahl derselben, uneingedenk,
daß jener Wunsch jeden Augenblick in einen ausdrücklichen
Befehl verwandelt werden kann. — daß in demselben für
ächte Unterthanen schon ein hinreichender Antrieb zu seiner
Erfüllung liegen sollte — bisher kein Gehör gegeben.
Der Verwaltungsrath der National Garde im Verein
mit der Municipalität glaubt daher der Bürgerschaft nicht
verbergen zu dürfen, daß Seine Nlajestät in Gegenwart
der angesehensten Staats-Beamten dem Herrn Maire von
Ganstein persönlich ihre Unzufriedenheit darüber zu er-
kennen gegeben haben, und daß dieselben auch wohl aller-
dings ein ganz anderes Benehmen von denjenigen ihrer
Unterthanen hätten erwarten können, die die unverkenn-
baren Vortheile der Residenz genießen; die das Glück haben,
täglich ihren Souverain zu sehen, deren Handel und Wandel
jetzt einen neuen vorher gänzlich unbekannten Flor erhalten
hat, die die Producte ihrer Industrie theuer und gewiß
absetzen können, und welche endlich die hohen Hausmiethen
gegenwärtig beziehen.
Erscheinen nicht die Einwohner von Gassei, die bisher
nur Beweise der Liebe, Milde und des Wohlwollens ihres
Monarchens aufzuweisen gehabt haben, als undankbar,
verdienen sie nicht, daß ihnen die Königlichen Wohlthaten
entzogen werden, wenn sie noch länger fortfahren, sich dem
Wunsche ihres Souverain zu wiedersetzen, und ihrem eigenen
Vortheil entgegen zu handeln ? Denn sehr leicht wäre es
möglich, daß Seine Majestät überdrüßig ihre Wohlthaten
an'Unerkenntliche zu verschwenden, den dringenden Bitten
einer anderen großen Stadt unseres Königreiches Gehör
gäbe, die die größten Aufopferungen nicht gescheut und
Sie unzweideutigsten Beweise ihrer Anhänglichkeit an die
Person des Monarchen gegeben hat, um dadurch würdig
zu werden, seine Person in ihren Mauern zu besitzen.
Endlich glaubt der Verwaltungsrath der National Garde,
vereint mit der Municipalität der Bürgerschaft nicht ver-
bergen zu dürfen, daß Seine Majestät, wenn Vorstellungen
keinen Eingang finden werden, wahrscheinlich ihr König-
liches Ansehen geltend machen, und die zuerst geäußerten
Wünsche in einen ausdrücklichen Befehl verwandeln dürfte.
In diesem Falle würde die Bürgerschaft also nur das
unbedeutende Verdienst des Gehorsams haben, statt daß sie
ihrem Souverain gegenwärtig durch freiwillige Uniformi-
rung ihrer National Garde einen unzweideutigen Beweis
ihrer Dankbarkeit für die Königlichen Wohlthaten, ihrer
Anhänglichkeit an Seine geheiligte Person und ihres auf-
richtigen Leidwesens, nur einen Augenblick die höchste
Unzufriedenheit auf sich gezogen zu haben, ablegen kann.
Was wird aus der Stadt Gassei werden, wenn Se.
Majestät ihre Residenz verlegten, wenn mit ihr die ersten
Staatsdiener sie verließen? In dieser beunruhigenden und
traurigen Lage der Sache hat daher der Verwaltungsrath
der National Garde dem versammelten Municipal Rath
der Stadt Cassel von dieser für die Einwohner beun-
ruhigenden Aeußerung Sr. Majestät des Königs sofort
Kenntniß gegeben, und ist im Einverständniß mit dem-
selben beschlossen worden: die zur National Garde ein-
geschriebenen Bürger ungesäumt zu einer eigenhändigen
Erklärung aufzuforden:
Ob sie die Uniformen aus eigenen Mitteln, binnen
14 Tagen, sich anschaffen können
oder
auf eine Unterstützung Anspruch machen
und hofft der Verwaltungsrath der National Garde von
dem Patriotismus und von der Rechtlichkeit der Gassel'schen
Bürger ein angenehmes Resultat jener Erklärungen sich
im Voraus versprechen zu dürfen.
Die Glieder des Municipalraths haben sich, uni ihren
Eifer zu Erfüllung der Wünsche Sr. Nlajestät an den
Tag zu legen und um zugleich allen Nachtheil von der
Stadt abzuwenden zu suchen, rühmlichst bereit finden lassen,
gemeinschaftlich mit dem Herrn Quartier Commissarius
jene Erklärungen zu sammeln und die Sache möglichst zu
befördern. Zur Entfernung aller Mißverständnisse über
den Zweck der National Garde, wird die verschiedenlich
mündlich geschehene Versicherung hier wiederholt:
„daß nach dem buchstäblichen Inhalt des Organisation
„Decret der Zweck der National Garde schlechterdings nur
„darin bestehen soll, um während der Abwesenheit und
„bey nicht zureichender Garnison im Inneren der Stadt,
„für die Erhaltung der Sicherheit der Person und des
„Eigenthums zu wachen."
Auch darf nicht unbemerkt bleiben, daß es zu hoffen
steht, es werde die bereitwillige Erklärung zu Anschaffung
der Uniformen auf die nähere Bestimmung über die jetzige
starke Einquartierung einen für die Stadt wohlthätigen
Einfluß haben.
Cassel, den 26ten Februar 1810.
Der Verwaltungsrath der National Garde der Stadt Cassel.
Nein. Berenger. W. F. von Buttlar (?) Canstein.
Rüppel.
Wille.
An
Herrn Municipalrath Meyer u. Quartier
Commissarius Mergard." K. M.
304
Hessisches Schlach 1 bild. Herr Rektor G.
Maldfeld in Langenselbold schreibt uns:
„Zu dem letzten Abschnitte des Berger scheu
Artikels über „Hessen-Darmstadts Abfall von Na-
poleon I." (Heft 14 dieser Zeitschrift), der die
Sonderüberschrist „Die hessischen Truppen im Feld-
zuge von 1815" trägt, erlaube ich mir mitzuteilen,
daß sich in meinem Besitze ein Bild des dort er-
wähnten Treffens bei Lampertheim und Mundvls-
heim befindet. Das Bild gewährt eine ungemein
klare Übersicht über das Schlachtfeld und die sich
aus demselben abspielenden Kämpfe. In der Mitte
des Vordergrundes sieht man einen sich öffnenden
Hohlweg, aus dem ein verwundeter Offizier getragen
und eine Anzahl Gefangener geführt wird. Links
von diesem Hohlwege hält der Prinz Emil mit
seinem Stabe. Bon einem Adjutanten wird ihm
ein Soldat mit einer eroberten französischen Fahne
vorgeführt. Rechts von dem erwähnten Wege
werden verwundete Soldaten verbunden. Auch hat
hier eine aus vier Geschützen bestehende Batterie
Ausstellung genommen, die ihr lebhaftes Feuer aus
den ihr gegenüber liegenden, von den Franzosen
stark besetzten Weinberg richtet. An den Abhang
des letzteren lehnt sich, die Mitte des Bildes ein-
nehmend, ein Dorf an, in dessen Gärten und Gassen
------------
Aus Heiinat
Hessischer Geschichtsverein. Am 3. No-
vember fand im Gebäude der Handelskammer zu
Kassel der erste wissenschaftliche Unterhaltungsabeud
des Hessischen Geschichtsvereins für das laufende
Winterhalbjahr unter zahlreicher Beteiligung statt.
Die Reihe der Borträge begann Herr Lehrer
Horwitz mit einer Schilderung der bürgerlichen
Stellung der Israeliten nach den Befreiungskriegen,
der er einige Bemerkungen über die frühere Be-
drückung unter den Landgrafen und das freie Aufatmen
der israelitischen Gemeinden unter der westfälischen
Regierung vorausschickte. Sv vieles aber auch der
zurückgekehrte Kurfürst Wilhelm I. aus den ver-
alteten Standpunkt vor 1806 zurückschraubte, den
teilweisen Genuß der bürgerlichen Rechte, den die
Israeliten während der französischen Okkupation
erlangt hatten, hielt er ihnen nicht vor und erteilte
befriedigende Gesetze. Herr Horwitz wußte seine
Ausführungen durch in das einzelne gehende An-
gaben interessant zu gestalten. Herr Dr. Fuhr
legte alsdann die aus der Wüstung Mattenberg
bei Nordshausen in einem bloßgelegten Brunnen
gefundenen, dem 12. und 13. Jahrhundert ent-
heftig gekämpft wird. Den Hintergrund schließt
eine blaue Bergreihe und das Häusermeer Straß-
burgs mit dem hochragenden Münster ab. — Be-
merkt sei noch, daß sich bei den Figuren ver-
schiedener Offiziere Ziffern befinden. Offenbar hat
noch ein besonderer Schlüssel zu dem Bilde gehört,
der die Namen der also Bezeichneten enthielt. Viel-
leicht kann ein Leser des „Hessenlandes" darüber
Auskunft erteilen."*)
*) Das vorstehend beschriebene Bild findet sich auch in
dem kürzlich erschienenen sehr reichhaltigen Katalog 277
der KarlW. Hiersemannscheu Buch- und Antiquariats-
Handlung in Leipzig: „Die napvleonische Zeit und die
^europäische Geschichte von 1750—1850" wie folgt angezeigt:
Nr. 530. Darstellung des Treffens an der Süffelbach bey
Strasburg: der Grotzherz. Hessischen Truppen Wegnahme
der französ. Position von Lampertheim u. Mundolsheim
am 28. Juny 1815. Nach der Natur gezeichnet von
A. Freih. v. Perglas, radiert und in Aquatinta gear.
von I. C. Susemihl u. L. Schnell, gedr. von G. Burx,
Hof-Kupferdrucker, d. 1. Januar 1817. 50x63 ein. Unter
Glas und Rahmen. (90 Mk.) Seltener Stich mit schönem
Kolorit „gewidmet Sr. Hoheit dein Prinzen Einil von Hessen".
Derselbe Katalog enthält in seiner Nr. 218 auch: Bataille
de Hanau le 29 Oct. 1813. Kobell del., Gauermann
sculp. Kolor. K upferstich, 39x53 cm. Figuren reiches
Militärkostümblatt mit neuem Kolorit. <15 Atk.)
Anm. d. Red.
unö Freinde.
stammenden Gegenstände (Thouscherbeu von Krügen,
Beil re.) zur Ansicht vor, worauf der Vorsitzende
Herr General Eisenkraut den Vorschlag machte,
den Brunnen an einem der nächsten Tage gründ-
lich zu durchsuchen, was allgemeine Beistimmuug
fand. Herr Kanzleirat Neuber machte nun ein-
gehende Angaben über einige Grabstätten ans deut
alten Kasseler Friedhof, und Herr Dr. Schwarz-
kopf kam nochmals auf die im Hanau'schen Park
liegenden Überreste der Statue Wilhelms IX. zurück,
indem er bemerkte, Herr Professor Zwirnmann
habe ihm mitgeteilt, daß die Worte: „qui nobis
haec otia fecit“ dem Virgil („Geo^gica“) entlehnt
seien. Mit Rücksicht auf den Zusammenhang
mit diesem die Landwirtschaft verherrlichenden Ge-
dicht scheine es nicht unmöglich, daß dem Land-
grafen für seine Verdienste um den Ackerbau jenes
Denkmal errichtet worden wäre. Ferner machte
Herr Dr. Schwarzkopf genaue Mitteilungen über
die Einquartierungsverhültnisse im November 1806,
als Marschall Mortier Kassel eingenommen hatte.
Ter Marschall selbst mit seinen Stabsoffizieren ließ
es sich im Gasthos „Zum Kurfürsten" (Rotes Haus
305
am Steinweg) bei Gststwirt Werner wohl sein.
Vor Abschluß des Abends mochte Herr General-
Major Eisentraut noch Mitteilungen über seine
aus Veranlassung der Königlichen Mnseumsdirektion
gemachten Ausgrabungen bei Niedernrs. Nachdem
bereits Freiherr Felix von und zu Gilsa bemerkens-
werte Funde daselbst gemacht hatte, waren in letzter
Zeit durch den Dampspflug aus den Ländereien des
Herrn Barons von Urs wiederum Anzeichen zu Tage
gefördert worden, die weitere Untersuchungen lohnend
zu machen schienen, da sie ans prähistorische Feuer-
stellen hinweisen. Tie gemachten Ausgrabungen haben
dies bestätigt und dabei ein reiches Ergebnis von
Gefäßscherben, Feuersteinen, Meiseln von Schiefer rc.
gehabt. — Infolge des von Herrn Generalmajor
Eisentrant gegebenen Anregung fand unter dessen
Führung am 5. November eine Exkursion von etwa
20 Mitgliedern des Geschichtsvereins nach dem vom
Erdboden verschwundenen „Mattenberg" statt.
Wie Georg Landau in seinen „Wüsten Ortschaften
im Kurfürstentum Hessen" mitteilt, war Matten-
berg ein am gleichnamigen Hügel bei Oberzwehren
und bei dem Frauenkloster Nordshausen gelegenes
Torf, das in den Urkunden zuletzt noch 1309 als
villa bezeichnet wird. Den Namen Mattenberg
führte auch eine angesehene Bürgersamilie in Kassel,
die im 14. Jahrhundert daselbst einen besuchten
Gasthof besaß. 1429 war Kurt von Mattenberg
Amtmann zu Gudensberg und Konrad Mattenberg's
Witwe war 1762 Eigentümerin eines Hauses zu
Marburg. — Bei der weiteren Ausgrabung des
Brunnens, der beim Ban der von Kassel nach
Naumburg in Angriff genommenen Eisenbahn bloß-
gelegt worden war, fanden sich nvch mittelalterliche
Thonscherben und eine Anzahl Tierknochen vor.
Universitätsnachrichten. Der bisherige
außerordentliche Professor Di-. Kurt Hensel zu
Berlin wurde zum ordentlichen Professor in der
philosophischen Fakultät der Universität zu Marburg
ernannt. — Der Professor der Nationalökonomie
an der Universität Freiburg, Sieveking, hat
einen Ruf nach Marburg angenommen. — Die
physikalisch-mathematische Klasse der kgl. preußischen
Akademie der Wissenschaften bewilligte Professor
Dr. Max Bauer in Marburg zur Fortführung
seiner Untersuchung des niederhessischen Basaltgebietes
1200 Mark.
Luise Braun f. Am 9. November starb zu
Berlin die Schriftstellerin Frau Luise Braun.
Sie war eine Tochter des Apothekers Stamm in
der Löwen-Apotheke zu Kassel, später zu Gelnhausen,
und verheiratete sich 1868 mit dem aus Eschwege
gebürtigen Kaufmann Julius Braun in Kassel.
Dieser wandte sich der Litteratur zu und gab als
sein Haupt- und Lebenswerk „Schiller, Goethe und
Lessing im Urteile ihrer Zeitgenossen" heraus. Bei
demselben hat Frau Luise Braun ihrem leidenden
Gatten, der nach Berlin übergesiedelt war, wo er
schon 1895 starb, treu zur Seite gestanden. Sie
war seine rastlose Mitarbeiterin und daneben selbst
schriftstellerisch thätig. Ihr Buch über „Christo-
phine. Schillers Lieblingsschwester" ist erst kürzlich
im „Hessenland" besprochen worden. Auch leitete
sie die in Berlin erscheinende Zeitschrift „Schmuck
und Mode". Sie hinterläßt zwei Söhne, Dr. Hans
und Dr. Karl Braun, beide in Berlin wohnend.
Kalender. Für das kommende Jahr liegen
wieder zwei hessische B o l k s k a l e n d e r vor.
Der von Pfarrer Heinrich Möller in Kassel heraus-
gegebene illustrierte „Hausfreund" (Verlag von
Ernst Röttger in Kassel) bringt u. A. „Die Hessen
im Volksmunde" und „Die Weidelsburg" von
Dr. Fuckel, „Das Bruche das helft dach!" von
H. Kranz, „Geschichte des kurhessischen Jäger-
bataillons Nr. 11" von Dr. C. Schwarzkopf sowie
Beiträge von Landgerichtsrat Büff. — Der „ Alt-
tz e s s i s ch e Volks-Kalender" von W. Hopf in
Melsungen enthält als hauptsächlichen historischen
Aufsatz: „Die hessische Kurwürde. Ihre Vor-
geschichte und ihre Feier im Mai 1803."
Geschichts-Entstellungen. In dem von
der L i st & Franke schen Buchhandlung in Leipzig
soeben zur Versendung gelangten Antiquariats-
Katalog Nr. 348 werden unter den Autographen,
Nr. 1544, auch 6 Briese des Landgrafen Karl
von Hessen-Kassel mit dem Zusatz „des Sol-
datenverkäufers" angeboten. Also auch der Land-
graf Karl muß sich diesen Titel gefallen lassen,
wahrscheinlich um Liebhaber mehr für den Gegen-
stand zn interessieren. Der Merkwürdigkeit wegen
sei noch angeführt, daß einige Nummern weiter
auch ein Landgraf von Hessen-Nassau aus der
Bildfläche erscheint, Friedrich Wilhelm, 1768—1816.
Es wird damit Friedrich Wilhelm von Nassau-
Weilburg gemeint sein.
--------
306
Hessische Bücherschau.
Neuling, Carlot Gottfrid. Der Schatzgräber.
Bauerntomödie in 3 Akten. 94 S. (Theater-
verlag Eduard Bloch, Berlin.) Preis Mk. 2.—
Ich habe einmal in einem Essay über Renting darauf
hingewiesen, daß er wohl Hesse, aber kein hessischer Dichter,
kein Heimatsdichter ist. In dem vorliegenden Buch, das
im Odenwalde bei Darmstadt spielt, vermittelt er uns
nun zum ersten Male in seiner schriftstellerischen Wirksam-
keit die Bekanntschaft der Bauern seiner engeren Heimat —
freilich auf eine etwas unerfreuliche Art. Denn Aber-
glauben. Sinnlichkeit. Taugenichtserei und all' die schönen
Tinge, die Neulings neuestes Werk in seinen Charakteren
zeigt, sind denn doch nicht die Wahrzeichen des Bauern-
tums. Es sind schon recht beschränkte Bauern, oder wenigstens
ein recht beschränkter, der sich da. im Aberglauben an den
großen Schatz, nasführen und bald um seine Frau betrügen
läßt. Und der Seppl ist gar kein Bauer mehr. Das ist
ein Schuft durch und durch — aber ihm geht alles das
ab. was den echten Bauern ziert.
Trotz alledem vermag ich inich des Werkes zu freuen,
sticht im Sinne von Neulings Tendenz, sondern, daß wir
wieder einmal den nicht unbeachtet zu lassenden Versuch
haben, den hessischen Bauern, freilich von seiner unvorteil-
haftesten Seite, bühnenfühig zu machen. Die unvorteil-
hafte Seite ist wohl nicht ganz unbeabsichtigt gewählt.
Denn — man lacht doch lieber über den dummen Bauern,
als daß man die stille Größe, die in manchem gescheiten
steckt, anerkenne.
Der Dialekt des Stückes, das nebenbei gesagt am 20.
September d. I. seine Erstaufführung im „Deutschen
Theater" zu Berlin erlebte, ist wohl mit Rücksicht auf das
Berliner Publikum stark gemildert. — Daß dasselbe
Publikum, das dem frivolsten französischen Schwanke zu-
jubelt, dem Schatzgräber gegenüber auf einmal moralische
Anwandlungen bekam, das läßt sich nur aus Psychologie
der be—rühmten Berliner Theaterbesucher erklären.
Akerander Würger.
-----------<»-<«>■
Holzamer, Wilhelm. Carnesie Colonna.
Leipzig (Verlag von Hermann Seemann Nach-
folger) 1902.
Tie sie mir gab.
Dir geb' ich sie nun wieder.
Erträumten Glückes
Und stiller Sehnsucht Lieder.
Diese der ganzen Sammlung vorgesetzten Verse lassen
uns mehr als alle Worte den ganzen Inhalt des neuesten
Buches von Wilhelm Holzamer erkennen. Lieder erträumten
Glückes und stiller Sehnsucht — ein elegischer Hauch durch-
zieht das ganze Buch. Wilhelm Holzamer gehört zu den
modernen Dichtern, die beachtet werden müssen. Er ist
jetzt mit diesem Werke, wenn auch noch oft an seinen
Meister Storm gemahnend, doch ein Eigener geworden.
Hier findet er nun Töne tiefsten Schmerzes, aber auch
ergebungsvoller Entsagung, wie sie die neuere Lyrik selten
darbietet. Wie herrlich einfach ist z. B. das Gedicht „Das
Grab", das ich statt jeder weiteren Ausführung hier ganz
abdrucken will.
Ich hab' ein Grab gegraben
In einem stillen Grund.
Da weint kein Auge Thränen.
Da klagt kein trauriger Mund.
Da ist es schweigend — öde.
Die Schatten liegen weit.
Und grau und starr am Wege
Hockt da die Einsamkeit.
Nur wenn die ersten Sterne
Heben die Lider empor
Und aus den drängenden Wolken
Scheu lugt der Mond hervor.
Geht ein seufzendes Wehen
Durch das tote Thal —
Das ist meiner weinenden Liebe
Unstillbare Sehnsnchtsgual.
Äkerander Würger.
Personalien.
Verliehen: dem Forstmeister a. D. König zu Friede-
wald der Rote Adlerorden 3. Kl. mit der Schleife; dem
Gymnasialdirektor Dr. Baier zu Frankfurt a. M. der
Rote Adlerorden 4. Kl.; dem Oberpostdirektor Geh. Lber-
postrat H o f f m a n n und dem Landessekretär Henkel,
beide in Kassel, die China-Denkmünze aus Stahl; dem
Revierförster a. D. Reiß zu Lohra, den Hegemeistern a. D.
Kniese zu Neukirchen und Röder zu Gensungen. den
Förstern a. D. Meckbach zu Willersdorf und Vetter
zu Wahlershausen, dem Eisenbahn-Betriebssekretär a. D.
Roh de zu Kassel, dem Eisenbahn-Stationsvorsteher a. D.
T e t e b e r g zu Wahlershausen und dem Eisenbahn-Betriebs-
werkmeister a. D. Knippschild zu Wahlershausen der
Kronenorden 4. Kl.; dem Königl. Oberförster Sch roth
in Rotenburg der Titel Forstmeister mit dem Range der
Räte 4. Kl.
Ernannt: Regierungsrat v o n A s ch o f f in Melsungen
zum Landrat daselbst.
Geboren: ein Sohn: Regierungsassessor Dr. Hans
Fechner und Frau Paula, geb. Renner (Kassel,
2. November).
Versetzt: Landgerichtsdirektor Dr. Meyer in Magde-
burg in gleicher Eigenschaft an das Landgericht zu
Kassel.
Gestorben: Kurfürstlicher Hof-Silberverwalter a. D.
Friedrich Junghenn. 78 Jahre alt (Wehlheiden-Kassel,
1. November); Privatmann Joh. Dietrich Wein-
traut (Marburg, 1. November); verw. Frau Rentenbank-
sekretär Anna Wiese (Kassel. 1. November); Frau
Gräfin Sophie v. Schlitz, gen. v. Görtz. 44 Jahre alt
(Berlin. 2. November); verw. Frau Geh. Regierungsrat
Luise Wenderhold, geb. Gleim (Kassel. 3. No-
vember); verw. Frau Gräfin Anna v. Schlitz, gen.
v. Görtz. 75 Jahre alt (Schlitz. 5. November); Oberst-
leutnant z. D. Viktor Penther (Kassel, 7. November);
Frau Frieda Großeurth, geb. Zwen ger, 50Jahre
alt (Kassel, 8. November); Schriftstellerin Frau Luise
Braun, geb. Stamm, 54 Jahre alt (Berlin, 9. No-
vember); Königl. Hofzahnarzt Karl Zimmer. 63 Jahre
alt (Kassel, 9. November); Frau Antonie Daltrop,
geb. Kneer. 55 Jahre alt (Kassel, 11. November); Privat-
mann Konrad Krauß, 66 Jahre alt (Kassel. 11. No-
vember).
Für die Redaktion verantwortlich: W. Bennecke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel. Kassel.
Crcuslc Creue.
(An den weidenbauin vor meinem Fenster.)
Meine Trauerweide wahrt die treuste Treue.
Sie ist's, die dein jungen Frühling ruft,
Und im gerbst — schwand längst des Sommers Bläue —
Zittern noch die grünen Ranken in der Luft.
Der vertraute Baum vor meinem stillen Fenster
Singt mir durch das ganze lauge Jahr.
Buschen über ihn schon meiste Schneegespenster,
Missen sie noch Märchen wunderbar.
Und der zarte Flaum auf ihren schwanken Ästen
Macht gedämpfter jeden wehen Laut. —
Kommt mit Glanz das heiligste von allen Festen,
Schmückt sie sich wie eine lsiiumelsbraut.
ü
Mond und Sterne, all' die taufend frierendklaren,
Meben Diamanten ihr ins Kleid;
Silberglitzernd ruht ein Reif in ihren Haaren,
Um den Hals ein güldenes Gcfchmeid.
Treuer Bauin, du hast durchs ganze Liederleben
Mir ins Zimmer auf den Tisch geseh'n.
Noch iiu Tod und Grab soll mich dein Grün umschweben
Und das Lied der Treue leis n.nweh'n.
Ol'kl klingen. Kar| €rnst Knodt
Mvent-Seier am Meerr.
Mas ist das für ein Raunen,
Tin Tuscheln und ein Staunen?
Mas wissen die nächtlichen Master heut' ? — —
Das Christkind schlich verschwiegen
Herab auf schimmernden Stiegen
Und hat die wallenden Mögen
Mit echtem Gold- und Silberschauin bestreut.-----
Jetzt heftet cs — dicht und dichter —
Hellfnukelnde Meihnachtslichter
In den weiß-gebreiteten Ufersand.
Ts fchau'n iil die Fluten hernieder
Und spiegeln sich lieblich wieder,
Erzitternd iiu kalten Minde,
Die Kerzenflammen am Inselrand. — —
Und nun, von Harfen und Geigen,
Tin überirdischer Reigen!
Und Sterne fallen vom Hiiuinelshaus,
Die, leise knisternd, verglimmen — —
Und cs singen Muschelstiminen
In sanften, silbernen Tönen:
„Die Christi,acht schickt ihren Glanz voraus!"
Ravolzhausen. Sasdlst €lta.
Briefe eines hessischen Offiziers aus Amerika.
Mitgeteilt von Karl Alexander Freiherrn Schenck zu Schweinsberg.
(Schluß.)
Philadelphia, den 22. Dezember 1777.
Förmlich habe ich mich nach dem Angenblick
gesehnt, mein geliebter Freund, wo ich Feit finden
würde, um mich mit ruhigem Blut mit Ihnen zu
unterhalten und Ihnen mit Überlegung meine
Erlebnisse mitzuteilen und meine Ansicht gerade
über diese Ereignisse, die Sie bereits gehört haben
werden. Zwar werden Sie mir kaum glauben,
wenn ich Sie versichere, daß ich während dieses
ganzen Feldzugs blos zweimal Zeit gehabt habe,
Ihnen zu schreiben, wenigstens mit etwas Vernunft
Einzelheiten oder Umstände zu erzählen. Deshalb
habe ich Frau von Bardeleben gebeten, mich zu
entschuldigen, denn wahrlich, es muß doch für einen
Mann von Ihrem Verstände langweilig sein, immer
zu lesen „bene valeo“, denn dieses erfahren Sie
von meiner Frau und Anderen.
Nun will ich mit unserm schönen Kreuzzug von
Redbank, wo (wie Sie sicher wissen werden) wir
23 Offiziere und 378 Mann an Toten, Verwundeten
und Gefangenen verloren*), beginnen. Der unglück-
liche Ausgang dieses Gefechtes hat so viel Lärm
und Geschwätz sowohl bei den Engländern als auch
bei uns verursacht, sodaß ich bemerkt habe, daß
niemand den wirklichen Grund dieses Geheimnisses
gesunden hat. General Howe und seine Kreaturen
gaben Donop Schuld, indem sie behaupten, daß er
hätte äbwarten sollen, bis die englischen Schiffe
den Angriff ans die Galeeren der Rebellen begonnen
hätten. Andere sagen, daß er nur Befehl zum
Angriff gehabt hätte, falls er eine dazu passende
Gelegenheit finden würde. Kurzum, alle möglichen
*) „Die Amerikaner begruben 150 Tote und nahmen
über hundert Verwundete auf. Der Verlust der Hessen
war ein starker; die Grenadiere hatten die meisten Leute
verloren, nach diesen das Regiment v. Mirbach, zusammen
322 Mann. Die Jäger zählten 49 Tote und Blessierte.
Von 26 toten und verwundeten Offizieren gehörten 22 zu
den Grenadieren. — Lieutenant Rüster vom Regiment
v. Mirbach, der selbst mit verwundet wurde. gibt den
Verlust folgendermaßen an: 7 tote und 15 verwundete
Offiziere und 397 tote und verwundete Unteroffiziere und
Soldaten. — Von 63.verwundeten Gefangenen, die dem
Feinde in die Hände fielen, waren schon am 20. November
43 gestorben. Es fehlte bei den Amerikanern namentlich
an guten Wundärzten." Eelking, Die deutschen Hülfs-
truppen im nordamerikanischen Befreiungskriege. Band I,
S. 222 f.
verschiedenen Ansichten sind in der Armee darüber
verbreitet. Die Beurteilung m einer Ansicht über
dieses Unternehmen überlasse ich Ihnen. Sicherlich
werden Sie denken, daß man oft in den Zusammen-
hang der Dinge und nicht in der Sache allein den
Erfolg von gewissen Mißerfolgen suchen muß. Es hat
lauge Zeit gedauert, bis das heftige und ungestüme
Wesen des armen Donop wieder in Einklang mit den
englischen Generalen, namentlich Howe und C o r n -
wa l l is, gebracht war,welche sehr viel Nachsicht überall
gegen ihn zeigten. Bei dem Gefecht von Brande-
wine stellte man unsere Grenadiere 200 Schritt
hinter die Englischen in zweite Linie. An diesem
Tag war ich zu Pferd, da ich schlinune Füße hatte,
und kam Donop, um mir ins Ohr zu flüstern,
daß, sobald wir losmarschierten, ich ihm eine große
Freude machen würde, wenn ich ein Mittel fände,
wie unser Bataillon links aufmarschieren könnte;
ich verstand ihn sogleich, und bat ihn, es mich nur
ausführen zu lassen. In der That hatte ich unter
dem einen oder anderen Borwand so gilt manövriert,
daß unser Bataillon, als das Feuergesecht anfing,
sich in gleicher Linie mit den Engländern, die im
ersten Treffen gestanden, befand. Es war dies ein
Geheimnis, wie Sie wohl sehen werden, denn
niemand wagte die vom kommandierenden General
ausgegebene ordre de bataille zu ändern; diese
Teufel von Engländer gaben aber ein solch tolles
Feuer aus den Feind und gingen so lebhaft mit
dem Bajonett vor, daß die Rebellen davon flohen,
ehe wir zum Schuß kommen konnten. Ich bemerkte,
daß Donop hoch entzückt war, als er sah, daß
unser Bataillon unmerklich auf dem linken Flügel
der Engländer marschierte. Ich ritt rasch dahin
und erregte den Glauben, daß unser rechter Flügel
so bedrängt sei, daß er in Unordnung zu kommen
drohe. Das war die Kriegslist, um Donops
Ehrgeiz zu dienen, und ich versichere, daß ich es
ebenfalls wünschte. ... Ein oder zwei Tage vor
dem Gefecht von Redbank erfuhr Donop, daß man
die Absicht hatte, Truppen nach Jersey marschieren
zu lassen, weshalb er einen Brief an den General
Howe schrieb, in welchem er dringend bat, ihm das
Kommando zu geben, mit seiner Brigade allein
diesen Marsch auszuführen. Es ist sicher, daß
bereits einige englische Truppen mit einer Abteilung
309
Hessen bereit waren, dahin zn marschieren. Endlich
wollte es das Unglück, daß Howe den Bitten
Donops nachgab. Mittlerweile belagerte die eng-
lische Flotte in Verbindung mit einigen an den
Ufern des Delaware errichteten Batterien die Insel
Mud-Island, die gegen die Mitte des Flusses
zu liegt. Tie Rebellen hatten sie sehr stark be-
festigt und zur rechten und linken mit spanischen
Reitern versehen. Zudem wurde Mud-Island noch
durch das Fort Redbank derartig geschützt, daß
alle diese vielfältigen Hindernisse den Zugang zu
der Stadt Philadelphia blockierten, sodaß schließlich
dort eine Hungersnot zu befürchten stand. Gut —
Donop, mit seiner eigenartigen Miene, die er ehe-
dem auch am Kasseler Hof anzunehmen pflegte,
kritisierte öfters, und ohne ein Blatt vor den Mund
zn nehmen, die Führung der englischen Befehls-
haber. So war ich einmal zugegen, als er ironisch
zum Lord Cornwallis sagte, daß die Belagerung
von Mud-Island ihn an die von Olmütz in Mähren
erinnere, das der König von Preußen vor einem
Thijre belagert habe, während vier offen gestanden
Hütten. Hören Sie nun meine Meinung: Ich denke,
daß die Engländer um so lieber das Kommando
dieser Expedition (Redbank) Donop übertragen haben,
als sie sich der für sie schmeichelhaften Hoffnung
hingaben, daß er, ohne etwas unternommen zu haben,
wiederkommen, oder auch, daß er sich dort etwas
die Finger verbrennen werde, und daß sie ihm
alsdann mit Recht alle seine Vorwürfe zurückgeben
könnten, aber ich glaube nun und nimmer, daß
Howe ein solches Unglück vorhergesehen hat. Ich
versichere Sie, mein Freund, daß, als ich mit Donop
den Delaware überschritten hatte und bei Tages-
anbruch die Brigade allein sah, ohne Engländer,
ohne Führer, ohne schweres Geschütz und ohne einen
englischen General, mir vor den Folgen schauderte.
Washington war Herr von unsern 5- oder 6000
Mann. Auf dem Rücken keine Möglichkeit, das
Land zu durchdringen, für den Fall, daß sich ein
Unglück ereignete, und eher, als wir zum Zurück-
gehen vorbereitet gewesen wären, konnte cs uns
geschehen, daß wir gleichmäßig zwischen zwei Feuer
kamen. Gott weiß. ob die Sache sich nicht so
gestaltet hätte, wenn Air. Bertöt, der uns viele
Artigkeiten sagte, unterwegs aufgefangen worden
wäre, denn derfelbe brachte die Nachricht von unserer
Niederlage noch in derselben Nacht, wo die Kata-
strophe , stattgefunden, an den General Howe.
Lenzing (Linsingen?) schickte ihn nach Philadelphia,
und es ist ein Wunder, daß er durchkam. Howe zog
ähnliche Schlüsse^ wie ich, denn am andern Morgen,
am Tage unseres Rückzugs, setzte er, um denselben
zu decken, mit 3000 Mann über den Delaware.
Unterwegs hatten wir ein Scharmützel mit dem
Feind. Ich habe einige Tage nach dem Treffen,
so gut als es in meinen Kräften stand, einen kleinen
Situationsplan von Fort Redbank entworfen, den
ich Ihnen anliegend sende.
Den 18. Januar.
Da sich keine Gelegenheit fand, meinen Brief
zu expedieren, habe ich ihn offen gelassen. Soeben
erhalte ich nun Ihren lieben Brief vom 2., 14.
und 18. August. — — Ich befinde mich, Gott
sei Dank, wohl und das ist ein ganz besonderes
Glück, denn man muß eine eiserne Gesundheit haben,
um den Krankheiten zu entgehen, welche die fort-
währenden Streifzüge in der strengen Kälte, die
unordentliche Lebensweise und die vielen Nächte
erzeugen, die wir im Freien zubringen müssen
ohne Zelte und ohne jegliches Gepäck. Die Eng-
länder haben ein Sprüchwort, daß ein jeder, der
drei ähnliche Feldzüge mitgemacht hat, ein Greis
ist, so ausreibend wirkt alles. Ich fühle auch schon,
daß meine Gesundheit angegriffen ist, und Gott
gebe, daß ich den dritten Feldzug gut durchmache.
Unter uns, lieber Freund, ich muß gestehen, daß
die Sache sich sehr in die Länge zieht und daß,
wenn ich ein Mittel wüßte, um zurückzukehren, ich
Sie bald in die Arme schließen würde. Da ich
aber keine Verbindungen am Hofe habe, so habe
ich auch keine Aussicht dazu, wofern nicht Ihr
genialer Kops im Verein mit Herrn von Jungten
irgend ein Mittel hierfür zu erfinden vermag; ich
sehne mich wirklich sehr danach, meine Freunde
und meine Familie wiederzusehen. Dies würde
der größte Dienst sein, den Sie mir leisten könnten.
Ihren Brief vom 20. November habe ich ebenfalls
erhalten und bin Ihnen sehr verbunden für all die
Neuigkeiten, die Sie mir mitteilen. Sie werden
schon die Nachricht von der Niederlage und von
der Gefangennahme der Armee Bonrgoynes,
auf die man so große Hoffnungen gesetzt hatte,
bekommen haben. Der Kongreß will die durch
seinen General Gates gestellten Bedingungen nicht
ratifizieren, und es würde Bourgoyne das traurige
Los zuteil werden, mit seiner Armee gefangen in
Boston zu bleiben. Es wird behauptet, daß die braun-
schweigischen Truppen zu seinem Mißgeschick viel bei-
getragen haben.*) Die Ansbacher sind, was ihre
Figur betrifft, die schönsten Soldaten, die ich jemals
gesehen habe, aber ohne Saft und Kraft, widerspenstig
und pulverscheu. Von einer ihrer Grenadier-Kom-
pagnien beim Fort Mont Gommery erzählte mir ein
englischer Offizier als Augenzeuge, daß ihr Kapitän
nur 12 Mann zum Kampf hätte sammeln können;
sie hatten einen langen Marsch geinacht und viele
*) Nach der Darstellung Eelkings erscheint diese Be-
hauptung kaum begründet.
Höhen zu passieren gehabt, aber nur 12 Mann.
mein lieber Freund, 12 Mann — der arme Kapitän
büßte dort mit 3 von diesen 12 Riesen sein Leben
ein. *)
Unser armer Dono p ist wie ein Held an der
Spitze seiner Brigade gefallen, in meinem Plan sehen
Sie einen Waffenplatz markiert, ich bin sicher, daß
er diesen Platz für das Fort selbst genommen hat.
Dieser Irrtum veranlaßte ihn, Sturm zu laufen und die
Truppen in nächster Nähe dem Feuer der feindlichen
Galeeren, die auf dem Delaware dicht am Lande
lagen, auszusetzen. Schließlich wollte Donop um jeden
Preis sich auszeichnen und that es leider auf Kosten
vieler anderer Leute. Wenn er die nötige Fähig-
keit oder militärisches Talent besessen hätte, würde
es ihm geglückt sein, aber seien Sie versichert, trotz
der überlegenen Miene, die er in der Theorie an-
nahm, befand er sich doch im Düstern, wenn eö
die Frage praktisch zu lösen galt. .. . Übrigens —
dieser brave Mann, dessen Andenken ich in Ehren
halte, ist tot, ohne daß unsere Grenadiere von seinem
Unglück besonders gerührt sind. Er schwankte
zwischen Heftigkeit und Milde, d. h. er war immer
in den höchsten oder in den entgegengesetzten
Regionen. . .. Der Landgraf kannte ihn übrigens
gut, in meiner Gegenwart sagte er einmal zu
Donop, er solle seine Grenadiere mit Schonung
behandeln und mit Mäßigung verfahren. Hätte er
Redbank nachts angegriffen, denn es war Mond-
schein, oder hätte er statt der elenden Faschinen,
die er in dem Wald vor dem Angriff machen ließ,
Bretter sammeln lassen, um sie über den Graben,
der seine zehn Fuß tief war, zu legen, ich glaube,
daß die Bravour unserer Grenadiere ihm zum Sieg
verholsen haben würde, denn niemals sind Offiziere
und Soldaten mit größerer Tapferkeit vorgegangen
als hier. Stellen Sie sich vor, daß acht Tage
*) „Die Ansbachschen Grenadiere hatten sich bei dieser
Gelegenheit ganz besonders ausgezeichnet. Der tapfere
Hauptmann v. Eckert ging ihnen mit gutem Beispiel
voran, indem er. immer an der Spitze fechtend, seine Seilte
encouragierte. Zwei Batterien hatten sie bereits mit den
Hessen und Schotten genommen, eben ging es aus die
dritte zu, als v. Eckert von einer Kartätschenkugel getroffen
wurde, die ihm den rechten Arm zerschmetterte. Er siel
durch den heftigen Schlag zwar zu Boden, raffte sich aber
schnell wieder auf, nahm den Degen in die linke Hand
und trieb seine stutzenden Grenadiere wieder an, als wenn
nichts geschehen wäre. „Seid getrost und unverzagt, meine
Kinder," redete er sie begeistert an, „ich führe euch dennoch
treu an und verlasse euch nicht. Macht euch Mut!"
Kaum aber hatte er diese Worte ausgerufen und war,
gefolgt von ihm ergebenen Grenadieren, einige
Schritte weiter vorwärts gegangen, als er von einer
Falkonetkugel in die linke Seite getroffen wurde, die hinter
der rechten Schulter wieder herausgegangen war." Ee lk i n g.
Die deutschen Hülfstruppen im nordamerikanischen Be-
freiungskriege. Band l, S. 248.
nachher, als das Fort belagert wurde und die Eng-
länder die gewandtesten Leute, Offiziere und Sol-
daten ihrer leichten Infanterie, aussuchten, um die
Wälle auf den Sturmleitern zu ersteigen, kein
Mann hinaus konnte. Dieser Versuch erhöhte noch
ihr Erstaunen über die Kühnheit unserer Leute, die
solches mit ihren mangelhaften Mitteln gewagt
hatten.
Seit meinen Mitteilungen an Frau von Barde-
leben ist in dem Feldzug nichts besonders Bemerkens-
wertes geschehen, ausgenommen das Treffen bei
Germantown, 5 Meilen von hier, dessen die
Herren Kapitäns von Eschwege und von Wester-
hageu gedacht haben werden. Wir haben endlose
Streifzüge gemacht, welche die unglaublichsten Be-
schwerden im Gefolge hatten. A propos, ich möchte
nicht vergessen, daß der Kapitän von Westerhagen
der höchsten Achtung aller guten hessischen Bater-
landsfreunde würdig ist. Er hat sich in der Affaire
bei Redbank sowie auch bei allen andern militärischen
Ereignissen bewunderungswürdig benommen. Er
hat den hessischen Waffen Ehre gemacht. Diese
Herren werden Ihnen unsere gegenwärtige Lage
geschildert haben, sowie auch die Teuerung, die
hier herrscht. Aus meinen Teil ist als Winter-
quartier ein kleines leerstehendes Haus gefallen,
ans dem man alles bis aus die Thüren fortgetragen
hatte, dergestalt, daß ich, um mir einen Spaß zu
machen und um doch ein wenig anständig eingerichtet
zu sein, mir für 20 Guineen Möbel kaufte. Daß
ich keinen Hauswirt habe, ist ein Trost für mich,
denn ich verabscheue die Leute hier zu Lande. Ich
habe sie die amerikanischen Jesuiten genannt. Es
sind dies die Quäker, die wie Mönche aussehen.
Sie sind anmaßende, listige Handelsleute, eigen-
nützig und bar jeder angenehmen, höflichen llmgaugs-
sorm, so gehe ich ihnen denn auch tüchtig zu Leibe,
wenn ich einmal das Pech habe, mich mit ihnen
einlassen zu müssen.
Wir haben seit einiger Zeit die Lust, den Eng-
ländern zu dienen, verloren. Man vertrügt sich
nicht mehr gut mit ihnen. Zuerst waren sie eifer-
süchtig aus uns, diese Eifersucht scheint sich jetzt
aber in Haß verwandelt zu haben. Übrigens bezahlt
man uns schon seit 7 Monaten nicht mehr regel-
mäßig. Man rechnet nicht mit uns ab, obgleich
wir, ich schwöre es Ihnen, das bischen Geld, das
uns zusteht, recht sauer verdienen. Leben Sie wohl,
teuerster Freund, das Papier erlaubt mir nicht
mehr zu schreiben, sonst würde ich niemals fertig
werden. Ich umarme Sie tausendmal und bin
und bleibe stets Ihr
O r e i l l y.
Nach Eelkings Mitteilungen, welche er den
Papieren des Barons von Steuben entnommen
311
hat. geriet Major von Reil ly beim Regiment
von Bose bei der Kapitulation von Yorktown
am 19. Oktober 1781 in Gefangenschaft. Rach dem
Friedensschluß findet Oreilly oder Neil ly sich
als Major bei dem genannten Regiment noch bis
einschließlich des Jahres 1789. Im darauffolgen-
den Jahre sieht er in gleichem Rang bei dem
Regiment Prinz Karl und verschwindet dann aus
dem Staatskalender. Zwei Fähnriche von Oreilly.
Karl Leopold und Friedrich Ferdinand,
werden 1787 und 1788 bei den Regimentern
von Ditfurth und von Donop, später bei den
Regimentern von Hanstein und von Kospoth
geführt.
vorn Kasseler Hostheater
VI.
Ein volles Vierteljahr ist nun seit dein Anfang der
neuen Spielzeit schon ins Land gegangen, und wenn ich
mich hinsehe, um das in dieser Zeit Gebotene zusammen-
zufassen. so entringt sich mir nur dieselbe Klage, die ich
vor gerade einem Jahre an dieser Stelle ertönen lassen
mußte, nämlich die über den fast vollständigen Mangel
an Neuem. Während wir in den Zeitungen lesen, daß
in Berlin. Wien, München, Dresden und selbst an kleineren
Theatern wie Dessau allwöchentlich neue dramatische Werke
dem Publikum geboten werden, müssen wir uns hier,
abgesehen von den Aufführungen klassischer Meister-
werke. begnügen mit Werken wie „Mein Leopold", „Im
weißen Rößl", „Der Fechter von Ravenna" u. a. und
als neueste Neuheit bringt man uns Meyer-Foersters
rührseliges, im vorigen Jahre in Berlin und anders-
wo schön über zwölfhundert Male aufgeführtes Schau-
spiel „Alt-Heidelberg", in das der Verfasser seinen
von prinzenerzieherischer Weisheit triefenden Roman „Karl
Heinrich" verwandelt hat. Doch halt! — beinahe hätte
ich ja Walter Bloeins Verskomödie „Sch na pp Hähne"
vergessen, was man mir allerdings nicht verübeln darf,
da das Merkchen thatsächlich so wenig markant ist, daß
das Gedächtnis sich keine Mühe damit gibt, es zu bewahren.
Und diese beiden Erscheinungen sind die einzige Ausbeute
ans der dramatischen Weltlitteratur der letzten Jahre, die
hier innerhalb dreier Atonale gemacht worden ist. Als
eine gewisse Entschuldigung könnten allerdings die großen
Personalveränderungen gelten, wenn wir nicht in den neu
verpflichteten Kräften znm größten Teil vollwertige Künstler
gewonnen Hütten, die auch sicher gern ihre Kraft einsetzen
würden, um Neues zu bieten, Namentlich in den beiden
Vertretern der ersten Rollenfächer besitzen wir jetzt in den
Herren Bvhnöe und Wolfram ernsthaft strebende
Künstler, die sich nicht mit dem Althergebrachten und
Konventionellen zufrieden geben, sondern auch noch den
älteren und oft gesehenen Rollen den Stempel eigener
Arbeit und eigenen Nachdenkens aufzudrücken verstehen.
Auch die neuen Vertreter komischer Rollen, die Herren
Bonin und Schlvtthauer, stellen ihren Mann, wenn
es auch dem letzteren schwer werden dürfte, seinen Vor-
gänger Herrn D em me bei uns vergessen zu machen, in
dem wir leider einen der besten, wenn nicht den besten
Schauspieler verloren haben, den wir seit langer Zeit den
unsern nennen konnten. Das Fach der Heldenmütter ist
nun auch wieder endgiltig besetzt durch Fräulein Salta.
die aber noch keine genügende Gelegenheit gefunden hat,
ihr Können gebührend zu entfalten.
Auf dem Gebiete der Oper liegen die Verhältnisse
anders, indem hier der Wunsch nach Neuem nicht in solch
ausgesprochener Weise vorhanden ist wie beim Schauspiel.
Wir haben da einen eisernen Bestand, der künstlerisch
wertvoll ist und in den Minderwertiges nicht wie dort so
leicht Eingang findet, nur weil es den großen Atasten
gefällt und die Kassen füllt. Mit diesem eisernen Bestand
kann man schon eine Zeitlang haushalten. Doch hört man
aus den Kreisen der Opernbesucher und Musikliebhaber
andere Klagen, denen man die Berechtigung nicht ab-
sprechen kann, diese beziehen sich auf die starke Beschäftigung
einiger jugendlichen Mitglieder der Oper, die immer und
immer wieder in neuen Rollen auftreten und deren Leistungen
von der Kritik fast immer gewürdigt werden mit den ein-
leitenden Worten: „In Anbetracht der Thatsache, daß der
jugendliche Künstler diese Rolle zum ersten Male singt . . ."
oder „Mit Rücksicht auf die Jugend der Künstlerin oder
des Künstlers u. s. w." Diese Würdigung klingt dann
gewöhnlich in die Versicherung ans, daß diese „jugend-
lichen Künstler" voraussichtlich noch Herrliches leisten
werden. Mit diesem Wechsel auf die Zukunft ist aber
der ernsthafte Theaterbesucher nur recht teilweise zufrieden,
ihm wäre mehr damit gedient, in jeder Hinsicht abgerundete
Opernvorstellungen zu sehen, als sich an dem vorläufig
noch nicht ganz' fleckenlosem Glanze aufgehender Sterne,
und seien es solche erster Größe, zu erfreuen. Im Gegen-
satz zu dem eben Ausgeführten ist wohl allgemein die
Nachricht von der weiteren Verpflichtung des Herrn Wuzel
für unsere Bühne mit großer Freude begrüßt worden. —
Erwähnt sei noch, daß Frau v. Mills -Milarta, das
bewährte und geschätzte Mitglied unseres Schauspiels, am
1. Oktober die Feier ihrer 40jährigen Zugehörigkeit zu
unserm Theater begehen konnte. Sie spielte bei dieser
Gelegenheit mit jugendlicher Frische die sympathische Rolle
der Herzogin in Paillerons immer wirksamem Lustspiel
„Die Welt in der man sich langweilt". Nach Schluß der
Vorstellung vereinigte eine Feier die Mitglieder des Theaters
auf der Bühne und Herr Intendant v. Gilsa überreichte
der Jubilarin einen goldenen Lorbeerkranz, den die Kol-
legen zur Erinnerung an diesen Tag gestiftet hatten.
Ich schließe diesen Bericht mit dem Wunsche, daß die
noch folgenden zwei Drittel der Spielzeit den beklagten
Mangel des ersten recht umfangreich ausgleichen mögen.
A. K. <5.
312
Das Lngelchen.
Aus der Erinnerungsmappe eines Achtzigjährigen.
Don B. S. Eoester-Bifchosfshausen.
Der kürzlich beendete Krieg in Südafrika ruft in
uns allen unabweislich mancherlei Erinnerungen
an das große Jahr 1870 wach. Erinnerungen
an unsere herrlichen Siege, aber auch. Gott sei's
geklagt, großen schmerzlichen Verluste, an den Tod
so vieler tapferen Männer.
Tie segensreichen Einrichtungen des „Roten
Kreuzes" thaten auch damals schon im Verein mit
anderer freiwilliger Hilfsthätigkeit ihr Bestes, um Not
und Elend nach Kräften zu mildern, aber man verfügte
leider im Verhältnis zu dem unerwartet großen Be-
darf. über eine sehr unzureichende Anzahl wirklich ge-
schulter Kräfte und in den einfachsten Anforderungen
der Krankenpflege erfahrener Leute. So viele von
denen, die sich anboten, und die gewiß den besten
Willen hatten, erwiesen sich als durchaus unbrauch-
bar, und manche Maid, die sich berufen glaubte.
Helden zu pflegen, sah sich in kurzer Zeit dazu
verurteilt — Kartoffeln zu schälen, Teller zu waschen
oder sonstige Arbeiten zu verrichten, von denen sie
nie geträumt hatte.
Ich war zum Chefarzt eines großen Baracken-
Lazaretts ernannt, welches sein Dasein der Initiative
und sehr thätigen Beihilfe einer hohen Dame ver-
dankte und fast ganz auf deren Kosten unterhalten
wurde. Ta Ihre Königliche Hoheit mit dem eng-
lischen Königshanse nah verwandt war. so hatten
wir auch mehrere englische Schwestern unter unsern
Pflegerinnen, stille, hilfsbereite, ältere Mädchen,
meist sehr brauchbar und geschickt. Sie hatten nur
den einen gemeinsamen Fehler, sie sprachen nur
englisch, und keine von ihnen machte den leisesten
Versuch, sich einige deutsche oder französische Worte
anzueignen.
Ich muß gestehen, dieser Umstand brachte mich
oft halb in Verzweiflung, ich hatte mehr zu denken,
als daß ich mich damit hätte aufhalten können,
meine englischen Sprachkenntnisse, die von vorn-
herein sehr gering waren, aufzufrischen. Es war
schon mühsam genug, sich mit den französisch redenden
Patienten zu verständigen, aber das war uns bisher
noch immer geglückt, da meine deutschen weiblichen
Hilfskräfte fast alle diese Sprache soweit beherrschten,
als zur Verständigung notwendig war.
Unser Lazarett lag ziemlich nahe der Grenze,
sodaß wir stets unter den ersten waren, denen ein
großer Teil der nach Deutschland zurück- bezw.
dahin gesandten Kranken und Verwundeten zufiel.
Die großen Schlachten bei Wörth, Gravelotte,
Mars-la-Tour waren geschlagen, die leichter Ver-
wundeten und Kranken, die Genesenen nnd Gefangenen
entlassen oder anderweitig untergebracht und eine
verhältnismäßige Stille nach dem Sturm — oder
vor dem nächsten — eingetreten.
So saß ich eines schönen Tages in dem kleinen
für mich abgegrenzten Raum, der den stolzen Titel
„Bureau" führte, und war mit Erledigung wichtiger
nnd eiliger Schreibereien, wie stets, bis „über die
Ohren" beschäftigt, da meldete mir ein Lazarett-
gehilfe. daß eine Dame mich zu sprechen wünsche.
Kunz Schölten, ein Biedermann, den ich seiner-
großen Brauchbarkeit halber zu meinem Faktotum
ernannt, durfte sich schon ein Wörtlein über den
Dienst erlauben, und er machte auch diesmal Ge-
brauch von seinem Vorrecht.
„Ich hanner gleich gesagt, der Herr Sancdäts-
raten hätt kei Zeit, awer "s is Widder so 'ne Eng-
lische. se hatt mich kei Wort verstanne un nur den
Brief hier abgegäwe."
Resigniert nahm ich den Brief in Empfang, den
ich auch ohne das ihn verzierende fürstliche Wappen
sofort an den Riesenschriftzügen als von unserer
hohen Protektvrin kommend erkannte. Sie empfahl
mir in dem Schreiben dringend „Schwester Jane",
die. aus einer sehr guten Familie stammend, den
Wunsch habe, ihre Kräfte den Kranken und Ver-
wundeten zu widmen. Der Wunsch der Fürstin
war für mich Befehl, so gab ich denn mißmutig
und ärgerlich und dabei gerade keinen Segenswunsch
in den Bart murmelnd. Ehren-Scholten den Auf-
trag. die Schwester hereinzuführen. Die Thüre lag
dem Fenster gegenüber, so daß der Strahl der sich
zum Untergang neigenden Sonne gerade die Gestalt
der eintretenden kleinen Engländerin traf und sie
mit einem Glorienschein umgab.
Ich alter wetterfester Knabe starrte sie schier-
sprachlos vor Erstaunen an. Nie in meinem Leben,
dünkte mir, hatte ich etwas Lieblicheres gesehen als
dieses junge Geschöpf, das da in der schlichten
dunklen Tracht der Pflegeschwestern vor mir stand.
Schön war gar kein Ausdruck für sie, ein fast über-
irdischer Reiz lag in diesem blütenjungen Gesichtchen,
um welches die Löckchen wie gesponnenes Gold
flimmerten und zitterten und in der Sonne leuchteten.
Unter einem unbeschreiblich zierlichen Näschen lag
ein halbgeöffnetes frisch rotes Kindermäulchen, ein
weiches rundes Kinn schloß das Gesicht ab. Und
die Augen! Solches Blau hat nur Italiens Himmel
aufzuweisen. Leuchtend und zugleich einen ganzen
Himmel an Liebe und barmherziger Güte verratend.
313
schauten sie mich unter dunkel umsäumten Wimpern
lieblich, halb ängstlich an.
Fast stotternd bat ich sie, Platz zu nehmen, und
erst der hilflose Ausdruck, der aus dem reizenden
Gesichtchen erschien, ries mir ins Gedächtnis zurück,
daß dies Engelchen — wie ich sie innerlich titu-
lierte — ja leider nur englisch sprach.
Also heraus mit den Kenntnissen! Ich weiß
nicht mehr, was ich gesagt, weiß nicht, ob sie mich
verstanden hat, aber aus ihren lebhaft heraus-
gesprudelten, unzähligen yes, yes, yes, o yes, yes
konnte ich ihre Bereitwilligkeit, sich all meinen
Anordnungen zu fügen, erkennen.
Zunächst brachte ich Schwester Jane zu ihren
Landsmänninnen, empfahl sie aber außerdem noch
extra der Schwester Adelheid, einer feingebildeten
Franksurterin, die die englische Sprache beherrschte
und mir und den andern Schwestern schon oft als
Vermittlerin gedient hatte. Tann stürzte ich mich
wieder in meine Arbeit, und davon gab es so
viel und von so ernster Natur, daß ich darüber
das Engelchen gar bald total vergessen hatte. Auch
die nächsten Tage waren so ausgefüllt, daß ich nicht
an Schwester Jane dachte, sie fiel mir erst wieder
ein, als sie eines Morgens meinen Weg kreuzte
und mich gar lieblich und anmutig begrüßte. Sie
war aus dem Weg nach dem Badezimmer, um ein
Bad für einen Typhuskranken herzurichten; die linke
Hand hielt das Thermometer umklammert, und der
rosige Zeigefinger der rechten lag krampfhaft fest
gedrückt aus dem ihr von Schwester Adelheid an-
gegebenen Wärmegrade.
„Wie macht sie sich denn?" fragte ich Schwester
Adelheid, die ich gerade im Bureau traf, dem
einzigen Raum, der ihr die Möglichkeit bot, einmal
ein paar Bissen ungestört zu essen.
„Wer?" fragte diese zurück.
„Schwester Jane."
„Lieber Sanitätsrat," ries Schwester Adelheid
ausfallend erregt, „sehen Sie mich mal genau an.
Habe ich noch keine grauen Haare bekommen? Nein?
Nun, ein Wunder wäre es nicht, denn etwas ab-
solut Unbrauchbareres als dies Menschenkind ist
mir noch nicht begegnet."
Sprach's und war hinaus, mich in großem Er-
staunen ob des eben Gehörten zurücklassend.
Nur zu bald sollte ich erfahren, daß meine gute
Schwester Adelheid mit ihrem Urteil über das
Engelchen nur zu recht gehabt hatte
Im Begriff, mich zu den Kranken zu begeben,
hörte ich, von der Gegend des Badezimmers her-
kommend, Schwester Adelheids Stimme. „O bu
großer Gott! Schwester Jane, was ist das nun
wieder!"
Ich beschleunigte meine Schritte und kam so
gerade hinzu, wie Schwester Adelheid mit hoch-
geschürztem Gewand durch das überflutete Bade-
zimmer schritt, mit energischer Hand die beiden
noch immer laufenden Krähne schloß und das Ab-
zugsrohr öffnete. Am Fenster aus einem Stuhl
stand Schwester Jane, in der Hand ein Buch, über
dessen Inhalt sie vermutlich vergessen hatte, die
Krähne zu schließen, und schaute hilflos, mit in
Thränen schwimmenden Blauaugen, auf die an-
gerichtete Sintflut.
Ich war ebenfalls äußerst ärgerlich, konnte aber
trotzdem nicht umhin, innerlich die Bemerkung zu
machen, daß Schwester Jane unglaublich liebreizend
in ihrer Demut und Hilflosigkeit aussah; in ihren
• Augen lag der Ausdruck eines geängstigten Kindes,
welches fürchtet, gescholten zu werden, und ich
drängte jedes harte Wort zurück, welches mir auf
der Zunge schwebte.
Sie machte aber, offenbar aus Rücksicht auf ihre
feinen schwarzen Schuhe, keinerlei Anstalten, ihren
Zufluchtsort zu verlassen. So rief ich den braven
Schölten zu Hilfe.
Dieser in jeder Situation höchst brauchbare
Mensch übersah die Sachlage mit grimmigem Lächeln,
1 machte sofort „kurze Fufzehn" und trug Schwester
! Jane auf seinen starken Armen aus dem Bereich
ihres unheilvollens Wirkens.
„Nun. was habe ich Ihnen gesagt, lieber Sänitüts-
rat," fragte Schwester Adelheid, die ans den Knieen
liegend, mit einem Tuch die letzten Wassermassen
aufzusaugen versuchte, „absolut unbrauchbar! Sie
ist nicht imstande, einem Kranken einen Löffel
Medizin zu geben, ohne die Hälfte zu verschütten
und die Stunde zu vergessen; von andern Hilfe-
leistungen, wie Wunden verbinden n. dgl. ganz zu
schweigen!"
„Sie mögen recht haben, liebe Schwester," war
meine gedrückte Erwiderung, „es hilft uns aber
alles nichts, Ihre Königliche Hoheit haben die Ver-
wendung dieser Schwester zu dringend gewünscht."
„Das mag sein, aber dann bitte verfügen Sie
selbst in Zukunft über die Verwendung dieser
Schwester, ich danke", entgegnete mir Schwester-
Adelheid etwas kurz und verschwand mit ihrem
Wischtuch.
Ich seufzte. Da war wirklich guter Rat teuer.
Das Küchendepartement war reichlich versehen und
an Pflegeschwestern großer Mangel, ich hätte das
Engelchen darum nur zu gern als solche behalten.
Wir hatten im ganzen mehr Kranke als Verwundete
in unserm Lazarett, das Belagerungsheer von Metz
sandte uns viel Typhus- und Ruhrkranke zu, welche
später durch die französischen Gefangenen noch ver-
mehrt wurden.
314
Ich hatte mich nach dem großen Bau begeben,
wo. natürlich abgesondert von den Verwundeten,
die Schwerkranken lagen. Das Befinden eines
jungen französischen Sergeanten flößte mir Besorg-
nis ein, das furchtbar hohe Fieber wollte keinem
Mittel weichen. Er phantasierte und warf sich in
qualvoller Unruhe auf seinem Lager hin und her.
Hier waren Eisumschläge dringend nötig. Mit
einem Seufzer der Erleichterung dachte ich daran,
daß ich hierzu das unbrauchbare Engelchen doch
würde verwenden können, und ging rasch hinweg,
um die nötigen Anordnungen zu treffen.
Eisbeutel waren nicht mehr da, in Eiswasser
getauchte Handtücher mußten sie ersetzen.
Ich packte Schwester Jane, die mich mit ängst-
lichen Blicken ansah, stumm aber energisch am Arm,
zeigte ihr, was sie zu thun habe und verstärkte
meine Anweisungen noch durch die Worte: „water
on kop.“ Wohl hatte ich selbst das Gefühl, daß
es kein ganz einwandfreies Englisch war, was da
eben dem Gehege meiner Zähne entflohen, aber ich
sah, daß meine reizende kleine Unbrauchbare mich
verstanden hatte, und das genügte mir für den
Moment.
In diesem Augenblick kam Kunz Schölten atem-
los, eine Depesche in der Hand schwenkend, in den
Saal gerannt.
„Herr Sanedütsrat, ich suche Ihne je wie 'ne
Stecknadel, in zwei Stunden kommt M Eisenbahn-
zug mit 300 Kranke un Verwundete an."
Ich griff mich an den Kops.
„Dreihundert, Schollen, und wieviel Betten sind
frei?"
„Etwan 45."
„Mehr nicht, ja dann muß ich sofort in die
Stadt und muß dort Rat schaffen."
Ehe ich mich entfernte, warf ich noch einen be-
sorgten Blick aus Schwester Jane und den sehr-
unruhigen. laut phantasierenden Fieberkranken; ich
sah gerade noch, wie sie bei Erneuerung des Um-
schlags eine Wasserflut aus das Bett des Unglück-
lichen ergoß und sich dann, sichtlich befriedigt von
ihren Leistungen, mit gefalteten Händen an dem
Bette niederließ. Unvergeßlich ist dies Bild in
meine Seele gegraben. Kein Maler hätte sich ein
entzückenderes Bild eines Engels der Barmherzigkeit
als Borwurs wünschen können.
Aber die Zeit drängte, es gab noch viel zu er-
ledigen, wenn wir beim (Eintreffen des Zuges mit
allen Vorbereitungen zum Empfang der Kranken
fertig sein wollten. Mein Wagen stand bereit.
Am Schlag stehend, wollte ich Schölten gerade an-
empfehlen, lieber aus alle Fälle noch 'mal nach
Schwester Jane zu sehen, als ein markerschütternder
Schrei unser Ohr traf. Uns umwendend, sahen
wir einen nur mit einem Hemd bekleideten Mann
aus der direkt ins Freie führenden Thür der
Baracke hinausstürzen und pfeilschnell über das
Feld dem nahen Wald zurenneu. Hinter ihm her,
fortgesetzt laut schreiend, die arme kleine Unglücks-
schwester Jane.
Einen Moment standen wir sprachlos da. dann
lies Schölten um den Wagen herum und beteiligte
sich an der Verfolgung. Schwester Jane hatte er
bald überholt, nicht so den Unglücklichen, dem Todes-
angst und Fieberwahn Riesenkräfte verliehen hatten.
Schon glaubte ich fürchten zu müssen, daß er, ehe
Schotten ihn eingeholt, den Wald erreichen würde,
in dem die Verfolgung natürlich sehr schwer ge-
wesen wäre, als er plötzlich hinstürzte.
Ich sah nun, wie erst Schölten. dann auch
Schwester Jane sich dem Kranken näherten und
wie ersterer eifrig, aber natürlich erfolglos, aus
die Schwester einredete.
Doch ich tonnte mir vorstellen, was mein braver
Schölten begehrte, und sandte sofort zwei Lazarett
gehilfen mit einem immer bereit stehenden Kranken-
korb nach der Unglücksstätte. Sie brachten den
ohnmächtig gewordenen Sergeanten zurück.
Wie wir nachher erfuhren, hatte sich das Engelchen
wieder in sein Buch vertieft (daß es ein Gebetbuch
war, mag ihr als mildernder Umstand angerechnet
werden) und darüber die Umschlagserneuerung ver-
gessen. Plötzlich war der Fieberkranke direkt über
sie hinaus gesprungen nnb hatte durch die der Hitze
wegen offenen Thüren ungehindert das Freie gewinnen
können.
Tie Geschichte war aber doch ruchbar geworden,
und Ihre Königliche Hoheit forderte Bericht. Der-
selbe wurde der Wahrheit gemäß abgefaßt und
infolgedessen über die niedliche kleine Jane ander-
weitig verfügt.
„Zu brauche war se jo net," meinte Kunz Schölten,
als ich es ihm mitteilte, „das muß schon wahr
sein, awer e ganz goldiges Schnuckelche war's doch,
m'r konnt'm net bes sein."
Ja, er hatte recht, der brave Kerl, denn noch
einmal muß ich's wiederholen, ich habe nie in
meinem Leben etwas Lieblicheres gesehen als diese
Schwester Jane, das Engelchen.
315
6ro$$muttm Magnet
„Bleibe, mein Knabe, Du keckster von allen,
Bleibe beim Vfen im Stübchen drin:
Über die herbstliche Miese wallen
Nebelumschleierte Geister hin. —
Graue, verkrüppelte Meiden strecken
Ihre Arme nach Beute aus ... .
Knabe! an allen Enden und Ecken
Kauern und lauern Schrecken, o Graus,
Fangen Dich an den Hangenden Locken,
Mcil Dil so blond, so rosig und weis; . . .
Durch die Gründe, in Schlafrock und Socken,
Schleicht der verwitterte Regengreis . . .
Im Walde krächzt eilt pechschwarzer Rabe
Eine uralte, schaurige Melodie." . . .
Furchtsant schmiegt sich der Enkclknabe
An der Großmutter Knie — —
1\ a i) o I j I) a ii s c ii.
Und die Ahne erzählt nun von Kronen und Ringen,
Bon Meergrund-Palästen, aus perlen gebaut,
Bon Silberbergen, die im Mondlicht klingen,
Bom Prinzen Eiswind, von Wassermanns Braut,
vom perzog Maitraum und seinen Rittern,
Die blütcnbckleidete Bäume sind,
Bon Blumen-Thränet!, die iin Mesthauch zittern------
Begierig lauscht das Kind
Und hat den trotzigen Wunsch vergessen,
Nach dem regennassen Anger zu gch'n . . .
Lang' hat es zu Großmutters Füßen gesessen
Und lauschend ihr nach den Lippen geseh'n,
— Eine Augenweide der würdigen Alte»,
Schön, wie ein Engel der piminelsleitcr —
Und hat gedrängt, wenn sie inne gehalten:
Sascda fclta.
„ Gro ß m utter, weiter!
-4X4-
Aus alter und neuer Zeit.
Von der grünen Couleur. In den „Blättern
zur Geschichte des siebenjährigen Krieges", die in
Nr. 7 des laufenden Jahrgangs dieser Zeitschrift
veröffentlicht worden sind, wurde der besonderen
Tüchtigkeit der hessischen Jäger gedacht. Einen
weiteren Beweis, welchen großen Eindruck dieselben
durch ihr gutes Feuer im Tressen bei Sanders-
Hausen ans ihre Gegner gemacht, zeigt uns eine
originelle Verordnung des Chevalier Tn Muy
vom 24. Januar 1762, wonach zwar die grüne
Farbe für die Forstleute immer noch verboten bleiben
soll, an Stelle derselben jedoch nun statt der be-
fohlenen roten graue Kleidung vorgeschrieben wird!
Diese Verordnung*) wurde den hessischen Ämtern
von der hessischen Regierung wie folgt mitgeteilt:
*) Sie lautet im Original:
„Sur la Représentation, faite par Mrs. de la Régence
de Casselles, à Mr. le Maréchal de Broglie, que les
habits rouges, dont il ordonnait, que les Chasseurs
du païs de Hesse fussent vêtus, couteroient fort cher
aux dits Chasseurs, seraient en même-teins contraires
à la Chasse et de plus trop semblables aux uniformes
Hannovriens; et sur la demande, qu’ils lui ont faite,
de substituer un habit gris, à l’habit verd dont ils
étaient vêtus auparavant, ce Général a mandé à Mr.
le Chevalier Du Muy, Lieutenant-Général des Armées,
Commandant celle du haut Rhin, en son absence,
qu’il consentait à ce changement et qu’il trouvait
bon, que les dits Chasseurs de la Hesse fussent vêtus
en couleur grise.
Fait à Casselles le 24 Janvier 1762.
Le Chevalier du Muy.
Par Mr. le Lieutenant-Général
Petit.“
„Unsern günstigen Gruß und freundlichen Dienst
zuvor, Edle und Beste, gute Freunde!
Nachdem voilt Herrn Marecbal Duc de Broglie,
aus die bey Selbigem geschehene Vorstellung besag
hierneben gedruckter schriftlicher Declaration, zu-
gestanden. auch respective vor gut befunden worden,
daß die Förster und Jäger im Lande, statt derer
vorhin befohlenen rothen Röcke, sich nnumehro grau
kleyden, keineswegs aber sich grüner Röcke bedienen
sollen. Als habt Ihr solches denen in Eurem
Gericht befindlichen Jagd- und Forst-Bedienten, zur
Nachricht liitb Achtung, sordersamst bekannt zu
machen. Versehens Uns und seynd Euch übrigens
günstig und freundlich zu dienen geneigt.
Cassel, den 26. Jannarii 1762.
Fürstl. Hessische Regierung
daselbsten."
Bezieht sich diese Verordnung zwar nur ans
die nicht iin militärischen Verbände stehenden Jäger,
so hat dieselbe doch ihre Veranlassung in der Furcht,
daß die hessischen Förster und sonstige Jagdbedienstete,
wenn sie grüne Uniformen trügen, sich um so
leichter mit den gefürchteten feindlichen Jägercorps
„vermengen" könnten — und vor diesen hatten die
Franzosen einen gar gewaltigen Respekt.
In der Neuzeit haben die Jäger- und Schützen-
formationen der deutschen Heere durch Einführung
eines vortrefflichen Gewehres für das gesamte Fuß-
volk und die allgemeine Ausbildung desselben für
das zerstreute Gefecht und den Sicherheitsdienst
zwar nicht mehr die frühere große Bedeutung,
316
immerhin wird es denselben and) in kommenden
Feldzügen unter der Hand schneidiger Führer be-
schieden sein, der Vorliebe der ganzen Nation für
die grüne Couleur in der Erinnerung an die frei-
willigen Jäger der Jahre 1813 und 1814 ent-
sprechend, Hervorragendes zu leisten. Unserm Kur-
hessischen Jägerbataillou, aus den früheren kur-
hessischen Jägern und Schützen hervorgegangen,
wünschen wir aber die Behauptung des Kriegsruhmes
seiner Stammtrnppen auch in der fernsten Zukunft.
A. v. m. z. Gilsa.
Seltene Münze. Nach Fertigstellung meines
Aufsatzes „Die symbolischen Thaler des Landgrafen
Wilhelm V. zu Hessen", welcher in vorletzter Nummer
dieser Zeitschrift zum Abdruck gelangte, ging mir
das Verzeichnis einer Münzversteigerung zu, nach
welchem eine hessische Münze von höchster Selten-
heit am 5. vorigen Monats zum Verkaufe kam. Das
Stück ist ein Goldabschlag des symbolischen Doppel-
thalers obigen Landgrafen vom Jahre 1630 in
vorzüglichster Erhaltung, natürlich wird es im
Verzeichnis nach alter Gewohnheit als „doppelter
Weidenbaumthaler" aufgeführt. Das Vorkommen
dieses Stückes spricht nun für meine in obigem
Aufsatz dargelegte Annahme, daß die aus dieser
Art Münzen dargestellte Stadt höchst wahrscheinlich
Kassel ist, und ebenfalls, daß dieses so vom Land
grasen Wilhelm angeordnet wurde. Auf keinem
andern Stempel dieser vielen Thaler ist die Stadt
bind) die wehrbare Mauer als eine wohlbesestigte
so kenntlick) gemacht wie gerade ans diesem des
Jahres 1630. Über die Entstehung und Auffindung
des Stückes glaube ich folgendes sagen zu binden:
Es war früher Brand), vereinzelt and) nod) heute,
daß bei Herstellung eines neuen Münzgeprüges oder
wenn an dem bestehenden eine Änderung beliebt
wurde, man den ersten Abschlag vom neuen Stempel
in Gold nahm, um sold)en dem Münzherrn als
Probe wie and) gleid)zeitig zur Genehmigung vor-
zulegen. Ohne Zweifel handelt es sid) hier um
ein sold)es Stück, weld)es gewiß and) nur ein
einziges Mal hergestellt wurde, daher seine hohe
Seltenheit unb gänzliches Unbekanntsein in der
hessisd)en Münzkunde. Jakob Hoffmeister, welcher
mit der größten Gründlichkeit alle Archive, die
gesamte Münzlitteratur, alle bekannten Münzsamm-
lungen seiner Zeit und vor allem die Verzeid)nisse
aller seit den frühesten Zeiten stattgefnndenen Münz-
versteigerungen durchforschte, wäre es nicht entgangen,
wenn fraglicher Abschlag schon früher bekannt oder
irgendwo einmal zum Vorschein gekommen wäre.
Da aber alle Quellen hierüber vollständig schweigen,
so ist anzunehmen, daß dieses Stück sich sck)on seit
langen Zeiten in unbekanntem Privatbesitz befunden
haben muß. In früheren Jahrhunderten war es
nun Sitte, daß der Landesherr diese für damalige
Verhältnisse recht wertvollen Goldabschlüge für einen
ihm geleisteten Dienst seinen Hosleuten und Beamten,
anch verdienstvollen Fremden, als Gnadeugesd)ent
überreichen ließ, wie die Fürsten heutzutage Orden
zu verleihen pflegen. Jedenfalls wird es so mit
gegenwärtigem Stück geschehen sein und ist dasselbe,
vielleicht schon seit Landgraf Wilhelms Zeiten,
immer im Besitz einer retdjeii und angesehenen
Familie, deren Ahn es wohl selbst erhielt, geblieben
und in dieser als vornehmes Erbstück von Ge-
sck)lecht zu Geschlecht gegangen, bis endlick) dnrck)
irgend welche Umstünde und Zufälligkeiten das
Stück in fremde Hände und dadnrck) zur Versteigerung
gelangte. Ter Äbsck)lag entspricht 10 Dukaten da-
maliger Zeit, hat ein Gewicht von 32,25 Gramm
und besitzt einen Goldwert von einigen ack)tzig Mark.
Er erzielte einen Preis von 1500 Mark, hierzu
10 "/« für Aufgeld und sonstige Gebühr, allerdings
eine hohe Summe, jedock) nick)t 311 hoch in Anbetracht
seiner großen Seltenheit. Leider ging dieses herr-
liche und gewiß nicht zum zweiten Male vorkommende
Stück für das hiesige königliche Münzkabinett ver-
loren; trotzdem enthält das letztere nach den reichen
Erwerbungen der letzten Jahre so zahlreickie hohe
und höchste Seltenheiten, daß es heute fraglos das
erste seiner Art ist, wofür alle Münzkenner und
Münzfreunde seinem nmsick)tigen Leiter, Herrn
Museumsdirektor Dr. Böhlau, zu Dank ver-
pflichtet sind. Theodor Meyer.
Aus Heimat nnb Fremde.
Hessischer Geschichtsverein. Der Verein,
für hessische Geschichte und Landeskunde in Kassel
hielt am 24. November seine Monatssitzung ab.
Der erste Vorsitzende Herr General Eisen traut
teilte mit, daß im vergangenen Atonal der Verein
2 Mitglieder verloren und 9 Mitglieder gewonnen
habe. Die Ausgabe der Zeitsck)rist werde erst im
Januar erfolgen können, da die Anfertigung der
beizugebenden Zeick)nnngen längere Zeit erfordere.
An Geschenken seien zu verzeichnen: eine eiserne
Platte mit dem hessischen Wappen (Siechenhofs-
verwaltnng), ein Bild des Ministers, nachherigen
Vorstandes der Direktion der Hauptstaatskasse Ge-
heimrat Schotten (Herr Privatmann Karl Sck)otten),
2 Photographien des alten Brunnens von Matten-
berg bei Nordshausen (Herr Oberregierungsrat
317
Landgrebe), Photographie des Schlosses Elmars-
hausen (Herr Finkbohner). Ferner teilte der
Herr Vorsitzende noch mit, daß nach Abänderung
der Statuten der Verein nunmehr in das Pereins-
register eingetragen worden sei. Der Redner des
Abends war Herr Oberlehrer Grebe, welcher
einen Vortrag über „Hessische Ortsnamen
als Geschichtsquellen" hielt und die Zu-
hörer in die Tage der Vorzeit führte. wo von
Zentral-Asien die Völkerstämme ausgingen, deren
einer sich durch die Thore des Kaukasus nach Europa
wandte. Redner ging dann zu den im jetzigen
Hessen befindlichen Sitzen der Kelten über, die um
'»Oft v. Ehr. von den Katten eingenommen wurden,
berührte die Gründung des Frankenreichs und die
Einführung des Christentums und sodann die letzte
Periode, die aus die Ortsnamen von Einfluß war:
die Ausnahme der Refugios durch die hessischen
Landgrafen. Für die Erforschung des Sinns unserer
heimatlichen Ortsnamen, an denen das Volk mit
großer Zähigkeit hänge, seien besonders sieben
Männer erfolgreich thätig gewesen: Jakob Grimm,
Vilmar, Arnold, P i d e r i t, N e b e l t h a n,
Di-. Wilhelm Kellner und Professor Edward
S ch r ö d e r. Die Ortsnamen sind hauptsächlich von
den Göttern, den Bäumen und den Tieren her-
geleitet. Das Verhältnis, in dem die alten Be-
wohner der unermeßlichen deutschen Wälder gerade
zu den Tieren standen, in deneü sie teils Jagdgesellen,
gleich ihnen selbst, teils böse Geister sahen, wußte
der Vortragende in sehr ansprechender Weise zu
schildern. An einer langen Reihe von Ortsnamen
wies Herr Grebe ihre Abstammung aus den ver-
schiedenen Sprachgebieten nach, wobei auch der Fluß-
namen gedacht wurde. Das geschichtlich-etymologische
Gebiet, auf das der Vortragende sich begeben hatte,
ist jedoch so ausgedehnt, daß er in der ihm zu-
gemessenen Zeit nur einen Teil desselben den Ver-
sammelten zugänglich machen konnte. Vor Schluß
seiner mit vielem Beifall aufgenommenen Aus-
führungen aber machte Herr Grebe noch auf die
Eigenart der Schwälmer aufmerksam, die so ganz
anders in ihrem Äußern seien, als die andern
Hessen, und warf die Frage aus, ob sie wohl als
Nachkömmlinge der Kelten betrachtet werden könnten.
Im hessischen Geschichtsverein zu Marburg hielt
am 27. November Herr Privatdozent Dr. Diemar
einen Vortrag über den Chronisten Wiegand
Gerstenberg (1457—1522), dessen Hauptwerk,
die thüringisch-hessische Landeschronik, hauptsächlichen
Wert dadurch hat, daß in ihm uns zahlreiche alte
Quellen erhalten geblieben sind. Sodann schrieb
Gerstenberg die Chronik seiner Vaterstadt Franken-
berg. in welcher er neben unechten auch eine Anzahl
echter Urkunden wiedergibt, die auch dieses Buch
zu einem wertvollen historischen Dokument machen.
Ferner wies der Redner auf die von Gerstenberg
noch vorhandene historisch-genealogische Tabelle des
hessisch-thüringischen Regentenhauses hin, die er als
ein kleines kalligraphisches Kunstwerk bezeichnete.
Oberhessischer Geschichtsverein. In Gießen
fand am 20. November unter dem Vorsitz des Herrn
Professor Höhl bäum eine Mitgliederversammlung
des oberhessischen Geschichtsvereins statt. Bei den
geschäftlichen Mitteilungen wies der Herr Vorsitzende,
wie der „Gießener Anzeiger" berichtet, auch daraus
hin. daß infolge des Mangels geeigneter Vor-
arbeiten, wie einer kritischen Ausgabe der hessischen
Chroniken, einer wissenschaftlich ausreichenden Samm-
lung der Urkunden zur Geschichte des hessischen
Landes und einer vollständigen kritischen Samm-
lung der Landgrafen-Regesten, eine gründliche und
vielseitige Erforschung der hessischen Geschichte vor-
nehmlich in den Zeiten des Mittelalters, noch immer
erschwert sei; die Bearbeitung der Regesten der
Erzbischöfe von Mainz, die auch für die Geschichte
von Hessen von hoher Bedeutung sind, sei dagegen
ernstlich in Angriff genommen und weit gefördert.
An den geschäftlichen Teil der Sitzung schloß sich
ein interessanter Vortrag des hochverdientenMnseums-
Kvnservators Herrn Hauptmann a. D. Kramer
über die neuesten Erwerbungen für das Museum
und die Ergebnisse der lohnenden Ausgrabungen ans
dem „Trieb", die nur durch eine neue ansehnliche
Spende eines ungenannten Gönners ermöglicht waren.
U n iv er sitätsn ach richten. Der in Kassel
geborene Dr. Balthasar Wilhelm Gerland
in Accrington in England beging am 14. November
sein 5ftjähriges Doktorjubiläum. Bei dieser Gelegen-
heit erneuerte die Universität Marburg ihm das Doktor-
diplom. — Dem ordentlichen Professor in der juristi-
schen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg
Dr. Rudolf Stammler (einem geborenen Ober-
hessen) wurde von dem Kaiser der Charakter als
Geheimer Justizrat verliehen.
Luise Braun. Zur Ergänzung der in voriger
Nummer enthaltenen Nachricht von dem in Berlin
erfolgten Hinscheiden der Schriftstellerin Fra» Luise
Braun teilen wir noch das Nachfolgende mit:
Seit ungefähr einem halben Jahre litt die Ver-
ewigte an einer Nierenentzündung, deren Anfänge
etwa zehn Jahre zurückzurechnen sind und zwar in
die Zeit, wv sie in aufopfernder Pflege um ihren
leidenden Gatten ihre eigene Gesundheit gering
achtete. Nach ihres Mannes Ableben trat sie im
Jahre 1897 in nähere Beziehungen zur „Deutschen
Goldschmiede-Zeitung" (Wilh. Diebner-Leipzig), in-
318
dem sie die Redaktion von „Schmuck und Mode",
eines Beiblattes derselben, übernahm, welches im
Anftrage einer Bereinigung von Juwelieren und
Goldschmieden zur Beförderung des Schmucktragens
herausgegeben wurde. Luise Braun mußte sich
nun in ein Gebiet einarbeiten, auf dem sie bisher
völlig Laie gewesen war. Es gelang ihr dies jedoch
in außerordentlichem Grade, sodaß sie die wärmste
Anerkennung der Fachkreise für ihre hingebende
Thätigkeit erntete. — Das zweite Arbeitsgebiet,
dem ein großer Teil ihrer Zeit gehörte, bildete
ihre Mitwirkung bei der Leitung des „Deutschen
Schriftstellerinnenbnndes". Sie gehörte zu denen,
die als die ersten für den Zusammenschluß der
weiblichen Schriststetlerwelt und vor allen Dingen
dafür eintraten, daß die schriftstellerischen Arbeiten
der Frau ebenso zu honorieren seien wie die des
Mannes. Im deutschen Schriftstellerinnenbnnd ist
sie Kassiererin, Schriftführerin und zweite Bor-
sitzende gewesen. Sie hat die Mitteilungen des
Bundes verantwortlich gezeichnet und war in jeder
Beziehung die Ratgeberin, die Mutier für alle
Mitglieder. Sämtliche Damen des Bundes hingen
mit außerordentlicher Liebe an ihr, was nicht nur
während ihrer Krankheit, sondern auch in der
Trauerversammlung bei ihrer Bestattung so recht
zum Ausdruck kam. Da es deu Damen noch nicht
gestattet ist, am Grabe öffentlich zu reden, hatte
Herr Pastor Weichbrodt aus Schmargendorf, ein
langjähriger Freund der Familie, der 1895 auch
Julius Braun zur Ruhe gebettet hatte, es über-
nommen, den Tank des Bundes auszusprechen.
Die „Teutsche Goldschmiede-Zeitung" war durch
ihren Redakteur Herrn Puch vertreten, der einen
großen Lorbeerkranz überbrachte. Künstlerisch wie
ihre Bestrebungen war ein kostbares Blumengewinde,
welches Herr Hosjuwelier Hugo Schaper-Berlin im
Austrage „der dankbaren Freien Vereinigung Ber-
liner Gold- und Silberschmiede" zu Füßen des
Sarges niedergelegt hatte. — Durch den thätigen
Anteil, den Luise Braun an dem Werke ihres Gatten
„Schiller, Goethe, Lessing im Urteil ihrer Zeit-
genossen" genommen hat, wird ihr Andenken auch
bei den Litteraturgeschichtskundigeu fortleben.
Bühne nab schied. Mit dem 30. November
schied unter Ehrungen der Intendanz und des
Personals der Maschinenmeister des Königlichen
Theaters in Kassel Herr Georg Brandt nach
3vjähriger Thätigkeit aus seinem Amt. Geboren
am 23. August 1843 zu Darmstadt, hatte er seine
technische Ausbildung unter der Leitung seines
Bruders, des dortigen hervorragenden Maschinen-
Direktors Karl Brandt, erhalten. Seit 1872 am
Hoftheater in Kassel thätig, schuf er hier im Verein
mit dem dahingeschiedenen Theatermaler Emil Harke
die glänzenden Inszenierungen von „Undine", „Aschen-
brödel", „Dornröschen", „Die Reise um die Erde in
80 Tagen", au die sich später hauptsächlich noch „Der
Ring des Nibelungen" von Richard Wagner anschloß.
Lieder lese moderner Sehnsucht. Unter
diesem Untertitel ist im Verlag von Greiner & Pfeiffer
in Stuttgart eine von unserm Mitarbeiter Karl
E r n st Kn o d t zusammengestellte Liederauswahl
„Wir sind die Sehnsucht" erschienen, in
welche nur làude deutsche Lyriker ausgenommen
sind. Über Absicht und Inhalt dieser eigenartigen
Sammlung gibt das uns vorliegende Vorwort Aus-
kunft. Es beginnt mit Betrachtungen über die steuer-
lose Sehnsucht Nietzsches und die steuersichere,
die Wilhelm Naabe in. das Viotto zusammenfaßt:
„Blick auf nach den Sternen", und fährt dann fort:
„Auch diese Liederlese moderner Sehnslicht ist gedacht
als ein neuer Aufblick nach den ewigen Sternen, als ein
erhöhtes Hände-Ausstrecken nach all dem unerreichbar
Schönen, Wahren lind Guten, als das heutige Heimweh
nach Gott und ganz erlöster Ewigkeit."
Die Einführung in das Buch schließt mit den Worten:
„Es wäre entschieden ein Irrtum, wollten wir die Zahl
der nach den Sternen Strebenden unsers neuen Jahrhunderts
gering schätzen — gegenüber denen. deren Auge so ganz
auf den Gassen und Gossen dieser Erde haftet. Schon die
namentlichen Namen der Sehnsuchtssünger in diesem unserm
Sammelbuche sind ein unwiderleglicher Beweis, daß und
wie die besten modernen Dichter Sänger starker Sternen-'
sehnsucht sind, lind wir glauben noch an viel ungenannte
und nngekannte Genossen gleichen Glaubens allerorten —
bis in die fernsten Welt- und Waldwinkel hinein."
Die Zeichnung des Einbandes und der stimmungs-
volle Buchschmuck rühreu von dem bekannten Maler
H. Vogeler-Worpswede her. Der Preis beträgt 4M.
---------------
Hessische Bücherschau
„Friede den Hütten." Preisgekrönter Roman
von M. vonEkensteen. München (Allgemeine
Verlags-Gesellschaft m. b. H.).
Ein sehnsüchtiger Zug nach Heimatlichkeit, nach den
patriarchalischen Sitten des Landlebens, nach dem „Frieden
der Hütten" und der Bethätigung wahrhaften Christentums
geht durch unsere neuere Litteratur; wie sehr dieser Hang
dem Bedürfnis der Volksseele entspricht, beweist, daß das
schönste Heimatsbuch unserer Tage, „Jörn Uhl", in 71000
Exemplaren verkauft wurde. Es ist der Überdruß an der
in Fäulnis übergehenden Kultur, der schon den alternden
Diocletian, den Beherrscher einer Welt, vom Throne rief.
damit er in einem Landstädtchen Dalmatiens friedlich
seinen Kohl bauen könne. Dieser Zug macht sich auch in
dem preisgekrönten Werke der diesen Blättern wohlbekannte»
Novellistin Frau von Ekensteen geltend, ja er durchzieht
wie ein roter Faden die frisch und flott geschriebene Er-
zählung. die neben realistisch geschauten Bildern aus der
sogenannten „großen Welt" mit idyllischem Pinsel die
319
Frische und Gesundheit, die Kraft und das Heit preist,
das in weltfernen Thälern am Herzen der Natur und
schlichter Pflichterfüllung lebt und für die übermüdeten
Kinder unserer modernen Tage Rettung bringen könnte.
Vielleicht läuft da und dort ein wenig zuviel Idealismus
mit unter, vielleicht ist es einem inmitten seiner Standes-
genossen erwachsenen Vertreter des Adels von heute nicht
ganz so leicht, alle Bande seiner Gesellschaft zu zerreisten,
alte eigenen Vorurteile seines Standes abzustreifen. wie
dem Helden des Ekensteenschen Buches, vielleicht sollte seine
Umwandlung in ähnlicher Weise tief motiviert sein wie
die des Tolstoischen Fürsten Nechljudow in dem gewaltigen
Roman „Auferstehung"; aber die Verfasserin wollte keinen
psychologischen Roman schreiben, sie wollte ein Lebensbild
geben, in dem schon alles in Handlung umgesetzt ist. die
Lösung eines sozialen Problems unternehmen. Das Buch
enthält einige sehr packende Schilderungen und eine Fülle
anmutender Gedanken und sympathisch gezeichneter Cha-
raktere. Cs ist leider durch modern sein sollende unschöne
Illustrationen entstellt, während die Ausstattung außerdem
durchaus vornehm ist. M. Kerkert.
Aus allen Augenblicken meines Lebens.
Nene Gedichte von Karl Ernst K n o d t. Mülheim
a. Ruhr (K. Schimmelpfeng). Geb. M. 5.—
Dieser neue Gedichteband ist ein würdiger Bruder des
wenige Monate älteren „Ans meiner Waldecke". Die
Eigenart religiös-lyrischer Empfindungsweise in modernem
Sprachgewand ist auch hier, ist in verstärktem Maste an-
zutreffen. „Lasset diese Kindlein zu euch kommen", möchte
ich den Freunden deutscher Lyrik zurufen; denn es ist mir
nicht möglich jedes einzelne in seiner keuschen Lieblichkeit
vorzustellen. Ich möchte zur Empfehlung dieser frommen
Kinderschar nur auf eins hinweisen: Wo lebt diese Schar,
welches ist der Schauplatz, auf dem sie sich tummelt? Wo
ist des Dichters Land?
Um mich verständlich zu machen, was ich mit dieser
Frage will, muß ich etwas anderes vorausschicken.
Lyrische Gedichte sind nicht nur Empfindung. Dieses
feine ätherische Wesen, welches wir Empfindung nennen,
muß einen Leib, eine Gestalt haben, sonst können wir
durch unsere Sinne gefesselten Menschen sie nicht verstehen.
Empfindung allein wäre Rosenduft ohne Rosen, wäre Brot-
aroma ohne Brot. Davon läßt sich nicht leben. Empfindung
allein wäre elektrische Kraft ohne Geber und Empfänger.
Was ist nun der Leib, die Gestalt der Empfindung? Offen-
bar das Erlebnis. Das Erlebnis ist das Sichtbare, das
Wahrnehmbare. Dies Erlebnis mit wenigen meisterhaften,
anschaulichen Strichen unseren Sinnen zugänglich zu machen,
daß unsere Seele in des Dichters Seele aufgeht, das ist
die Kunst des Lyrikers.
Die Seele Knodtscher Dichtung ist Sehnsucht nach der
göttlichen Heimat. Was aber sieht seine Seele, was hört
sie, worauf tritt ihr Fuß, in welcher sinnlichen Welt lebt
sie. wo ist das Land des Dichters? Fast möchte ich sagen,
der Dichter hat gar keines; er hat keines mehr. Was
dünkt ihn die Erde? Der Dichter Knodt strebt ja unaus-
gesetzt von dieser Erde fort. Die Welt des Sichtbaren
bietet ihm offenbar kein Ganzes mehr, sie bietet nur Augen-
blicke: Aus allen Augenblicken meines Lebens. So hätte
Knodt die Herkunft seiner Gedichte nennen müssen, auch
ohne auf K. F. Meyer sich zu berufen. Nun gibt es
doch noch eine ganze Reihe Erdendinge, mit denen sich die
Phantasie des Dichters beschäftigt. Von seinem lieben
Walde kommt er doch nicht so ohne weiteres los. Und
da sehe ich gar Winter. Frühling. Sommer. Herbst, Ernte.
Musik. Menschen und Liebe, ja sogar Humoristisches „aus
meinem Weltwinkel"! O, wie hat mich das gefreut! Ja. lieber
Freund. Du meintest, wir werden an einem Tage sterben.
Gewiß! Weißt Du auch wann? Wenn unsderHumor ausgeht.
Neben diesen genannten Erdendingen stehen aber die
ernsten Gestalten Abend und Heimweh, Tod und Einsam-
zeit, Gott nnd Ewigkeit. Wo ist des Dichters Land? so
frage ich noch einmal. Bei diesen ernsten Gestalten oder
dort bei den Erdendingen? Indem ich so überlege, finde
ich eine Merkwürdigkeit in den Knodtschen Gedichten, die
sich mir noch bei keinem Dichter so deutlich geboten. Wenn
er nämlich seine Stoffe aus der sichtbaren Welt nimmt
(Winter, Frühling u. s. w.), vergeistigt, ich möchte sagen,
verfielt er das Sichtbare; und da, wo er ins Ewige greift,
in die unsichtbare Welt, taucht er seinen Stift in die glut-
vollsten Farben, die ihm unsere Erde bietet. Das ist sehr-
natürlich. So will es die Poesie. Nnd so will es dieser
Dichter. Er strebt aus der Welt der Sinne hinaus, nicht
ohne den milden Glanz des Himmels auf sie zu legen und
er lebt in der Ewigkeit, nicht ohne ihr den reichen Mantel
irdischen Schmuckes zu verleihen.
Treten wir also ein in des Dichters Land! Die
Gedichte, welche den Untertitel „Erntezeit" tragen, weisen
am deutlichsten den Übergang von der Berseelung des
Sinnlichen zur Versinnlichung des Seelischen auf. In
der Erntezeit klagen die Ähren, daß sie sterben müssen,
aber ihr Sterben ist heilig; in Wahrheit sterben sie nicht
einmal, sie werden nur verwandelt und geben uns heiliges
Brot. Dergleichen nenne ich Berseelung. Und wenn der
Dichter die Ähren die Krone Gottes nennt, so halte ich
das für Versinnlichung von Seelischem. In der Einsam-
keit erscheinen dem Dichter Engel mit Friedenskrünzen
auf den Häuptern, während seine Füße ihnen bereits im
Äther entgegenschweben. Der Abend, der Vater der
Einsamkeit, öffnet heimliche Thüren; durch sie locken Engel
in die Ewigkeit einzutreten. Sie geleiten ihn. Unterdessen
singen unbekannte Stimmen ein Sehnsuchtslied über den
Wassern. Mildes Licht ist überall ausgegossen. In der
Luft entspinnt sich zwischen bösen Geistern und dem Ent-
schwebenden ein Kampf, aber Gottes Nähe verhilft ihm
zum Siege. Engel dienen dem Sieger, schmücken ihn mit
weißer Seide, reichen ihm Siegespalmen und führen ihn
zur Himmelsleiter. An vielen, leuchtenden Sternen steigt
er vorüber, an den Sternen, den stillen Betern der Nacht
und am toten Monde; schlackenbefreit tritt seine Seele in
die Sonne. Da ist Gottes Altar, da legt er die unent-
weihte Siegespalme nieder. Unter ihm liegt die Erde, ein
mondbeglünztes Thal, die Wiesen leuchten wie weiße Linnen;
die Wege der Zeit dehnen sich, die Stunden rinnen in das
Meer der Ewigkeit. Über die versunkenen Wege auf der
Erde sind goldene leuchtende Funken gestreut. — Auf gleicher
Höhe steht die Phantasiethätigkeit des Dichters in den
Heimatgedichten. Das Land seines Heimwehs hat goldene
Ufer, an denen rote Abendrosen blühn. Leuchtende Stege
führen dahin. Von ihm her ertönt ein Heimruf, der Himmel
und Erde durchbebt. Hundert helle Heimatstimmen fallen
mit mächtigem Chore ein: Hallelujah über Grüften, Halle-
lujah über Lüften. Leise Sternenlichter sind Wegweiser.
Während die Natur mit dem Dichter Heimweh verspürt —
Blumen duften und Wellenschlägen sind Heimwehtreiben —
kommt der Engel Tod zu dem Sänger. Er geht willig
mit. sein Lied ist Gottcsatem, Heimatsterne rauschen und
reden von roten Sonnen und ewigen Wonnen. Sie ent-
zünden der Sehnsucht schlafende Flammen, welche mit seinen
Liedern zusammenlohen und ihn durchs letzte Thor tragen.
Still geht die Wanderung in die Heimat weiter. Der
Wanderer spricht nicht viel, er schaut nur in die Sterne.
Manchmal ruft die Seele ihr Heimweh in den Himmel
hinein nnd eine zitternde Antwort schwebt ihr entgegen.
Goldene Türme werden sichtbar, die Sehnsucht baut sich
Altäre. — Auch der Tod entlockt dem Dichter phantasievolle
*320
Bilder. Der Mensch stirbt wie eine Blüte in der Sturm-
nacht, wie ein halbverhungerter Bettler am Wege, wie
eine im Wald gefällte Tanne, wie ein vergiftet Vöglein.
wie eine verdunstende Wvlke, wie eine in Sehnsucht er-
frorene (!) Seele. Ein letzter Hauch — und das Leben
steht still; auch die Liebe muß es leiden. Der Tod deckt
sein Bahrtuch über die Sonne des Lebens, doch soll er am
Sterbelager stehen wie ein stiller Stern, der in den Himmel
leuchtet. Hinter ihm ist das Heimwehlnnd, Meer und
leuchtend Land zugleich, dessen Ufer heilig glühn. Leise,
leise stößt der Nachen ab, um über das Meer zu fahren.
Die tote irdische Liebe kommt, himmlisch verklärt, ihm in
einer Barke entgegen.— Die Gedichte, welche Gott über-
schrieben sind, sollten den Titel „Glaube" erhalten haben.
Einmal im Leben begegnet jeder Seele Christus. Da hebt
der Scheideweg an: mit ihm oder von ihm. Der Glaube,
der kühne Wäger, muß entscheiden. Er thut den Sprung
ins Blaue, aber in das Blau des Himmels. Der Mensch
ist ein küstenferner Fahrer, ein herdenfernes Hirtenglöcklein,
ein vom Ozean losgelöster Tropfen, ein Stern, der fremdes
Licht trägt: göttliches. Die wahre Heimat des Dichters
ist die E w i g k e i t. Dort thront der Vater, Engelchöre
umgeben ihn. selige Reigen breiten sich vor ihm aus. Hier
ist das Land des wachgewordenen Geistes, der auf der
Erde vom Feuerzanber der Sinne eingeschläfert war. Dort
ist thätiges Ruhen, das Auge schwelgt in der Ästhetik des
Himmels. In den Gärten der Erlösung blühn die Wunden
des Heilands als Rosen. Es ist ewiger Mai. Unter
goldenem Dach ertönt Sphärengesang. — Nun wird man
sich wohl eine Vorstellung von des Dichters Land machen
können. Er wird verzeihen, wenn ich es nicht so schon
zeichnen konnte, als er es versteht. Doch war die Zusammen-
stellung zu einem Ganzen, der Fülle der „Augenblicke" und
--------------*»-
Personalien.
Verliehen r dem Oberforstmeister S w a r t zu Kassel
der rote Adlerorden 4. Klasse; den Professoren Heydenreich
am Realgymnasium, Zimmermann an der Ober-Real-
schule und Paulus am Friedrichs - Gymnasium zu
Kassel, Dr. Flemming an der Realschule zu Eschwege
der Rang der Räte 4. Klasse; dem Oberförster Müller zu
Stölzingen der Titel Forstmeister mit dem Range der Räte
4. Klasse.
Ernannt: Landrichter Vial in Kassel znm Land-
gerichtsrat ; Amtsrichter Fuchs in Biedenkopf zum Amts-
gerichtsrat; Gerichtsassessor Dr. .jur. Freytag in
Spangenberg zum Amtsrichter daselbst; Referendar Litt-
mann in Marburg zum Gerichtsassessor; die Rechts-
kandidaten Ahlemann. Gerlach, Goebels, Knack-
fuß, P f a n n st i e l und Wecke zu Referendaren, letzterer
unter Überweisung an das Amtsgericht in Rudenberg.
Bestellt: Pfarrer extr. Bock in Kassel zum Verweser
der Pfarrstelle zu Abterode; Pfarrer exbr. Hütteroth
in Wasenberg zum Verweser der Pfarrei Schrecksbach.
Versetzt: Amtsgerichtsrat Dr. Scheman n in Nen-
kirchen nach Hersfeld; Amtsrichter Dr. G ö r i n g in
Elmshorn an das Amtsgericht in Friedewald; Amtsrichter
Opitz in Friedewald an das Amtsgericht in Frankfurt
a. M.; Gerichtsassessor Fuhrmann aus dem Bezirk
des Oberlandesgerichts Stettin in den Bezirk des Ober-
landesgerichts zu Kassel; Stenerrat Riedel in Aurich afs
Kataster-Inspektor nach Kassel; Steuerinspektor Zimmer -
mann in Ziegenhain als Kataster-Inspektor nach Aurich;
Kreissekretär Conrad in Witzenhausen in gleicher Amts-
eigenschaft an das Königl. Landratsamt Hanau.
In den Ruhestand getreten: Forstmeister Au mann
in Hersfeld.
Geistesblitze zu einem einheitlichen Leben nicht gerade die leich-
teste Aufgabe, die ich mir für eine Besprechung wählen konnte.
Zum Schlüsse bemerke ich, daß ich hinsichtlich des Bilder-
schmucks des Buches nur ungern eine kritische Äußerung
unterlasse. Nur so viel sei gesagt, daß Knodts Gedichte
weder Torsi sind, noch Symbolik. Diese durchschnittenen
Leiber sind mindestens geschmacklos. Auch sind einige
Ausdrücke des Dichters wohl einer Änderung zu empfehlen.
In Andacht versteint, in Sehnsucht erfroren, und anderes
sind eine eontraclietio in ncl.jeeto. Auch ist das Buch
von Druckfehlern nicht frei.
Altkirch i. Elf.______________Stromberger.
Während Mamas Badereise und andere
Geschichten für die Jugend. Bon A. von
Oeynhausen. Hanau (Verlag von Claus;
& Feddersen) 1903. Eleg. geb. M. 3.—
Es ist ein prächtiges, liebes Buch, reizvoll und unter-
haltend für Mutter und Kinder und voll feiner Beobachtung
für die Regungen der Kinderseele. Den Hauch der Un-
schuld. Reinheit und kindlichen Frömmigkeit, der durch alte
seine Blätter geht, habe ich mit Wonne eingeatmet, man
sindet ihn so selten heute. Selbst durch die für die Kinder be-
stimmten Schriften weht eine schwere, schwüle Lust. Für solch'
ein Werkchen wie A. von Oeynhausen's: „Während Mamas
Badereise" müssen wir Mütter also sehr dankbar sein, lind
wer nach einem Buche sucht, welches er am heiligen Abend
gern seinen Lieblingen auf den Gabentisch legen möchte, dem
rate ich mit gutem Gewissen, das vorgenannte zu wählen.
Aber nicht nur den Kindern legt's auf den Tisch, sondern auch
eueren jungen Töchtern, den zukünftigen Müttern!
Rotenburg a. F. M. <£.
-------------
Verlobt: Liconciado Emilio Pimentel, Gou-
verneur des Staates von Oajaca. mit Frl. Amparo
Jordan (Mexico, 7. November).
Geboren: ein Sohn: Landmesser Schoof und Frau
Else, geb. Kipp (Karlshafen. 23. November); eine
Tochter: Fabrikant H. Uhlendorfs und Frau Hänsi,
geb. Neynaber (Kassel, 19. November); Major Wild
von Hohenborn und Frau Else, geb. Kn noth
(Bonn,21.November);Referendar Dr.AdolfWedemeyer
lind Frau Irmgard, geb. Rothfels (Kassel, 25. No-
vember).
Gestorben: Frau Oberregierungsrat Elisabeth
Mauve, geb. Kunitz, 35 Jahre alt (Kassel, 12. ^No-
vember); Leutnant Karl Sch eff er (Straßburg i. E.,
13. November); Fräulein Sophie Hartwig. 67 Jahre
alt (Kassel, 13. November); verw. Frau Pfarrer Werner,
geb. Klein. 82 Jahre alt (Kassel. November); Frau
Dr. Agnes Hülsemann, geb. v. Bismarck, 53 Jahre
alt (Marburg. 15. November); Frau Rentmeister Bertha
Henning, geb. Koch, 70 Jahre alt (Kassel, 16. No-
vember); Frau Amtmann Em ilie Fi ebeI korn, 75 Jahre
alt (Kassel. 23. November); Frau Lina Wagner, geb.
Sachse (Kassel, 25. November); Fräulein Lnise Scheffer.
72 Jahre alt (Hof Engelbach, 25. November); Amtsgerichts-
rat a. D. A n t o n M a i e r, 86 Jahre alt (Fulda. 26. No-
vember); Kaufmann Dietrich Degenhardt, 50 Jahre
alt (Kassel,26.November); Generalagent Moritz Klipfel.
78 Jahre alt (Kassel. 28. November); Fräulein Susanne
Re ul, 76 Jahre alt (Hanau, November).
Briefkasten.
P. W. in Leipzig, A. K. in Kassel. Besten Dank für
die willkommenen Beiträge und freundlichen Gruß.
Für die Redaktion verantwortlich: W. Ben necke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.
TE" Hierzu eine Beilage der Verlagsbuchhandlung von Emil Roth in Gießen.
Advent.
Und wieder kommst Du hoch vom Fimmel her
Und suchst Dein ewig-altes Gottesrecht
Und bringest Deines Lebens heil'gen Glanz
Mit Kraft und Macht dem heutigen Geschlecht.
Und wieder wenden sich empor zu Dir
Die Menschenseelen, die voll Heimweh sind,
Die heißen Kerzen an der Welt verbrannt,
Die Augen, die vom Suchen matt und blind.
Der Welten Rätsel tragen sic zu Dir,
Der alten Fragen ungelöst Problem,
Die (Dual der Sinne, das verlor'ne Glück;
Der Philosophen wandelbar System, —
Das krasse Elend, das die Welt durchmißt,
Des Lasters Schmach, der Armut bitt're Not,
Die Einsamkeit, in der die Seele weint,
Das harte Alter und den bittren Tod.
„Da nobis pacem“ schrei'n sie auf zu Dir:
Ach, ohne Dich ist alles wüst und leer!
Und wieder wanderst Du nach Golgatha
Mit einem Kreuz, das tausendmal so schwer
Geworden durch die Sünden unsrer Zeit.
Und lächelst selig: „Kommet her zu mir,
Die ihr mühselig und beladen seid."
Rege"»,, urg. Ifl, Rerbm
Wintergedanke.
Alt ist das Jahr, Schnee deckt die Flur,
Und unterm Schnee die Frühlingsboten lauern,
Aus der Vernichtung rettet sich Natur
Zur Auferstehung nach des Todes Schauern.
Du altes weißes Haupt in Grabes Näh',
Vast Du gepflegt in Deiner Seele Tiefen
Den Keim zum Leben, daß er aufersteh',
wenn Dich des jüngsten Tags Posaunen riefen?
Einsamkeit.
Ein Spielmann das Leben,
Er geiget zum Tanz;
Auch ich war noch eben
Im wirbelnden Kranz.
Meine Partner das Glück
Und der Frohsinn vereint —
Jetzt blieb ich zurück,
Von niemand beweint.
Kein Tanzen, kein Geigen,
Nur Einsamkeit,
Nur tödliches Schweigen
Ist weit und breit.
Du Spielmaun, du guter,
Hab' Dank und leb' wohl
Und schick' mir den Bruder,
Der trösten mich soll.
© ö 111 n g e n.
t. B.
All-Hessenlan-
oder das chattisch-hessische Ausbreitungsgebiet in Mittel-Europa.
Ein deutfchkilndlicher Versuch von Dr. phil. Fritz Seelig zu St. Goarshausen am Rh.
Vor nunmehr dreizehn Jahren habe ich meinen,
am 28. Oktober 1889 im hessischen Geschichts-
verein zu Cassel gehaltenen Vortrag „über die
Namen der Chatten und Hessen sowie über die
Gebietsentwicklung der Landgrasschaft" am Schlüsse
des Jahrgangs III (vergleiche S. 323 u. 324) in
unserm „Hessenland" zum Abdruck gebracht, auf
den Seiten 326-330 und 342-346.*) Auch
heute noch kann ich die dort, besonders auf
Seite 328 unten u. ff., gegebenen Forschungs-
Ergebnisse als völlig richtig unterschreiben, trotz-
dem ich, Mitte Juni 1892, in den „Touristischen
Mitteilungen aus Hessen-Nassau und Waldeck,
einschließt, des großherzogl. Oberhessens und der
angrenzenden Gebiete" in der ersten (Werbe-)
Nummer (welche, ergänzt und erweitert bis zur
Südgrenze des Großherzogtums Hessen, November
1894, also 5 Jahre später als mein erstgenannter
Vortrag, im Neudruck erschien^ alle die andern
hessischen Lande, bis zum Unterlauf des Neckars
und bis an den Donnersberg in der Pfalz, als zur
touristischen Durchforschung gehörig, nunmehr in
„beiden Hessen, Nassau, Frankfurt a. M, Waldeck
und den Grenzgebieten" miteinbezog. (Auch hier-
von ist im Verlage des Niederhessischen Touristen-
vereins zu Cassel ein Sonderabzug in beschränkter
Zahl s. Zt. erschienen, der Interessenten freisteht.)
Unvermischt hessisch, ja urhessisch, weil schon
beim Beginn geschichtlicher Kunde chattisch, und
seitdem stets chattisch-hessisch geblieben, sind nur
die Gebiete, welche eine Linie von Hannöversch-
Münden bis zum Kreuzberg in der Rhön und
von da mit leicht südlicher Ausbuchtung quer-
durch Oberhessen bis zum Ederkopf, von wo es
wieder zum Ausgangspunkte zurückgeht, in Form
eines fast gleichschenkligen Dreieckes umschließt.
Ebenso aber, wie wir im Nordwesten des
fränkischen Hessengaues, hart nördlich der alten
sprachlichen Grenzlinie Bonn-Cassel-Dessau, und
zwar im Kreise Rinteln, ferner im sächsischen
Hessengau (d. h. in den Kreisen Hofgeismar und
Wolfhagen) und im nördlichen Waldeck nebst
*) Der Vortrag erschien auch als Sonderabdruck.
Cassel 1889, im Selbstverlag des Verfassers; hier S. 14 ff.
Pyrmont, ein in sich abgerundetes, niedersächsisches
bezw. westfälisches Grenz- und Mischgebiet und
daneben im Westen des fränkischen Hessens, nämlich
im gleichfalls althessischen Thalgebiete der Unter-
Werra, in den Kreisen Eschwege und Witzenhausen,
und im ursprünglich Hennebergischen Kreise Schmal-
kalden, eine thüringisch-hessische Übergangszone an-
gliedern müssen, so lassen sich im Süden und im
Südwesten des eigentlichen Hessenlandes das lieb-
liche Kinzigthal bis nach Hanau, der Spessart
und die Aschaffenburger Gegend, die bis 1866
freie Stadt Frankfurt am Main und die
Wetterau. das mittlere und untere Lahnthal,
selbstredend mit Westerwald und samt Taunus,
aus rechtsrheinischem Schiefergebirge, sowie ganz
Rhein Hessen mit Mainz und endlich die Graf-
schaften Ober-Katzenellenbogen und Erbach, oder
die Darmstädter Gegend bis tief in den Oden-
wald. als Neu-Hessen land an das oben um-
grenzte, altchattische Ur- und Stammgebiet, im
heutigen Niederhessen samt dem alten, nördlichen
Oberhessen, ohne jeden Zwang anfügen; also daß
nunmehr die preußische Provinz Hessen-Nassau,
das Großherzogtum Hessen, das Fürstenthum
Waldeck, die Kreise Wetzlar und Berleburg (oder
Wittgenstein), aus den Provinzen Rheinland und
Westfalen, die seit 1816 zum Königreich Baiern
gehörige Gegend von Aschaffenburg in Unterfranken
sowie alle Grenzgebiete ringsum den größeren
Begriff „All-Hessenland" bilden, gegenüber dem
altchattischen Kernlande, das ja zumeist in dem
nördlichen, größeren Teil des ehemaligen Kur-
hessens gelegen ist, und dessen Mittelpunkt etwa
zwischen Gudeusberg. Malsfeld und Fritzlar zn
liegen kam. Abgesehen von den drei, als kur-
hessische, bezw. waldeckische Exklaven mit zu be-
handelnden, Kreisen (Rinteln, Pyrmont und Schmal-
kalden) liegt „All-Hessenland" vor uns als eine
kompakte Masse aller hessischen Lande vom Nord-
ende des Neinhardswaldes bei Carlshafen an
der Weser bis nach Wimpfen am Neckar, wo
die Odenwald-Vorberge endigen, und von Schmal-
kalden im Thüringerwalde bis nach Rheinfels
ob St. Goar und Pfalzfeld im ehemals kur-
hessischen Niederkatzenellenbvgen, auf der linken
323
Seite des hier gerade zauberhaft--schön dahin-
fließenden, deutschen Rheinstromes. Es ist dies
ein gut abgerundetes Gebiet, Wald- und wildreich,
wie nirgends, ein wonniges Berg- und Hügelland,
im Herzen Mittel-Europas oder All-Deutschlands,
mit einem Umfang von etwa 28—28 '/2 Tausend
Quadratkilometern, auf denen gegen Ende 1900
ungefähr 3 */2 —33/s Millionen Menschen, meist
chattisch-hessischen Blutes, wohnen. Vergleicht man
mit diesem unserm, ideal geforderten „all-
hessische n" Lande die nur wenig größere Pro-
vinz Posen*), in deren Flachland es keine nur
mäßig bewohnbaren Berg- und Höhenzüge wie
in Hessen-Nassau, Waldeck und im Großherzog-
thnm Hessen gibt, so finden wir dort etwa nur
halb so viel Einwohner als bei uns; ein beweisen-
des Zeichen dafür, daß trotz aller Kargheit alt-
hessischer Erde, doch unser Volksstamm zähe an
der Heimat hängt, und daß der Hesse sein Land
so dicht, als nur möglich, besiedelt hat, um den
alten Spruch wahr zu erhalten: daß „wo Hesse
und Holländer verderben, kann niemand mehr
Nahrung erwerben". Ja, Hessen und Holländer,
über denen beiden das nämliche Banner, leuchtend
in Not-Weiß und Blau, flattert, von denen
Tacitns in Chatten und Battaven uns eine wenn
auch von neuester Kritik mit Recht angefochtene,
engste Blutsverwandtschaft überliefert, und denen
in Brabant und Hessen gemeinsames Fürsten-
blut seit 1247 floß, sie beide allein haben, seit
dem grauesten Tagen urgermanischer Vorzeit, ihre
Sitze selbst in den Stürmen der Völkerwanderung
behauptet und bis heute sich im großen und
ganzen erhalten, wie dies Jakob G r i in m, einer
der größten Söhne der hessischen Erde, ja unseres
ganzen deutschen Vaterlandes, in seiner „Geschichte
der deutschen Sprachen" (1848) ebenso ruhmreich
wie berechtigt-stolz von den Hessen und den
Friesen, den Ahnen der heutigen Holländer in
den nördlichen Niederlanden, niederschrieb, sich
selbst und unserm hessischen Volksstamme, dem
deutschesten der deutschen, zur Ehre.
Wenn wir nun das gesamte Gebiet von All-
Hessenland nochmals, abgesehen von Rinteln nebst
Pyrmont und Schmalkalden, uns vor Augen
stellen in einer gedachten Grenzlinie von Carls-
hafen bis Mihla a. d. Werra, dann weiter bis
etwa 5 km westlich von Meiningen, dann bis
Kissingen, Hammelbnrg, Gemünden unb ferner
über Wertheim und Amorbach bis zum Katzen-
buckel im Süden; von da quer durch das Rhein-
thal bis zum Donnersberg, dann von dort
*) Ende 1900: 28906 Quadratkilometer mit 1.888.000
Bewohnern.
über Bingen, Coblenz und Altenkirchen zum
Ederkopf, von wo es über Brilon und Mar-
burg, in leichtem Bogen dem Diemellaus folgend,
nach Carlshasen zurückgeht, so läuft die Halbirungs-
linie all dieser hessischen Lande vom Ederkopf aus
etwa über Gießen, ferner über den Taufstein im
Vogelsberg und über den Kreuzberg in der hohen
Rhön bis gerade zum Einfluß der Streu in die
fränkische Saale.
Was nördlich dieses „allhcssischen Äquators"
liegt, war oder wurde, im Kampfe mit den
Cheruskern oder Hermunduren, altchattisches Ge-
biet, in welches selbst die weitherrschenden Römer
nur Streifzüge unternommen haben, während
südlich davon einst, geschützt durch den Limes
Romanus und sein Vorland, römisches Wesen
mehr oder weniger eingedrungen war, bis seit
375 nach Christus die Woge der großen Völker-
wanderung die althessische Vollkraft in diese
Gebiete hinüberschlagen ließ, wo dann die Chatten
ein Neu-Hessen begründeten und der alten Nord-
hälfte nach Süden hin, bis an die heutigen Rhein-
pfälzer, einen schönen Abschluß anfügten. Dabei
aber wurde der tiefe Rheingraben im rheinischen
Schiesergebirge, von Bingen bis Coblenz, nur bei
St. Goar und Psalzfeld, wie ein vorgelagerter
Brückenkopf, überschritten; denn sonst ergoß sich
die überschäumende, chattische Urkraft, wie ein
Gewitterstrom durchbrausend und jeden römischen
Widerstand niederwerfend, von Coblenz mosel-
au sw ärts bis weit über Metz hinaus, um dort
leider in wälschem Lothringertnm unterzugehen
oder sich doch mit moselfränkischem Volksblute
zu verschmelzen. Aber wie die vielen Volksstämme
der Ostgermanen, z. B. die West- und Ostgothen,
die Langobarden und Wandalen, einst in Italien,
Gallien, Spanien und Nordasrika, bis auf geringe
Spuren, untergegangen sind, so ist auch diese
vorübergehende Wanderstrccke von Coblenz bis
Metz unserm chattisch-hessischen Volkstume dauernd
nie angegliedert; denn dies gelang, wie wir ja
bereits wissen, nur in der lieblichen Südhülfte
der allhessischen Lande. Hier sind eben die
Gebiete des Westerwaldes, des ganzen engen Lahn-
thales, des weiteren Tannusgebietes, der Wetterau.
des Rheingaues, des Frankfurter Beckens und
des Kinzigthales, des Spessartes, des Odenwaldes,
der oberkatzenellenbogischen Rheinebene bei Darm-
stadt und ganz „Hessen bei Rhein" mehr oder
minder gründlich von den Chatten eingenommen
und durchaus hessisch kolonisiert worden als
„Nen-Hessenland"; einen Ausdruck, den wir den
Forschungen des Darmstädter Germanisten Mar
Rieger zur bequemeren Charakterisierung wohl
entnehmen dürfen. — Wer sich aber ein Bild der
324
Nordhälfte aller hessischen Lande, freilich zumeist
nur in touristischer Beziehung, machen will, findet
dies, abgesehen von Rinteln, Pyrmont und Schmal-
kalden, a. a. O. in der ersten (Werbe-) Nummer
der Touristischen Mitteilungen, geordnet nach
24 Sektionen, von denen zwei dem Diemel- und
Weser- und ebensoviel dem unteren Werra-Fluß-
gebiete angehören, während auf die obere Lahn
in Oberhessen fünf Sektionen entfallen; das Gebiet
des Fuldaflusses dagegen zerfällt dort in sieben
Sektionen, denen sich fünf für die Edder und
drei für die Schwalm noch angliedern.
Eine touristisch nach allen Seiten begründete
Sektionseinteilung der Südhälfte aller hessischen
Lande steht zwar noch aus, soll aber in nicht
allzulanger Zeit, wahrscheinlich noch im laufenden,
XI. Jahrgang der von vr. Lange in Cassel
herausgegebenen Touristischen Mitteilungen aus
beiden Hessen rc., wie wir hören, nachgeliefert
werden.
Daß dabei auch die ethnographischen und
historischen Grenzen ihre gebührende Berücksichti-
gung finden werden, dafür bürgt uns die mehr
als neunjährige Beschäftigung des Verfassers mit
deutschkundlichen und besonders allhessischen Studien
und Streitfragen, unter denen die längst betriebenen,
mundartlichen Forschungen gerade im letzten Jahr-
zehnte erfreuliche Fortschritte gemacht und allseitige
Anerkennung, auch in Laienkreisen, namentlich seit
Aufkommen der Heimatkunst und -Litteratur, ge-
funden haben. Freilich laufen dabei, selbst in
vielgebrauchten Heimatkunden, die schon eine 4. Auf-
lage erlebt haben, drollige Sachen mit unter; daß
man z. B. darnach annehmen müßte, Hessen-
Nassau sei halb im niederdeutschen Sprachgebiete
gelegen, während doch nur eine verhältnismäßig
kleine Gegend, ganz im Norden der Provinz bei
Hofgeismar platt redet, die große Masse aller
Hessen aber den Mittel-, und nicht den Ober-
deutschen, die südlich von Karlsruhe enden, sprach-
lich zuzurechnen ist.
Betrachten wir aber unser All-Hessenland, be-
stehend aus allen ehemals „chattischen" Landen, und
aus allen „neuhessischen" Gebieten, im einzelnen, so
ergeben sich sowohl für die nördliche als auch für
die südliche Hälfte je drei in sich abgerundete Kreise
oder Unterabteilungen, die wir hier um Cassel,
Marburg a. L. und Fulda sowie dort um Lim-
burg a. 8., Hanau und Darmstadt am zwang-
losesten gruppieren können. Dabei kommen die
drei südlichen Großstädte Frankfurt a. M., Mainz
und Wiesbaden gerade in die Mitte der neu-
hessischen Südhälfte zu liegen, während Gießen,
am Nordwestrande des großherzoglichen Hessens,
etwa den Mittelpunkt aller hessischen Lande samt
den sechs Unterabteilungen bilden würde. In
einem weiteren Aufsatz aber sollen diese einzelnen
sechs allhessischen Bezirke behandelt werden.
------------------------
(Ein hessisches Stammbuch
Mitgeteilt von Max Georg Schmidt.
^or kurzem hatten wir Gelegenheit, ein hoch-
™ interessantes, altes Stammbuch zu durchblättern.
K. Bernhardt, der Nachfolger Jakob Grimms
im Amt eines Oberbibliothekars an der ständischen
Landesbibliothek in Kassel, hat dasselbe als Ver-
treter des 4. kurhessischen Wahlbezirks (Fritzlar)
bei der deutschen Nationalversammlung in der
Paulskirche in Frankfurt angelegt und darin die
Handschriften der bedeutenderen Mitglieder des
Parlaments gesammelt. Einen Auszug dieser Ge-
denksprüche haben wir im Septemberhest der
Deutschen Revue unter dem Titel: „Ein Stamm-
buch aus dem Frankfurter Parlament" veröffentlicht.
Außerdem finden sich jedoch im Album noch einige
Eintragungen angesehener kurhessischer Männer aus
den fünfziger Jahren, welche für die Leser dieser
Blätter von Interesse sein dürsten.
So schreibt der frühere Oberbürgermeister Hart-
wig:
„Wir leben in einer schmachvollen Zeit und oft hört man
den Ausruf: Wann wird diese Schmach enden!? Mancher
verzweifelt an einer glücklicheren Zukunft, aber wir dürfen
den Mut nicht verlieren, die Hoffnung nicht aufgeben, daß
nach dieser trüben Zeit eine bessere folgt.
Ich habe Arges erdulden müssen, aber dennoch halte ich
fest an dem Glauben an eine ewige Gerechtigkeit."
Kassel, am 19. Juli 1854. Hartwig.
Finanzminister Wippermann, der Verfasser
von „Kurhessen nach dem Freiheitskriege", unter
dessen Geschäftsleitung das Papiergeld in Hessen
eingeführt wurde, äußert sich ähnlich:
„Die Wahrheit harrt mit sich'rer Wage
im Wolkenzelt der Folgezeit,
Bewegt die Spreu gedungner Sage
und huldigt der Gerechtigkeit.
Ihr Märtyrer für Menschenwürde,
vertraut der Wahrheit und der Zeit!
Vergänglich ist des Druckes Bürde,
doch ewig die Gerechtigkeit!"
Kassel, 30. Oktober 1852.
Carl Wilhelm Wippermann.
325
Auch L. Schwarzenberg klagt über die jämmer-
lichen Zustände der Zeit:
„Wenn wir zusammenhielten treu ohne Zagen,
es würde unser Ruhm die Welt durchjagen!
Wir wären nicht gestoßen aus der Schar
der Völker, die am Freihcitshochaltar
der Freiheit bringen ihre Opfer dar.
Wenn wir zusammenhielten treu und fest,
so wäre unser Auge nicht benäßt,
wcnn's die Geschichte liest, die uns verkündigt,
wie sehr wir an der Freiheit uns versündigt.
Das Stallbkorn einzeln am Wege liegt
beim leisesten Windhauch verweht, verfliegt.
Doch fließt es zusammen und bleibt im Verein,
so wird eü ein mächtiges Felsgestein;
und weht der Sturmwind fort und fort:
Er rückt es nimmer von seinem Ort.
Geschrieben in der Zeit einer schmachvollen Reaktion,
aber mit der festen Zuversicht einer bald sich verwirklichenden
besseren Zukunft, welche gesetzlicher Freiheit eine feste Stätte
bereitet und alle deutschen Stämme zu einem großen, einigen
Volk verbindet."
Kassel. 20. XI. 53. L. Schwarzenberg.
Der durch Vilmar zwangsweise versetzte Kon-
sistorialrat Kraushaar schrieb „bei seinem ge-
zwungenen Abschied von Kassel am 24.Oktober 1852":
„Die Kanzel ist's, wohin zuletzt das freie Wort sich flüchtet
und mit zweischneid'gem Schwert der Wahrheit Feinde richtet
Die Wahrheit aber siegt, mag auch im Bund mit blindem
Glauben
Gewalt dem freien Wort die letzte Freistatt rauben."
Auch Kraushaars Amts- und Schicksalsgenosse
Asbrand ist mit einem längeren Abschnitt aus
seiner Kasseler Abschiedspredigt im Album verewigt.
Der vortreffliche hessische Jurist B. W. Pfeiffer-
trug hochbetagt am 12. November 1851 seinen
Wahlspruch ins Stammbuch Bernhardts ein:
„Was der Mensch nicht aufgiebt, hat er auch nicht
verloren. (Prinz Albrecht v. Preußen.)
Zur freundlichen Erinnerung an einen alten treuergebenen
Freund, dem jener trostreiche Wahlspruch unter den miß-
lichsten Verhältnissen zum Leitstern seiner Handlungen im
öffentlichen Leben gedient hat."
Der berühmte Leiter der Kasseler Theaterkapelle
weckt die Erinnerung an das Jahr 1848 mit
folgender Eintragung:
„Die obigen Anfangstakte des Sextetts, op. 140, ge-
schrieben in der freudigen Begeisterung des Jahres 1848
bei der Erhebung Deutschlands zu Freiheit und Einheit
mögen hier ein Plätzchen finden als wehmütige Erinnerung
an jene Zeit." *)
Kassel, 28. Xl. 51. Louis Spohr.
*) In seinem Kompositionsverzeichnis hatte Spohr bei
Aufnahme des Sextetts die Worte hinzugefügt: „Geschrieben
im März und April zur Zeit der glorreichen Volks-
revolution zur Wiedererweckung der Freiheit, Einheit und
Größe Deutschlands." Anm. d. Red.
Auch Sylvester Jordan, der schwergeprüfte
Schöpfer der kurhessischen Verfassuugsurkunde, widmet
sein niedliches Gedichtchen „seinem langjährigen
Freunde zur Erinnerung an die Zeit des deutschen
Parlaments":
„Warum kommt denn im deutschen Aaterlande,
die heißersehnte Einheit nicht zu Stande?
Die Antwort giebt uns kurz und klar
des deutschen Reiches Doppelaar.
deß' einen Leib zwei Köpfe drücken,
die sich einander nie anblicken;
von denen jeder will allein
des Leibes Haupt und Zierde sein;
doch wenigstens, da dies mißlingt,
auf gleiches Recht der Herrschaft dringt.
< Solang zwei Köpfe wollen oberherrlich walten,
kann sich die Einheit Deutschlands nicht gestalten;
cs müßte denn den Diplomaten —
worüber sie schon lang beraten —
das immer noch mißlung'ne Werk gelingen,
" zwei Köpfe unter einen Hut zu bringen.
Denn schwerlich wird uns Gott so gnädig sein
und unsern Aar von einem Kopf befreien."
Ebenso erinnert Hermann Koch an das Frank-
furter Parlament:
„In aufrichtigem, auf Liebe zu Gott gegründetem Ver-
langen nach Vervollkommnung allein besteht die wahre
Größe, das wahre Glück des Menschen; dies Verlangen
macht ihn getreu, selbstverleugnend und ausdauernd, selbst
wenn die besten Absichten verkannt werden.
Indem ich diese Worte, deren Wahrheit Sie, verehrtester
Freund, gewiß an sich selbst erprobt haben, mit Hinweisung
auf die von Goethe kurz vor seinem Heimgänge in ein
Stammbuch geschriebene Zusprache Walthers Fürst (in
Schillers Tell):
.Erwartet nur und faßt Euch in Geduld'
Ihnen zurufe, bitte ich Sie noch mal in später Zukunft
sich zu erinnern, was ich Ihnen bei Ihrer Abreise zur
Nationalversammlung zu Frankfurt im April 1848 in
Hinsicht auf die Wahl eines österreichischen Prinzen zum
Reichsoberhaupt und auf die Teilnahme von Vertretern
Österreichs an jener Versammlung äußerte, des demnächstigen.
jedenfallsigen Anschlusses der deutschen Elemente sicher und
eingedenk des Ausspruches des Sophokles:
,Nach Unmöglichem sich sehnend, warf schon mancher,
was er hatte, weg'."
Weniger politisch angehaucht sind die Verse, welche
der Geheime Finanzrat Schotten in unser Album
eingetragen hat:
„Denn wer mit dem, was ihm beschieden
und dem Berufe treu zufrieden
im Kreise seines Wirkens lebt,
nach höherem Schattenglück nicht strebt,
wer Honig saugt aus jeder Blume,
aus Mammon nicht und eitlem Ruhme
die Pläne seiner Zukunft webt,
wer Frohsinn auch bei trüben Stunden
in stiller Häuslichkeit gefunden,
wen Liebe lohnt, wen Freundschaft hält
daß er im Lebenssturm nicht fällt,
und wer sich freut der schönen Welt,
der hat den rechten Lauf begonnen,
der ist der Täuschung Qual entronnen,
der hat — das große Los gewonnen.
326
Daß solch ein Treffer auf Ihre Lebensnummer wo nicht
bereits ganz darauf gefallen, doch ganz noch fallen möge,
wünsche ich von Herzen."
Kassel, 31. August 1852. Carl Schotten.
Von rührender Anhänglichkeit an die hessische
Heimat zeugen schließlich die Eintragungen der
Gebrüder Grimm. So schreibt Jakob Grimm:
„Sie traten, wertester Beruhardi. an meine Kasseler
Stelle, als ich ihren Namen noch nicht hatte nennen hören.
Später sind wir aber doch noch näher bekannt geworden
und ich freute mich Ihrer Nachfolge. Mir selbst ist eS
nicht gelungen an einer Bibliothek, zu der von jeher mich
meine Neigung trug, mich zu behaupten und wider Willen
mußte ich zweimal in Hessen, einmal in Göttingen die
Schlüssel zurückgeben und eine neue Laufbahn beginnen.
Dieser Abbruch des Fadens stört immer meine stille Thätig-
keit und zufriedene Gewohnheit, wie sie sich unter Ihren
gepflegten Büchern einfindet. Doch ein weit stärkerer Faden
bricht in mir und auch in Ihnen niemals ab, die Liebe
zu Deutschland und zu Hessen. Mag auch der
Kummer und das Leid, die wir um beide tragen, solange
unser Leben noch währt, schwerlich weichen, glücklichere
Nachkommen in besserer Zeit werden uns das Zeugnis nicht
versagen, daß wir redlich nach unserem Vermögen zur Er-
hebung des Vaterlandes mitgestrcbt und mitgewirkt haben."
Berlin, 24. Mai 1854. Jacob Grimm.
1854 trug auch Wilhelm Grimm in das
Stammbuch ein:
„Wenn ich, an andere Verhältnisse und andere Lebens-
weise längst gewöhnt, wieder nach Kassel komme, wo ich
dreißig Jahre und die glückliche Zeit der Jugend zugebracht
habe, wenn ich das schöne, von dem Fluß belebte Thal,
die Berge und Wälder am Horizont, die bekannten Wege,
die hohen Bäume der Aue wieder erblicke, so regt sich das
Gefühl der Heimat in mir. So war es auch, als ich im
Jahre 1838 von Göttingen, wenn auch als Fremdling,
dorthin zurückkehrte. Sie empfingen mich auf der Bibliothek,
deren Bücker lange Zeit durch meine Hände gegangen waren,
auf das freundlichste, und die warme Teilnahme au meinem
Geschick werde ich niemals vergessen. Als ich das letzte
Mal in Kassel war und am Abend die Sonne zwischen
trüben Wolken hinter dem Habichtswald versank, aber am
anderen Morgen in vollem Glanz wieder aufging, so schien
mir das ein Bild der Hoffnung zu sein, die in dem
menschlichen Herzen immer von neuem aufsteigt. Warum
sollen wir sie zurückweisen?"
Wilhelm G r i m m.
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weihnachtsfahrt
Novelle von Valentin Traudì (Rothenditmold).
„Die Kälte!" brummte der alte Postbote in den
bereisten Bart, als er das Thor der über dem
Städtchen an den Berg gelehnten Oberförsterei
hinter sich ins Schloß warf. Das Hundegekläff
verstummte. Ter schwerbepackte Mann stapfte müh-
sam durch den Schnee, auf welchem die Sonne mit
den funkelnden Eiskrystallen spielte. Über der
prächtigen Landschaft spannte der Himmel seinen
blauen Bogen in jungfräulicher Reine. Die hohen
Tannen, welche immer so träumerisch in das Ge-
triebe der Gassen hinuntersahen, schienen sich trotz
der Schwere ihrer Schneelast emporzurecken in ur-
ewiger Riesenkraft ... In dem kahlen, grauen
Geäst des Gartens der Obersörsterei zwitscherten
Meisen und Ammern und warteten, ob sich nicht
bald das Fenster öffne und der Blondkopf der Frau
zwischen den Gardinen erscheine, ihnen Futter ans
das Blumenbrett zu streuen und, wenn sie dann da
wären, ihren pausbäckigen Jungen emporzuhalten.
Sie warteten vergeblich.
Heute galt es, die angekommenen Packete zu
öffnen oder sorgsam zu bergen und die Brief-
schaften zu studieren. Leichten Schrittes hüpfte dann
die „Frau Oberförsterin" hinunter in das Arbeits-
stübchen ihres Mannes.
„Nelly will kommen. — Du holst sie doch an
der Haltestelle ab?"
„So?" fragte er erstaunt. „Aber es geht nicht,
Schatz, das heißt: ich kann nicht. Du weißt, ich
muß noch nach dem Forsthaus Hornbruch fahren, um
den Windfall zu besichtigen. Doch halt!-------------
Nein, es geht nicht."
„Schade. Nelly kann und darf freilich nicht durch
den dicken Schnee waten. Da muß Karl aus-
helsen."
„Nelly war doch im vorigen Sommer zwei Monate
bei uns?" fragte er etwas verwundert.
„Lies selbst." Damit überreichte sie ihm das
duftige Brieflein. „Sie will einer unliebsamen
Begegnung aus dem Wege gehen."
Der Oberförster überflog das Schreiben. „Wer
ist denn Anton Lindner? Ist das nicht ihr Zu-
künftiger?"
„Davon weiß Nelly nichts. Es ist der Neffe
ihres Vormundes."
Die Asche seiner Zigarre abstreichend, bemerkte
er: „Ich meine aber, sie wäre deshalb dem Doktor,
Deinem Bruder Karl, immer ansgewichen?"
„Ja. mein Bruder! — Der? — Wer weiß, wie
er es angefangen hat?" lachte die junge Frau.
„Er ist in sie und sie ist in ihn vernarrt; aber
sie sehen nicht und hören nicht. Eigentlich passen
sie ja auch gut zusammen."
„Freilich!" sagte er trocken. „Der Lindner ist
aber auch ein netter Kerl und scheint jedenfalls
eine Zukunft zu haben."
„Er ist aber nichts für die stille Freundin; zu
sehr Lebemann, voller Salonlaune, egoistisch, eigen-
327
willig ... So wenigstens taxiert ihn Nelly ein.
Ich kenne ihn ja nicht."
„Hm, hm? — Na. da frage bei Karl an."
Die junge Frau lief in die Küche und rief, noch
in der Thüre stehend: „Anndort, lauf zum Doktor
und einen schönen Gruß von mir. er möchte mal
zu mir kommen."
Dann ging sie stillvergnügt hinauf in ihr Zimmer.
Nicht lange danach trat der Doktor bei ihr ein.
Er war ein großer, schöner Mann mit sanften
Augen. Die Schwester eilte ihm sofort entgegen
und zog ihn neben sich ans das Sofa.
„Brüderchen, Du mußt mir aushelfen. Nelly
will Weihnachten hier feiern, und Tu mußt sie
abholen. Mein Mann hat in Hornbruch lange zu
thun."
Sie beobachtete ihn mit ihren schelmischen Angen
scharf; aber nur ein leises Zucken seiner Wimpern
verriet ihr die Bewegung, welche in ihm vorging.
Als er nichts darauf erwiderte, wiederholte sie noch
einmal bestimmt: „Brüderchen, Du mußt."
Erstaunt und doch verlegen klangen seine Worte,
als er entgegnete: „Ja, ich habe aber nur zwei
Plätze in meinem Schlitten und kann die Dame
doch nicht neben den Kutscher sitzen lassen? Du
weißt, ich fahre sonst immer selbst."
„Gut. so spiele den Kutscher."
„Aber Schwester! — Fräulein Nelly wird das
schon gar nicht annehmen, wenigstens von mir nicht."
„Ha, in der Not frißt der Teufel Fliegen, und
sie ist nur ein Teufelchen und Du bist schon mehr
eine Hummel."
„Aber, es sieht so aus . ."
Wieder lachte die junge Frau über den unbehülf-
lichen Bruder.
„Ich weiß gar nicht, Karl, Du bist doch ein
flotter Student gewesen?"
„Ich bin kein Gesellschafter. Ich bin so für
die Stille."
„Mein Gott, Du sollst ja nicht flirten. Nelly
ist eine alte, gute Bekannte, und Dil hältst ihr erst
eine solide, gelehrte Abhandlung über Windbrüche,
Oberförsterpflichten, Geschwisterliebe und entschuldigst
Dich dann, daß Du überhaupt existierst."
Sie schenkte ihm nun ein Glas Portwein ein,
reichte ihm das Zigarrenkistchen, das sie seinethalben
immer aus dem Eckbrett stehen hatte und wandte
alle Künste an, den Bruder zu gewinnen.
„Ich meine, Nelly verlobte sich zu Weihnachten?"
sagte er plötzlich wieder.
„Wenn er damit einverstanden ist!" antwortete
sie, das er scharf betonend.
„Dann bleibt sie nicht lange?"
„Kommt ganz auf ihn an", war die prompte,
eigenartig belustigt klingende Antwort. Nun kam
aber kein Gespräch mehr in Fluß. Das „stille
Doktvrchen" war nachdenklich geworden.
Lächelnd strich ihm die junge Frau über die
Wange. „Mein liebes Brüderchen, freue Dich doch,
heute kommt ja das Christkind. Komm. sieh Dir
erst noch Dein Pätchen an."
Er stand auf und ging mit ihr in das Kinder-
zimmer. ^
*
Schon sing es an zu dunkeln, als der leichte
Schlitten des Arztes, von ihm selbst gelenkt, mit
lustigem Geläute an der Oberförsterei vorbeiflog.
Tie Raben fielen in dichten Scharen in die Tannen,
hier und dort krachte es im Walde. Die Phantasie
gaukelte dem einsamen Rosselenker die lieblichsten
Bilder vor. Wenn sie sein wäre, wenn er sie
nun wenigstens abholen dürste, bei i h m zu bleiben,
sein Heim zu verklären mit der wohlthuenden
Helle ihres einfachen Wesens. In die großen,
klugen Augen schauen zu dürfen. Tag um Tag,
wäre ihm höchstes Glück. Und dann, wie schön sic
auch, wie leicht sie neben ihm dahingeschritten war
durch die jubelnden SommernZälder. . . Aber dieser
verwünschte Lindner! Ter hat immer so ein un-
bändiges Glück gehabt . . .
Bon ferne leuchteten die Lichter des Stations-
gebäudes, und man hörte schon das Stampfen des
nahenden Zuges. Er hatte zu lange geträumt und
die Pferde zu lange sich selbst überlassen. Nun
aber schwang er die Peitsche, und pfeilschnell flog
das leichte Geführt über den knarrenden Schnee.
Aber er kam doch erst nach dem Eintreffen des
Zuges an. Nelly fragte gerade nach dem Schlitten
des Oberförsters, als er die Thür öffnete und mit
den herzlich klingenden Worten: „Guten Abend,
Fräulein Nelly!" auf sie zuging und ihr die Hand
reichte.
Sie errötete leicht, als er ihr nun auseinander-
setzte, etwas umständlich und kindlich befangen, wie
es gekommen, daß er sie abhole; doch sie könne
nicht allein durch die Winternacht gehen.
„Besten Dank, lieber Herr Doktor!"
Nun nahm er ihr Gepäck. geleitete sie zum
Schlitten und hüllte sie sorglich ein.
„Es ist bitterkalt, Fräulein!"
„Nein, wie Sie fürsorglich sind! Man merkt
doch Ihren Beruf."
„Meinen Sie?"
Er glaubte aber noch etwas anderes ans ihren
Worten gehört zu haben, etwas herzlich Vertrauendes.
Nachdem er den Pferden die Decken abgenommen
hatte, schwang er sich neben das schöne Mädchen,
breitete einen warmen Pelz über die Füße und fuhr
mit ihr hinein in die stille Nacht, von wonnigem
Gefühl beseelt.
„Eine herrliche Fahrt", unterbrach sie nun das
Schweigen. „Sehen Sie, wie die Sterne funkeln am
großen Weihnachtsbanm und wie der Wald so zu-
traulich herüberblickt. Es ist doch eine schönere
Welt hier draußen wie in der dunstigen Stadt.
So frisch, so gefestet iu sich selbst."
„Aber Fräulein, die Bälle, die Salons, die
Konzerte — —!"
„Halten Sie ein! Was ift's damit? Fühlen
Sie sich nicht glücklich hier auf dem Lande, hier
in den Bergen? Haben wir nicht im Sommer
mehr gehabt in den weiten Hallen der Wälder bei
Vogelfang und Kuckuckruf? Was bedeutet da ein
stiller Winter!"
Gierig lauschte er ihren Worten, und seine Stimme
zitterte, als er fragte: „Könnten Sie, das ver-
wöhnte Großstadtkind, hier leben in Zufriedenheit?"
„Sicherlich, ich strebe sogar danach!"
„Aber, — Sie werden Ihrem Manne doch folgen
müssen?" Das klang doch recht komisch, und be-
lustigt entgegnete sie: „Freilich; aber ich kann ihn
mir danach aussuchen!" Und das kam gerade so
komisch herausgesprudelt. Es lag eine ziemliche
Dosis Übermut in den Worten. Der Doktor schwang
die Peitsche, die Pferde machten einen Seitensprung,
daß der Schlitten umzustürzen drohte und Nelly
fast auf des Gefährten Schoß geschleudert wurde.
Taun flog der Schlitten dem Gipfel des Berges
zu. Von keinem Laut bewegt, lag die krystallene
Luft auf den Höhen. Vertraulich nickten die Schnee-
häupter der Bäume. Die Pferde fauchten nird
tummelten sich, übermütig mit den Köpfen spielend,
vor dem Schlitten dahin. Irgendwo, weit hinter
den Bergen krachte das Eis und die frostige Nacht
erbebte ... Er hatte das Gefühl, als schmiege
sie sich fester an ihn, und er neigte sich sanft nach
ihr hinüber. Keines wagte die Stille zu brechen . . .
Ta tönten aus verschiedenen Walddörsern die Christ-
glocken heraus und weckten in den Bergen ein
wunderbares Wiederklingen.
„Christnachtglocken!" sprach sie leise vor sich hin.
„Und wer sich ihrer freuen kann", erwiderte er
melancholisch. „Einst im Elternhaus — ja —
aber jetzt so einsam —"
Nelly wurde bewegt bei diesem elementaren Herzens-
erguß des Mannes. Unbewußt legte sie die leichte
Hand auf seinen Arm, und ihre Worte klangen
tröstend, als sie sprach: „Aber ich erst. Wenn ich
Alma nicht hätte, wenn ich mich nicht in das liebe
Bergnest flüchten könnte!"
„Vor wem? Wer will Ihnen ein Leid thun?"
Resigniert klang es zurück: „Mein Vormund."
„Das darf nicht sein!" sagte der „stille Doktor"
bestimmt, und seine in sich fest beharrende Persönlich-
keit kam zum Durchbruch, gerade so sicher und
wuchtig, als rede er in einer Ärzteversammlung,
als gälte es, seine reichen Kenntnisse in die Wag-
schale zu werfen, eine schwierige Frage zu entscheiden.
„Ich vertraue auf Ihre Schwester!"
„Auch ein wenig aus mich?"
„Ja", flüsterte sie leise.
Dann schwiegen sie wieder. Der Schlitten eilte
bergab. Zwischen den Baumstämmen funkelten die
Lichter des Städtchens in die Nacht, und schon war
die große Kirche erhellt. Den beiden Menschen-
kindern war es, als schauten lachende Engelsköpfe
aus den hohen Fenstern zu ihnen herüber. Endlich
stand der Schlitten, das Hofthor öffnete sich, und
der Arzt führte den Besuch wohlbehalten in die
Arme seiner Schwester. Tann begab er sich, da
der Schlitten sofort von dem Knecht abgeholt worden
war, zu Fuß in sein Heim, zog sich um, besuchte
noch einige Kranke und stieg wieder zur Ober-
försterei empor. Schon leuchteten die Weihnachts-
kerzen im Salon und schon waren die Gaben verteilt.
„Du kommst etwas zu spät," schalt die Schwester,
„aber wir haben Dir doch etwas ausgehoben."
„Eigentlich müßte ich Ihrer auch gedenken. Sie
verdienen einen so großen Lohn. Aber ich weiß
nicht, was Ihnen zusagt, Doktorchen, und bitten
darf ich Sie nicht lassen; denn dann könnte ich es
am Ende doch nicht geben." Mit diesen Worten
reichte ihm Nelly die Hand. Der Oberförster war
mit seiner Frau etwas zur Seite getreten und
spielte mit seinem Jungen.
„Wenn er nicht wäre, würde ich am Ende doch
eine Bitte wagen und Sie — Sie könnten sie er-
füllen, Nell — Fräulein Nelly."
„Wer nicht wäre?"
„Anton Lindner", gab er gepreßt zurück.
„Nun höre einmal, Alma, Dein Bruder faselt
da auch von Herrn Lindner."
Die junge Frau sprang herbei: „Er redet im
Fieber!"
Verlegen klang es von seinen Lippen, als er ent-
schuldigend sprach: „Dann verzeihen Sie; aber
ich — ich —"
„Ach Du", schmollte die Frau. Sie nahm von
dem Weihnachtsbaum einen Engel herab und sagte
dann zu Nelly: „Das bist Du, und so meint er's —
da der ,stille Doktor' mit Dir!" Und damit biß
sie dem Zuckerengel den Kops ab.
Errötend schauten sich die Zwei an, errötend und
freudig beseelt. Die junge Frau verschwand verständ-
nisvoll hinter den weiten Zweigen des Christbaums.
„Fräulein Nelly, wissen Sie was?"
„O, gewiß!" lachte sie.
„Fräulein Nelly, dürste ich wagen?"
„Aber nicht zu viel, Doktorchen."
Und er näherte sich ihr.
„Fräulein Nelly, mein Herz." Wieder stockte er.
Mitten in den Jubel, den das Kind mit seinen
Eltern anstimmte, klang dann seine verschämte Bitte:
„Wollen Sie mein Glück werden?"
Und das Mädchen fiel ihm um den Hals, und
Thränen rannen über seine zarten Wangen. „Mein
Glück!" sagte sie leise.
Die Christbaumkerzen flimmerten, leise schwangen
die farbigen Kugeln an den goldenen Fäden, und
ein starker Tannendust durchzog das weite Gemach ...
„Das war eine prächtige Weihuachtssahrt!"
meinte endlich, das lange Schweigen brechend, der |
Oberförster wie ahnungslos. „Ich fuhr an den
Klippen vorbei, dann durch die Ludener Brüche —"
„Halt ein, halt ein!" rief seine Frau. „Laß
uns denen da erst einmal Glück wünschen. Die
haben alles so geheim für sich gehalten, um sich
am Ende selbst recht überraschen zu können. — Das
war eine Weihnachtsfahrt, nicht, Karl?"
„Aber man kann sie nur einmal machen", sagte
der Oberförster und reichte den Verlobten die Hand.
„Nun hat der liebe Bengel wenigstens auch eine
Tante", meinte Nelly und nahm den Kleinen auf
den Arm.
„Das war gewiß auch Deine einzige Sorge und
j Du kamst, ihm so was Schönes zu schenken?"
„Immer noch die Alte", lachte das glückliche
i Mädchen. . . .
Weihnacht.
Mar das ein Jauchzen aus dem Kindermunde,
wenn's galt, den heil'gen Abend zu begrüßen,
wenn schon die Kerzen glühten, uns die Stunde,
Die weltgeheimnisvolle, zu versüßen:
Dann alle Glocken in die Freude klangen,
Als mär' der Pimmel selber bei dem Feste.
war das ein Glück! — wir jauchzten und wir sangen.
Indeß laut knisterten die Fichten-Äste.
Mar das ein Jubeln, als ich, Mann geworden,
Im eig'nen paus das heil'ge Fest bestellte,
Allzeit beschirmt von dem Penaten-Grden,
Der über dieses paus sein Machtwort fällte.
Die Glocken klangen und die Sterne glühten,
Als wär' der Fimmel selbst bei diesem Feste. —
war das ein Glück! — Ich schwur, cs treu zu hüten,
Und lauter knisterten die Fichten-Aste.
Und nun? — Nun ist das Letzte noch geschieden,
Fern glühn den Kindern ihre eignen Kerzen,
Das Vaterhaus ist leer, es ist gemieden
von all den frohen, jugendlichen Perzen.
Zwar glühn auch jetzt noch Kerzen an dem Baume,
Doch sinnend steh'n die Alten stumm beisammen,
Und hört ihr's knistern zu dem weihnachstraume:
Ach, — nur zwei Thränen sielen in die Flammen.
wächlersbcich. prcser.
Das Christkind naht!
Das Christkind naht
Auf eisigem Pfad:
Rings ist es öd, kein Auge wacht.
Nur Wald und woge brausen
Und winterstürme sausen
Im Nebelgrau der Nacht.
Und dennoch weckt die weihenacht,
Im Kerzen, wie die Maiennacht,
Nur linde Lettzestriebe:
pörst Du den Glockenschall
von allen Thürmen klingen,
Mit Hellem Silberhall
Sich bis zum Fimmel schwingen?
0, zweifle, Mensch, nicht länger!
So mahnt des Glaubens Sänger;
Der Heiland mahnt zur Liebe —
Das Christkind naht
Mit possnungssaat!
«assel. Albert Weiss.
Die macht der Liede.
(Weihnachtsmärchen.)
„Lin ich im Traum? welch' nie geschaute pelle
Crgießt sich, wie ein Strom, in meine Zelle?
porch! welche Laute irren an mein 0hr?"
vom Lager hebt sich der Gefangene empor:
„wer naht so spät?" — — Der Mutterstimme Ton
Bebt durch den Raum. Cin Zittern saßt den Sohn.
Cr weicht zurück — — er hält den Atem an.
Cin Cngelwesen schwebt zu ihm heran:
„Ich wußt' es droben in der ew'gen Stadt,
Daß Deine Seele keinen Frieden hat.
Inmitten aller Gottes-Seligkeit
Crlitt ich Pein ob Deines perzens pärtigkeit.
vor meinem Auge heut' der Weihnachtsstern verblich —
Mein armes Kind, so bangt' ich mich um Dich!"
Da weint der finst're Mann, der Thränen nie gekannt.
Cin Paradies, aus dein er längst verbannt,
Lebt vor ihm auf. Cr kniet. Cr schmiegt sich dicht
An die verklärte an: sein starrer Trotz zerbricht.------
Die Mutter neigt sich tief — die Schleier ihn untrinnen —
Und lächelt leiderlöst----und hebt sich leis von hinnen.
Doch vor dein weihnachtsglanz, den sie herabgetragen,
verstumint des Sünders Mund, erstirbt sein Klagen.
Nie wird die Pracht verweh'n, in Staub verfliegen:
Aus seinem Paupte bleibt sic krönend liegen.
N a v o I 3 l) tJ u f e n. SilSCfUl fclftV
330
Kasseler Skizzen.
Von W. B e n n e ck c.
III. Gültige Theatergefchichlen.
Gegen Ende der fünfziger Jahre des verflossenen
Säkulnms stand die kurfürstliche Hosoper in Kassel
wieder einmal in ihrer vollen Blüte. Es waren da
engagiert als erster Tenor Theodor Wachtel,
als Bariton N ü b sa in e n, als Bassist Hochheimer,
ein Künstlerkleeblatt, das seines Gleichen suchte.
Ebenbürtig gegenüber standen ihnen die Damen
Seelig, Veith und Masius. Zu diesen trat
noch die vortreffliche Soubrette Amalie Kraft,
eine der begabtesten Vertreterinnen ihres Faches,
deren Laufbahn leider nur eine kurze sein sollte,
da sie das Leben mit allzu vollen Zügen genoß.
Fräulein Veith war, ehe sie nach Kassel kam, in
Frankfurt a. M. engagiert gewesen, dessen Theater-
leiter damals der Lustspieldichter Roderich Benedix
war. Dieser, obschon ein hoher Vierziger, war von
der Künstlerin noch in eine solche Begeisterung ver-
setzt worden, daß er, wenn sie in Kassel eine große
Partie zu singen hatte, gerne vom Main an die
Fulda eilte, um sich an ihrem reizenden Anblick
und dem Wohllaut ihrer Stimme zu erfreuen. Das
Erscheinen des Dichters bei solchen Gelegenheiten
im Kasseler Theater fand jedoch so häufig statt,
daß die Parterrebesucher schließlich behaupteten,
Benedix litte an gelindem „Veitstanz". Fräulein
Veith heiratete den obengenannten Baritonisien
Rübsamen, beide aber verließen schon nach wenigen
Jahren die Kasseler Bühne.
Gleichzeitig mit Fräulein Seelig, der Prima-
donna, war der Schauspieler Albert Werse im
Kasseler Hoftheaterverband. Wie es sein Fach als
jugendlicher Held und Liebhaber verlangte, war
er ein galanter, junger Mann von ansprechender
Persönlichkeit, schlank und hochgewachsen, sodaß er-
den Beinamen der „schöne" Albert erhielt. Fräulein
Seelig war dagegen eine nicht sehr große, aber um
so rundlichere Dame, von welcher man sich ver-
schiedene amüsante Historien zu erzählen wußte;
u. a. habe ihr Anblick vom Fenster aus einen
biederen Holzhäcker so geistesabwesend gemacht, daß
er nach dem Scheit Holz auch den Sägebock durch-
gesägt habe. Dieselbe Geschichte erzählt man sich
jetzt auch von Fräulein Forma neck, die einige Jahre
nach der vorgenannten Künstlerin hier engagiert
war. Albert Weise und Rosalie Seelig wohnten
in der Fünfsensterstraße (damaligen Wilhelmshöher
Straße) nicht weit von einander, sodaß er jeden
Morgen an ihrem Hause vorüber mußte. Da
wollte man nun wissen, daß sie ihm zurufe: „Komm',
Weise, laß' uns selig sein!" und er ihr erwidere:
„Nein, Seelig, laß' uns weise sein!"
Weises damaliges Engagement in Kassel war
nicht von langer Dauer, zwanzig Jahre später
aber kehrte er zurück, nachdem mittlerweile aus dem
Liebhaber ein Heldenvater geworden war. Auch
sonst war eine Veränderung mit dem schönen Albert
vorgegangen, denn er hatte sich einen ^.eearit aigu
zugelegt und nannte sich nunmehr Weisö. Als
Grund dafür gab er an, daß es in „Donna Diana"
stets Heiterkeit erweckt habe, wenn von ihm. als
Don Cäsar, gleich zu Ansang des Stückes gesagt
worden sei: „Ter Weise hat geredet."
Einen ähnlichen Fall erzählte auch die Schau-
spielerin Buse. Als sie die „Pvrzia" im „Kauf-
mann von Venedig" in irgend einer Universitätsstadt
dargestellt, sei bei den von ihr gesprochenen
Worten: „Er soll die Buße haben, weiter nichts"
und ferner bei der Stelle: „Tu sollst nichts haben
als die Buße, Jude, die du auf eigene Gefahr
magst nehmen —", regelmäßig ein allgemeiner
Jubel ausgebrochen. Deshalb nannte sie sich aber
doch nicht etwa Buse.
Weise, der Heldenvater, wußte sehr hübsch zu
erzählen und gab häufig im Freundeskreise kleine
Geschichten aus seiner Vergangenheit zum Besten,
von denen eine hier folgen möge.
Als er sich in Amsterdam im Engagement be-
fand, bekam er einen Ruf nach Wien, um in
Laubes „Bösen Zungen" aufzutreten, leider konnte
er dies ehrenvolle Anerbieten nicht annehmen, da
er bereits von Bodenstedt für das Meininger Hos-
theater zum Gastspiel verpflichtet war. Betrübt
reiste er also von Amsterdam nach dem kleinen
thüringischen Städtchen, das ihm keinen Ersatz für
die große Kaiserstadt zu bieten vermochte und be-
gab sich dort angekommen sofort zu dem Inten-
danten. Herr von Bodenstedt aber sah ihn
groß an und sagte: „Ja, um's Himmelswillen, was
wollen Sie denn hier? Ich habe Ihnen doch
depeschiert, daß Sie nicht kommen sollten." Leider
war die Depesche aber erst nach Weises Abreise in
Amsterdam angelangt. Der Herzog, erklärte Boden-
stedt weiter, sei in Berlin und treffe erst in acht
Tagen wieder ein, am Abend sei eine Tragödie
von Aeschylos und gleich darauf reise der Herzog
nach Italien, könne ihn also unmöglich sehen.
Nun nahm Weise seine Zuflucht zu dem alten
Direktor Grabowsky. Ter ist ein Biedermann,
denkt er, der von der Pike auf gedient hat und
weiß, wie es einem armen Komödianten unter
solchen Umständen zu Mute ist. Der Grabowsky
aber sicht ihn noch viel größer an als Herr von
Bodenstedt und sagt ihm rund heraus, er wisse
331
überhaupt von nichts. Tie „Nibelungen", in denen
Weise nach der Ansicht der Intendanz den „Sieg-
fried" spielen solle, seien ja gar nicht studiert.
Nun aber stellte der schöne Albert sich auf die .
Hinterfüße und erschien jeden Tag als lebendige
Anklage aus dem Jntendantnrburean bis Boden-
stedt ihm endlich sagte, daß deb Herzog morgen von
Berlin mit dem Prinzen Albrecht und vielen
Generalen komme. Nach dem „Orest" sei große
Tafel, da könne er also das Probespiel nicht ab-
legen. Aber am darauffolgenden Tag. einem Freitag,
zwischen 12 und 1 Uhr Mittags wolle er es ein-
zurichten suchen. Ein Freitag — o weh! man
braucht kein Schauspieler zu sein, um einen Freitag
als nicht sehr geeignet für eine Prüfung zu halten,
von der die nächste Zukunft abhängt. Die Monologe
des „Hamlet" sollte er sprechen und zwar im Kostüm.
Der feierliche Augenblick war endlich da, Weise-
Hamlet vor dem Souffleurkasten, Grabowsky am
Regietisch und der Herzog in seiner Loge. „O, welch
eiil Schurk' und niederer Sklav' bin ich —", sowie
„Sein oder nicht sein. das ist hier die Frage" —,
waren bedeutungsvoll genug vorübergegangen, als
------------
der Herzog plötzlich mit dem „Hamlet" abbrach
und eine Kvnversationsrvlle verlangte — den
„Bolingbroke" im „Glas Wasser". Aom „Hamlet"
zum „Bolingbroke" — auch gut — ob aber Seine
Königliche Hoheit das Hamletkostüm dabei nicht
störe? Keine Spur — nur tüchtig mimen und
zwar die Szene mit „Masham". Aber es fei ja
kein „Masham" da. Herr Grabowsky müsse diesen
markieren. Und so geschah es. Ter alte Direktor mit
dem grauen Kops legte sich als junger schmachtender
Fähnrich aus der Zeit der Königin Anna in seiner
modernen Kleidung in einen Lehnstuhl, schloß die
Angen und seufzte: „Ah!" und Weise - Boliug-
brokc im Hamlctkostüm weckte ihn aus seinem
Schlummer. .
Trotz dieser wenig empfehlenden Umstände und
trotz — des Freitags wurde Weise an das Meininger
Hoftheater engagiert und war mehrere Jahre lang
ein gern gesehenes Mitglied dieser hochangeseheneil
Bühne. Weise verheiratete sich später mit der
ersten Solotünzerin A m a n d a He r h v l d und war
mit derselben uon 1876 bis 1883 am Kasseler
Hoftheater engagiert.
•<R>-------------
Aus alter nnb neuer Zeit.
Ein Kasseler Berlagsgeschüft. Seit dem
Jahre 1730 bestand in Marburg in Hessen die
I. C. Kriegersche Buchhandlung, die 1807 nach
Kassel verlegt wurde. Dort übernahm sie vor
nunmehr 40 Jahren und zwar am 1. Januar
1863 der Buchhändler Theodor Kay. Derselbe
behielt die alte Firma für den Berkehr mit dem
Buchhandel bei, fügte aber für den Platzverkehr
und den von ihm ins Leben gerufenen Bnchverlag
seinen Namen hinzu. Bon dem Kayschen Bnch-
verlag, der 1892 in den Besitz einer Franksiirter
Firma überging, sei hauptsächlich in seiner Be-
ziehung zu Hessen nachfolgend eine Übersicht gegeben.
Schon 1865 kam in dem Kayschen Verlag ein
Werk Di-. B. Stillings „Untersuchungen über
den Bau des kleinen Gehirns des Menschen" mit
vielen photographischen und lithographischen Ab-
bildungen (Preis 110 M.) heraus. Zahlreiche
größere und kleinere Werke aus verschiedenen Ge-
bieten der Wissenschaft folgten. Ihnen reihten sich
bedeutende militärische Schriften von W. v. Breit-
haupt, Darapsky, v. Ditsurth, du Bignau,
Pfaff, Rüdgisch und v. Wittich an (dessen
„Aus meinem Tagebuch 1870/71" erschien auch in
französischer Übersetzung), sowie das große Werk:
„Allgemeine Kriegsgeschichte aller Bölker und Zeiten,
redigiert vom Fürsten N. S. Galitzin, ans dem
Russischen übersetzt von General Streccins"
(16 Bände, Preis mit Karten und Plänen 166 M.).
Als Anerkennung für die Herausgabe dieses hervor-
ragenden Werkes wurde dem Verleger der St. Stanis-
laus-Orden 3. Klaffe verliehen. Zwischendurch er-
schienen mit besonderer Sorgfalt hergestellte Schul-
bücher von Dr. Baum garten (15 verschiedene
Bände), Dr. Bier bäum, Dr. Lauckhardt,
Julie Legvrju, Dr. Leimbach („Deutsche
Dichtungen", 9 Bände). Wiegand („Flora von
Hessen"), Dr. Adler. („Teutsches Lesebuch für-
israelitische Schulen") n. a. Bon belletristischen
Werken sind zu erwähnen: Karl Altmüller's
„Gedichte" und dessen Büchlein über den „Humor",
Alex. Hehlers „Annunziata", Richard Boß'
Schanipicl „Unfehlbar", Martin Greifs „Prinz
Eugen" und Wilhelm von Isings „Gedichte".
Bemerkenswert ist auch, daß im Theodor Kayschen
Verlag die erste Übersetzung des Jbsenschen Dramas
„Brand" und zwar von einem hessischen Lands-
mann, P. F. S i e b o l d ans Witzenhausen, erschienen
ist, welcher ebenfalls bei Kay das Schauspiels „Der
Elsenhain" nach Heibergs „Elverhoi" und „Engel-
brecht und seine Dalekarlier" nach A. Blanche
veröffentlichte (siehe „Hessenland" Jahrgang 1889,
S. 140). An geschichtlichen Werken weist der Verlag
Kays auf: „Der Übertritt des Erbprinzen Friedrich
von Hessen zum Katholizismus" von Dr. Hartwig,
„Tie Entstehung des Luthertums" von Dr. Heppe,
332
„Russische Adelsgeschichte" von Dr. A. Klein-
schmidt, „Der nordamerikanische Krieg" von
Pfister, „Geschichte des Kasseler Hoftheaters"
von W. Lynker, „Die Beziehungen Frankreichs
zu Deutschland unter Napoleon III." von Gri-
court. Das zuletzt genannte Werk ist hauptsächlich
aus dem Grunde interessant, weil Mr. Gricourt
kein geringerer ist als Napoleon III. selbst.
Ferner: „Tie Alsfelder Passionsspiele" und „Ter
Heliand" von Di. Grein und „Thomas a Kempis",
bearbeitet von Konsistorialrat Dr. Ebert, mit
Holzschnitten von Karl Merkel. Mit besonderer
Liebe unternahm auch die Kaysche Berlagshaudlung
schon 1866 die Herausgabe der großen bis-dahin
im Kunsthandel noch unbekannten Schätze der
Kasseler Gemäldegallerie und des Mu-
seums. Es erschienen zuerst 100 Blatt Photo-
graphien nach den Bildern der Kasseler Gallerie.
Tie Auswahl derselben wurde von Professor A. Menzel
aus Berlin bestimmt. Ta die Photographie in
ihrer damaligen Entwicklung die Schwierigkeiten
der klaren Wiedergabe alter Ölgemälde noch nicht
überwinden konnte, so ließ der Verlag durch Pro-
fessoren und Schüler der Kasseler Malerakademie
50 der bedeutendsten Bilder in Kreide nachzeichnen
und danach Photographien in verschiedenen Großen
herstellen. Zu gleicher Zeit erschienen auch Photo-
graphien der Schätze des Museum Friderl-
ei an um, des Marmorbades, der Zimmer
des Wilhelmsthaler Schlosses und der
Wilhelmshöher Anlagen. Eine Auswahl
Raphaelischer Bilder, die in Kays Auftrage
von Professor G. Koch nach den Originalen in
Kreide gezeichnet wurden, war eine so hervorragende
Leistung auf diesem Gebiete, daß Seine Majestät
König Wilhelm I. die Dedikation dieses Werkes
annahm und Herrn Kay dafür das Prädikat „Königl.
Hof-Kunsthändler" verlieh.
-------------------
Aus Heimat und Fremde.
Hessischer G e s ch i ch t s v e r e i n. Am 1. De-
zember fand der monatliche wissenschaftliche Unter-
haltungsabend des hessischen Geschichtsvereins zu
Kassel statt, an welchem zunächst der erste Vor-
sitzende Herr General E i s e n t r a u t über den Wert
und die Bedeutung der für historische Forschungen
bestimmten sog. Grundkarten, deren Herstellung der
Bezirksverband mit 1500 Mark unterstützt hat,
ausführliche Mitteilungen machte. Hieraus brachte
Herr Major von Löwenstein das Ergebnis
weiterer Nachforschungen, die er betr. des im Fürsten-
garten zu Kassel lagernden Torsos eines Standbildes
des Landgrafen Wilhelm IX. angestellt hatte, zur
Kenntnis. Indem er aus zwei den Landgrafen ver-
herrlichende Gedichte und aus Berichte über die
dankbaren Gefühle der Kasseler Bürgerschaft hin-
wies, glaubte Redner annehmen zu müssen, daß das
Standbild des damaligen Landgrafen infolge des
im Jahre 1795 mit Frankreich abgeschlossenen
Friedens errichtet sei. Umsomehr sei die Zertrüm-
merung desselben zu bedauern. Herr Dr. Schwarz-
kops hielt es für wahrscheinlich, daß die Franzosen,
die das Standbild des Landgrafen Friedrich in
Kassel entfernt, auch dieses zerschlagen hätten.
Herr Dr. S ch w a r z k o p s ergriff noch weiter das
Wort, um im Anschluß an einen verdienstvollen
Vortrag des Herrn Kanzleirat Neuber eingehende
Mitteilungen über die Denkmäler des alten Kasseler
Friedhofs zu machen. Nachdem der Redner die-
jenigen der Philologen, Ärzte, Staatsmänner und
Militärs besprochen hatte, kam er aus das hier
beigesetzte leichtlebige Volk der Künstler zu sprechen
und gab eine Fülle interessanter Einzelheiten, von
denen hier nur einige erwähnt seien: Der Kapell-
meister des Landgrafen Moritz Georg Otto, der
Kapellmeister des Landgrafen Karl Eberlein
fanden hier ihre letzte Ruhestätte, ebenso der Sänger
Signor Morelli, der als Kind dem Erdbeben
von Lissabon nur wie durch ein Wunder entronnen
war. Der Tenorist C i a m p i, die Zierde der Oper
des Landgrafen Friedrich II., Ludwig Löwe,
der Freund und Kollege Seydelmanns, der 1828 aus
der Bühne vom Schlage getroffen wurde, der Bassist
B e r t h o l d, der Sänger P i st o r, der in der Garde-
robe durch Selbstmord endete, der Sänger Fried-
rich Gerstücker, der Vater des berühmten Welt-
reisenden, die Sängerin Lampmann und noch
viele andere ruhen hier. Auch der fremden Na-
tionalitäten gedachte der Redner und wies aus die
Grabsteine der zahlreichen Franzosen, Engländer,
Schweden, ja sogar den einer Ungarin und einer
Türkin hin, deren Lebensschicksale die Denksteine aus-
führlich verkündeten. Zum Schluffe erwähnte Herr
Dr. Schwarzkops noch den Grabstein seiner Ur-
großmutter, die von Boston ihrem Gatten nach
Beendigung des amerikanischen Krieges nach Kassel
gefolgt war, und auf deren Grab noch jetzt ein
von ihr selbst einst gepflegter herrlicher Rotdorn-
baum steht. Das Bild der jugendlich schönen
Amerikanerin hat Wilhelm Tischbein gemalt, es
wird von dem Urenkel noch alljährlich, wenn der
Rotdorn blüht, mit den Zweigen dieses ihres Lieb-
lingsbaumes in pietätvoller Weise bekränzt. —
Zum Schluß kam Herr General Eise nt raut
333
auf die Funde zu sprechen, die in dem Brunnen
des alten untergegangenen Torfes Mattenberg ge-
macht waren, und gab zu denselben sehr dankens-
werte Erläuterungen.
Gefchichtsverein in Schmalkalden. In
Schmalkalden hielt am 8. Dezember der hessische
und hennebergische Gefchichtsverein eine
Sitzung ab, in welcher Herr Metropolitan Vilmar,
der als Vorsitzender wiedergewählt wurde, einen
Vortrag über den Landgrafen Wilhelm IV. von
Hessen, den Erbauer des Schlosses Wilhelmsburg,
hielt. Derselbe wurde mit vielem Beisall - aus-
genommen.
Luise Braun-Stiftung. Im Architekten-
haus zu Berlin fand am 4. Dezember eine Gedenk-
feier des deutschen Schriststellerinnenbundes für die
dahingeschiedene Frau Luise Braun statt, bei welcher
in Erinnerung an die vielen Verdienste, die sie
sich um den Bund erworben, beschlossen wurde, die
Unterstützungskasse desselben „Luise Braun-
Stistung" zu nennen.
Kur fürsten bild. Der Kasseler Kunstmaler
Theodor Matthei hat ein Bildnis des letzten
Kurfürsten vollendet, welches er im Auftrag
Sr. Königlichen Hoheit des Landgrafen Alexander-
Friedrich von Hessen gemalt hat. Das Bild ist ein
Geschenk des Landgrafen an das Osfizierkorps des
Füsilier-Regiments von Gersdorss (Kurhessischen)
Nr. 80, früheren hessischen Garderegiments, und
für das Ossizierskasino in Wiesbaden bestimmt.
Der Kurfürst ist in Lebensgröße, angethan mit der
Gardeuuiform, dargestellt (Kniestück). Von Per-
sonen, die dem Kurfürsten nahe gestanden haben,
wird das Bild als ein sehr gutes bezeichnet.
Todesfall. Im November starb in Hoboken
bei Newyork der Schiffskapitän und Leiter der Piers
der Hamburg-Amerika-Linie Edmund Baden -
hausen, geboren am 20. November 1840 in
Melsungen als Sohn des damaligen Amtsaktuars
Ludwig Wilh. Philipp Badenhausen. Edmund
Badenhausen ist 1878 als Kapitän der später
untergegangenen „Cimbria", des schnellsten deutschen
Dampfers jener Zeit, bekannt geworden.
---------------
Hessische Bücherschau
Marburg, die Perle des Hessen land es.
Ein litterarisches Gedenkbuch. Herausgegeben
von Wilhelm Schoos. Zweite, stark ver-
mehrte und verbesserte Auflage. 171 S. Mar-
burg (N. G. Elwert) o. I. Preis M. 2.40,
geb. M. 3.20.
Wer sich unser Hessenland malerisch vergegenwärtigt,
denkt zunächst wohl nicht an unsere auch sonst vorkommen-
den Basaltkuppen, unsere Wälder und bescheidenen Flüsse
im allgemeinen, sondern an drei Orte im besondern, die.
allein echt hessisch, allein auch dem Land seine bestimmtere
Physiognomie verleihen: Kassel. Wilhelmshöhe und Mar-
burg. Denn so malerisch z. B. Fritzlar gelegen ist. das
man auch ohne Bettinens Augen schön finden muß, so
anziehend und charakteristisch Fulda erscheint, so wenig
können wir diese Städte, die kaum fünfzig Jahre im Besitz
unserer Fürsten waren, wirklich hessische nennen. Sind
wir in der Fremde und gedenken unserer Heimat als eines
Landes, so steigt in unserer Phantasie der sanftgedehnte
Höhenzug des Habichtswaldes mit dem Märchenschloß des
Herkules auf seiner Mitte, das heiterblühende Thal von
Kassel und das steilaufgeschichtete, mittelalterlich düstere,
aber auch mittelalterlich malerische und poetische Marburg
auf. Die Elisabethkirche ragt empor, ihre stolzen Stein-
spitzen in der Lahn spiegelnd, und der Schloßbcrg wächst
zur Höhe über Häuser hin. die eins dem andern auf dem
Kopf stehen. Marburg. durchaus nicht etwa reicher an
schönen Bildern wie Kassel, bietet diese Bilder aber kon-
zentrierter dar und lenkt die Aufmerksamkeit um so leichter
darauf hin. als sie eben das einzige sind, was der Besucher,
wenn er nicht gerade Student ist, hier finden kann. „Die
Perle des Hessenlandes", gleichsam als einziges Kleinod
auf heimischem Gebiete, ist daher ein Ausdruck, der auf
objektive Gültigkeit schwerlich Anspruch erheben kann.
Das schöne und höchst eigenartige Buch, das diese „Perle"
in den Goldrahmen bedeutender Aussprüche faßt, liegt
jetzt in zweiter Auflage vor. „Vermehrt und verbessert"
nennt sie sich, und wir dürfen dem vollkommen beipflichten.
Daß freilich die Vermehrung des Inhalts, die dem Um-
fang nach eine auffallende ist, keine allzugroßen Über-
raschungen bereitet, liegt in der Natur des Unternehmens
und vor allem des Unternehmers selbst. Einem so gründ-
lichen Fleiß und Spürsinn, wie ihn der Herausgeber
schor, mehrfach bewiesen hat, sind die wichtigsten in Frage
kommenden Stellen natürlich schon bei der ersten Auflage
nicht entgangen. Immerhin lesen wir auch jetzt noch
manches neue, geistvolle und poetische Wort über Marburg,
und sogar berühmte Namen sind hinzugekommen, wie
Knigge, Geibcl. Savigny, Sylvester Jordan, der Pädagog
Niemeyer, der Mineralog Leonhard, der englische Archäolog
Mahasfy und von zeitgenössischen Dichtern namentlich
Adolf Wilbrandt, ein ebenso begeisterter wie beredter Ver-
ehrer der alten Musenstadt. Von andern, schon früher an-
geführten Schriftstellern bereichern erfreuliche Ergänzungen
die neue Auflage. Besonders haben aus dem Buch über „die
Günderode" köstliche Schilderungen aus dem romantischen
Winterleben Bettinens, als nunmehr glänzende Zierden
des Werkes. Aufnahme gefunden. Seine eingehenden
Studien auf dem Gebiet der hessischen Litterärgeschichte
ermöglichten dem Herausgeber, sein Buch zugleich zu einer
interessanten hessischen Anthologie zu gestalten und uns
Autoren vorzuführen, die man sonst nicht leicht kennen
lernt. Mit Vergnügen liest man in dieser Hinsicht die
mitgeteilten Stellen von Ludwig Ewald und auch Elise
Sommer. Gleich das erste Gedicht, eins der schönsten
unseres so begabten Landsmannes Karl Schmitt, wird für
334
viele Leser eine dankenswerte Neuheit sein. Von din-
reißender Liebenswürdigkeit erscheint ferner die ebenfalls
neu mitgeteilte Dichtung „Die Mooseiche" von Heinrich
Winter. Anch andere, beute noch schaffenslustige poetische
Landsleute haben sich mit trefflichen Beiträgen eingefunden.
wie z. B. Jeanette Bramer mit einer stimmungsvollen
Träumerei, auch Henriette Keller-Jordan und Karl Preser.
Dem Gedicht von Anna Ritter dagegen haben wir dies-
mal keinen reinen Gindrnck abzugewinnen vermocht. Bei
einer Verherrlichung Marburgs berührt es doppelt un-
angenehm. das Gebiet der Phrase betreten zu sehen. Oder
glaubt die geschätzte Dichterin allen Ernstes, daß wie die
Elisabethkirche „kein Dichter" einen „Traum je schöner
träumen thüt". daß also ein Ariost. ein Calderon. ein
Shakespeare, ein Goethe mit aller ihrer Phantasie nichts
Schöneres erträumen könnten als die Elisabethkirche in
Marburg >. Ta müßte denn doch die Poesie, gerade ats
Kunst der bloßen Phantasie, nicht die viel höhere Kunst
sein, die sie in der That ist. gegenüber den bildenden
Künsten, und auch der Musik, was hier nicht weiter be-
gründet zu werden braucht, was sich aber wohl begründen
l ä ß t. Ebenso erscheint der Umstand, daß Valentin Traudt
Marburgs, des „Mädels" lein total unhessischer Ausdruck).
Auge „lind" hat „blitzen" sehn. einigermaßen unwahr-
scheinlich. Was endlich die Ausstattung des Buches betrifft,
so hat auch diese manche Änderungen erfahren, und zwar
ebenfalls zum Vorteil des Ganzen. Die größeren Photo-
typicn sind meist geblieben und vermehrt, die vortrefflichen
Zeichnungen von Oskar Schulz freilich verschwunden, da-
gegen neue Federskizzen von Ludwig Müller hinzugekommen,
die zwar gerade in zeichnerischer Hinsicht, technisch, den
Schulzschen Leistungen nachstehen, dafür aber durch die
Eigenart ihrer Motive und die Poesie ihrer Auffassung
überraschen und erfreuen, ja z. T. entzücken. Der Künstler
hat allerlei heimliche Ecken herausgeholt, verstohlene Winkel,
in denen die Poesie noch nnerweckt wie ein Dornröschen
saß. und mit sinnigem Auge ihre malerische Wirkung
erfaßt und mit rascher Hand festgehalten. So können
wir denn das liebenswerte Buch auch in seiner neuen
Gestalt herzlich und dankbar begrüßen und ihm noch
manchen andern Liebhaber als die Marburger Studenten,
denen es diesmal, als den natürlichsten Verehrern der
Stadt, gewidmet ist. leicht und zuversichtlich vorhersagen.
Kans Äktmüll'er.
Happel, Ernst. Mittelalterliche Befesti-
gungsbauten in Niederhessen. Mit
52 Ansichten und 5 Grundrissen. 8 °. Kassel
(Victor) 1902.
Das vorliegende Werk stützt sich, wie der Verfasser aus-
drücklich in dem Vorwort betont, weniger auf archivalische
Forschung als auf eigene Anschauung und soll unsere
Kenntnisse auf dem Gebiet der hessischen Burgenkunde in
wirksamer Weise fördern. Das Ziel, das sich somit der
auf diesem Gebiete bereits wohlbekannte und wohlbefähigte
Autor hier gesteckt hatte, ist mit diesem Werk in rühm-
licher Weise erreicht wie eine kurze Darlegung seines
Inhaltes zeigen wird. Auf eine allgemeine Einführung.'
in welcher die Entwickelung der Burgenkunde überhaupt,
wie in Hessen im besondern, behandelt wird, folgt ein
Kapitel mit dem Titel: Einteilung der Wehrbantcn. Aus-
gehend von der Thatsache, daß alle Befestigungsbauten
eine systematische Entwickelung durchgemacht, sich selbst der
zli jeder Zeit herrschenden Bewaffnung angepaßt haben,
teilt Herr Happel die in Rede stehenden Bauten in vier
Gruppen. von denen die erste und der Zeit nach älteste
die Wallburgen mit Pallisaden bildet; die zweite
Gruppe umgreift die älteren Steinburgen mit vorwiegender
Vcrtikalbefestigung lbis 1400). die dritte die Burgen für
Feuerverteidigung (bis 1520) und die vierte die eigentlichen
Festungen (Kasematten u. s. w.). An dieses Kapitel schließt
sich sodann der Hauptteil des Buches, die Beschreibung
der noch vorhandenen Befestigungsbauten in Niederhessen.
Aus Zweckmäßigkeitsgründen. wohl mit Rücksicht auf das
bisher von ihm gesammelte Material, begrenzt hier der
Autor den Begriff Riederhessen in der Weise, daß er nur
den Teil nördlich von Fritzlar bespricht, das Werrathal
aber gänzlich ausschließt. Er wählt die nicht unpassende
Forni einer Wanderung, die von Fritzlar ihren Ausgang
nimmt und schließlich mit Spangenberg endet. An der
Hand zahlreicher Zeichnungen werden in einer höchst klaren
und lichtvollen präzisen Tarstellnngsweise die Wehrbauten
einer Menge von hessischen Burgen und Städten vorgeführt,
wobei die beigegebene» Grundrisse das Verständnis erheb-
lich fördern. Einzelne Unklarheiten. welche uns beim
Durchlesen dieses interessanten und höchst lehrreichen Buches
anssticßen. bedürfen vielleicht der Richtigstellung. So heißt
es auf Seite 15: „Vereinzelt kommt bei Wolfhagen nörd-
lich eine Landwehr vores ist hierzu zu bemerken, daß
die Einrichtung einer Landwehr, welche die städtische Feld-
mark abschloß. zur Regel gehörte und in ihren Resten
noch mehrfach erhalten ist. so z. B bei Zierenberg und
Niedenstein. Ferner dürfte das „Bastonadensystem"
! — Bastionssystem iS. 65) wohl auf einem lapsus calami
beruhen und bei einer Neuauflage zu verbessern sein. —
i Der Autor wie die Verlagshandlung hat sich durch die
Veröffentlichung des in seiner Art für Hessen bisher einzig
dastehenden Merkchens ein großes Verdienst erworben.
Möge die Arbeit des Autors, wie die von dem Verlage
aufgewandten wohl nicht unerheblichen Kosten nun auch
ihren Lohn findeir, indem „die mittelalterlichen Befestigungs-
bauten" fleißig gekauft werden! Niemand wird das Buch
! ohne Befriedigung und reiche Erweiterung seiner Kennt-
! nisie aus der Hand legen. Dr. ^ge.
Holzainer. Wilhelm. Der arineLukns. Eine
Geschichte in der Dämmerung. Leipzig (Hermann
Seemanns Nachf.) 1902.
Wilhelm Holzamer hat die Muße. die ihm das Ver-
ständnis seines Landesherrn für dichterisches Streben ein-
geräumt. auszunützen verstanden. Nicht weniger wie
5 Bücher aus seiner Feder sind auf einmal vom Verleger
angekündigt worden. Drei davon sind nun schon erschienen:
„Carnesie Colonna". „Der arme Lukas" und „Der heilige
Sebastian", welch' letzteres Buch ich wegen der Kürze der
Zeit erst in nächster Nummer besprechen kann.
„Der arme Lukas, eine Geschichte in der Dämmerung"
erinnert in manchem an „Peter Nockler", den es in der
Gesamtkomposition wohl nicht erreicht. Auch hier handelt
cs sich lim einen Menschen, dem das Teuerste entrissen
wird, das geliebte Mädchen Peter Nockler geht aber auch
nach diesem Schicksalsschlag ruhig seine Lebensbahn weiter.
„Ter arme Lukas" ist feinnerviger veranlagt, ihm fehlt
der Lebensinhalt, und so sinkt er tiefer und tiefer — bis
er eben der „arme Lukas" wird, der den Leuten die kleinen
Reparaturen macht, die sich so im Haushalt ergeben.
„Ich bin halt auf dem Wege abgestrichen worden, ich bin
nicht in die rechte Furche gefallen", sagt er von sich selbst.
Und hierin liegt das Tragische in dem Buche. Es ist die
Geschichte einer ungemein zartfühlenden Natur, iu die das
Leben mit seiner harten Hand greift. Man lese nur die
wirklich prächtige Stelle, wo sich Lukas und Luischen, noch
als Kinder, das Versprechen geben, jeden Abend, wenn die
Sterne aufgehen. an einander zu denken. „Aber jeden
Abend Packte es mich seltsam. Ich war für alles rings
335
um mich tot. Ich konnte nichts thun und denken. Nur
dos eine: ich war bei dem Luischen. Ich stand am Fenster
nnd sah, wie's dunkelte. Ich sab empor zu den wenigen
Sternen, die zwischen den hohen Häusern hindurchblickten.
Wie eine Andacht mar es in mir. Und der letzte Abend
stand vor mir. Ihr Kuß aber brannte auf meiner Stirn,
als ob's eine Flamme wäre. Einige Augenblicke — dann
war's vorbei." — Hier läßt sich der Lyriker Holzamer
nicht verleugnen und dieser poetische Ton durchzieht das
ganze Buch Der innige Ton der Sprache H.'s packt uns
auch hier wieder von neuem Nicht große Lebensschicksale
sind's. die uns da entgegentreten. In kleinen Verhält-
nissen spielt sich alles ab. Aber — wie es gesagt. wie
es. gleichsam im Bilde, vor uns entsteht, darin ist Holz-
amer Meister Und deshalb kann ich auch dieses Buch mit
bestem Gewissen empfehlen, freilich nur den Lesern, die in
die Tiefe einzudringen verstehen. Akerander Durger.
Fe st ge schenke aus dem Verlage der N. G.
Elwertschen Verlagsbuchhandlung. Marburg.
„Neues und Altes" ans ihrem Verlage hat die
rührige Marburger Firma in einem geschmackvoll aus-
gestatteten Wcihnachtskatalog zusammengestellt, der kürzlich
versendet worden ist. Es finden sich darin n. a. der den
Kreis Gelnhausen behandelnde I. Band (mit 350 Lichtdruck-
tafeln) der „Bau- und Kuustdenkmäler des Regierungsbezirks
Kassel" von L. Bickell und dessen „Hessische Holz-
bauten". Ferdinand I u st i s „Hessisches Trachtenbuch",
die Jubiläumsausgabe von Vilmars „Geschichte der
deutschen Nationallitteratur". sowie sein „Handbüchlein
für Freunde des deutschen Volksliedes" und seine „Lebens-
bilder deutscher Dichter und Germanisten". Wilhelm
Schoofs „Hessisches Dichterbuch" und dessen „Diecheutsche
Dichtung in Hessen". Könneckes „Bilderatlas zur Ge-
schichte der deutschen Natiönallitteratur". Ferner sind
Werke des feinsinnigen Marburger Professors Theodor
Birt und neben einer großen Zahl weiterer bekannter
hervorragender Veröffentlichungen des um die hessische
Litteratur so verdienten Verlags, die wir nicht alle auf-
führen können. auch mannigfache belletristische Schriften
zu erwähnen, von denen wir besonders die in diesem
Jahre neu erschienenen, in diesen Blättern schon ausführlich
besprochenen Bücher von Valentin T r a u d t (Leute vom
Burgwald) und B. S. Coester (Leutnants-Erinnerungen)
empfehlend hervorheben wollen.
---------------------
Hessische Zeitschriftenschau
Der Burgwart, III.—IV. Jahrg. Nr. 12 u. Nr. 1—2.
Dr. I ustu8 Schneider (Fulda): Die ans-
gegrabene Burg am Lindenküppel an der Milseburg
im Rhöngebirge (Schluß).
W. Stock: Die mittelalterliche Befestigung der
Stadt Fritzlar.
Deutsche Heimat, V. Jahrg. Nr. 50.
Hans Benzmann: Wilhelm Holzamer.
Deutsche Rundschau. 1902. Nr. 23.
Alte Hessen. Zwei Kapitel aus vergangener Zeit.
Fuldaer Geschichtsblätter, l. Jahrg. 1902, Nr. 8—11.
I. Ruhl: Stausenbacher Chronik des Kaspar
Preis 1637—1667.
— —, Einrichtung des evangelischen Gottesdienstes
in der Pfarrkirche zu Fulda während der hessischen
Okkupation 1632-1634
I. Kartels n. C. Scherer: Verzeichnis der
Fuldaischen Gesamtlitteratur (II. Fuldcnsien aus
„Hessenland". III. aus Zwengers „Buchvnia").
Hessische Blätter für Volkskunde, Band l. Heft 3.
Albrecht Dieterich: Über Wesen und Ziele
der Volkskunde.
Hermann Ilsen er: Über vergleichende Sitten-
»nd Rechtsgeschichte.
Adolf Strack: Zeitschriftcnschau 1902.
Karl Helm: Register zu Band I.
Kölnische Volkszritung, Litter. Beilage 1902. Nr. 44.
„König Lusticks galante Abenteuer." (Das so be-
titelte. vor kurzem erschienene Werk von Burg h a r d
Aßmus (Leipz. Verlag v. Friedrich Zocher) ist. wie
hier nachgewiesen wird, eine „durchaus dreiste Plünde-
rung der 1863 im Verlag von Reinhold Schlingmnun
in Berlin erschienenen Memoiren Jorome Bonapartes").
Wandsbeck, Dezember 1902.
Magazin für Litteratur, 1902. Nr. 38.
Stefan Zweig: Wilhelm Holzamer.
Wonaisblätter für deutsche Litteratur, VI. Jahrg. Nr. 12.
G. Schüler u. E. L. Wulff: Aus allen Augen-
blicken meines Lebens (behandelt K. E. Knodts gleich-
namiges neues Gedichtbuch).
Guartalsbtätter des hist. Vereins für das Gruß-
herzogtum Hessen. Neue Folge, Jahrg. 1902, III. Band,
Nr. 5 u. 6.
G. Frhr. Schenk zu Schweinsberg: Bei-
trüge zur alten Geschichte von Burg und Stadt Roten-
burg an der Fulda.
Dr. August Rveschen: Der Gaden, die Burg-
stätte von Langwasser bei Ulrichstein.
Dr. August Roeschen u. Otto Berth: Das
Bergschloß Ülrichstein nach den neuesten Ausgrabungen.
Ferner: Vereinsnachrichten. Fundberichte, kleinere
Mitteilungen, hessische Chronik.
Touristische Mitteilungen aus beiden Hessen, Nassau rc.
XI. Jahrg. Nr. 2—4.
Emil Becker: Durchs Schaumburger Land.
(Forts, u. Schluß)
F. H uns! n g e r (Gießen): Die letzten Schlotten-
häger in Hungen 1852.
Anii« Bölke, geb. Gissvt: Erinnerung an das
Brunnenfest zu Spangenberg.
Ferner: Kleinere Mitteilungen rc.
Peilschrift für hochdeutsche Mundarten (herausgeg. v.
Otto Heilig und Philipp Lenz), III. Jahrg. (1902),
Heft 4 ii. 5.
Dr. G u st a v S ch ö n e r: Spezialidiotikvn des
Sprachschatzes von Eschenrod (Oberhessen).
W. S.
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Personalien.
Verliehen: dem Maschinenmeister des Königlichen
Theaters Brandt zu Kassel bei seinem Übertritt in den
Ruhestand der Rote Adlerorden 4. Kl.; Lehrer Stoppel
zu Lichen der Kronenorden 3. Kl.
Ernannt: Gerichtsassessor B i s p i n ck in Dortmund
zum Amtsrichter in Hess.-Lichtenau; Gerichtsassessor Hengs-
berg er in Melsungen zum Amtsrichter in Schlüchtern;
Gerichtsassessor Dr. Ramelow in Berlin zum Staats-
anwalt in Hanau.
Versetzt: Hauptsteueramtsassistent Kaiser in Hanau
nach Frankfurt a. M.
Geboren: ein Sohn: Steuereinnehmer 1. Kl. Kuh-
r a s ch und Frau (Homburg n. H.. 29. November); Dr. mod.
3äfft) und Frau, geb. Hartdegen (Kassel. 5. De-
zember) ; Kaufmann F. H e n tz e und Frau, geb. P r ü s s e
(Kassel 7. Dezember); Architekt R. Friede und Frau
Kathinka. geb. Schmidtmann (Kassel, 11. Dezember);
— eine Tochter: Oberförster Goebel und Frau Maria,
geb. Pfeiffer (Numbed a. W., 7. Dezember).
Gestorben: Privatmann Franz Zwenger, 55Jahre
alt (Kassel. 29. November); Konsul Wilhelm Jchon,
67 Jahre alt (Wilhetmshöhe, 29. November); Stadtpfarrer
Dr. Friedrich Grein, 34 Jahre alt (Darmstadt, 30. No-
vember); verw. Frau Pfarrer Elise Knyrim, geb.
Wachenfeld (Kassel, 30. November); Rentner Julius
Propping, ehemaliger Vizebürgermeister und Vorsteher
des Bürgerausschusses, 70 Jahre alt (Rinteln. 2. Dezember);
Buchhändler August Kahlmann, 29 Jahre alt (Mar-
burg. 2. Dezember); Leiterin der Kleinkinderschule und
-Bewahranstalt Frl. Karoline Herrmann, 86 Jahre
alt (Kassel, 5. Dezember); Gerichtssekretär Theodor
B o d e n b e n d e r aus Felsberg, 48 Jahre alt (Kassel,
6. Dezember); König!. Eisenbahn-Betriebssekretär Her-
mann Dick. 65 Jahre alt (Kassel-Wehlheiden, 6. De-
zember); Fabrikant Friedrich August George, 61 Jahre
, alt (Neumorschen, 6. Dezember); Stadt - Steuersekretär
Wilhelm Manns, 37 Jahre alt (Kassel, 7. Dezember);
Fabrikant Wilhelm Klein Vogel, 57 Jahre alt,
(Großalmerode. 8. Dezember); Kaufmann Friedrich
Loewe, 62 Jahre alt (Kassel, 9. Dezember); Kantor
einer. Karl Ferdinand Grüßn er, 83 Jahre alt
(Marburg, 10. Dezember); verwittwete Frau Johanna
Großkurth, geb. Rath mann, 63 Jahre alt (Kassel,
12. Dezember).
Briefkasten.
E. B. in Göttingen, M. H. in Regensburg, S. E. in
Ravolzhausen, 0. B. in Frankfurt a. M, 0. ?. in
Wächtersbach. Gruß und Dank für die freundlichen Zu-
sendungen.
An die Feser und Mitarbeiter des „Kesseuland".
m Jahre 1887 von dem dahingeschiedenen Ferdinand Zwenger begründet, er-
öffnet unsere Zeitschrift mit der nächsten Nummer ihren 17. Jahrgang. Die von
Anfang an verfolgten Ziele des „Hessenland" sind bis heute dieselben geblieben und
werden auch ferner unverändert bleiben, gipfeln sie doch kurz gesagt in der einen Ausgabe, den
hessischen Sinn wach zu haltert und die Anhänglichkeit an die engere Heimat zu kräftigen. Die
Erörterung von politischen und konfessionellen Streitigkeiten hat das „Hessenland" fern zu halten
gewußt und wird dies auch für die Zukunst thun. — Bon dem Wunsche beseelt, in allen hessischen
Familien, bei allen hessischen Landsleuten, wo dieselben sich auch niedergelassen haben mögen,
unser „Hessenland" als willkommenen Hausgenossen einzubürgern, sind wir unablässig
bemüht, unsern Mitarbeiterkreis zu vergrößern, um den Inhalt unserer Zeitschrift so reichhaltig
und fesselnd als möglich gestalten zu können. Zu unserer Freude vermögen wir mitzuteilen,
daß auch für den neuen Jahrgang bereits zahlreiche gehaltvolle geschichtliche, litterarhistorische und
belletristische Beiträge eingegangen oder doch angekündigt sind. Bei der Auswahl der wissen-
schaftlichen Aussätze haben einige namhafte Fachgelehrte und bewährte Mitarbeiter der Redaktion
ihre fernere Unterstützung in dankenswerter Weise zugesagt. — Und so möge es uns denn be-
schieden sein, im Lause des neuen Jahres zu den bisherigen Freunden noch recht viele neue
zu gewinnen, zu welchem Zweck wir unsere Leser bitten in ihren Bekanntenkreisen freundlichst
für unsere Zeitschrift wirken zu wollen.
Kassel, im Dezember 1902.
Redaktion und Vertag des „Aesienland".
Für die Redaktion verantwortlich: W. Bennecke in Kassel. Druck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassel.